Die hohe Gärung - Jören Geilenberg - E-Book

Die hohe Gärung E-Book

Jören Geilenberg

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Beschreibung

Der Mensch verwandelte sich während langer Zeiten über die Technik zu einer Sonderbildung innerhalb der gesamten Lebenswelt. Diese Technik repräsentiert das Wunder. Indem diese Technik zugleich eigene Forderungen stellt, Zwänge erzeugt, Bedürfnisse weckt und solcherart ein Eigenleben beginnt, ähnelt sie mehr einer Gärung, einer bloßen stofflichen Reaktion. Was führte dazu? Die verschiedenen Charaktere der Menschen lassen sich möglicherweise mittels Charaktervariablen beschreiben mit unterschiedlichen Werten. In der vorlegenden Darlegung werden zwei Charaktervariable hervorgehoben: Intellektualität und Moralität. Es wird versucht, damit dieses Wunder der Dummheit zu verstehen, nämlich als die verblüffenden Leistungen einer modernen Technik mit den Menschen als Anhang oder Beiwerk bei begrenzter Kompetenz. Das Wunder wird erklärt aus der Existenz eines (weitgehend unbekannten oder ignorierten) Systemwesens, welches hier als eine eigene und besondere Bildung der Evolution am Substrat des Menschen (bzw. der Menschheit) verstanden wird, auf welche die Menschen allgemein weniger Einfluß haben, als sie zu haben glauben. Die hier vorliegenden Betrachtungen können weder die Welt verbessern, noch sollen sie so etwas wie eine endgültige Erklärung für die Vorgänge in der Menschenwelt liefern. Sie wurden geschrieben, um ein ungefähres Erklärungsmodell für gewisse Ungereimtheiten und eigentümliche Vorgänge anzubieten und diese damit vielleicht ein wenig besser verstehbar zu machen. Dazu wurde angenommen, daß der Begriff einer "Gesellschaft" auf einer Täuschung beruht, was entsprechende Konfusionen und Mißverständnisse im Schlepptau hat, die hiermit - vielleicht - ausgeräumt werden. Nicht hinreichend beantwortet werden konnte die Frage, wie und wieso sich mit der Spezies Mensch zugleich Verstand und Vernunft (samt innovativer Denkbefähigung) überhaupt entwickelt haben, da eine natürliche Notwendigkeit dazu nicht zu erkennen ist und der bloße Zufall zumindest merkwürdig wäre. War das eine bloße Laune der Natur oder doch der mysteriöse Akt eines weitgehend unbekannten Schöpfers?

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Seitenzahl: 524

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Welt und Mensch

Das Wunder

Evolution

Mensch

Volk und Masse

Individuum und Charakter

Natur

Geist

Intelligenz

Verstand und Vernunft

Wahrheit

Charaktervariable

Intellektualität

Einfachheit

Primitivität

Ignoranz

Verdrängung

Intellektualismus

Aufklärung

Entwicklung und Entwicklungsstopp

Moralität

Konstruktivität

Gewissen

Idealismus

Interesse

Dynamiker

Zerstörung

Primitivität und Moralität

Haben und Sein, Raffen und Schaffen

Das System

Die Megamaschine

System und der Mensch im System

Die Positionen im System

System und Moralität

System und Gesellschaft

Das Soziale im System und die Entfremdung

System - Autonomie, Fatalität und Dummheit

Macht

Macht und System

Macht und Individuum

Macht und Moralität

Macht und Dummheit

Bürokratie

System und Bürokratie

Der Funktionär

Der Murksprozeß

Wachstum

Dummheit allgemein und an sich

Der Terror der Dummheit

Der Segen der Dummheit

Dummheit im System

Die Fassade

Behauptung

Anpassung

Idiotokratie im Panoptikum

Manipulation

Sinnfindung

Religion und Ideologie

Wissenschaft

Sexualität

Ausblick - Zukunft

Fortschritt

Rückschritt

Die Utopie der Weltverbesserung

Schluß

Zusammenfassung

Bücherliste

Vorbemerkungen

„Ich denke, also bin ich“ (wie der große Descartes einst gesagt haben soll - und so verblüffend wie trivial zugleich).

„Ich darf denken, also darf ich sein?“ So könnte man fragen.

Ich kann denken, muß es aber nicht - bin aber trotzdem.

Das Letztere hat seine besondere Bedeutung. Darum vor allem soll es hier gehen, um das Wunderbare, um das Wunder des Daseins, um das Großartige humanoider Leistungen - ohne daß sich so sehr viele Leute dazu, dabei und damit im Denken überanstrengen.

Noch mehr aber soll es gehen um die frohe, nicht unbedingt immer sinnige Aus- und Anfüllung derselben naturgeschaffenen, wie menschengemachten Schöpfung mit einer gewissen Ungeistigkeit, der „Dummheit“ nämlich, die so erstaunlich von dem Wunderbaren überall um uns herum genährt und erhalten wird, aus ihm zu sprossen scheint - obgleich sie doch diesem irgendwie auch einigermaßen quer entgegensteht und dabei nicht unbedingt nur banal ist.

Diejenige Dummheit, um die es hier geht (und hier auch etwas weiter gefaßt als gemeinhin üblich), ist nicht bescheiden. Darum sollen zu ihrer Deutung „hohe Worte“ gesucht werden - Wortgeklingel. Ein gewisses Pathos ist dieser Dummheit und allem darum herum sehr angemessen, weil es so gut - und so gar nicht zu ihr paßt.

Der hier vorliegende Text ist weder leicht zu lesen noch einfach zu erfassen. Dann aber erscheinen seine Aussagen auch wieder trivial und wirken in ihrer monotonen Wiederholung ermüdend.

Darauf muß man sich einlassen, wenn man mit dem Inhalt klar kommen möchte. Dann jedoch eröffnet sich - vielleicht doch - Überraschendes. Der geneigte Leser mag im Laufe der Zeilen selber herausfinden, wie das gemeint ist.

Welt und Mensch

Falls man versucht ist, ein Grundübel innerhalb der Menschenwelt auf diesem einsamen Planeten Erde zu finden oder zu konstatieren, so ist dieses vermutlich keineswegs zuerst „das Böse“, sondern womöglich die Dummheit. Wäre es allein die Bosheit, dann könnte man diese mit der nötigen Klugheit in Schach halten. So aber, wo die Bosheit immer wieder reichlich Verbündete findet, kann man es nicht - eben weil es nun an Klugheit mangelt.

Dummheit jedoch ist peinlich. Und klüger sein zu wollen, als ein wohl etabliertes „Mittelmaß“ es vorlebt, erst recht. Die reale Geschichte hat immer wieder demonstriert, wie sich offizielle Körperschaften in Ideologien, Parolen, Normen ergingen, während das Leben völlig unabhängig davon in seinen eigenen mutwilligen Wegen verlief - grotesk, chaotisch, teilweise auch verheerend - so als hätte es nirgendwo überhaupt je einen denkenden Menschen gegeben. Und doch ist die Welt voll und übervoll davon.

Die innere Welt dieses (möglicherweise gar nicht so einzigartigen) Wesens „Homo sapiens“ dürfte ein vieldimensionales Gebilde darstellen - also keine einfache Angelegenheit, die sich Satz für Satz von einem Anfang bis zur Vollendung beschreiben ließe. Im Leben hängt alles miteinander zusammen, das Ende mit dem Anfang, das Unten mit dem Oben und das Innere mit dem Äußerlichen. Das „Gesetz“ in diesem Labyrinth ist selber ein Labyrinth. Also muß man sich darin suchend zurechtfinden, probierend, irrend und wieder neu beginnend.

Das kann man auch jederzeit unternehmen, ohne darum gleich eine Ideologie oder gar eine immer fündige „Dialektik“ zu Hilfe nehmen zu müssen. Aber ganz einfach ist es nicht. Man muß vieles aus dem erklären, was man noch nicht weiß (Hypothese). Das Unbekannte erschließt sich aus dem, was solcherart erklärt werden konnte (Theorie). Dann aber muß alles noch bewiesen werden und den Realitäten standhalten.

Die „Wissenschaft vom Menschen“, die immer wieder einmal gefordert wurde (als man herausfand, daß es sie noch nicht gäbe) und die auch schon überall als eine solche irgendwie präsent war (weil man sie irgendwo immer gut gebrauchen konnte), ist ziemlich komplex. Sie wird vom Menschen selbst auch gleich schon wieder in Frage gestellt. Der Mensch möchte lieber nichts verstehen, als selber Objekt sein für ein Verstehen seiner eigenen dunklen Gründe. Dieses könnte ihn sehr schnell allzu klein machen. Darum begreift der Mensch den Mond, die Sterne oder das winzige Atom - nicht aber sich selber, und wenn doch, dann reichlich verschroben und geschönt.

Die wirkliche Anthropologie als die „Wissenschaft vom Menschen“ ist nicht einfach. Doch das ist nicht der Grund, warum sie so wenig populär ist. Der Grund liegt vielmehr darin, daß sie zugleich - wenn sie wahr sein soll - überhaupt nicht attraktiv ist - im Gegensatz zu so vielen anderen Wissenschaften außerhalb des Menschlichen. Die Ergebnisse einer wahren Anthropologie sind zu beschämend für das eitle Selbstgefühl dieses Menschenwesens, als daß sie irgendeine nennenswerte Öffentlichkeit finden könnten - bis auf gelegentliche (aber meist erstaunlich plausible) Offenbarungen in den diversen Kabarettveranstaltungen - zwecks „Unterhaltung“.

