Die Kaffeefee - Dani Aquitaine - E-Book

Die Kaffeefee E-Book

Dani Aquitaine

0,0

Beschreibung

Mehr als eine magische Melange Kaffee – nicht nur auf Menschen wirkt der schwarze Zaubertrank belebend, auch Zombies, Dämonen oder Drachen lassen sich von seiner Wirkung verführen. Manchmal genügt eine Tasse für ein kleines Glück. Und manchmal braucht es einen Schuss Einhornmilch oder Phönixeier, damit er seine Wirkung voll und ganz entfalten kann. Zwölf magische Geschichten rund um Kaffee, Feen und andere Wesen erwarten euch. Und am Ende der Kaffeetafel sitzt die dreizehnte Fee. Die mit dem Tee. weniger anzeigen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 262

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Kaffeefee
Impressum
Die Gesundheitsfee warnt
Schwarzrausch
Eine Bohne zwischen Himmel und Hölle
Der Troll, der Xaffee mochte
Kaffeefeuer
Die Formeln der Welt
Aminata wartet
Space Oddities
Der Kaffeedieb
Cà phê trúng
Ein Becher Glück
Unbekannter Systemfehler
Café Apokalypse
Die 13. Fee
Die dritte Dose
Konkurrenzlos: Der Illustrator
Der Tassenschreck
Mehr

Die Kaffeefee

Zwischen Chaos-Cappuccino und Magischer Melange

Herausgeberinnen

Diana Menschig und Grit Richter

Impressum

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

Copyright © 2022 Art Skript Phantastik Verlag

1. Auflage 2022

Art Skript Phantastik Verlag | Salach

Lektorat » Diana Menschig

Korrektorat » Melanie Vogltanz | www.lektoratvogltanz.wordpress.com

Illustrator » Holger Much | www.holgermuch.de

Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Druck » BookPress

www.bookpress.eu

Print-ISBN » 978-3-945045-18-3

eBook-ISBN » 978-3-945045-19-0

Der Verlag im Internet

» www.artskriptphantastik.de

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Gesundheitsfee warnt

Das vorliegende Buch enthält möglicherweise Inhalte mit unerwünschten Nebenwirkungen. Neben den bekannten Folgen wie der Gefährdung der Unwissenheit durch Lesen und die pseudoinduzierten Wirkungen des Kaffees (Stichwort: Kopfkino) wie Schlaflosigkeit, Zustand übermäßiger Energie oder gesteigertes Verlangen nach Koffein, sind insbesondere folgende Inhalte zu nennen:

1. Schwarzrausch: Rauschzustand, Demenz

2. Eine Bohne zwischen Himmel & Hölle: Sklaverei, Charaktertod (impliziert)

3. Der Troll, der Xaffee mochte: Krieg

4. Kaffeefeuer: Sklaverei

5. Die Formeln der Welt: Depression, Krieg (erwähnt), Suizid (impliziert)

6. Aminata wartet: Sklaverei, Tod

9. Cà phê trứng - Erkenntnisse aus Eierschaum: Rauschzustand

10. Ein Becher Glück: Prüfungsangst

11. Unbekannter Systemfehler: Mobbing

12. Café Apokalypse: (Zombie-)Gore

13. Die dritte Dose: Charaktertod

Die hier aufgeführten Inhalte sind gegebenenfalls nicht vollständig. Das Auftreten zusätzlicher Nebenwirkungen kann nicht ausgeschlossen werden, da weiterführende wissenschaftliche Untersuchungen bisher ausstehen. Der Genuss der Kaffeefee geschieht daher ausdrücklich auf eigenes Risiko. Der Rechtsweg, insbesondere die Konsultation gnomischer Anwaltskanzleien, ist ausgeschlossen.

Schwarzrausch

Dani Aquitaine

Ida klopfte sich lose Erde von den Handschuhen und schob den Panamahut in den Nacken. Ihre alten Knochen protestierten schmerzhaft, als sie sich aufrichtete, um ihr Werk zu begutachten. Die beiden mannshohen Eibischsträucher links und rechts des schmiedeeisernen Tores, das aus ihrem Garten in den Wald führte, machten sich wunderbar.

Befriedigung erfüllte sie, nicht zuletzt deswegen, weil sie für die Büsche keinen Cent bezahlt hatte. Gut, sie hatte sich dafür von Gärtner Zwiebelmeiers Lieferwagen umfahren lassen müssen. Arglos war sie die Hauptstraße entlanggeradelt, als sie plötzlich einen Schlag verspürte, der sie unsanft auf den Asphalt beförderte. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, waren die espressoschwarzen Augen unter dem weißen Schopf des drahtigen Gärtners gewesen.

»Scheiße!«, hatte er gerufen.

»Na!«, hatte Ida gerügt.

»Ich fahre Sie zum Arzt.« Zwiebelmeier half ihr auf die Beine.

»Ach, woher. Mir fehlt nichts.«

»Sie stehen unter Schock. Hinterher haben Sie doch was abbekommen, und dann hagelt es Klagen.«

»Es geht mir gut. Reparieren Sie das Fahrrad, und alles ist in Ordnung.«

Widerstrebend hatte er nach einigem Hin und Her den Drahtesel zu Jackies Bikes und Ida nach Hause gebracht; nicht ohne einen Umweg über seine Gärtnerei, wo er die beiden Sträucher mitgenommen hatte. Frisch von Ida gepflanzt, wiegten sich die prächtigen Büsche mit den tropisch anmutenden Blüten in Zartrosa und Violett nun neben Wasserdost und Nachtkerzen im süß duftenden Spätsommerwind.

