Die Knochenjägerin - Kathy Reichs - E-Book

Die Knochenjägerin E-Book

Kathy Reichs

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die erfolgreichste Serienheldin aller Zeiten ist zurück – Tempe Brennan im Dauereinsatz

Eine packende Sammlung all dessen, was an Tempe Brennan begeistert – knochentrockener Humor, spannende Tatortarbeit und eine Ermittlerin zwischen wissenschaftlichem Genie und alltäglichem Wahnsinn. 4 Fälle in einem Band.

"Tempe Brennans erster Fall":

Es ist Dezember, und an der Anthropologischen Fakultät der Universität von North Carolina sitzt Temperance Brennan an ihrer Doktorarbeit. Als zwei Cops ungebeten ihr Labor betreten, ändert sich Brennans Leben von einem Tag auf den anderen. Die Detectives Slidell und Rinaldi untersuchen den gewaltsamen Tod eines Arztes, dessen stark verbannte Leiche in einem Wohnwagen gefunden wurde. Ob Tempe mit ihrer Erfahrung im Analysieren menschlicher Überreste die Identität des Opfers bestätigen kann? Widerwillig erklärt Tempe sich bereit, den Ermittlungsbehörden zu helfen. Ihr erster Kriminalfall stellt nicht nur ihr ganzes Können auf die Probe, sondern bringt auch das Leben der Detectives und ihr eigenes in große Gefahr...

Dieser Kurzroman von 90 Seiten erscheint zum ersten Mal und exklusiv in "Die Knochenjägerin - Vier Fälle für Tempe Brennan". Der Sammelband enthält desweiteren die bislang als E-Books erschienenen Kurzromane "Fährte des Todes", "Wasser des Todes" und "Gletscher des Todes".

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fährte des TodesDie Originalausgabe Bones In Her Pocket erschien 2013 bei Scribner, Simon and Schuster, New York, Copyright © 2013 by Temperance Brennan, L.P.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Berr

Wasser des TodesDie Originalausgabe Swamp Bones erschien 2014 bei Bantam Books, an imprint of Random House, Penguin Random House Company, New York, Copyright © 2014 by Temperance Brennan, L.P.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Berr

Gletscher des TodesDie Originalausgabe Bones on Ice erschien 2015 bei Bantam Books, an imprint of Random House, Penguin Random House Company, New York, Copyright © 2015 by Temperance Brennan, L.P.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Berr

Tempe Brennans erster Fallerscheint erstmals in Die Knochenjägerin

Kathy Reichs

Die Knochenjägerin

Vier Fälle für Tempe Brennan

Aus dem Amerikanischenvon Klaus Berr

Blessing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Originaltitel: The Bone Collection – Four NovellasOriginalverlag: Bantam Books, Penguin Random House Company, New York1. Auflage, 2017

Copyright © 2016 by Temperance Brennan, L.P.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-20380-1V001www.blessing-verlag.de

Inhalt

Fährte des Todes

Wasser des Todes

Gletscher des Todes

Tempe Brennans erster Fall

Fährte des Todes

Aus dem amerikanischen Englischvon Klaus Berr

1

Ich klammerte mich an einer Strebe fest, während der Mule hüpfte und schlingerte, und seine Teile schepperten wie ein Schrottwagen aus dem Korea-Krieg. Ich blies Luft nach oben in dem vergeblichen Versuch, die Haare zu befreien, die auf meiner Stirn klebten, denn loslassen wollte ich die Verstrebung dieses allradgetriebenen Geländefahrzeugs auf gar keinen Fall.

Wie ich mir eine Künstlerkolonie auch vorgestellt hatte, zu meinem Bild gehörten auf jeden Fall zahlreichere und besser erhaltene Straßen. Diese hier bestand aus dichtem Wald, einem gelichteten Streifen für Stromleitungen und einem Netz holperiger Wege durch dichtes Unterholz. North Carolina meets Jurassic Park.

Aber ich war nicht hier, um mit der Natur zu kommunizieren oder um die Kreativität meiner linken Gehirnhälfte zu fördern. Ich war hier, um eine Leiche zu bergen.

Eigentlich hatte ich für heute ein paar entspannte Runden auf dem Booty Loop, Charlottes berühmter Jogging-Strecke, Mittagessen mit meiner Freundin Anne und einen Bummel durch die Galerien in NoDa, dem Kunstdistrikt nördlich der North Davidson Street, geplant. Ich schnürte mir gerade meine Nikes, als ich den Anruf meines Chefs erhielt.

»Es ist Samstag«, hatte Anne protestiert, als ich ihr die schlechte Nachricht überbrachte. »Warum kann das denn nicht warten?«

»Willst du vor dem Mittagessen wirklich über Verwesung reden?«

»Ist für so etwas nicht die Polizei zuständig?«

»Das ist mein Fall.« Als forensische Anthropologin des Mecklenburg County Medical Examiner sind nicht identifizierbare menschliche Überreste mein Fachgebiet. »Vor ein paar Wochen wurden am Mountain Island Lake eine Fibula und eine Tibia, also ein Schien- und ein Wadenbein, sowie zwei Wirbel gefunden. Die Polizei dachte, es handle sich um eine vermisste Person namens Edith Blankenship.«

»Ich habe in den Nachrichten davon gehört. Ein Collegemädchen, nicht?«

»Masterstudentin an der UNCC.« Ich meinte damit die University of North Carolina Charlotte, mein zweiter Arbeitgeber.

»Nicht Edith?«

»Der Amelogenin-Test ergab, dass die Knochen von einem Mann stammen«, sagte ich.