Das große Buch zur Dummheit ist längst geschrieben worden, und zwar von der Geschichte selbst in etlichen beeindruckenden Kapiteln und dazu in vielen, unzählig kleinen Randglossen. Eigentlich ist dazu nichts mehr zu sagen. Doch ein weiterer Text, welcher das derzeitige Riesengebirge an Literatur um ein zusätzliches Steinchen vermehrt, ist immerhin handlich. Die Dummheit ist auch damit nicht aus der Welt zu bringen. Sie ist die Welt selber. Sie bleibt den Menschen erhalten, vorerst jedenfalls.

Lediglich für die Interessierten und für die halbwegs Klugen ließe sich damit einiges tun, damit sie nicht immer wieder so einfach dem Gang der allgemeinen und alltäglichen Weltvertrottelung aufsitzen und unnötig ausgeliefert bleiben, damit wenigstens sie einigermaßen verstehen, was das eigentlich ist oder doch sein könnte, in das sie da so unversehens hineingerieten und bei dem auch sie letztlich immer wieder anecken.

Das Buch der Geschichte ist hart zu lesen. Man sieht eine Menge darin (solange es noch nicht verschüttet, verscharrt, versteckt wurde), aber man versteht nur wenig. Man soll auch nicht viel verstehen. Man soll den faulen Frieden, das stetige frohe und satte Aufstoßen der alltäglichen Allerweltsdummheiten ja nie stören. Das ist und bleibt ewig erste Bürgerpflicht.

Zumindest in den industrialisierten Staaten der „ersten Welt“ gibt es zur Zeit eine materielle Fülle und Überfülle - sogar eine Überfülle von Wissen. Wir leben darum aber nicht in einer Welt der Weisheit (mit zukunftssichernden Einsichten), welche diese Fülle - möglicherweise - nutzen könnte („für immer und ewig“ oder wenigstens für die Enkel und allenfalls noch für die Urenkel).

Woher auch sollten ernste Anstöße kommen, wenn der Zwang, die Kraft, das Potential dazu einfach nicht vorhanden sind - gerade wegen dieser Fülle und Überfülle, die alles Bedenken irgendwie lächerlich und überflüssig zu machen scheint?

Aber ist denn diese moderne, diese so superschlaue, diese so propere Menschenwelt mit ihrer überbordenden Technik und ihren wissenschaftlernden Teufelskerlen überhaupt gefährdet? Die derzeitige ist es schon, die zukünftige dann nicht mehr. Das freilich bleibt Ansichtssache.

Nichts in der Welt und im Leben der Menschen ist wirklich wichtig oder ernst oder hätte natürlicherweise einen tieferen Sinn (zumindest vom Standpunkt der Welt selber oder aus der Natur heraus). Der einzelne Betroffene mag das freilich etwas anders sehen.

Das eigentlich Erschreckende ist ja, daß sich keiner zu erschrecken scheint über das Dumme, was sich überall so häßlich, so überflüssig - zugleich aber wie selbstverständlich breit macht.

Wen stört es z.B. daß er selber für seine eigene Beerdigung aufkommen soll - so als lebte er tatsächlich ganz allein auf dieser Welt (und nicht einmal da brauchte er das)? Oder seit ungefähr dem Jahr 1970 weiß „man“, daß die deutsche Bevölkerung abnimmt. Doch erst nach rund 30 Jahren scheint „man“ das auch wahrzunehmen und beginnt, sich darüber vielleicht doch irgendwelche Gedanken zu machen - ohne sich dabei zu überstürzen.

Warum ist das so?

Das Wunder

In vielen hochentwickelten Industrieländern der offenbar allseits maßgeblichen, wirtschaftsmächtigen „ersten Welt“ leben wir zur Zeit wie im Schlaraffenland, essen uns durch Joghurte und Pizzen, durch Krabbensalate oder deftige Genießermenüs, durch Schlemmermahlzeiten all inclusive, mit Ananas und Spargelspitzen.

„Power und kein Ende - so einfach funktioniert’s: Immer eine Idee flippiger; Wohlfühlzeit, lebensfroher, schmerzfreier durch Kraftstoff-Feldmagnet-Kur; Autoschlachtfest; leckere Variationen und schöne Füße in entspannter Atmosphäre; wie man Kunden vom höheren Nährwert seiner Angebote überzeugt ...“

In dieser Weise und noch viel mehr auf dieser Wellenlänge liest in Deutschland zur Zeit jeder jeden Tag - ziemlich unfreiwillig übrigens, denn es wird ihm aufs Auge gedrückt und das genauso herzhaft wie einst dem Ossi in der dumpfigen DDR das letzte Parteiprogramm seiner einzigartigen Einheitspartei - der größten und erfolglosesten aller Weltverbesserer (einstmals zumindest). Es sprudelt überall nur so von Optimismus, von positivem Denken, von Power (zugleich aber auch von „Auf und Davon“ und „nur fort und weg!“).

Doch dann gibt es auch noch die vielen „kleinen, einfachen“ Dinge, die wie selbstverständlich unser Leben begleiten, so daß wir sie kaum noch wahrnehmen.

Zum Beispiel die Schere: Mit einer Schere zerschneide ich ein Blatt weißes Papier. Oder ich fülle eine Handvoll Erdbeeren (von sonst woher, nur nicht vom Garten um die Ecke) in eine Kunststofftüte. Ich steige in meinen Mittelklassewagen und brause zum Kaffeetrinken in die nächste Stadt - einfach so (weil sie dort vielleicht einen anderen Kaffee haben, den ich probieren möchte).

Ist das nicht ein Wunder?

Es ist ein Wunder.

Wie sah so etwas bei den Menschen vor vielleicht dreißigtausend Jahren aus, die - wie die Altertumsforscher herausfanden - auch schon so waren wie wir heute? Womit fuhren diese Leute damals eigentlich zum Kaffeetrinken, wo bekamen die Menschen dieser Frühzeit die Kunststoffbeutel her für die vielen Pilze und Beeren, die sie als Sammler und Jäger andauernd sammeln und jagen mußten? Womit schnitten sie damals ihre Haare und Fingernägel ab? Wo installierten sie die Steckdosen, aus denen der Strom für den Brotbackautomaten kommt? Womöglich aßen sie das „Brot“ noch roh und brauchten keine Backmaschinen dafür? Vermutlich war überhaupt damals alles ein wenig anders als heute, und die Menschen träumten nur immerfort vom Schlaraffenland - hatten es aber nicht. Heute haben wir das Schlaraffenland, die wundervolle Spaßgesellschaft, das „coole“ Schnapskasperleben - und was für ein Leben, was für Jux und Dallerei, was für eine tolle Sache und alles voller Wunder über Wunder!

Digitalkamera, Magnetresonanztomographie, Internetkommunikation. Und alles ist wie selbstverständlich.

Das ist das Wunder.

Wer aber hat das alles geschaffen, alles das, was wir ringsumher sehen und verbrauchen? Wer produziert das alles, die Socken, die Löffel, den Stuhl, den Tisch, die Kartoffeln? Wer kann so etwas, wer versteht die große Kunst dieses großen Wunders?

Kennt jemand wen, der einen Fernsehapparat bauen kann oder ein Blatt Papier einfach so „schöpfen“? Also nicht einfach so, nackt und bloß, sondern durchaus mit den Maschinen, den Hilfsstoffen und Anderweitigem, was heute dazu „zur Verfügung“ steht.

„Los, bau mal schnell ein Auto, du bist doch ein moderner Mensch, vielleicht sogar mit Abitur, da mußt du das doch können! Und elektronische Fensterheber muß der Wagen auch haben, weil ich meine tauben Arme für Besseres brauche als zum Fensterleiern (für Nordic-Walking nämlich).“

Niemand kann so etwas.

Ein Spielzeugauto kann er vielleicht aufmalen, ein Blatt Papier nach langem Üben und mit viel Aufwand (und fast unbezahlbar) irgendwie aus Faserbrei zurechtmauscheln - und das auch nur im Freizeitpark mit Anleitung. Eine Kunststofftüte kann er gleich gar nicht erschaffen (wie produziert man sich mal schnell - do it yourself - Folien aus Plastmaterial?).

Höchstens einen Computer bauen, das kann vielleicht noch jeder selber. Computerbauen geht ganz einfach. Dazu braucht es nur Schraubendreher und etwas Kleingeld für „die Teile“. Ansonsten ist das nicht schwierig.

Ein Klosettbecken aber schon wieder - schön fein aus weißem Steingut, vielleicht auch blaßrosa getönt und mit Goldauflage am Rand? Kann man nicht wenigstens das selber machen? Oder müßten wir da doch wieder mit dem Spaten in den Vorgarten gehen, wenn wir das nicht können?

Haben wir einen Garten dazu? Und schmiedet uns einer einen Spaten?

Doch wir müssen das alles nicht machen. Wir mieten uns einfach ein Wohnklo mit Kochnische, das ist einfacher - falls wir das Geld dafür haben. Was aber ist Geld?

Geld ist auch solch ein Wunder. Man hat es und redet nicht darüber und weiß auch nicht, was es - eigentlich - ist.

Alles ist also wunderbar. Und es funktioniert tatsächlich.

Was ist der Mensch inmitten dieses Wunders? Wieso hat er das alles, wo er es doch ganz offensichtlich gar nicht kann und kaum versteht mit seinem bescheidenen und recht speziellen Hochschulabschluß - mal abgesehen von den wenigen Ausnahmen, den seltenen Violinvirtuosen, den genialen Tennisspielern, den kostbaren Entertainern, den begnadeten Managern der großen Industrie und den so selten weisen Führern der vielen Völker? Ist „der Mensch“ oder jeder Mensch auch so wunderbar wie alles das, womit er in seiner modernen Welt lebt?

Das soll hier bezweifelt werden.