»Frau Böhm?«, ertönte eine Stimme vom Zaun her.

Überrascht wandte sich Ida um. Es war ungewöhnlich, dass sich jemand hierher verlief; das Grundstück war das letzte im Veilchenweg. Dahinter erstreckte sich nur Wald. Und die Nachbarn grüßten sie mit Vornamen.

Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und machte sich auf den Weg zur Gartentür. »Ja bitte?«

Auf dem Gehweg fand sie einen untersetzten Herrn Mitte dreißig vor, dem Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe standen. Mit seinem dunkelgrauen Anzug samt Krawatte war er definitiv zu warm für die Jahreszeit angezogen. In der einen Hand hielt er einen Aktenkoffer, in der anderen einen Autoschlüssel, der offenbar zu dem mattschwarzen SUV hinter ihm gehörte.

»Mein Name ist Casper van der Murks.«

Die alte Dame entspannte sich. »Ah, Sie sind verwandt mit Josef van der Murks?«

»Richtig. Josef war mein Großvater.«

»War?«

Casper van der Murks nickte, ohne die Miene zu verziehen. »Er ist im Mai von uns gegangen.«

»Das tut mir leid.« Das tat es wirklich. Josef war der beste Vermieter aller Zeiten gewesen. Er hatte ihr freie Hand gelassen und kein einziges Mal in den letzten vierzig Jahren die Miete erhöht. So dankbar war er, dass sie sich seinem Elternhaus mit solcher Hingabe widmete, wie er stets betont hatte. »Kommen Sie doch auf einen Kaffee herein. Und darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten? Sie wirken … erhitzt.«

Ein Lächeln zog seine wulstigen Lippen auseinander. »Das wäre zauberhaft.«

***

Während Ida in der kleinen Küche die Filterkaffeemaschine in Gang setzte, sah sich Casper van der Murks um und tippte auf seinem Smartphone herum.

»Nehmen Sie bitte im Wohnzimmer Platz.« Mit dem Tablett trieb sie den Gast vor sich her bis zur geblümten Couch. Casper ließ sich einschenken, rührte jedoch weder den duftenden Kaffee noch die Anisplätzchen an, sondern stürzte nur das Wasser hinunter.

»Danke.« Er ließ die Aktentasche aufschnappen, die neben ihm auf dem Sofa thronte, und entnahm einige Dokumente. »Ich bin froh, dass ich Sie persönlich antreffe. So können wir die vertraglichen Angelegenheiten direkt klären.«

Ida spuckte fast den Kaffee über den Tisch. »Halt, halt! Welche Angelegenheiten?«

»Wir haben viel vor, wissen Sie …«

»Wir?« Sie zeigte abwechselnd auf sich und ihren Gast.

Er legte sich die fleischige Hand auf die Brust. »Wir. Meine Gesellschafter und ich.« Mit der anderen fischte er eine Broschüre aus dem Koffer und legte sie demonstrativ neben Idas Untertasse. »Hier wird ein wundervolles Golf-Resort mit Spa entstehen.«

Ida glaubte, sich verhört zu haben. »Hier?«

»Genau hier.«

»Ich habe lebenslanges Wohnrecht.«

»Sie haben Wohnrecht, bis Sie ausziehen.« Caspar verzog die Lippen erneut zu einem unsympathischen Lächeln. »Beispielsweise in die Seniorenresidenz Himmelreich im Nachbarort.«

Voller Abscheu stieß sie aus: »Eher sterbe ich.«

»Dort ist es sehr schön.«

»Kann ich mir nicht leisten.«

Caspar tippte auf die Unterlagen. »Mit unserer großzügigen Abfindung werden Sie das.«

»Lebendig kriegen Sie mich hier nicht raus.« Resolut verschränkte Ida die Arme vor der Brust.

Caspar seufzte nachsichtig. »Liebe Frau Böhm, ich habe es im Guten versucht, aber Sie machen es mir nicht leicht. Die Bedingung für Ihr Wohnrecht lautet, dass Sie Haus und Garten in Schuss halten. Picobello.«

»Selbstverständlich! Der Garten ist …«

»Der Garten, ja. Aber das Haus wurde in den letzten Jahrzehnten arg vernachlässigt.« Er holte sein Handy hervor und las seine Notizen vor: »Teppichboden abgewetzt, Küchenfliesen gesprungen, Waschbecken rissig …«

»Aber picobello sauber!«, warf Ida empört ein. »Wäre es nicht Sache des Vermieters, sich um die Renovierungsarbeiten zu kümmern?«

Ihr Gast ignorierte ihren Kommentar. »Ich lasse Ihnen die Kündigung und die Abfindungsvereinbarung hier, damit Sie sich mit den Optionen anfreunden können.«

Ida klappte den Mund auf und wieder zu. Fassungslos beobachtete sie, wie van der Murks den Aktenkoffer schloss und ihr knapp zunickte.

»Wir beginnen im Herbst mit dem Aushub; ich erwarte Ihre Antwort zeitnah. Meine Telefonnummer finden Sie auf der Rückseite der Broschüre. Danke – ich finde selbst hinaus.«

Ida wäre ohnehin nicht imstande gewesen, auf die Beine zu kommen; sie zitterte vor Entsetzen und Wut. Erst als der SUV eine Minute später mit aufheulendem Motor davonbrauste, griff sie mit bebender Hand zu ihrer Tasse und leerte sie in einem Zug. Half nichts. Der Schreck saß zu tief in ihren Knochen.