»Ich steh drauf, wenn du schmutzige Wörter in den Mund nimmst.«

»Ich habe den Kerl noch nicht identifiziert.« Der Unbekannte lag in einer Kiste in meinem Labor. Fallnummer: MCME-422-13. Ich hatte eine Sonaruntersuchung der kleinen Bucht beantragt, in der die Knochen angespült worden waren. War jetzt vielleicht gar nicht mehr nötig. Weniger Papierkram. Ein schwacher Trost.

Anne gratulierte mir nicht für mein Engagement im Dienst an der Öffentlichkeit.

»Derselbe Kerl, der die Knochen gefunden hat, glaubt, er hätte noch mehr entdeckt.«

»Und du musst jetzt den Rest von Mr. Tibia Fibula einsammeln.«

»Vielleicht habe ich ja danach noch Zeit, mich mit dir zu treffen.«

»Aber wasch dir ja vorher die Hände.« Anne legte auf.

Der Mule machte einen Satz nach links und schoss durch eine unsichtbare Öffnung in den Bäumen nach unten. Mich hätte es beinahe mit dem Kopf voran durch die offene Seite nach draußen geschleudert. Der Kerl am Steuer schrie über die Schulter.

»Alles okay?« Leichter Akzent.

»Bestens«, brachte ich gerade noch heraus.

Mein Fahrer war ein Kunst-Cowboy namens Emmett Kahn. Die Bezeichnung stammte von ihm, nicht von mir. Vor einer Stunde hatte er mich mit einem herzlichen Lächeln und einem knochenbrechenden Händedruck begrüßt.

Ich schätzte Kahn auf etwas über sechzig. Zottelige schwarze Haare, olivfarbene Haut, dunkle Augen mit schweren Lidern, Koteletten, groß wie Hochrippensteaks. Als erfolgreichem Kunsthändler gehörten Kahn die einhundertzwanzig Hektar, durch die uns dieser wilde Ritt führte.

»Ich nenne das Anwesen hier Carolitaly, weil es die Form eines Stiefels hat. Wir sind unterwegs zum Zeh. Wissen Sie viel über den Mountain Island Lake?«

Ich schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.

»Der See wurde 1929 als Reservoir für die Wasser- und Dampfkraftwerke aufgestaut. Er wird vom Catawba River gespeist und ist der kleinste der drei künstlichen Seen in Mecklenburg County.«

»Groß.« Mehr als Höhlenmenschengebrabbel brachte ich nicht heraus. Land ausgedehnt. Fahrt holperig. Tempe durchgeschüttelt.

»Deshalb habe ich einen Verwalter. Skip kümmert sich um die Sicherheit.« Kahn deutete mit dem Kopf zu dem Betonklotz von einem Mann auf dem Beifahrersitz. Er war kantig in jeder Hinsicht. Kantige Schultern, kantiger Rücken, ein Bürstenschnitt, der auch seinen Kopf kantig machte. Eine Fliegersonnenbrille verdeckte Skips Augen, aber ich war mir sicher, dass er finster dreinblickte.

»Skip ist Polizist in Gaston County. Es hilft, wenn man lokal vernetzt ist, wissen Sie?«

Der Mule richtete sich wieder aus und gestattete einen klaren Blick auf den östlichen Horizont. Tief, dunkel und regenschwer hingen dort die Wolken.

Der ebenere Untergrund gestattete mir zu schreien: »Ich dachte, wir sind in Mecklenburg?«

»Die County-Grenze verläuft durch die Mitte des Sees. Mein Besitz liegt auf beiden Seiten. Mein Mann Skip wusste, dass Mecklenburg eine Knochenlady hat, und schlug mir vor, bei euch anzurufen.«

Schlau, Skip. Die Polizei von Mecklenburg hatte es beim MCME abgeladen. Und mein Chef hatte es mir aufgeladen.

»Um genau zu sein, ich arbeite für den Medical Examiner.«

»Sind Sie Coroner?«

»Forensische Anthropologin. Ich untersuche die Leichen, die für eine normale Autopsie zu schlecht erhalten sind.«

»Wasserleichen zum Beispiel.« Kahns Verwendung des Begriffs deutete auf zu viel Fernsehen hin.

»Ja.« Und die Skelettierten, die Mumifizierten, die Verwesten, die Zerstückelten, die Verbrannten und Verstümmelten.

»Ich hab das im Fernsehen gesehen. Sie finden raus, wie alt das Opfer ist? Ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß? Wie es gestorben ist, oder?«

»Ja.«

»Können Sie das mit nur vier Knochen auch?«

»Bei Fragmenten wird’s schwierig«, rief ich. »Gut, dass Sie mehr gefunden haben.«

Irgendetwas spritzte von einem Hinterreifen weg und prallte an einem Felsbrocken ab.

»Sind wir bald da?«

Kahn ignorierte meine Frage, oder er hatte sie nicht gehört.

»Also je mehr Knochen, umso einfacher ist es, den Mörder zu fangen.«

»Wenn es Mord ist.«

Ich hatte meine Zweifel. Mr. Tibia Fibulas Knochenrinden waren glatt und ausgebleicht. Zu glatt und ausgebleicht. Ich nahm an, dass sie schon Jahrzehnte herumlagen. Ich würde auf ein ausgewaschenes Grab tippen. North Carolina hatte ziemlich laxe Gesetze in Bezug auf private Bestattungen. In den Appalachen war es nicht unüblich, dass Opa neben Bello im Hinterhof landete.