Der Mensch ist nicht das Glanzlicht dieser Welt. Er ist einfach nur simpel, nicht ganz simpel freilich, denn er ist ja auch enorm schlau, also nicht völlig blöde. Aber ein bißchen piefig ist er schon. Es gibt also nicht nur diese immensen Wunder in dieser, unser aller Menschenwelt, sondern noch einiges andere - z.B. die Einfalt oder das Unwissen, das Nichtver ­stehen oder das Nichtwissenwollen.

Das Leben sei auch schwer und hart, behaupten gerne viele Leute. Das sind oft nette, positive, dynamische Menschen. Sie sagen das vielleicht so, weil sie meinen, daß es mehr Ehre einbringt, ein hartes Leben angestrengt zu meistern als ein labriges; vor allem aber auch, damit endlich dieses ominöse Wunder erklärt wird - als harte Arbeit nämlich, als Disziplin, Gehorsam, Unterordnung, Anpassung, Leistung und weiterhin Leistung und noch mal Leistung. Das Leben ist kein Wunschkonzert, so erfährt man hier und da. Das Leben ist schwer, es muß gemeistert werden, es ist also hart.

Man kann auch anderer Meinung sein. Das Leben ist nicht „hart“, das Leben ist vielmehr dumm. Es ist zuerst und grundlegend dumm. Erst dann und damit kann „das Leben“ dann auch mal hart werden, sehr hart, eisenhart, tödlich hart sogar, immer dann nämlich, wenn man über die Dummheiten stolpert und stürzt wie über eine zu lang geratene Schlafmütze. Das Leben ist zuerst dumm. Und ihre eigene, ihre persönliche Dummheit produzieren sich die Menschen selber extra noch hinzu, so wie vieles andere ebenso.

Doch dieses Leben lebt. Es verfügt über eine enorme Kraft, die stolz an jeder Dummheit vorbeizieht - aber nicht immer.

Bei der Dummheit denke man an einen Regenwurm. Ist der Regenwurm ein kluges Tier? Immerhin leben auf der Erde mehr Regenwürmer als Menschen und das trotz Umweltverschmutzung, Klimawandel und Finanzkrise. Das sollte doch zu denken geben.

Soviel soll erst einmal über das Wunder gesagt sein, damit dieses durch und durch pessimistische Pamphlet einen halbwegs positiven Anfang bekommt.

Aber nicht dieses Wunder ist wunderbar, sondern die Stupidität, aus der all das viele Wunderbare kommt, und der Weg, wie es daraus entsteht - nicht immer und gleich gar nicht immer zwangsläufig. Die überhaupt noch kaum artikulierte Tragödie unserer modernen Zeiten ist die Überfülle der Möglichkeiten, die man geradezu als eine Inflation der Potentiale bezeichnen könnte, und die zugleich damit verbundene dumme Lust, das alles nur eitel, selbstherrlich und unüberlegt gleich wieder zu vertun, zu vertändeln und zu vertrödeln, zu verhecheln und zu vermurksen.

Diese „Moderne“ („die moderne Zeit“) wird noch einmal in die Geschichte eingehen als das Trauerspiel der vertanen Chancen - falls es nach dieser Hoch-Zeit der industrialisierten Welt eine Geschichte überhaupt noch geben sollte. Es tut sich ja einiges, damit sich eine künftige Menschheit wenigstens die Schande ihrer Geschichte erspart und daß sie aus kommenden Katastrophen gewissermaßen jungfräulich und embryonal ganz neu, völlig uranfänglich und unbelastet wieder hervorgeht und tatsächlich von nichts mehr was weiß - außer Märchen und Sagen voller phantastischer Unglaubwürdigkeiten.

Die Erde ist dann endlich auch wieder eine Scheibe, der Mond wird jeden Abend hinterm Weiler mit einer Stange hoch gezogen. Und aller Segen kommt von oben.

Die Welt der Menschen ist nicht nur wunderbar, sie ist auch wunderlich. Die ideologische Brille verkleistert das. Der alltägliche Zweckoptimismus schüttet es zu und hinterläßt nur Oberfläche und Oberflächlichkeiten. Eine aufgeklärte Sichtweise wird wieder einmal erforderlich, damit das Wunder nicht entstellt wird, sondern wunderbar bleibt - falls daran überhaupt Bedarf bestehen sollte.

Evolution

Für das weitere wird eine kurze Abschweifung in das Biologische und Evolutionäre notwendig, weil vermutlich alles Leben und damit auch der Mensch auf dem fußt, was eine evolutionäre, biogene Entwicklung gestaltet und erschaffen hat (wie man unterdessen hier und da sogar ziemlich sicher zu wissen glaubt).

Die Welt funktioniert nur aus sich selbst heraus. So und nur so jedenfalls kennen wir sie - falls wir sie kennen. Und wenn die Welt „aus Idioten“ konstituiert ist, dann funktioniert sie auch idiotisch und nicht anders - aber sie funktioniert. Allein das ist und bleibt der Fakt bis ans Ende aller Tage. Insbesondere wurde und wird die Welt von keiner anderen, höheren Vernunft daran gehindert, einfach nur zu funktionieren. So war es zumindest bisher.

Es ist auf lange Sicht gesehen lediglich eine Frage der Zeit, ob und wie auch eine „Dummheit“ in die Evolution eingeht, wie sie mit ihren eigenen Eigenheiten zur Evolution beiträgt, wie sie sich gewissermaßen als etwas Besonderes bewährt und damit dann auch keine Schwäche oder eben keine „Dummheit“ mehr ist und auch nicht mehr als „Mangel“ oder „Fehler“ stört und solcherart aus dem Lebendigen verschwindet - oder eben auch nicht.

Zuweilen paßt die Dummheit nämlich recht gut in die Evolution, auch weil diese ihr eigenen Spielraum bietet - nicht unbedingt immer zur reinen Freude derer, mit denen dann „gespielt“ wird, und keineswegs auch jeweils zwingend zum Segen ihrer eifernden Exponenten und Aktivisten. Deren Schicksal nämlich interessiert die Evolution ebenfalls nicht. Sie verbratet sie. Sie verbratet alles - und unter Umständen auch noch sich selber. Die Evolution ist souverän, frei und unabhängig. Sie hat dazu Zeit im Maßstab von Ewigkeiten und Material ohne Begrenzung bis an den Rand des Kosmos und vermutlich sogar noch etwas weiter.

Das „Dumme“ ist also die Evolution selber, einfach auch darum, weil diese nicht geistig ist. Darum wurde sie auch so relativ spät erst entdeckt, weil ein kluger Schöpfer den denkenden Menschen mehr schmeichelte als eine nur dumpfe Entwicklung.

Wer also auf eine Vernunft von außen hofft, ob das nun nur für ihn allein ist oder für „die Welt“ oder für „die Menschheit“, der hofft und wartet vermutlich auch heute vergebens.

Bemerkenswert an der lebendigen Welt ist das Fressen und Gefressenwerden. Es gilt zwar nicht ganz durchgängig, aber so häufig, daß jedes einmal von der Sonne geschaffene organische Energiepotential mehrfach genutzt wird. Erinnert sei an die Nahrungspyramide. Es gibt nur wenige Lebewesen, die da ganz oben sitzen. Und selbst die müssen sich noch mit kleinen Fressern abfinden, die an ihnen oder in ihnen selbst schmarotzen - Zecken, Läuse, Maden, Mikroben.

Der biologische Organismus braucht Energie, um seinen Stoffwechsel zu unterhalten und um über diesen Bewegungen zu generieren. Er braucht weiterhin Energie, um die für seine Struktur notwendigen Stoffe zu synthetisieren.

Das erstere ist der Lebensprozeß selbst, das letztere ist die besondere konstruktive Leistung, der Aufbau, die Erzeugung von Stoffen und Strukturen. Zunächst ist es ihre biochemische Synthese, dann die strukturelle Formung. In diesen „Baustoffen“ ist die in ihnen gespeicherte Energie nicht notwendig, sondern nur zufällig enthalten. Für eine Struktur an sich ist es zunächst unwesentlich, ob das Material, aus dem sie besteht, brennbar (eßbar) ist oder nicht. Das ist der tiefere Grund für die Freßbarkeit von Lebendigem.

Insbesondere die Pflanzen erzeugen auf diesem Wege unter Ausnutzung des Sonnenlichtes eine Menge von Strukturen (als Substanzen), die zugleich nutzbare Energie enthalten. Diese bilden dann das Energiepotential für die gesamte Tierwelt. Tiere „schmarotzen“ an Pflanzen und viele Tiere dann auch an anderen Tieren. Tiere können ohne Pflanzen nicht überleben.

Übertragen in die menschliche Gemeinschaft zeigt es sich, daß auch dort allerlei „stützende“ Strukturen gebraucht werden, wie Werkzeuge, Behältnisse, Geräte, Kleidungsstoffe, Luxusgüter, Maschinen, Straßen, Häuser, Büros usw., welche neben den Nahrungsmitteln produziert werden müssen. Die Arbeit, mit der das - direkt - geschieht, soll als „konstruktiv“ bezeichnet werden, weil sie Strukturen schafft.

Im „konstruktiven“ Fall werden die Nahrungsmittel und die sonstigen Substanzen und Strukturen selbst erzeugt. Im „schmarotzerischen“ Fall werden sie von anders woher okkupiert, vereinnahmt, angeeignet, beschlagnahmt, geraubt oder einfach nur „schon besessen“ (per Dekret).

Es ist aber nicht ganz leicht zwischen dem pejorativen „Schmarotzen“ und der mehr „positiven“, Nahrungserzeugung zu unterscheiden, streng genommen geht das vermutlich überhaupt nicht. Der Einfachheit halber wird hier das unschöne Wort „Schmarotzen“ für alles Fressen von fremdem Leben und fremder Lebensleistung verwendet, obgleich es da erhebliche Unterschiede gibt. Dieses Fressen ist bei einem Bandwurm oder einer Blattlaus von anderer Natur als bei einem Adler oder Löwen und wieder anders bei den Ameisen, welche die Blattläuse „melken“.