Schnaps, dachte sie.

Für gewöhnlich trank sie nichts. Alkoholtrinken war etwas Geselliges, und sie lebte allein. Deshalb war das einzig Hochprozentige in ihrem Haus der Kochsherry. Wackelig tappte sie in die Küche und holte die alte Flasche aus dem Vorratsschrank hervor. Ida machte sich nicht die Mühe, ein passendes Glas zu suchen, sondern setzte sie direkt an die Lippen. Ein Schluck … pfui Teufel. Noch einer. Und noch ein großer. Beruhigende Hitze breitete sich in ihrem Bauch aus, und sie atmete tief durch. Was für ein Mist.

Van der Murks hatte recht – das Haus hatte wirklich schon bessere Zeiten gesehen. Doch ihre Rente und das bisschen Ersparte reichten niemals für die Renovierungsarbeiten, die nötig wären, um den Aushub und damit den Abriss zu verhindern – abgesehen davon, dass ihr die Zeit dafür fehlte. Ihr wurde ganz anders. Ihr Haus! Ihr Garten! Ihr Leben!

»Seniorenresidenz Himmelreich«, knurrte sie voller Verachtung und setzte die Flasche erneut an.

Batz!

Irgendein Insekt war gegen ihr Küchenfenster geklatscht. Etwas Großes, dem Geräusch nach zu urteilen. Eine Libelle? Oder gar ein Zaunkönig?

Ida verkorkte die Flasche und öffnete das Fenster. Sie wollte kein armes Tier auf dem Gewissen haben, weil sie wegen Trunkenheit keine Erste Hilfe leisten konnte.

Verdutzt starrte sie auf das Fensterbrett. Sie schloss das Fenster. Ergriff die Sherryflasche und studierte das vergilbte Etikett. Sie starrte durch die Scheibe. Zwinkerte. Zwickte sich. Nahm ihren Pfannenwender aus der Schublade und die Käseglocke aus dem obersten Schrank. Schnaufte tief durch und öffnete das Fenster erneut.

Beherzt schob sie den Pfannenwender unter den kleinen, geflügelten Körper und hob ihn damit auf die Arbeitsfläche. Mit einer schnellen Bewegung setzte sie die Glasglocke über das Wesen.

Sie holte die Lupe von ihrem angestammten Platz neben der Fernsehzeitung und betrachtete ihren Gast ungläubig.

»Ein … Libellenmensch«, flüsterte sie.

Obwohl, war das wirklich ein lebendiges Wesen? Sie lachte ungläubig auf. Sicher war das eine dieser neuartigen Maschinen, von denen sie kürzlich gelesen hatte. Eine Drohne. Hatte Caspar die geschickt, um sie auszuspionieren? Ida wedelte triumphierend mit dem Pfannenwender. »Da musst du früher aufstehen, van der Murks.«

Dennoch ließ Ida die Libellendrohne nicht aus den Augen, und als nach ein paar Minuten Leben in das zarte, etwa zwölf Zentimeter große Wesen kam, zuckte sie zurück.

Es setzte sich auf und schüttelte benommen den Kopf, sodass seine strubbeligen dunkelblauen Haare nur so flogen. Unter einem schillernden Brustpanzer trug es enganliegende, feingemusterte grüne Kleidung.

Warum gab sich jemand solche Mühe, ein Spionagegerät zu dekorieren? Nein, das Ding musste ein Spielzeug sein. Vielleicht hatten die Kinder aus der Nummer 26 es herübergeschossen?

Die Flugpuppe sprang auf die Füße, ließ ihre durchsichtigen, zartgeäderten Flügel vibrieren und klatschte – batz! – gegen die Käseglocke. Sie rieb sich die Stirn, dann stemmte sie entrüstet die Fäuste in die Hüften. Mit überraschend tiefer Stimme motzte sie: »Was soll der Scheiß?«

»Na!«, rügte Ida. Pädagogisch wertvoll verhielt sich diese Actionfigur nicht.

Das Wesen schürzte die Lippen. »Tschuldigung. Lass mich raus.« Nach einer kleinen Pause würgte es hervor: »Bitte.«

Mit Höflichkeit konnte man Idas Herz erweichen. Und es war nur ein Spielzeug, oder nicht?

Sobald sie den Glasdeckel hob, sauste es an ihr vorbei. In der Luft drehte es einige Pirouetten.

»Alter Falter, was ist das für eine Riesenbude? Gestern war hier alles noch voll der heilige Hain, und jetzt sind überall harte Eiswände.«

»Glas«, versetzte Ida staunend. »Gehörst du den Kindern aus der Nummer 26?«

Das Ding umsirrte sie rasch und hielt ihr seine winzige Faust vor die Nase. »Ich gehöre niemandem außer mir selbst, Rod Bilsenkraut, merk dir das«, schnaufte es voll Ingrimm.

Sie spürte seinen Atem wie eine Brise auf ihrer Haut. Ida tastete nach der Lupe auf der Arbeitsfläche und schob das Vergrößerungsglas zwischen sich und den Wicht, der in seiner aggressiven Pose verharrte. Sie sah das zornige Funkeln in seinen moosgrünen, von langen Wimpern umgebenen Augen. Aber sie hörte kein maschinelles Brummen, nur das Summen feiner Flügel.