»Wurden alle Knochen an derselben Stelle gefunden?«

»Die ersten vier wurden am Arch Beach angespült. Sollen wir einen Abstecher dorthin machen?«

»Ein anderes Mal.« Aus den Wolken dröhnte unheimliches Grollen. »Und der Fund von heute?«

»Am Zeh, gegenüber der Mecklenburger Seite.«

»Dem gegenüberliegenden Ufer der Halbinsel«, konkretisierte ich.

»Als der Fluss letzte Woche Hochwasser hatte, stieg der See um fünf Meter. Die ganze Landspitze war unter Wasser, die Tasche hätte also von beiden Seiten kommen können. Skip überprüfte eben die Schäden, als er sie in einem Baum verfangen sah. Einmal schnuppern, und er rief an.«

Tasche? Schnuppern? Ich bekam so eine Vorahnung.

»Ich dachte, Sie hätten Knochen gefunden.«

Kahn strahlte mich über die Schulter an. »Sie haben darauf bestanden, dass wir anrufen, falls wir noch irgendwas finden, und deshalb haben wir es getan. Wir haben nichts angerührt, damit der Fundort nicht kontaminiert wird.« Eindeutig zu viele Fernsehkrimis.

Verärgerung stritt mit Unbehagen. War das eine völlig sinnlose Suche? Eine kolossale Verschwendung meines Samstags?

Kahn riss am Lenkrad, der Mule machte einen Satz um neunzig Grad, holperte einen Abhang hinunter und kam kurz vor dem Wasser zum Stehen. Als der Motor verstummte, war die Stille ohrenbetäubend. »Wir sind da.«

Ich sprang heraus und schaute mich um.

Wir standen auf einer schmalen Landzunge, die offensichtlich erst kürzlich überflutet worden war. Wellige Erde. Verstreut liegende Kiesel und Muschelschalen.

Ich schaute Skip fragend an. Er deutete zum See.

Äste verfingen sich in meinen Haaren, als ich mir einen Weg zum Wasser bahnte. Kahn und Mr. Gesprächig warteten ein Stück weiter oben.

Auf dem schlammigen Ufer lag ein toter Fisch, die Eingeweide quollen ihm wie Pilze aus dem Bauch. Überraschend wenige Fliegen nutzten das günstige Angebot. Fraßen sie woanders? Hatte der heraufziehende Sturm sie vertrieben?

Ich schaute am Stamm einer Kiefer entlang, die halb am Ufer, halb im Wasser lag. Entdeckte etwa drei Meter im Wasser eine übergroße blaue Leinentasche, auf der es von Fliegen wimmelte.

Ich drehte mich um und fragte meinen redseligen Begleiter: »Sie haben die Tasche nicht angerührt?«

»Nee.« Skip konnte doch sprechen. »Der Gestank reichte mir.«

»Wann haben Sie sie gefunden?«

»Zwei, drei Stunden.«

Ich zog Handschuhe an, denn inzwischen feuerten meine Neuronen staccato. Gestank? Fliegen auf alten Knochen?

Froh um meine Gummistiefel, watete ich ins Wasser. Die Männer schauten schweigend zu.

Das Waten war schwierig. Der schlammige Grund saugte bei jedem Schritt an meinen Stiefeln. Das Wasser stieg, schwappte mir schließlich in die Stiefel, durchnässte meine Socken und bescherte mir kalte Füße.

Ich war fast bis zur Hälfte im Wasser, als ich die Tasche erreichte und mir der Geruch entgegenschlug.

Die Hoffnung, mit Anne Aquarelle anschauen zu können, verschwand augenblicklich.

Die Fliegen. Der Geruch. Da stimmte was nicht.

Ich starrte die Tasche an und überlegte. Sofort Verstärkung rufen? Sie erst ans Ufer zerren und dann im Institut anrufen?

In den Wolken über dem anderen Ufer des Sees pulsierte Elektrizität. Das Grollen wurde lauter.

Vergiss das Protokoll. Ich wollte mir auf keinen Fall von einem Blitz den Hintern rösten lassen.

Nachdem ich mit meinem iPhone Fotos geschossen hatte, beugte ich mich vor und zerrte an der Tasche. So stand ich aber nicht sicher genug, um das Ding zu befreien.

Ich ging näher ran. Mit Calliphoridae in Gesicht und Haaren, riss ich die Griffe von dem Ast, an dem sie sich verfangen hatten. Die Tasche klatschte ins Wasser.

So schnell meine wassergefüllte Fußbekleidung es erlaubte, zog ich meine Beute zum Ufer. Verärgerte Fliegen folgten mir.

Skip half mir, den Sack durch den Schlamm und die Uferböschung hochzuschleifen. Wasser triefte aus dem Leinen und floss aus einem fünfzehn Zentimeter langen Riss an der Seite.

Zurück auf festem Boden, schoss ich noch ein paar Fotos. Dann zog ich den Reißverschluss auf und klappte die Lasche hoch. Ernüchterte Fliegen machten sich in Richtung Fisch davon. Sushi im Freien.

Die Leiche war bekleidet. Unter den durchweichten Stoffen erkannte ich Reste von Bändern und hier und dort einen Fetzen grüngrauen Gewebes.

Doch das war es nicht, was mir den Atem stocken ließ.

Die Beine waren scharf nach hinten gebogen, die Knochen schlanke Röhren unter dem schlammbedeckten Jeansstoff.

Beine.

Plural.

Das hier war auf keinen Fall Mr. Tibia Fibula.