Und selbst das, was heute nicht verkonsumiert wird, wird morgen vielleicht doch noch gefressen, auch wenn es in langer Zeit schon etwas unverdaulich geworden ist. Die alte Dampfmaschine vereinnahmte noch vor kurzem alle englischen Kohlen aus der Erde. Und Diesels Motoren saufen heute das arabische Erdöl und werden nimmer satt davon. Wo sich erst einmal genügend konstruktives Potential angesammelt hat, beginnt fast zwangsläufig dessen Ausbeutung - irgendwann und sei es erst nach Jahrmillionen, wie bei den fossilen Brennstoffen.

„Edel“ sind diesbezüglich nur ein paar Flechten und Moose in den Wüsten und Halbwüsten. Und die sind es auch nur, wenn sie sich nicht auch noch um den Platz an der Sonne streiten. Alles andere frißt anderes Leben und lebt davon, schiebt es zur Seite, will allein prosperieren. Leben ist Fressen und Fortpflanzen, erst dann kommt die Moral.

Was aber ist Moral?

Dieses Leben des Lebendigen vom und am Lebendigen ist grundsätzlich. Es gilt als edel, wenn es bei edlen Geschöpfen stattfindet, beim Adler oder beim Löwen etwa, die darum ja auch so beliebte Wappentiere geworden sind: Kämpfer mit dem starren Blick und der harten Pranke.

Der Löwe liegt den halben Tag faul in der Sonne. In seinem Kopf baldowert er gemächlich den nächsten Coup aus. Dann frißt er ein bißchen nahrhaftes Fleisch und begibt sich wieder zur Ruhe. Darum unter anderem ist er der König der Tiere und wird gefürchtet.

Die Kuh hingegen muß den ganzen lieben langen Tag mageres Gras fressen, damit sie satt wird. Und dann ist sie immer noch nicht fertig, dann muß sie erst noch stundenlang wiederkäuen. Deshalb ist sie ja auch nur „eine dumme Kuh“. Doch man liebt sie sehr, wegen der süßen Milch.

Als nicht so vorbildlich gilt es, wenn das Fressen ein heimtückisches ist, ein Fressen von innen heraus, ein „bloßes“ Schmarotzen, so als ob der Spulwurm nicht auch einige Jahrhunderttausende Evolution mit Hin und Her auf dem Buckel hätte, ehe er sich so warm betten konnte. Aber die Spulwurmwelt ist auch eine andere, ein wahrhaft fremde und lästige dazu.

Weniger häufig als dieses allgemeine Fressen der einen durch die anderen ist das Schmarotzen an der eigenen Art. Zuweilen ist es nämlich bequem, gleich die eigenen Verwandten, die Vettern oder Kinder, zu fressen, statt erst noch lange in der Gegend herumzusuchen und sortieren zu müssen. Freilich muß dazu dann auch eine besondere Biologie geschaffen sein - per Evolution. Ein Perpetuum mobile kennt auch das wild wuchernde Leben nicht.

Daß es bei solchem Fressen von seinesgleichen nicht sonderlich sozial zugeht, scheint sich von selbst zu verstehen. Aber es gibt so etwas. Das ist dann meist solitär und egozentrisch.

Der Hecht als Raubfisch gehört zu diesen Wesen. Man kennt die Geschichten der Angler und Fischköche vom „Hecht im Hecht im Hecht“.

Wo es irgendwie von Vorteil ist und dabei dem allgemeinen Fortkommen keinen Abbruch tut, da wird auch vor dem Fressen der Verwandten kein Halt gemacht. Es muß alles genutzt werden - und es wird alles nützlich sein.

Alles unterliegt der Evolution, auch das Anorganische und auch das, was man „die menschliche Gesellschaft“ nennt, das Geistige ebenso wie das Technische.

Die „Gesellschaft“ tappte während ihrer langen Entwicklung in zufälligen Strukturen herum, Strukturen, in denen sie sich ausprobierte und deren einziges Kriterium die evolutionäre Stabilität, also das Überleben, war - und selbst das ist keineswegs zwingend oder notwendig.

Neben dieser Biologie ist Leben aber immer auch noch Leben, also noch etwas anderes als nur Ernährung und Vermehrung.

Was aber ist das Leben, wenn es sich nicht nur derart unmittelbar um sich selber kümmert?

Daß der Fels nicht gleich aus dem Berge stürzt, kommt daher, daß er massiv in den Berg eingebunden ist. Das Wasser, was sich hinter einem Wall staut, ergießt sich um so ungestümer, wenn der Damm gebrochen ist. Aber erst einmal muß es sich stauen. Der Anker in der Uhr hemmt die Räder und zwingt sie zur Regelmäßigkeit, zu Sekunde und Minute.

Man könnte meinen, daß es Hinderung, Bremsen, Aufstauen, Halten, Bewahren, daß es „Hemmung“ ist, welche vor allen Gebilden in der Welt steht. Ohne Hemmungen gäbe es auf der Welt kein Halten, kein Besinnen, keine Struktur, nichts, nicht einmal das bloße Fressen. Hemmungen sind wesentlich, auch wenn sie dafür sorgen, daß man immer wieder „gehemmt“ ist, daß man also „Hemmungen hat“, dort gehörig zuzulangen, wo es was zu holen gibt, frei nach dem Motto, „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (ein Satz, der übrigens nicht von dem etwas unglücklichen Reformer Gorbatschow stammt, sondern von flotten Wendegenossen aus der DDR, die immerhin so gut Russisch konnten, daß sie gleich mal selber übersetzten - ganz in ihrem Sinne: „Jetzt aber fix, sonst kriegst du nix!“. Gorbatschow hatte vermutlich etwas Anderes gesagt oder zumindest gemeint als das Letztere.)

Die Evolution lebt von der spontanen Züchtung und Auslese. Die Schmarotzerei hat dabei so gute Voraussetzungen, daß sie quasi zum Zentrum aller Biologie geworden ist. Wie sollte da der Mensch eine Ausnahme sein! Fressen und Gefressenwerden bestimmt die Dynamik der biologischen Welt.

Die Evolution kann „irren“. Eigentlich irrt sie sich ständig oder auch gar nicht, denn die Kategorie „Irrtum“ ist für die Evolution ohne eigene Bedeutung. Wenn es in der Natur ein „Nahwirkungsprinzip“ gibt, dann hier bei der Evolution. Sie selektiert nur vom Heute auf das Morgen und nicht einmal so weit, sondern doch eher nur von gestern auf heute. Die Evolution schafft nicht „das Gute, das Starke, das Bessere“, sondern sie entwickelt irgend etwas. Sie schafft auch nicht für die Ewigkeit, sondern nur für den Moment - der dann allerdings in den Zeitmaßstäben der Entwicklungen im Lebendigen auch schon mal einige Jahrmillionen dauern kann.

Mensch

Was aber ist der Mensch?

Der Mensch ist und bleibt nur ein Stück Biologie, zur Zeit jedenfalls und solange er sich noch nicht selber wieder in die wunderbare, unbegreifliche Schöpfung eines ihm genehmen Gottes umbehauptet hat. Die Biologie befaßt sich mit dem, was auf dieser Erde aus den klebrigen Proteinen besteht, aus Erbsubstanzen, und was letztlich bzw. zuallererst von den Sonnenstrahlen angetrieben und bewegt wird.

Leben aber ist mehr als nur Bewegung von Eiweißmolekülen. Eigene Strukturen bildet auch anderes, so die Erde selber, die sich abkühlt und dabei tektonisch rumort, die damit Landschaften erschafft und vernichtet; so die Sonne, welche auf der Erde die Luft und die Meere zirkulieren läßt.

Das Leben auf der Erde war auf einmal da. Ziemlich viel später kam noch der Mensch hinzu und begann als erstes Wesen, diese Welt zu erkennen und dann sogleich auch noch zu verändern, zu modeln, umzubauen, auszubauen.

Der Mensch, als er ganz am Anfang Mensch war, hatte sich zuerst immer nur der Natur anzupassen. Anderes kannte er vermutlich noch gar nicht, als seine Erkenntnisfähigkeit begann. Aber er „kannte“ auch noch nicht „die Natur“. Was also führte seinen Verstand zuerst, was bildete ihn?

Menschheitsentwicklung war Entwicklung in und mit dieser Natur, in welcher bekanntlich alles irgendwie zusammenhängt, wo die bunten Blumen tatsächlich nur für die fleißigen Bienen blühen und die fleißigen Bienen zugleich den bunten Blumen dienen, sie bestäuben und fortpflanzen. Der Regen regnet, damit das Korn reift. Die Sonne scheint, damit die Ähren wieder trocknen. Die Bücher werden gedruckt, damit der Mensch etwas zum Umblättern hat. Die bunten Blätter der Bäume im Herbst sind gut für die Konjunktur der Laubbläsergebläseindustrie.

Die Welt ist weise eingerichtet.

Insofern war der Mensch von Anfang an eingebettet in eine Harmonie, in der er selbst mit dieser Natur zurechtkam, weil er sich ihr gemäß entwickelte. Ein wenig von dieser Harmonie verspürt auch noch der moderne Mensch, wenn er in einsamer Natur Stille, Zuverlässigkeit und Geborgenheit entdeckt - falls er noch einsame Natur, wirkliche Natur findet. Er begegnet dort einer Ruhe und Selbstgewißheit, die tatsächlich aber aus ihm selber kommt, aus der eigenen, gewissermaßen angeborenen Freundschaft zu seiner natürlichen Umwelt. Der Mensch ist ein Geschöpf der Natur, nicht der Kunst.