Das Ding war tatsächlich lebendig, kein technisches Spielzeug. Es ließ die Faust sinken und schnupperte. »Du, Dame Sonnenhut? Was riecht hier so phänomenal geil?«

»Dame Sonnenhut?«, echote Ida verblüfft.

Rod Bilsenkraut zeigte auf ihre mit großen rosafarbenen Blüten gemusterte Bluse. »Echinacea purpurea«, nickte er und zog schnüffelnd die Nase kraus. »Ich habe so was noch nie gerochen! Hammer.«

»Meine Bluse?«

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Quatsch. Ich rede von dem Gewürz, das in der Luft liegt.«

Es dauerte einen Moment, bis Ida begriff. »Meinst du den Kaffee?«

Doch der kleine Kerl sauste schon davon, und Ida sah zu, dass sie mit der Lupe hinterherkam. Sie fand ihn über die unberührte Tasse von Caspar van der Murks gebeugt.

Als er den Kopf hob, glänzten seine Augen in leuchtendem Hellgrün. »Was, bei allen Kryptophyten, ist das?«

»Das ist Kaffee. Möchtest du probieren?«

Rod nickte eifrig und machte Anstalten, mit den Händen in der Tasse zu schöpfen, doch Ida rief streng: »Na!«

Er hielt inne, während sie aus dem Nähkasten neben ihrem Fernsehsessel einen Fingerhut aus Porzellan fischte. Mit einem Teelöffel füllte sie eine kleine Menge ein und reichte ihrem Gast das Behelfsgefäß. »Möchtest du Milch? Oder Zucker?«

Rod ignorierte sie. Beidhändig stürzte er das Gebräu hinunter und stand für einen Moment ganz still. Nur seine Pupillen schienen zu wachsen. Dann ließ er den leeren Fingerhut achtlos auf die Tischdecke fallen und verschwand. Feiner, hellblauer Glitzer war zurückgeblieben, schwebte nieder und löste sich auf.

Verblüfft sank Ida in ihren Sessel.

»Ich muss verrückt sein«, murmelte sie. Sie griff nach ihrem Handy. Ich muss verrückt sein, tippte sie in einer Nachricht an ihre Großnichte Franzi, und löschte sie sofort wieder. »Muss ja keiner wissen.« Erschüttert starrte sie an die holzvertäfelte Zimmerdecke. Da bemerkte sie die Regenbogenspur in der Luft. Ehe sie den schillernden Streifen fokussieren konnte, war er schon verschwunden. Dafür entstand ein neuer bei der Durchreiche, und kurz danach ein weiterer vor der Orchidee am Fenster. Etwas sirrte mit einem Affenzahn an ihrem linken Ohr vorbei, sodass der hochtönende Dopplereffekt ihr Hörgerät zu Höchstleistungen zwang.

»Rod Bilsenkraut?«, fragte Ida und fühlte sich idiotisch. Keine Antwort. Natürlich.

Das ging einige Minuten so, dann machte es mal wieder Batz! und die spiegelnde Thermoskanne bremste Rods rasanten Flug. Diesmal erging er sich nicht in Flüchen, sondern sank vollkommen erschöpft, aber selig lächelnd auf der Untertasse in sich zusammen.

»Hammer«, wiederholte er mit schwerer Zunge und schloss die Augen.

Ida zückte die Lupe. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles superduperahorngeil, Dame Sonnenhut.«

»Ich heiße Ida. Wo kommst du eigentlich her?«

»Von da drüben.« Er wies vage in Richtung des Waldes. »Bin zwischen Hamabo und Marina durchgesaust.«

Es dauerte einen Moment, bis Ida begriff, dass er sich auf die neu gepflanzten Eibischbüsche bezog.

»Und was genau bist du?«

»Bin von den Bilsenkrauts. Glücklos, aber freundlich.«

Freundlich? »Geht so.«

Ruckartig setzte er sich auf. Obwohl seine Pupillen noch geweitet waren, schaffte er es, sie anzusehen. »Stimmt. Mit der Glücklosigkeit ist es ab jetzt vorbei.« Er sprang auf und zeigte auf die Tasse. »Kannst du mir noch mehr davon besorgen?«

»Sicher … aber ich habe nicht den Eindruck, dass Koffein dir guttut.«

»Ach, Portulak!« Er winkte lässig ab. »Das Koffeeding tut nicht nur mir gut, sondern auch meinen Freunden und denen, die im Espenviertel was zu sagen haben. Und dann krieg ich die Wohnung im oberen Großgrün und Zypressin Lilly Weidenwurz wird mein Werben endlich ernstnehmen. Ich werde es zu etwas bringen!« Ausgelassen tanzte er zwischen dem Porzellanservice herum, dass es nur so klirrte. »Also, was möchtest du pro Normtau haben?«

Ida verstand nur die Hälfte von dem, was Rod plapperte. »Normtau? Ist das eine Maßeinheit? Kaffee besteht eigentlich aus Bohnen, die gemahlen werden und …«

»Das heißt, es ist ein Pulver?« Er klatschte in die Hände. »Perfekt. Zeig her das Zeug.«

Zurück in der Küche beäugte er die dunkelbraune Substanz, die Ida ihm auf einem Espressolöffel entgegenhielt. Er tippte einen befeuchteten Finger hinein und leckte ihn ab. Und – ssst – keine Sekunde später sauste er wieder im Regenbogenschweiftempo durch die Wohnung.

Schwer atmend landete er kurz darauf auf der Arbeitsfläche. Er musste sich am Griff der Kasserole festhalten, um auf den Beinen zu bleiben, und seine Pupillen hatten das Grün seiner Iris fast vollkommen verschlungen.