2

Skip half mir, die Tasche auf den Mule zu laden. Der holprige Ritt mochte Schäden verursachen, aber ich wollte nicht warten. Inzwischen blitzte es ernsthaft.

Die Rückfahrt verlief gedämpft, sogar Kahn schwieg. In der Siedlung hatte ich genug Signalstärke für einen Anruf.

Tim Larabee, Chefpathologe am MCME, war so überrascht wie ich. Als er mich losgeschickt hatte, hatte er nichts anderes als Knochen erwartet.

Larabee fragte, ob ich die Tasche in meinem Kofferraum transportieren könne. Verdammt noch mal, nein. Ich hatte das einmal gemacht. Nur einmal. Der Gestank hing im Auto, solange ich es besaß. Vielleicht auch nur in meinem Kopf. Wie auch immer, ich würde es nicht noch einmal tun.

Larabee versprach, einen Transporter zu schicken.

Wir warteten inmitten von Blockhütten, die eher in die Alpen als ins Carolina-Vorgebirge gepasst hätten. Kahn erklärte, dass sie Ateliers für Künstler auf Besuch enthielten, aber ich sah keinen Hinweis auf andere Anwesende. Skip sagte nichts.

Nach zwanzig Minuten entschuldigte sich Kahn, weil er etwas zu erledigen habe. Ich fragte mich, ob er sich mit seinem Anwalt in Verbindung setzte. Skip blieb bei mir. So stumm wie bisher.

»Mountain Island Lake klingt, als hätte man sich nicht so recht entscheiden können.« Ich versuchte es mit Small Talk.

»Mountain ist die Insel in der Mitte.« Das Kinn wanderte in Richtung Wasser.

»Muss tief sein.«

»Fast zweihundert Meter. Der See hat eine Fläche von dreizehn Quadratkilometern und achtundneunzig Kilometer Ufer.« Zwei Sätze. Bei Skip war ein Damm gebrochen.

»Das ist eine Menge See.«

»Die Leute in Charlotte trinken viel Wasser.«

»Inzwischen geht das Gerücht, dass viele auf Wasser in Flaschen umsteigen.«

Skip hatte für meinen Humor nichts übrig. »Wir holen pro Jahr fünf oder sechs Leichen raus. Meistens ertrunkene Bootsfahrer. Manche finden wir nie.«

Vielleicht sollte auch ich auf Evian umsteigen.

Kahn kam wieder zu uns, deshalb richtete ich meine Fragen an ihn.

»Wie viele Leute haben Zugang zu diesem Gebiet?«

»Nur meine Familie, meine Gäste und Skip. Im Augenblick haben wir zwei Künstler, die hier wohnen. Wir ändern den Code fürs Tor, sooft wir daran denken, aber es ist ein großes Gebiet und ziemlich durchlässig.«

»Eingezäunt?«

Kahn wackelte mit der Hand. Ja und nein. »Wir haben einen gemeinsamen Grenzzaun mit den Jungs von Duke Energy. Aber der ist alt und ziemlich vernachlässigt, außer von mir.«

»Die Riverbend Steam Station, das Kohlekraftwerk?« Ich hatte es bei der Herfahrt gesehen, ein ungeschlachtes Ensemble aus Kaminen, Ziegelbauten, Förderbändern und einem Gewirr aus Leitungen, das aussah wie etwas aus einem postapokalyptischen Film.

»Ja. Ein kohlebetriebenes Kraftwerk aus dem Jahr 1929, als der See aufgestaut wurde. Riverbend wurde ans Versorgungsnetz angeschlossen, um den Bedarf in Spitzenzeiten abzudecken. Die Anlage ist so marode und schlecht gewartet, dass die Anwohner fuchsteufelswild sind. Und die Lage wurde noch schlimmer, als Duke das Kraftwerk vor ein paar Monaten stilllegte. Umweltgruppen schreien, dass Kohleasche aus den Rückhaltebecken in den See sickert, und wollen vor Gericht eine Sanierung erstreiten. Mal sehen, wie das läuft.«

»Also hat eigentlich jeder Zugang zur Halbinsel? Zum Zeh?« Mein Bauch sagte mir, dass die Tasche samt Inhalt in den See geworfen worden war, aber ich wollte mich nicht zu weit vorwagen.

Kahn zuckte eine Achsel. »Sicher. Man muss nur die ›Zutritt-verboten‹-Schilder ignorieren. Die ganze Gegend war früher eine Spielwiese der Hells Angels, und wir haben immer noch Biker, die über die Pfade rasen, in Booten an uns vorbeisausen und so weiter.«

»Irgendwelche Hinweise auf ein Eindringen in letzter Zeit?«

Kahn wandte sich an Skip. »Kannst du hier die Stellung halten?«

Skip nickte.

»Bitte ruf an, wenn der Transporter da ist.« Zu mir: »Ich will Ihnen was zeigen.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, ging Kahn um eine Hütte herum und betrat einen Pfad, der im Unterholz nur schwer zu erkennen war. Ich folgte ihm.

»In Carolitaly bringen wir gerne die Kunst mit der Natur in Einklang.« Kahn sprach im Gehen. »Auf dem gesamten Gelände findet man lebende Installationen. Schönheit an unerwarteten Orten.«

»Aha.« Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.

Nach fünf Metern blieb Kahn mitten im Wald stehen und deutete nach oben. »Schönheit in den Bäumen.«

Eine Kapsel aus Plexiglas und Stahl war etwa drei Meter über unseren Köpfen im Geäst verankert.