Diese Harmonie allerdings erschien immer nur bei den Satten und in deren satten Momenten. Ansonsten war die Natur auch in der „Bosheit“ rege und löschte aus, was ihr zu viel wurde. Ihr wurde recht schnell und immer wieder Vieles zu viel. Sie nahm und behielt davon nur das, was zufällig übrig blieb, beim großen, alltäglichen Zerreiben, Zerfleischen, Ausdörren und Verhungern. Die späteren Darwinisten nannten das auch gern den „Kampf ums Überleben“ oder das „Recht der Stärkeren“ - nur damit die Harmonie der Natur auch dort dann wieder Einzug halten konnte - eben alles Kampf - alles stark, alles Power!

Später versuchte der Mensch selber, die Natur zu verändern und bekam damit etwas für sich zu tun. Damit begann er in ungeahnter Weise auch auf sich selbst zurückzuwirken. Zuerst mit der Feldwirtschaft, später mit der Industrie fing er an, spezielle Strukturen zu erschaffen, die an die Stelle der ursprünglichen Natur traten und zur „Kunst“ wurden, zur Künstlichkeit, die doch aber immer noch ganz in der Natur steht, wo sonst?

Heute ist der Mensch, besonders aber der Mensch in den Städten, fast ausschließlich nur noch von einer derart künstlichen „Natur“ umgeben, die er selber in die Welt brachte - ohne sie tatsächlich auch selber geschaffen zu haben.

Diese Kunstwelt (von der weiter hinten die Rede ist) wird im weiteren Text als „das System“ bezeichnet und muß solcherart von der Natur abgegrenzt werden, obwohl eine derartige Unterscheidung auch etwas fragwürdig wird.

Was ist nicht fragwürdig? Das Fragwürdige ist das Wesentliche, es generiert Fragen. Damit tut sich etwas - falls Antworten hinzukommen. Doch diese müssen immer erst gefunden werden. Antworten ohne Fragen gibt es auch reichlich, doch die sind nicht so gut.

Die Natur und auch die Evolution „wollen“ das Chaos, das kreative, schöpferische Chaos, nicht jedoch ein vernünftiges, vernünftelndes Sonderwesen, den autonomen Menschen etwa. Die Natur mag das Bedenken nicht. Sie erschuf es trotzdem. Es besteht einige Aussicht, daß sie es auch wieder abschafft. Das ist vielleicht die eigentliche Ursache dafür, daß immer genug „Dumme“ auf der Welt herumwuseln und in sie eingreifen und daß ständig ausreichend viele Machtbesessene die schöne Welt vermurksen. So bleibt der Natur das evolutionäre Potential ihrer Souveränität erhalten.

Daß der Mensch von den Tieren „abstammt“, wissen unterdessen viele, daß er auch noch Tier ist, das will darum noch keineswegs ein jeder akzeptieren. Der Mensch ist nicht so weit vom Status des Tierischen entfernt, wie er oft und gern zu meinen vermeint. Sein Gehirn plus Verstand ist tatsächlich nur ein Spezialorgan, so etwa wie die Flossen beim Fisch oder die Flugmuskulatur der Vögel. Das Gehirn befähigt den Menschen zu einem speziellen Verhalten. Es macht es ihm möglich, „abgehoben“ durch einen Ozean von Geistigem zu fliegen und diese besondere Fähigkeit für sein Fortkommen zu nutzen. So war es zumindest am Anfang.

Allein dieses Denken im Kopf des Menschen nutzt aber darum noch nicht zu einem überlegenen Verhalten gegenüber dem Animalischen schlechthin.

Der Mensch ist sterblich, und er ist triebhaft. Er bleibt tierischem Schicksal und tierischen Antrieben ausgeliefert. Er mag diese auch nicht unbedingt missen, selbst wenn er ihnen immer wieder etwas hilflos gegenüber steht.

Die „Überlegenheit“ des Humanen über die Welt schlechthin (die in kaum einer Ideologie fehlt) wird vom Menschen selbst erkünstelt, sich selber zur Lust und Genugtuung, zuweilen noch gemeinsam mit einem gleichfalls erfundenen göttlichen Überwesen zur Rechtfertigung dieser „natürlichen“ Anmaßung. Aber sie hält dem bohrenden Verstand (der dem Menschen ebenfalls zu eigen ist), nicht stand. Nun muß sich der Mensch entscheiden: für das eine oder für das andere, für das eigene Wirken in Mühe oder für das fremde Gewirktwordensein in Erhabenheit.

Der Mensch bleibt bei aller seiner Spezialschlauheit zugleich auch erstaunlich inkompetent und darüber hinaus sogar grunddumm, d.h. er schafft mit seinem einzigartigen Verstand nicht nur die eigene Lebensabsicherung und dazu seine massige Vermehrung (seine biologische „Erfolgsstory“ gewissermaßen), er setzt mit eben diesem Verstand auch gleich alles wieder aufs Spiel. Zu Letzterem muß man gar nicht erst in eine ungewisse Zukunft schauen wollen, es genügt schon ein Blick in die jüngeren Vergangenheiten.

Einzelne Menschen mögen gegenteiliger Ansicht sein betreffs der Gewöhnlichkeit des Menschenverstandes, haben vielleicht auch triftige Gründe dafür. Für die Masse der Menschen gilt das aber nicht. Die Massen glichen immer schon sehr deutlich entsprechenden Erscheinungen aus dem Tierreich: Herden und Schwärmen, Schafen oder Heuschrecken. Die wenigen überragenden Einzelmenschen, die ihre zweifellos beachtlichen Spezialkenntnisse und Ausnahmefähigkeiten dem großen Organismus des humanoiden Lebens (und damit indirekt auch allen Menschen) zur Verfügung stellen, die damit vielleicht dem Anspruch des Nicht-mehr-Tierischen am nächsten kommen, bleiben Sonderfälle. Ausnahmen sind sie und nicht unbedingt immer nur beliebt. Wo ihre Einsichten über das Gewöhnliche, das Ordinäre, das Animalische hinausgehen, da haben sie vielleicht etwas zu sagen. Verstanden und akzeptiert werden sie jedoch von den Massen dann schon nicht mehr.

Daß der Mensch zumeist anders denkt, daß er meint, „sein“ Geist wäre etwas ganz Außerordentliches, Exorbitantes, etwas was ihn vollkommen und absolut vom Tierischen abhebt, das ist verständlich. Es kommt dies zuerst daher, daß jedes Lebewesen sowieso nur sich selber sieht und zugleich für zentral und weltbestimmend hält und ist also der natürliche, gesunde Egoismus der Art.

Es hat aber auch damit zu tun, daß sich in den letzten Jahrtausenden der menschliche Geist verselbständigt hat und so eigenwillig wie zufällig ein ganz eigenes Leben begann, unterstützt und forciert von dieser ominösen „Megamaschine“, von der noch die Rede sein wird.

Diese aber ist nicht mehr der Mensch. Sie ist etwas anderes, dem der Mensch unterliegt, dem er nicht mehr gewachsen ist, was er in seiner Gänze auch nicht mehr zu fassen vermag und welches darum doch noch lange nicht überirdisch oder göttlich ist.

Wo sich das Denken zur Zeit seiner Entstehung nur mit den Alltäglichkeiten des Menschen abgab und diese und nur diese sehr unmittelbar begleitete und an ihnen allein sich bildete und wuchs, da begann es sich eines Tages gewissermaßen auch auf Abwege zu begeben, stellte Fragen, die dem Alltäglichen nicht zukamen, befaßte sich mit Dingen, die zunächst nur lebensfremd erschienen, erschuf geistige Bilder, die keine realen Entsprechungen hatten, entdeckte aber auch Dinge und Zusammenhänge, die neue Kräfte mobilisierten und die ein ganz neues Leben ermöglichten, insbesondere das technische Leben - aber auch das bürokratische.

Am Ende waren die Papier kauenden und Kohle fressenden Monster entstanden. Der Mensch wurde abhängig von ihnen, bekam Uniformen, Leibwachen, Werkzeuge, Weisungsrechte, blieb dabei aber tief in seinem Inneren doch nur der kleine Mensch, der Urmensch von einst gewissermaßen, und begann etwas chaotisch und hilflos an „seiner“ neuen Kunstwelt herumzumurksen.

Mit dem Menschen selbst geht es nicht anders als mit der Natur insgesamt: Erst die Bewegung, dann - vielleicht - auch noch das Denken.

Trotzdem befindet sich im Menschen viel Verstand, viel mehr als anderswo in der Natur, so viel Vernunft, daß ihn darüber auch gleich Illusionen befallen: Bessere Welt, ewiger Frieden, Gerechtigkeit, Reich des Verstandes, Sieg des Fortschritts, Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit usw.

Doch dann kommen auch schon wieder die Urgewalten, das alte Dilemma, die Bewegung um jeden Preis und vor jedem Nachdenken, die maßlose Vermehrung, das Sich-Verlassen auf die Natur, auf Instinkte, auf eigene Launen und Gelüste, die Hingabe an uralte Automatismen und neue Maschinen, die wie Gespenster aus kalten Grüften mit eisiger Hand, aber heißem Ingrimm zupacken und zwingen, die zum Chaos animieren, zur Bewegung irgendwie, die viel versprechen, wenig halten und tatsächlich ganz gleichgültig sind und bleiben - eben nur das ewige Brodeln der Dinge unter der einheizenden Atom-Sonne auf diesem einen, einzigen blauen Planeten weit und breit.

Die Evolution erzeugt Bewegung vor dem Denken. Das ist nur natürlich, denn das Denken ist das Ende einer langen Kette von „Versuchen und Irrtümern“ der Natur. Und womöglich ist es selber auch nur ein Irr ­tum. Das wird sich erweisen.