»Nein, dir noch mehr Kaffee zu geben, ist wirklich keine gute Idee«, beschloss Ida. Sie fühlte sich für den kleinen Kerl verantwortlich.

»Du musst«, lallte er, »denn ich geb dir alles, was du willst. Du kannst gar nicht widerstehen. Wunschlöwenzahn?« Er vollführte eine beiläufige Geste, und ein Schwarm von Löwenzahnsamen manifestierte sich in der Luft und segelte durch die Küche.

»Herrje, bloß nicht!«, rief Ida entsetzt aus.

»Rosen?« Eine weitere laxe Handbewegung verwandelte die Samen in eine Wolke roter Blüten.

»Kitschig!«

»Mammutbaum! Null kitschig. Super mächtig!« Die Blüten verdichteten sich zu einem Stamm, der rasch an Dicke und Höhe gewann.

»Um Himmels willen! Hör auf! Die Decke!«

Unbeeindruckt zerwedelte Rod den Baum zu kleinen schimmernden Partikeln, die abwartend in der Luft verharrten. »Du hast es nicht so mit der Natur, oder? Lieber was Mineralisches? Metallisches?« Er zeigte auf die Kaffeemaschine.

Entsetzt wollte Ida seinem Treiben Einhalt gebieten, da folgten die Teilchen wirbelnd seinem Fingerzeig und umhüllten die Maschine. Sobald sie sich gelegt hatten, glänzte sie in einem warmen Farbton, vom Wärmesockel bis zum Filter.

Ida blieb fast die Spucke weg. »Ist das …«

»Gold. Hättest du sie lieber aus Granit? Kein Problem, ich …«

»Haaalt! Halthalthalt.« Sie schluckte trocken. »Ist sie komplett aus …«

»Gold. Ja. Zu schwer?«

»Nein. Schon in Ordnung«, brachte sie hervor, »dann steht sie besser. Lass sie so.«

»Gefällt dir, hm?«

Ida räusperte sich. »Wie viel Kaffeepulver möchtest du denn dafür haben?«

Rod legte den Kopf schief und rieb sich das spitze Kinn. »Hm … Kannst du mir zehn Löffelfüllungen besorgen?«

Ida verkniff sich ein irres Lachen. »Das sollte ich hinbekommen.«

***

Fünfmal flog Rod hin und her, bis er die Ware, wie er das Kaffeepulver nannte, in mit Bienenwachs überzogenen Blütenkelchen abtransportiert hatte. Ida wässerte ihre neugepflanzten Sträucher und beobachtete indes, wie Rods Gestalt verpuffte und nichts als eine blaue Glitzerwolke zurückließ, sobald er die Pforte Richtung Wald passierte. Jedes Mal, wenn er durch das schmiedeeiserne Gitter zurück in den Garten sauste, manifestierte er sich wieder.

»Was ist hinter dem Tor?«, wollte sie wissen.

»Na, der Wald. Siehst du doch.«

»Derselbe Wald?«

Rod zog ein Gesicht, als halte er sie für minderbemittelt. »Logo. Warum sollte man zwei Wälder verwenden, wenn einer reicht? Durch das Portal werde ich für dich sichtbar. Und du für mich. Es presst unsere Ebenen sozusagen auf eine.«

Abends tippte Ida doch eine Nachricht an Franzi. Brauche dich morgen, mit Auto. Muss meine Kaffeemaschine verkaufen.

***

Sowohl ihre Großnichte als auch der Bankangestellte reagierten zurückhaltend auf Idas Anlagestrategie. Vermutlich hielten sie die Kaffeemaschine für Kitsch aus Falschgold. Nach einigem Hin und Her wurde das Gerät schließlich in einem Schließfach verstaut und Ida mit dem Versprechen abgespeist, ein Investmentberater würde sich in den nächsten Tagen bei ihr melden.

Indes transportierte Rod weitere Kaffeeladungen ab und verwandelte dafür eine Schöpfkelle, den Toaster und eine Guglhupfform in Gold. Tagsüber holte Ida Angebote von verschiedenen Handwerkern ein und nahm ihnen das Versprechen ab, loszulegen, sobald sie liquide war. Abends nähte sie grammweise Kaffee in winzige Filtertütensäckchen, während Rod sich die eine oder andere Ladung reinpfiff, anschließend auf den Orchideenblättern im Fenster chillte und von seiner angebeteten Zypressin schwärmte.

Alles lief bestens – abgesehen davon, dass der Banker nicht zurückrief und eines Abends eine martialisch wirkende, geflügelte Delegation auf ihrem Küchenfensterbrett stand und Einlass begehrte.

»Dame Sonnenhut?«, fragte ein breitschultriger, schwarzgepanzerter Flügelmann forsch.

Ida zögerte. »Womöglich?«

Der kleine Typ salutierte. »Mein Name ist Waldemar von Ecker, Anführer der westlichen Streitkräfte und oberster Polizeichef von Lichthag.«

Sie zückte die Lupe. Von Ecker trug eine Art Lanze in der Hand und einen schimmernden Helm auf dem kantigen Kopf.