»Lassen Sie mich raten. Ein Raumschiff?«

»Ein Schiff für Betrachtungen über den Raum. Wer Ruhe sucht, kann sich hineinsetzen und meditieren. Das Glas lässt das Licht hinein, aber die Kapsel hält alle Ablenkungen draußen, sodass man seine Gedanken nach innen richten kann.«

»Aha.« Moderne Kunst ist nicht mein Ding.

Kahn ging weiter zu einer mit Kiefernnadeln bedeckten Erhebung mit einer Kühlraumtür und einem Bullauge. Wortlos zog er die Tür auf und lud mich zum Hineinschauen ein.

Eine in die Erde eingelassene Kabine enthielt einen Tisch und eine rundum laufende Bank. Wand, Boden, Decke und Ausstattung bestanden aus Plastik in einem abweisenden Krankenhausweiß.

»Bis zu drei Personen können hier tagelang überleben.«

Nicht dieses Mädchen hier, dachte ich.

»Auf dem Gelände gibt es insgesamt dreizehn dieser Bunker. Dreizehn ist die Zahl der Rebellion, des Glaubensabfalls, der Abtrünnigkeit, des Zerfalls und der Revolution.«

Der feuchte Traum eines Überlebenskünstlers.

»Schon seit einer Weile finde ich in ein paar dieser Bunker Spuren eines illegalen Benutzers.«

»Irgendeine Idee, wer das sein könnte?«

»Schon mal was von Monkeywrenching gehört?«

»Ökoterrorismus.«

Kahn nickte. Fuhr sich mit der Hand übers Kinn.

»Der Kerl, mit dem Sie reden sollten, ist dieser Spinner Herman Blount. Im August postete Blount einige Videos, in denen er drohte, das Riverbend-Kraftwerk in die Luft zu sprengen. Dann tauchte er ab.«

»Sie glauben, dass Blount auf Ihrem Gelände hier abgetaucht ist?«

Kahn nickte mürrisch. »Wenn einer zu Gewalt fähig ist, dann Blount.«

3

Als ich früh am Montagmorgen das Institut des Mecklenburg County Medical Examiner betrat, saß Mrs. Flowers, die Empfangsdame, bereits auf ihrem Posten. Wie üblich Blumenmuster auf ihrem Outfit, ihre Frisur war ein perfekt dauergewellter und besprühter pfirsichfarbener Helm.

Ich winkte, durchquerte die Lobby und öffnete mit meiner Kennkarte die Tür zum Biovestibül, das zu den Autopsiesälen und Büros führt. »Biovestibül« ist der Name für einen dreihundert Millionen Dollar teuren Gang. O Mann.

Unser neu erbautes, topmodernes, ökologisch korrektes MCME-Institut riecht immer noch wie ein neues Auto. Nach Jahrzehnten in dem alten, umgebauten Sears-Gartencenter, das uns als provisorische Unterkunft diente, liebt jeder dieses neue Haus.

Ich ging zu Autopsiesaal vier, einem von zwei speziell belüfteten Räumen für die Aromatischen: Verwesende, Wasserleichen und Verfaulte. Meine Stinker.

Ich war nur kurz in meinem Büro, um meine Tasche in eine Schublade einzuschließen, da tauchte Larabee in der Tür auf. In seiner Freizeit läuft mein Chef gerne Langstrecken. Viele. Die Stunden auf dem Pflaster haben aus ihm einen fast cartoonartig hageren, lederigen Mann in Laborkluft gemacht.

»Wie war’s am Mountain Island Lake?«

»Bin dem Sturm gerade noch davongekommen.«

»Joe sagte, auf der Rückfahrt hätte es geschüttet. Der Wind hätte ihn fast von der Straße geweht.«

Joe Hawkins war schon Todesermittler beim MCME gewesen, als Moses die Tontafeln in die Hände bekam.

»Ich habe Joes Namen nicht auf der Anwesenheitstafel gesehen. Wo ist er?«

»Krankgeschrieben wegen Bindehautentzündung. Haben Sie was dagegen, alleine zu arbeiten?«

»Weniger als gegen Bindehautentzündung. Wo sind meine Knochen?«

»Im Kühlraum. Joe hat schon die Fotos und Röntgenbilder gemacht und alles auf die Rollbahre gelegt.«

»Viel los am Wochenende?«

»Nicht so schlimm. Eine Messerstecherei, ein Tod durch Stromschlag, ein Mord mit Selbstmord.«

In unserem merkwürdigen Gewerbe läuft das unter »nicht so schlimm«.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Und damit war Larabee verschwunden.

Erleichtert, dass ich keine anderen Fälle hatte, klatschte ich mir ein Formular auf mein Klemmbrett, zog im Umkleideraum Laborkluft an und ging dann zum Kühlraum. Ich hoffte, dass achtundvierzig Stunden Kühlung den Geruch etwas gebannt hatten. Wusste, dass es nicht so sein würde. Zumindest nicht lange.

Nachdem ich die Rollbahre in Saal vier geschoben hatte, zog ich Gummihandschuhe an und steckte mir eine Schutzbrille auf den Kopf. Dann schnallte ich mir eine Maske um und band eine Plastikschürze an Nacken und Taille fest. Bezaubernd.

Die an der Decke montierte OP-Lampe brannte. Die Hochleistungsventilatoren schwirrten. Ich war bereit.

Joe hatte es geschafft, die Knochen anatomisch korrekt anzuordnen, ohne sie von den Kleidungsstücken zu befreien. Nach Jahren der Assistenz an meinem Seziertisch wusste er, was ich brauchte.