Nun aber will sich mit dem Menschen und seinen Maschinen das Denken vor und über die Natur stellen - so oder so, ob es dies vermag oder nicht. Es wundert sich dann, was trotzdem und noch so alles passiert. Dieses Wundern wird zuweilen unheimlich und oft schmerzlich. Und tragisch ist, wenn es das Denken tatsächlich verursachte und allein das Denken, alles das, was dann so „unerwartet“ eintritt - nicht gewollt, aber doch erdacht.

So entsteht zum Beispiel „der Funktionär“ als ein eigentümliches Monster, halb Mensch, halb Golem, der nie so recht weiß, welchem „Herrn“ er eigentlich „dienen“ soll, der großen Maschine oder dem kleinen Mitmenschen, dem „Großen Ganzen“ oder doch am besten nur sich selbst?

Und jene erst, die dem großen Golem ihr bescheidenes Dasein verkaufen, damit er es aufpeppt und gewaltig macht, was sind das für Wesen? Sie bilden den Hintergrund zu der alten Legende vom Teufel und der Seele und machen sie damit zum Faktum als immer wiederkehrende, strukturierende, eher emotional erfühlte als rational erdachte Situation zwischen einzelnen Individuen und übermächtigen und damit zugleich auch verführerischen Gewalten aus einem Dunkel von irgendwo.

Der Mensch steht am Scheidewege: Was will er eigentlich?

Aber nur der Mensch steht dort, nicht jenes Tier, welches sich selber Homo sapiens zu nennen vermag. Dieses Tier, Homo sapiens, bzw. seine Gattung wird noch lange überleben, „der Mensch“ möglicherweise nicht.

In der Mitte des Lebens steht das „Glücksprinzip“ (vermutlich nicht nur beim Menschen). Es ist das so trivial, wie es merkwürdig ist. Denn ein „Glücksgefühl“ macht, daß zwar ein Mensch „glücklich“ ist, eine Maschine aber nicht - oder noch nicht.

Hier hat die Evolution ein Organ geschaffen, welches künstlich offenbar noch nicht nachgebaut werden konnte (ebenso übrigens das Leid). Aber man arbeitet daran. Und noch etwas ist dabei so merkwürdig wie selbstverständlich: Das Streben nach Glück und das Meiden von Leid.

Genau das ist das „Glücksprinzip“, welches überall vor und neben und auch hinter allen Motivationen steht - ohne daß man da erst lange fragt, ohne daß man sich dessen immer bewußt ist und auch dann, wenn man meint, sich nun aber einmal so richtig „schinden“ zu müssen für irgendwas, unglücklich sein zu müssen, zu leiden für eine Idee, für einen Sieg.

Das Glücksprinzip ist nicht rational, ist weder gut noch böse, ist erprobt in einer Jahrmillionen währenden Entwicklung, ist aber auch ziemlich unbestimmt und unzuverlässig und moralisch zweifelhaft. Es ist jedoch die allein treibende Kraft unter aller Vernunft. Ohne diese Kraft verkommt Vernunft zu einer Maschinenware, die an einem „Leben“ kaum noch Interesse haben könnte. Der Mensch aber besitzt einen Verstand, um seinem Glück nachzuhelfen und noch einiges mehr damit zu bewirken.

Es hat nicht jedes Leben auf dieser Erde das Glück, ein Mensch zu sein. Tier aber ist jedes Wesen - auch der Mensch. Das sollte - eigentlich - zu denken geben.

Die Geschichte der Menschen beginnt ohne Anfang. Man rechnet heute ca. zehn Millionen Jahre für die Zeit, in der ein erster Beginn für eine Menschenartigkeit zu suchen wäre. Das ist eine Zeit, die viel länger dauerte, als die Menschheit seitdem als eine solche lebt oder als bestehend angenommen wird. Der Mensch war in der meisten Zeit seines Daseins auf der Welt ein Entstehendes, ein Etwas, welches wird. Er ist es in gewissem Sinne heute noch.

Die lange, sehr langsame Geschichte dieser primären Entwicklung dürfte von einer beständigen „Weltenge“ geprägt gewesen sein: Zu viele Individuen auf zu wenig Raum. Der Mensch vermehrte sich immer wieder rasant und füllte schnell jedes Territorium, welches ihm Nahrung liefern konnte, bis zum Rande aus.

In der langen Zeit während dieser Entwicklung bedeutete das immer permanenten Kampf, gegen fremde Stämme, gegen konkurrierende Unterarten. Die Menschen waren immer auch Eroberer, führten Kriege und rotteten aus, was sie störte. Sie konnten es, also probierten sie es. Es nutzte ihnen, also übten sie sich weiter darin. Der Krieg und der Kampf gegen das Fremde, das Unvertraute, gehören vermutlich grundsätzlich zum Menschen dazu. Feindbilder bzw. die Fähigkeit dazu sind ihm gewissermaßen angeboren. Diesbezüglich ist der Mensch kein Romantiker und war es auch nie.

Man hat sich vielleicht nicht ununterbrochen geschlagen. Aber man schlug sich immer wieder. Da man das nun einmal „konnte“, tat man es auch, sonst wäre man anderweitig zugrunde gegangen, wäre verhungert, erstickt an seinesgleichen. Man ging sich aus dem Wege, wo das möglich war. Ansonsten rottete man alles aus, was dem eigenen Leben im Wege stand und was sich dabei irgendwie ausrotten ließ. Das hat sich bis heute kaum geändert.

Von der Vernichtung betroffen waren insbesondere jene Arten des Homo, die diesbezüglich weniger rigoros, weniger aggressiv, weniger selbstbewußt auftraten. Solcherart verschwand auch immer wieder das „missing link“, das fehlende Glied in der Kette vom Tier zum Menschen, was man daher in der heutigen Welt auch nicht mehr lebend finden kann. Es verschwand alles, was die Kämpfe und Kriege nicht überlebte. Das mußten allerdings nicht die sein, die am wenigsten überlebensfähig gewesen waren, die „Schwachen“ also. Die Evolution hat wie gesagt ihre eigene Logik und die geht nicht unbedingt mit einer genehmen Vernunft einher.

Der Mensch, der andere Mensch, speziell der besonders andere Mensch war jenseits aller Moral immer schon des Menschen Feind, nicht aber der Nahestehende, der Blutsverwandte. Der wurde das erst später. So blieben auf der Erde nur die Blutsverwandten übrig. Es ist dies auch der Grund dafür, daß alle Menschen zur gleichen biologischen Art gehören, daß es also heute nur eine einzige Menschheit gibt, die Überlebenden in diesem Bruderkampf nämlich. Alles andere ist niedergemacht worden. Auch heute noch zuckt es vielen in den Fingern, mit dem Ausrotten von Andersartigem munter fortzufahren - ohne dabei viel zu bedenken, daß sie selber eines Tages die Andersartigen sein könnten.

Daß das immer so gewesen ist, ist natürlich reine Hypothese, Vermutung. Einige wesentliche und dramatische Hinweise darauf liefert allerdings die bekannte Geschichte der Menschheit, in der diese Tendenz bis heute fortlebt. Leider ist das so und läßt sich nicht wegreden.

Sicherlich gab es auch immer wieder Stämme, die sich in extrem kargen Regionen gegen eine bloße Natur behaupteten, die sie immer wieder hinreichend dezimierte, so daß sie Kämpfe gegeneinander eher weniger nötig hatten. Dort hatten auch Spezies aus anderen Gebieten erst einmal gar keine Chance, geschweige daß sie auch noch erfolgreich Krieg führen konnten oder überhaupt wollten unter solch lebensfeindlichen Bedingungen. Um dort zu überleben, mußten die Menschen aber vieles können und eine Menge wissen. Sie mußten enorm klug sein und geschickt, geduldig und ausdauernd, vertrauensvoll und sozial. Sie mußten konstruktiv werden.

Die Kulturentwicklung, die aus den konstruktiven Bemühungen ums Überleben kam, produzierte das Mehrprodukt. Das Mehrprodukt jedoch wurde sogleich aufgefressen von den Mehr-Menschen, denen ja besonders die Konstruktivität das Überleben sichern wollte und mußte. Mit dem Mehrprodukt gelang es, einen wesentlichen Teil der Überbevölkerung auch noch zu ernähren und sie derart zu einer Normalbevölkerung zu machen. Es war tatsächlich die Konstruktivität und nichts anderes, die das Wunder des Mehrproduktes vollbrachte. Und es war die natürliche Vermehrung der Bevölkerung, die es sogleich wieder auffraß. Eine Menschheit, die ihre eigene Vervielfachung nicht bewußt zu steuern vermag, bleibt der Natur und der Evolution hilflos ausgeliefert.

Ein anderes war die neue Not der Unterdrückten, die daran beizeiten starben oder in Kriegen verheizt wurden und so wieder Ausgleich schufen gegenüber der Vermehrung. Die Kriege blieben, sie wurden nur gewaltiger und gewalttätiger. Ein besonderer, besonders dynamischer Typ, die Kämpfernatur, der Herausragende, der Auserwählte (wie er sich selber derart elitär sah), wurde zum Zentrum, zum Schlüssel der weiteren Menschheitsentwicklung als einer nun einsetzenden rasanten und sekundären Entwicklung von ganz anderer Artung. Dieser kraftvolle, machtvolle, dynamische Mensch machte aus der Menschheit eine weltbeherrschende, nicht mehr nur biologisch, sondern unterdessen auch schon geologisch einschneidende neue und eigene Spezies, wie es einst schon einmal die Riesenexemplare unter den Sauriern geworden waren, aber auch die vielen winzigen Kalkbildner der Urzeiten.

Die sekundäre und damit die „eigentliche“ Menschheit entstand.