»Ich darf Ihnen die Hohepriesterin Margaritae vorstellen.« Er wies auf die zarte Gestalt neben sich, die einen gewundenen Stab dabeihatte und mit ihrer veilchenblauen Robe und dem Kopfschmuck aus gefächerten Blütenblättern sehr geheimnisvoll aussah. Dann nickte er in Richtung eines sturmzerzausten hellblonden Typen, der eine Weste aus Baumrinde und eine blattgemusterte Hose trug, die der von Rod glich. »Und das hier ist Jim Moorhasel. Er leitet die kürzlich ins Leben gerufene Sonderkommission zur Rauschbekämpfung. Dürfen wir einfliegen?«

Rauschbekämpfung? Dieses Wort erfüllte Ida mit schlechtem Gewissen. Sie fasste zum Fenstergriff. »Also, gerade passt es mir gar ni…«, da sprang der Polizeichef schon auf die Arbeitsfläche und nickte knapp.

»Sehr freundlich. Danke für Ihre Kooperation.«

Die Hohepriesterin und Jim Moorhasel flatterten hinterdrein.

»Wo können wir uns ungestört unterhalten?«, fragte dieser.

Ida wusste nicht, was in ihrer Küche stören sollte, doch da Rod in der Orchidee schlief und dieser Besuch höchstwahrscheinlich mit ihm zu tun hatte, schlug sie vor: »Lassen Sie uns ins Arbeitszimmer gehen.«

Das Arbeitszimmer war nicht mehr als eine kleine, holzvertäfelte Kammer mit Schreibtisch und Bügelbrett. Auf Letzterem marschierte der Polizeichef auf und ab und führte aus: »Es gibt einige Angelegenheiten, die dringend der Klärung bedürfen. Erstens: die ungenehmigte Schaffung eines Portals. Zweitens: Herstellung und Verkauf der verbotenen Substanz Schwarzrausch. Drittens: das Verschwinden eines unserer Bürger, Rodrigo Bilsenkraut. Wir vermuten, dass diese drei Fälle in Zusammenhang stehen. Und sie scheinen mit Ihnen zu tun zu haben.« Von Ecker stach seine Lanze mit entschiedener Geste in Idas Richtung.

Die hob ihr Kinn. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ist Ihnen Rod Bilsenkraut bekannt?«

»Nie von ihm gehört.«

»Sollten Sie einem Kriminellen Unterschlupf gewähren, können Sie rechtlich belangt werden.«

Ida presste die Lippen aufeinander und verweigerte die Aussage.

»Ein Portal zu erschaffen ist den Menschen nicht gestattet«, hob Margaritae mit weicher und doch durchdringender Stimme an zu sprechen. »Es führt zu Chaos, auf beiden Seiten. Daher muss es unverzüglich geschlossen werden.«

»Ich habe kein Portal geschaffen! Ich habe …«

»Sie haben am alten Tor die heiligen Büsche wurzeln lassen!« Voller Rage flog die Hohepriesterin auf. Ihr fedriger Stehkragen schien sich zu sträuben.

Ida stieß die Luft aus. »Ja, na gut, schuldig. Ich habe ein Portal erschaffen.« Sie verzog den Mund. »Unabsichtlich.«

»Sobald alles geklärt ist, werden Sie die Pflanzen umsetzen.«

»Soweit kommt’s noch«, murmelte sie.

»Wie bitte?« Wieder stieß von Eckers Lanze auf die Luft vor ihrer Nase ein.

Ida zuckte nonchalant mit den Schultern. »Ich werde einen Gärtner beauftragen. War’s das?«

»Keineswegs.« Auf dem Schreibtisch stieß Jim Moorhasel sich vom ledernen Stifteköcher ab und begann, auf herumliegenden Papieren umherzutigern. »Schwarzrausch ist eine äußerst gefährliche Substanz. Sie führt zu übertriebener Euphorie, Pflichtvergessenheit, Enthemmung und ungesunder Schnelligkeit, gefolgt von extremen Erschöpfungszuständen. Kurz gesagt: Der Wald steht Kopf, seit diese Droge im Umlauf ist. Und wir vermuten, dass sie durch Ihr Portal in unsere Welt gelangt ist.«

»Dann ist das Problem doch gelöst, sobald ich die heiligen Büsche am alten Tor entwurzle.«

Margaritae flatterte so entsetzt auf, dass eine Glitzerwolke aus ihren Flügeln aufstob. »Ent…«

»Ich lasse sie umsetzen. Sanft und liebevoll«, versicherte Ida eilig.

»Es ist uns wichtig, dass Sie verstehen, was Ihre unüberlegte Interaktion bei uns anrichtet.«

Langsam wurde Ida sauer. »Ich interagiere nicht. Ich wohne hier.«

»Was ist das da?« Jim starrte auf eines der Dokumente unter seinen Füßen. »Golf-Resort und Spa? 36-Loch-Anlage? 5-Sterne-Wellnesshotel?« Er zog ächzend ein weiteres Papier hervor, auf dem ein Geländeplan abgebildet war. Fassungslos sah er auf. »Sie wollen unseren Wald abholzen?«

»Ich doch nicht!« Ida ließ sich erschöpft in ihren Bürostuhl sinken. »Mein Vermieter will das, der verdammte Caspar van der Murks.«

Von Ecker und die Hohepriesterin hatten sich neben Jim eingefunden. Voll Entsetzen studierten sie die Broschüre mit der Karte und beratschlagten sich aufgeregt flatternd. Ida hörte nicht hin; die ganze Misere stand ihr plötzlich so präsent vor Augen, dass ihre gesamte, mühsam demonstrierte Stärke in sich zusammenfiel. Es war utopisch zu glauben, dass alle Renovierungsarbeiten in der kurzen Zeit umzusetzen waren – nicht mal mit einer 24-Karat-Kaffeemaschine als Finanzierung. Tränen stachen in ihren Augenwinkeln. Sie blinzelte sie eilig fort, als die Hohepriesterin mit ernster Miene vor ihr aufschwebte.