Das Skelett lag auf dem Rücken, die Gliedmaßen leicht abgespreizt. Die Savasana-Stellung. Komisch, aber der Begriff kam mir in den Sinn. Leichen-Yoga.

Beim Transport oder beim Hantieren mit der Leiche waren die Haare vom Schädel gerutscht. Sie lagen jetzt auf der Seite, verdreckt von verfaulender Vegetation und diversen wässrigen Hinterlassenschaften.

Ich schaltete den Lichtkasten ein. Joes Ganzkörper-Röntgenaufnahme zeigte nichts Außergewöhnliches.

Dann stellte ich mich an die Bahre und betrachtete, was von einem Menschen übrig blieb. Wasser ist nicht nett zu den Toten. Die Aufblähung ist grotesk, der Geruch ekelerregend. Diese Phase war bereits größtenteils vorüber, geblieben waren nur Knochen und Fetzen verwesten Fleisches.

Und doch hatte dieses menschliche Wesen einmal gelebt. Ich spürte den gewohnten Stich der Trauer. Haare machen das immer mit mir. Man denkt an kämmen, hinters Ohr stecken, im Wind wehen.

Irgendwie war mein Hirn auf Yoga eingestellt. Jetzt lieferte es mir ein Bild, eine Übungsstunde, die ich erst kürzlich besucht hatte. »Setz dir ein Ziel«, hatte die Lehrerin gesagt. »In deinen Gedanken ist Macht.«

Mein Blick wanderte über die Leiche. Ich setzte mir mein Ziel. Ein Name. Eine letzte Heimkehr.

Ins Formular schrieb ich die Uhrzeit: 8:38.

Ich zog mir die Brille vor die Augen, hob mir die Maske vor den Mund und fing an.

Zuerst untersuchte ich die Kleidungsreste mit einer Lupe. Entdeckte ein paar kurze Haare, wie von einem Tier. Zupfte sie mit einer Pinzette weg und steckte sie in ein Glasröhrchen.

Als Nächstes schnitt ich mit einer Schere das olivgrüne T-Shirt mit der Aufschrift »Vogelwild« in der Mitte durch und breitete die beiden Hälften links und rechts des Torsos aus. Die Jeans war schwieriger zu durchtrennen, aber nach einer Weile lag auch sie in zwei Hälften auf dem Edelstahl. Sobald ich mit den Knochen fertig war, würde ich die Kleidung entfernen und genauer untersuchen.

Ein Skelettinventar ergab, dass jedes Teilstück vorhanden war. Überraschend bei dem Riss in der Leinwand.

Ein wenig ausgeprägter Nackenkamm, glatte Brauenwülste und kleine Warzenfortsätze deuteten auf weibliches Geschlecht hin. Die Form des Beckens bestätigte diesen Befund.

Der Schädel war relativ lang und dünn. Der Nasenrücken war flach, die Öffnung breit. Ich ließ die Maße durch ein Computerprogramm namens Fordisc 3.0 laufen. Jeder Indikator deutete auf afroamerikanische Abstammung hin.

Die Altersbestimmung erfordert eine detaillierte Untersuchung. Bei der Geburt ist das Skelett noch nicht komplett. In Kindheit und Pubertät entstehen zusätzliche Teile und verbinden sich mit den Enden und Rändern der Knochen. Komponenten der Wirbel und des Beckens verschmelzen miteinander.

Die Schlüsselbeine sind die letzten Elemente in diesem Verschmelzungsprozess. Ich untersuchte bei beiden die Verbindung mit dem Brustbein. Jedes hatte eine fest mit der Spitze verbundene Kappe, aber eine feine Runzellinie verriet mir, dass die Verschmelzung erst kurz vor dem Tod stattgefunden hatte.

Ich untersuchte die Arm- und Beinknochen. Das Becken an der vorderen Naht, wo die beiden Hälften aufeinandertreffen. Die Rippen waren durch Knorpelgewebe mit dem Brustbein verbunden.

Um meine Einschätzung des Skeletts zu bestätigen, zog ich die winzigen Röntgenaufnahmen der Zähne aus ihrem Umschlag und klemmte sie auf einen Lichtkasten.

Die Kauflächen der Backenknochen waren nur minimal abgenutzt. Die Wurzelbildung war komplett abgeschlossen.

Jeder Altersindikator erzählte dieselbe Geschichte. Eine junge Erwachsene.

Die Maße der Oberschenkelknochen deuteten auf mittlere Größe, kleine Muskelansätze darauf hin, dass die Frau eher zierlich war.

Ich überflog die Daten, die ich in das Fallformular eingetragen hatte, noch einmal.

Weiblich. Schwarz. Dreiundzwanzig bis siebenundzwanzig Jahre alt. Zwischen eins siebenundsechzig und eins achtundsiebzig groß.

Ich holte die Vermisstenakte, die mir die Polizei zusammen mit den ersten vier Knochen geschickt hatte.

Edith Blankenship entsprach in jedem Parameter dem Profil.

Ich löste das Foto vom Blatt und betrachtete es.

Ein Mädchen lächelte unter einem Universitätsbarett mit Quaste hervor. Sie war weder hübsch noch hässlich. Einfach nur durchschnittlich. Aber das gereckte Kinn und der Blick direkt in die Kamera vermittelten Selbstvertrauen und Entschlossenheit.

Die Medien hatten das Foto eine gute Woche lang gebracht. Bis neue Verbrechen die Aufmerksamkeit der Polizei erregten. Bis das Hochwasser im Mittleren Westen ins Zentrum der Berichterstattung rückte. Von da an war Edith Blankenship nur noch auf zerfledderten Plakaten an Telefonmasten im Nordwesten von Charlotte zu sehen.