Die Konstruktiven wirkten weiter, eher im Stillen und bescheiden, etwas kindisch und immer unter der Gnade und Obhut der höheren Kaste der besonderen Herrschaften. Sie hofften, die Mühen des Lebens mit ihren Erfindungen und Entdeckungen zu mildern. So hoffen sie heute noch. Sie schafften viel mit dieser Idee, doch das meiste wurde wieder gefressen von den Mehrmenschen. Die Technik begann allmählich ein Eigenleben, und die Bevölkerungszahl auf der Welt „explodierte“ regelrecht.

Unterdessen ist eine neue Etappe in der Entwicklung angebrochen, eine evolutionäre „Bifurkation“ bahnt sich an. Sie lautet: Mensch oder Technik?

Heute hat der Mensch (zumindest in den Industriestaaten) seine Vermehrung „im Griff“ - nicht durch seine Vernunft oder Einsicht - sondern vermittels Technik und anderer Präferenzen. Die Technik selber ist es, die sich (dort) jetzt unbändig vermehrt, ziellos und zügellos, die sich in einem unablässigen Wachstum vervielfacht und vorerst noch vom Erdöl lebt, von den Kohlen und den Erzen, dies alles frißt und verbraucht.

Die Frage ist, wie lange noch - und was wird dann?

Man vermutet heute, daß der Mensch der Gegenwart, der „eigentliche Mensch“ also, erst seit vielleicht hunderttausend, vielleicht auch schon seit fünfhunderttausend Jahren existiert. Das beides sind lange Zeiten. Die „Zivilisation“ ist erst rund zehn- bis zwanzigtausend Jahre alt und die moderne Industriegesellschaft erst ganze dreihundert Jahre - reichlich gerechnet. Diesen Zeiten umgekehrt proportional verhält sich in etwa die Zahl der zugleich auf der Erde lebenden Menschen und der von ihnen initiierten Energie- und Stoffumsätze. Letzteres macht die letzten dreihundert Jahre dann doch wieder vergleichbar mit den Millionen Jahren davor. Man sagt, daß niemals während des gesamten Bestehens der „Menschheit“ so viele Menschen gelebt haben wie jetzt am Beginn des dritten Jahrtausends westlicher Zeitrechnung. Und die Energie, die allein in der letzten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus der Erde mobilisiert und dann ins Weltall hinein verpulvert wurde, übertrifft ebenfalls alles, was vorher diesbezüglich umgesetzt wurde.

Was ist dem gegenüber dann aber noch der Mensch?

Ist er das Wesen von vor Millionen Jahren, oder ist er der heutige, der „moderne Mensch“, der Massenmensch also, der die Erde überzieht wie ein wild wuchernder Schimmelrasen auf einem noch immer fruchtbaren kohligen Substrat?

Aus einer evolutionären Perspektive bleibt der moderne Mensch (der heutige also) ein Nichts gegenüber den hunderttausend Generationen, die vor ihm waren und die allein prägten, was „Mensch“ war und wurde (und vermutlich noch lange bleiben wird). Es ist daher weise, sich heute noch an die alten Paläolithiker zu erinnern, die nur mit Grabstock und Keule, Stein und Fell durch die Wälder streiften, denn ihre Art überlebte etliche Jahrzehntausende und sogar die Eiszeiten. Und nur solches wird auch fürderhin überleben - so oder so. Dummheiten konnten sich diese Faustkeilspezialisten von einst jedenfalls eher nicht leisten.

Neben dem Menschen gab es immer auch ihre Gemeinschaft, das Soziale also, welches seine eigene Entwicklung hatte. Wenn heute alte Knochen von urtümlichen Hominiden gefunden werden, aus denen sich deren Gestalt rekonstruieren läßt, so gilt das für den sozialen Bereich nicht. Von den einstigen Menschengemeinschaften gibt es keine fossilen Überreste. Ihr Zusammenleben läßt sich nur sehr indirekt erschließen, wenn überhaupt. Bekannt von diesem „fossilen Sozialen“ ist eigentlich nur, daß davon noch reichlich Merkwürdiges zu erwarten ist. Der Mensch ist vom Affen vermutlich viel weiter entfernt, als es die gemeinsamen Gene anzeigen.

Die Menschenwesen gehörten nicht zu den solitär lebenden Tierarten, wie zum Beispiel Feldhamster oder Braunbär. Das eigentliche Soziale (das ursprüngliche Soziale) war und blieb immer auch prägend für sie. Dieses Soziale aber ist zugleich immer auch das Individuelle. Es ist nicht schlechterdings Unterordnung, sondern vor allem Mitwirkung. Es ist im individuellen Empfinden jedes Gemeinschaftswesens mit angelegt und dort vor allem emotional verankert, weniger „kulturell“ und künstlich erdacht.

Man geht heute davon aus, daß sich die Menschengemeinschaften über die längste Zeit ihrer Existenz auf eine geringe, überschaubare Zahl von Individuen beschränkte, auf die „Gruppe“ oder „Sippe“, also etwa zehn bis höchstens hundert Leute. Alles was darüber hinausging, entsprach einer anderen eigentümlichen Sozialität, war fremd, war erträglicher Nachbar oder gemiedener Feind, wurde geduldet oder verdrängt, wurde mißtrauisch wahrgenommen oder gleichgültig übersehen.

In der eigenen Sippe hingegen übte man bei allem sozialen Eifer eine erstaunliche Toleranz. Ein Angriff innerhalb der eigenen Sippe war „tabu“, blieb das allerletzte Mittel - und wurde fast auch schon ihr Ende.

Der Mensch ist also nicht nur der Mensch, er ist auch die Gemeinschaft, das Volk, die Masse, die Gesellschaft. Der Mensch, das ist auch Verein und Partei, Klasse oder Kaste.

Doch was eigentlich ist „eine Gesellschaft“?

Volk und Masse

Volk ist das Aktive, Masse das Passive - so könnte man vielleicht eine Unterscheidung treffen. Volk lebt, Masse reagiert. Volk versucht sich selber zu bewahren, Masse wird verwaltet. Volk ist die größere „Schicksalsgemeinschaft“, deren Untereinheiten sich aus dem Wege gehen können und trotzdem miteinander gut auszukommen vermögen. Im Volk will man einander nicht Feind sein. Massen werden geführt, organisiert, gelenkt und geleitet. Sie werden geknetet und umgerührt wie ein Brotteig, in welchem es gärt. Das Volk ist vielleicht der Hort der Weisheit, die Massen sind es nicht. Volk ist Hoffnung, Masse ist Blindheit.

„Die Massen“ von denen oft die Rede ist, sind nicht Mehrheit und auch nicht Vielzahl. „Masse“ ist ein eigenes Phänomen an sich und wurde in der Vergangenheit hinreichend bedacht.

(Gustave Le Bon, zitiert nach Elias Canetti)

In der Masse wird der einzelne Mensch fatal reduziert. Er bleibt Mensch, aber nicht mehr „ganz“. Nur noch die einfachsten, urwüchsigen Teile von ihm können sich äußern, agieren und reagieren. Vermassung bedeutet individuelle Reduktion zu Gunsten von Einheitlichkeit, Gleichförmigkeit, Gleichschaltung, freiwillig oder erzwungen. In der Masse ist der Mensch tatsächlich ein anderes Wesen, auch sich selber ziemlich fremd, doch aber immer noch Mensch und in einigen Aspekten nun sogar besonders, Massenmensch nämlich. Damit jedoch ist dieser Massenmensch nicht mehr „eigentlich dumm“, sondern „anders“, gewissermaßen ein anderes Wesen, welches eine andere Ansprache wünscht und anders agiert und welches sich auch leicht ausrichtet in irgendeinem politischen Kraftfeld. Massen können gut zuhören, sich selber aber nur schlecht artikulieren.

Zuweilen ist es schön und macht glücklich oder auch unauffällig, in der Masse „aufzugehen“. Ob das immer auch sinnvoll oder verständig ist, ist eine andere Frage. Masse ist immer das, was benutzt wird. Selber und an sich ist sie nur Herde, Menge, Trägheit, Wucht, eben „Masse“.

Die „Demokratie“ immerhin hat es geschafft, die Massen alle paar Jahre „Ja“ und „Nein“ sagen zu lassen (und „eh, laßt mich in Ruhe mit eurer Wahl!“) und hat ihr damit - als bloßer Masse - einen bereits beacht ­lichen Sprachschatz beigebracht.

Wo ein Volk unterdrückt und gegängelt wird, neigt man gern dazu, solchem Volk eine natürliche Klugheit zu unterstellen, eine „Massenklugheit“ gewissermaßen, die nur von der schnöden Herrschaft niedergehalten werde. Das unterdrückte Volk ist still und schweigt und überlegt sich tatsächlich genauer als sonst, was es sagt, wenn es sich äußert.

Wo das Volk dann „frei“ ist, merkt man schnell, wie einfältig selbstgerecht und kurzatmig es tatsächlich bleibt, wie unfähig und lernunwillig, wie selbstgefällig, arrogant und ignorant, wie sehr nur Masse und wie wenig Volk. Unter der Vielzahl seiner Konstituenten schlummern dann aber doch ganz erstaunliche Talente und Einsichten, einige hier und ganz andere da.

Weil das so ist, muß ein Volk beherrscht werden. Es kann sich nicht mehr allein, „demokratisch“ in der Welt bewegen. Das Volk (dieser etwas romantisierte „Körper“ der Massen) ist nicht mehr die überschaubare Sippe von einst. Es muß „regiert“ werden.

Jedes Volk hat dazu genau die Herrschaft, die es verdient. Dieser bekannte Spruch ist so traurig, wie er wahr ist und wie er immer wahr blei ­ben wird. Die Masse denkt nicht, sie lebt, sie plaudert und redet denen nach dem Munde, die ihr schmeicheln. Wie soll die Masse auch denken?