»Dame Sonnenhut? Machen Sie sich keine Sorgen.« Sie lächelte liebevoll. »Sehen Sie meinen Stab? Oben drauf sitzt ein Amethyst.«

Na und?, wollte Ida sagen, aber ihre Zunge gehorchte ihr nicht.

»Sehen Sie, wie sich das Licht darin bricht?«

Ida nickte träge. Ihr Körper schien mit einem Mal goldschwer, ihr Geist libellenleicht zu sein. Er strebte aufwärts, weg, weg, weg von Aushub und Kaffeerausch und dreisten Verhörmethoden.

Sie nahm noch wahr, wie die Köpfe von Jim Moorhasel und von Ecker neben dem von Margaritae auftauchten, dann entglitten ihr die Lupe … und das Bewusstsein.

***

Oh nein, Seniorenresidenz Himmelreich, dachte Ida, als sie umgeben von zartblauem Wandanstrich erwachte. Anscheinend hatte sie es sogar gemurmelt, denn Franzis muntere Stimme widersprach: »Nein, nur die Nervenklinik.«

»Klapsmühle?« Idas Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.

»Das sagt man nicht mehr.«

»Warum?«, brachte Ida hervor und drehte sich zu ihrer Großnichte um, die ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug.

»Es klingt despektierlich«, behauptete diese und rückte schulmeisterlich ihre schwarzumrandete Brille zurecht.

»Warum bin ich hier, meine ich?«

»Erinnerst du dich denn gar nicht mehr?«

»Der Gärtner hat mich umgefahren. Und van der Murks will mich aus dem Haus werfen. Und …« Ida biss sich auf die Zunge. Nein, sie würde jetzt nicht von Schwarzrausch und Zauberamethysten erzählen.

»Der physische Schock durch den Unfall und die seelische Belastung durch den drohenden Verlust deines Hauses müssen zu einer Art Nervenzusammenbruch geführt haben, sagt Dr. Schneider. Das ist der Arzt, der dich in den letzten Tagen behandelt hat«, erklärte Franzi. »Es tut mir leid, dass ich nicht früher erkannt habe, wie schlecht es dir geht. Schon bei meinem letzten Besuch warst du irgendwie … neben der Spur. Und vor einer Woche hast du im Garten an den Eibischbüschen gezerrt, als wolltest du sie eigenhändig ausreißen. Da haben die Nachbarn den Notarzt gerufen. Als ich bei dir zu Hause ein paar Sachen für die Klinik zusammengepackt habe, habe ich die Nähmaschine, die Filtertüten und den ganzen Kaffee gesehen.« Franzi legte den Kopf schief, sie hoffte wohl auf eine Erklärung.

Idas Herz klopfte heftig. Konnte es sein, dass sie sich alles eingebildet hatte? Je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher formulierte sich die Frage in ihrem Kopf um: Glaubst du wirklich, dass dir Feen goldene Küchengeräte für ein paar Gramm Arabica überlassen? Was, verdammt, lagerte dann bloß im Schließfach ihrer Bank? Ihre alte Filterkaffeemaschine? Kein Wunder, dass der Investmentbeauftragte sie nie zurückgerufen hatte.

Franzi sah ihr das Unbehagen an. »Das ist doch nicht so schlimm. Es war einfach ein bisschen viel auf einmal. Du kommst wieder auf die Beine.«

Ida schämte sich, dass sie diesen Feen-Unsinn ernsthaft geglaubt hatte. Am liebsten hätte sie sich unter die Bettdecke verkrochen. Dass ihr Gehirn unzuverlässig wurde und sich zu solchen Eskapaden aufschwang, erfüllte sie mit Angst. Und diese pseudofriedliche Umgebung machte es nicht besser.

»Wann kann ich hier raus?«

»Jederzeit. Ich habe Dr. Schneider überzeugt, dass das in Ordnung geht, da ich fürs Erste bei dir einziehen werde.«

Ida schlug die Bettdecke zurück. »Dann nichts wie weg!«

***

Während sie auf den himmelblauen Plastikstühlen vor dem Stationszimmer auf die Entlassungspapiere warteten, holte Franzi einige Briefumschläge aus der Handtasche.

»Ich habe deine Post mitgebracht. Vielleicht magst du dir damit die Zeit vertreiben.«

Ida blätterte kurz durch die Kuverts. »Werbung, Werbung, Rechnung, Werbung … Oh, ein Brief von Michl Zwiebelmeier.«

»Dem Gärtner?« Franzi warf einen finsteren Blick auf die Klappkarte, die Ida aus dem Umschlag zog.

Ich hätte Sie doch zum Arzt fahren sollen, stand da in ungelenker Schreibschrift. Ich hoffe, Sie bald wieder gesund und munter auf Ihrem Fahrrad zu sehen. Es wartet repariert in Ihrem Garten auf Sie.

Mit einem kleinen Lächeln steckte Ida die Karte zurück und wandte sich dem letzten Brief zu. Er kam von ihrer Bank.

Sehr geehrte Frau Böhm,

bitte entschuldigen Sie die Verzögerung. Aufgrund der ungewöhnlichen Art Ihrer Wertanlage hat die Expertise unseres Gutachters etwas länger gedauert; Sie finden seine Stellungnahme anbei. Wir würden uns freuen, Sie jederzeit in unserer Filiale begrüßen zu dürfen, um die für Ihre Bedürfnisse optimale Anlagestrategie zu besprechen.