Ediths Fall erhielt durch die Entdeckung der Knochen am Mountain Island Lake kurzfristig neuen Schwung. Diejenigen, die in ihrem Verschwinden ermittelten, waren sicher, die Akte würde entweder ans Morddezernat gehen oder auf andere Weise in die Kategorie »geschlossen« wandern. Ich hatte ihre Hoffnungen zunichtegemacht.

War Edith nun endlich aufgetaucht?

Ich dachte ans PMI. Das postmortale Intervall oder die Leichenliegezeit.

Ich schaute ein Datum nach. Edith Blankenship war am achten September zum letzten Mal lebend gesehen worden.

Der Herbst war unverhältnismäßig warm gewesen, sogar für North Carolina. Durch den Riss in der Tasche hatten Fische, Schildkröten und andere im Wasser lebende Aasfresser eindringen können. Und sie hatten, zusammen mit dem üblichen Spektrum der Bakterien, ganze Arbeit geleistet.

Nach meinem ersten Eindruck war der Grad der Verwesung vereinbar mit einem Eintauchen Anfang September. Aber das musste ich noch verifizieren.

Ich richtete mich auf, drückte den Rücken durch und rollte die Schultern. Ich dachte wieder an Yoga, als mein Magen knurrte.

Die Wanduhr zeigte 13:03. Ich war am Verhungern.

Ich nahm die Maske ab und warf die Schutzbrille auf die Arbeitsfläche. Zog Handschuhe und Schürze aus, knüllte sie zusammen und versuchte einen Distanzwurf in die Tonne für Sondermüll. Drei Punkte.

Nach einem schnellen Händewaschen kehrte ich in mein Büro zurück. Ich stellte mir eben ein riesiges Sandwich vor, als mein Festnetztelefon klingelte.

Ich überlegte kurz zu warten, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete.

Nahm dann aber doch ab.

Ein großer Fehler.

4

»Danke, dass Sie mir eine Wasserleiche in den Eingangskorb gelegt haben.«

Der Ermittler des Morddezernats der Polizei von Charlotte-Mecklenburg Erskine »Skinny« Slidell war über meinen Anruf am Samstag nicht gerade erfreut gewesen. Ich war hinter dem Transporter hergeflohen und hatte ihm die Diskussion mit Officer Skip über die Zuständigkeit überlassen. Ein Straßenköter gegen eine Betonwand.

»Nichts zu danken.«

»Und den Unabomber haben Sie nur so zum Spaß dazugelegt?«

»Haben Sie Herman Blount gefunden?«

»O ja. Der Wichser hat ausgesehen wie der verdammte Saddam Hussein, als er da aus seinem Erdloch lugte. Ich lasse ihn jetzt eine Weile schwitzen und über die gute alte Zeit des Bäume-Umarmens nachdenken. Dann dreh ich ihn durch die Mangel.«

»Ich möchte dabei sein.«

»Warum überrascht mich das nicht?«

Das Law Enforcement Center liegt an der East Trade Street im Zentrum von Charlotte. Die Fahrt dauerte dreißig Minuten.

Skinny traf ich im zweiten Stock, neben einer Tür mit der Aufschrift »Abteilung Gewaltverbrechen«. Dahinter lagen das Morddezernat und das Dezernat für Angriffe mit einer tödlichen Waffe. Blount saß im hintersten der drei Verhörzimmer auf der anderen Seite des Gangs.

»Mr. Birkenstock hat die letzten sechs Wochen unter der Erde verbracht. Riecht wie Scheiße.«

Von Skinny war das eine bemerkenswerte Aussage.

»Was wissen wir über ihn?«

»Der Kerl hat was gegen Kohlekraftwerke. Und Wasserkraftwerke. Und gegen Holzwirtschaft, Bergbau, Ackerbau und Viehzucht, Pestizide, den Pelzhandel, Tierversuche, Zoos, Zirkusse, Rodeos, McDonald’s …«

»Sie haben ihn bereits befragt?«

»Das Arschloch hat nicht aufgehört zu reden, seit ich ihn aus seinem Versteck gezerrt habe. Quasselt die ganze Zeit von Kohleasche und Arsen und dass Fische Probleme mit der Fortpflanzung haben.«

»Halten Sie Blount für eine ernsthafte Bedrohung?«

»Ihr Künstlerfreund hatte recht mit den Videos.« Slidell schüttelte angewidert den Kopf. »Der Kerl, dem die Eichhörnchen aus dem Gesicht wachsen …«

Ich drehte die Hand, um ihm zu signalisieren, dass er sich die Bemerkungen über Kahn schenken solle.

»Blount hat ein paar Videos über Heimwerkerbomben auf YouTube gestellt. Kriegt ’nen Oscar für hirnrissigen Blödsinn.«

»Hat er ein Vorstrafenregister?« Ich notierte mir im Geiste, Herman Blounts Geschmack in Sachen Sabotage auch zu überprüfen.