Ein Mensch kann denken, der eine so, der andere anders, der eine kurz, der andere lang, der eine tief, der andere flach und viele überhaupt nur sehr mäßig. Wie soll dieses Viele in Eines gehen, ausgerichtet, klar, eindeutig, brauchbar?

Darum hat das Volk seine „Vordenker“ (oder „haben“ diese eher „ihr“ Volk?).

Immerhin denkt auch das Volk, es denkt so sehr und so stark, daß man von obrigkeitswegen glaubte, dem immer wieder einmal Zügel anlegen zu müssen, daß man eine Meinungsfreiheit einzuschränken hatte oder daß man Meinungen und Anschauungen gleich von Anfang an, im „Status naszendi“ gewissermaßen, munter manipulierte.

Etwas denkt das Volk also doch. Oder sind das nur einige unter dem Volk, Sonderlinge, Aufrührer, Querdenker und Quertreiber, die sich da hervortun?

Die Menschen haben immer gedacht, denn sie sind denkende Wesen. Wenn sie heute nicht mehr denken oder nicht mehr so viel, dann darum, weil es sich nicht mehr lohnt, weil es daneben geht, weil andere es schon reichlich tun (oder eigentlich tun sollten) und weil man damit schnell mal quer steht zum großen Strom der Zeit.

Ein „Ruck sollte durch Deutschland“ gehen, wurde vor einiger Zeit einem deutschen Politiker in den Mund gelegt und den Massen zur Belehrung an alle Wände geklebt. Sollte dieser Ruck womöglich mit einem wieder selbständigen Denken eines ganzen Volkes beginnen?

Man wird immer in die Irre laufen, wenn man den „allgemeinen“ Leuten allgemeine geistige Fähigkeiten oder Einsichten unterstellt, die sie vielleicht haben sollten, aber nicht haben. Man darf sich dabei auch nicht von dem allenthalben vorhandenen geistreichelnden oder intellektualistischen Getue täuschen lassen oder vom satten Behauptungswahn aus den Herrenschichten.

Die Massen können gut und sicher nur mit Gemeinplätzen umgehen, die jeder akzeptiert, weil sie jeder anders und fast immer nur schön im eigenen Sinne versteht, „Freiheit, demokratisch, gerecht, ungerecht, reich, arm, Demokratie gut, Diktatur schlecht usw.“ Man tut weder den Leuten noch sich selber einen Gefallen, wenn man den allgemeinen mangelhaften Intellekt wegleugnet. Eine ganz andere Frage ist, ob man sich dazu lautstark und öffentlich bekennt oder Geschäfte gerade damit macht.

Es gehört zu den Grunddummheiten der Massen, daß sie das Gute, das ihnen selber Guttuende nie oder nur selten und wenn, dann mehr zufällig als bewußt gesucht und überdacht erkennen. Das ist auch der fatale Grund, warum sich das Gute nicht von allein durchsetzt, nur weil es „das Gute“ ist. Die Masse erkennt nur, was ihr eingeblasen wird. Sie leidet lieber, als daß sie versteht und einsichtig handelt. Die Masse wartet auf die Einbläser, damit die ihr die Welt erklären und ihr sagen, was gut und was böse ist, schön oder schlecht, modisch oder nicht mehr in die Zeit passend. Dann posaunen sie dasselbe weiter, lautstark, ingrimmig, brünstig. Die Massen sind wie Megaphone - und ganz ohne Batterie.

Individuum und Charakter

In der Gemeinschaft wirkt das Individuum wie das einzelne Atom in einer Substanz. Das Individuum ist überhaupt das Einzige, was unmittelbar und direkt wirkt. Nur die vielen einzelnen Individuen bewegen einzeln die Welt der Menschen. Doch sie alle werden auch bewegt, von anderen Individuen nämlich, vom Resultierenden aus deren Gesamtwirken, auch von abstrakten Bildungen, die aus kollektiven Prozessen stammen und sich mit Naturkräften vermengen. Das einzelne Individuum ist immer auch ein ausgeliefertes und damit bloß reagierendes Wesen, welches sich orientiert wie die Eisenfeilspäne im Magnetfeld.

Was das Individuum maßgeblich umgibt, ist das Soziale, das Systemare und das Natürliche. Für ersteres und für letzteres ist das Individuum von Natur aus begabt, der Mensch ebenso wie das Tier. Das Systemare hingegen ist exhuman und ist als das „Gespenstische“ zu einer neuen, spezifisch modernen Übermacht über den Menschen geworden.

Nicht Fähigkeiten und Begabungen sind sonderlich entscheidend, sondern der Charakter, der nämlich bestimmt, was aus Fähigkeiten und Begabungen wird, wie man sie einsetzt, ob man überhaupt etwas aus ihnen macht. Charakter ist nicht Intelligenz oder Verstand.

Der Charakter besteht aus angeborenen Komponenten, die sich intuitiv bemerkbar machen, und aus erworbenen, anerzogenen Teilen (Anpassung, Prägung), die wir bewußt erleben. Beide Komponenten müssen durchaus nicht miteinander harmonieren. Sie können recht verschieden sein.

Der Charakter ist im Menschen genau so etwas Ehernes und von Geburt oder früher Prägung an Gegebenes wie seine Statur oder Konstitution. Charakter läßt sich nicht ändern, nicht so ohne weiteres zumindest und nicht ohne andere, oft schmerzliche Verwerfungen in der Persönlichkeit. Charakter ist angeboren und gehört als solcher auch mit zu den unabweislichen glücklichen oder tragischen Erblasten eines jeden Lebens und einer jeden Person.

Im Gegensatz zu anderen angeborenen Besonderheiten weiß man das meist nicht und glaubt gerne, daß sich Charakter bilden, formen oder gar verändern lassen könne. Charakter aber läßt sich nur entfalten und ausleben - oder unterdrücken und deformieren.

Es gibt auch nicht den „charakterlosen“ Menschen, von dem gelegentlich die Rede ist. Vielmehr ist „Charakterlosigkeit“ selber eine der vielen besonderen Charaktervarianten mit spezifischer Eigenheit, die als Charakter genauso fest und starr angelegt ist wie alle anderen charakterlichen Anlagen. „Charakter zeigen“ ist ebenfalls eine Charaktereigenschaft, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen oder sich jedweden Menschen oder Umständen anzupassen, als „Kriecher“ etwa und eben „charakterlos“.

Charakter ändert sich mit dem Alter kaum. Eine „Persönlichkeit“ wird in der Pubertät (also mit rund fünfzehn Jahren) fast fertig. Aber Charaktereigenschaften werden in Abhängigkeit vom Alter anders bewertet bzw. wirken sich anders aus.

Änderungen des Charakters, so notwendig sie auch im eigenen Interesse oder im Gemeininteresse sein mögen, werden nur ungern in Angriff genommen, weil man - nicht ganz zu unrecht - vermeint, „sich selber damit zu verlieren“.

„Gehirnwäsche“, wo sie erfolgreich ausgeführt wird, ist fast immer mit einer grundlegenden Veränderung des Charakters verbunden. Da das meist nicht sehr harmonisch möglich ist, sind die Produkte derartiger Eingriffe auch schon durch ihr merkwürdig erkünsteltes Verhalten zu erkennen.

Im Charakter fügen sich Unterbewußtes und Bewußtes zur individuellen geistigen Eigenart der Persönlichkeit, die dann teilweise wie ein Programm deren Handeln beeinflußt, reguliert oder bestimmt.

Eine der häufigsten Selbsttäuschungen besteht in der Annahme, alle Menschen seien „so wie ich“. Weil ich selber mich einigermaßen kenne, erlaube ich mir, aus meinen Eigenarten auf die Eigenschaften aller zu schließen. Das ist bequem, und das ist einfach. Aber oft ist es falsch und gelegentlich sogar ganz falsch.

„Menschenkenntnis“ bedeutet zu wissen, daß es über einer Grundausstattung gemeinsamer Eigenschaften, die allen Menschen gleichermaßen zukommt, eine Vielzahl verschiedener Veranlagungen und Bildungen gibt, die quasi erst einmal als solche erkannt und entdeckt und dann systematisiert und rationalisiert werden müssen, die schließlich gelernt werden, ohne daß man sie emotional nachvollziehen, also eigentlich verstehen kann.

Charakter ist auch Schicksal. Das, was da in unserem Inneren angelegt ist, dieses unterbewußte Wollen oder Verweigern, diese Hemmungen oder Imperative, das Spontane, Phantasievolle, Kleinliche, Großzügige, Bedenken, Larifari, das alles beeinflußt auch unser Werden.

Wir Menschen sind viel weniger frei, uns selbst zu formen, als wir oft meinen. Zuerst formen uns äußere Umstände, Zwänge, Angebote, Freiheiten und wirken auslesend auf die charakterlichen Veranlagungen ein. Dann erst haben wir selbst ein wenig Spielraum und können fördern oder bremsen - falls wir überhaupt einen Sinn dafür entwickeln.

Der explizite (politische) Inhalt unseres Verhaltens ist der Realisierung dieses Verhaltens stets nach- oder untergeordnet. Die Verhaltensantriebe kommen aus dem Charakter und bilden eine primäre Aktivität, welche nachträglich mit den jeweils naheliegenden aktuellen, politischen Inhalten aufgefüllt werden. Anpassungsfreudige Eiferer dienen jedem Staat oder jedem System. Notorische Kritiker kritisieren alles.

Man könnte glauben, daß die Menschen bereits als Funktionäre, Wohltäter, Bürokraten, Altruisten, Zuhälter, Arbeitstiere, Intriganten, Playboys, Folterknechte usw. geboren werden und ihr ganzes Leben so tun, als hätten sie einen ganz natürlichen Anspruch auf diese ihre angeborene Rolle im Leben, auf deren Entfaltung in einer entsprechenden Kar ­riere. Das schafft Reibungen.