Idas Auge zuckte. Sie tastete nach Franzis Hand, als wolle sie sich mit der Realität verankern, und blätterte mit zitternden Fingern auf die zweite Seite um.

Da brüllte plötzlich eine Männerstimme: »Lassen Sie mich augenblicklich los!«

Reflexartig blickten beide Frauen in Richtung des Foyers. Ein untersetzter Mann mit vor Wut verzerrtem Gesicht kämpfte gegen zwei breitschultrige Pfleger an. »Ich bin nicht verrückt!«, tobte er.

»Das ist ja Caspar van der Murks«, staunte Ida.

»Der fiese Vermieter? Na, dem werde ich was erzählen.« Franzi richtete sich empört auf, doch Ida hielt sie fest.

»Warte.«

Van der Murks hatte sich mit einem Arm losgerissen und gestikulierte wild herum. »Die haben mich bedroht! Die müssen Sie einsperren und nicht mich!« Seine Stimme wurde schrill. »Sie sind etwa so groß und haben Flügel und Lanzen und … es sind unglaublich viele.« Er wurde blass und sackte in sich zusammen. »Sie sind bösartig. Beschützen Sie mich. Bitte.« Die letzten Worte krochen kaum hörbar über seine wulstigen Lippen. Weinend ließ er sich abführen.

In Idas Ohren summte es. Benommen wandte sie sich der zweiten Briefseite zu, überflog Fachbegriffe und Zahlen und schluckte. Sie zupfte an Franzis Hand. »Siehst du das hier auch?«

Franzi riss die Augen auf. »Dreihunderttausendachduscheiße!«

»Na!«, rügte Ida und musste doch grinsen. Anspannung und Angst fielen von ihr ab. Sie stand energisch auf und klopfte an die Scheibe des Schwesternzimmers. »Seien Sie so gut und senden Sie uns die Unterlagen per Post. Franzi, fahr uns heim. Ich mach uns erst mal Kaffee, und dann stell ich dir jemanden vor!«

***

Dani Aquitaine wurde in München geboren, ging dort zur Schule und studierte Marketing-Kommunikation sowie Graphik-Design. Am liebsten schreibt sie auf ihrem Balkon am grünen Stadtrand von München, in den Hügeln der Toskana oder auf langen Zugfahrten irgendwo dazwischen. Neben dem Schreiben als unabhängige Autorin gestaltet sie u.a. Websites und Buchcover, trainiert Bogenschießen und spielt E-Bass und Klavier. Kaffee liebt sie, Gartenarbeit weniger.

Auf ihrer Website dani-aquitaine.de und

bei Instagram @dani.aquitaine freut sie sich über Besuch!

Eine Bohne zwischen Himmel und Hölle

Auf den Spuren von Typhon Smirks Kaffee

Annika Franke

Wie kam es, dass ein so winziges Ding derart viel Macht besaß?

Nachdenklich rollte Ophelia die Kaffeebohne zwischen Daumen und Zeigefinger, fuhr die Einkerbungen nach, die das Wort Furchtlosigkeit bildeten.

Den Zwergen verlieh die Bohne übernatürliche Kraft, weshalb sie tagelang und ohne Pause in den Bergwerken verschwinden konnten und mit Loren voller Silber zurückkehrten. Zentauren nahmen stets einen kräftigen Schluck des smirk’schen Kaffees, um sich für eine nahende Schlacht mit unerschütterlicher Tapferkeit zu wappnen. Die Stimmen der Meerjungfrauen erhielten erst durch ihn ihren betörenden Klang und die Elfen konnten mithilfe der Flüssigkeit sogar in die Zukunft blicken.

Ohne Frage: Aus einem Berg Kaffeebohnen stach diese hervor wie ein Diamant aus einem Haufen Kohle. Bloß weshalb? Wie stellte Typhon Smirk sie her?

Ophelia tauchte die Bohne in ein Honigglas, steckte sie sich in den Mund und kaute eine Weile darauf herum. Währenddessen strich die junge Journalistin über den Kopf ihrer Stubenphönixhenne Hope, die auf dem Lampenschirm hockte. »Weißt du, all das hier hat bald ein Ende.« Ophelia drehte sich mit ihrem Stuhl im Kreis und zeigte dabei auf die Wände der kleinen Abstellkammer, die ihr Büro sein sollte. »Nie mehr diese faden Artikel über eine Fürstenhochzeit in Theaceae. Keine erlogenen Essays, die das Drachensterben leugnen. Und erst recht keine schnöden Berichte über einen Badeausflug der Königin zu den berüchtigten heißen Quellen.« Ihre Umgebung verschwamm in einem grauen Strudel, als sich Ophelia schneller drehte und dabei glücklich lachte. »Ab morgen beginnt für uns ein neues Leben.«

Hope flatterte zur Schreibmaschine hinüber und ließ die Tasten klackern. Das ist Wahnsinn! Dann stieß sie einen freudigen Schrei aus. Aber ich bin dabei.

Ophelia grinste. »Der Nervenkitzel macht den Spaß erst aus.« Die Kaffeebohne entfaltete eindeutig ihre Wirkung. »Wie furchtbar langweilig wäre ein Leben, in dem schon alles feststeht? Kein Risiko, keine Veränderung, sagte schon der weise Cappuccinius.«

Das wäre mir neu, tippte Hope.