»Ein paar kleinere Vergehen. Unbefugtes Eindringen. Vandalismus. Zerstörung fremden Eigentums. Wurde vor acht Jahren verhaftet, weil er Nägel in Bäume schlug, geriet mit den Bundesbehörden aneinander. Hat Holzfällergerät im Wert von 400 000 Dollar ruiniert. Der Trottel hat überall auf den Nägeln seine Fingerabdrücke hinterlassen.«

»Irgendwelche Verbrechen gegen Personen?«

»Die Polizei in Iredell County hat ihn in Verdacht wegen zwei nicht tödlicher Röhrenbomben. Eine auf einer Chinchilla-Ranch, die andere in einer Klitsche, die Hunde tötet, damit Chirurgen das Schneiden lernen können. Der Kerl ist glitschig wie eine Ziegenschnauze. Bis jetzt ist an ihm noch nichts haften geblieben.«

»Das ist nur ein vorläufiges Ergebnis, aber die Knochen in der Tasche könnten auf Edith Blankenship passen.«

»Ach ja?«

»Schwarze Frau, Anfang bis Mitte zwanzig. Für eine eindeutige Identifizierung brauche ich zahnärztliche Unterlagen.«

»Irgendwelche Hinweise auf Verletzungen?«

»Nein. Aber ich gehe davon aus, dass sie sich nicht selbst in die Tasche gepackt hat, um tauchen zu gehen.«

»Sie glauben, dass ihre Leiche ins Wasser geworfen wurde?«

Ich nickte.

»Muss noch nicht Mord heißen. Sie könnte sich eine Überdosis verpasst oder sonst irgendeinen Unfall gehabt haben, ihre Kumpel gerieten in Panik und beseitigten sie.«

»Vielleicht.«

»Warum kam sie an die Oberfläche?«

»Wenn eine Leiche verwest, füllt sich die Körperhöhle mit Methan, das von Bakterien im Darm gebildet wird. Diese Aufblähung sorgte zusammen mit der Überschwemmung für das Auftreiben der Tasche.«

»Sie sind immer so voller Sonnenschein, Doc.«

»Ein erfahrener Mörder würde Darm und Eingeweide durchlöchern und die Tasche beschweren. Blankenship war das Werk eines Amateurs.«

Skinny öffnete den Mund, um einen Kommentar abzugeben. Ich ließ ihn nicht.

»Haben Sie irgendwas gefunden, das Blount mit Blankenship in Verbindung bringt?«

»Stehen beide auf diese ›Rettet-den-Planeten‹-Scheiße.« Slidell zog ein kleines Spiralnotizbuch aus der Sakkotasche, blätterte mit spuckefeuchtem Daumen darin und las: »Blankenship war für den Masterstudiengang für Umweltwissenschaften an der UNCC eingeschrieben. Davor arbeitete sie für Impact Watch, eine Nichtregierungsorganisation, die die Auswirkungen von Bauprojekten auf die Tierwelt im westlichen North Carolina untersucht. Ihre Zentrale ist in Mount Holly.«

»Gleich um die Ecke vom Mountain Island Lake.«

Ich hob meine Augenbrauen. Slidell die seinen.

»Wer hatte sie als vermisst gemeldet?«

»Großmutter.« Slidell senkte den Blick auf seine Notizen. »Ada Wilkins. Blankenship wohnte bei ihr. Ging eines Tages los zur Uni und kam nicht mehr nach Hause.«

»Wer bekam den Fall?«

»Hoogie Smith. Er sagt, Blankenship war eine Einzelgängerin. Jobbte nicht, hatte keinen festen Freund, keine besten Freundinnen. Vater unbekannt, Mutter tot. Er verfolgte die Spuren, die er hatte. Befragte ein paar Professoren, Ada Wilkins, ein paar Nachbarn. Wilkins gab zu, dass ihre Enkelin schon einmal ausgerissen war, nach dem Tod ihrer Mutter. Das Mädchen hatte keine Kreditkarten, nichts in der Richtung. Alle gingen davon aus, dass sie keine Lust mehr hatte und sich einfach aus dem Staub machte.«

»Handy?«

»Konnte am Vormittag ihres Verschwindens zu einem Funkturm in der Nähe der UNCC zurückverfolgt werden. Danach lief das Ding nicht mehr.«

Ich wusste, was passiert, wenn Spuren im Sand verlaufen. Blankenships Akte kam auf einen Stapel mit anderen Vermisstenakten. Rutschte immer tiefer, je höher der Stapel wuchs.

Slidell deutete mit dem spuckefeuchten Daumen auf Verhörzimmer drei.

»Ich will diese Kröte nicht erschrecken. Sie schauen von der Zwei aus zu.«

Ich tat wie geheißen. Setzte mich mit verschränkten Armen an den Tisch.

Sekunden später sprang ein kleiner Monitor an, und blecherne Geräusche kamen aus einem Lautsprecher an der Wand.

Blount hob den Kopf, als Slidell den Raum betrat. Er sah nicht so aus, wie ich erwartet hatte. Blonde Haare wie ein Surfer, Gesichtszüge wie gemeißelt, stahlblaue Augen. Bis auf den fransigen Bart sah er eher aus wie ein christlicher Quarterback als wie ein Ökoterrorist.

Und Blount hatte offensichtlich schon mal ein Fitnessstudio von innen gesehen. Breite Schultern, Oberarme wie Strommasten, Waschbrettbauch unter einem langärmeligen T-Shirt.

Slidell setzte sich. Legte eine Akte auf den Tisch. Zog die Blätter eins nach dem anderen heraus. Legte sie ordentlich nebeneinander. Las sie langsam. Oder tat zumindest so. Ich kannte die Nummer. Bring den Befragten aus dem Gleichgewicht, indem du ihn warten lässt.

»Ich habe nichts getan. Sie können mich nicht festhalten.«

Slidell machte weiter, als hätte Blount nichts gesagt. Nach einigen entspannten Augenblicken verschränkte er die Finger und legte die Hände auf die Rolle über seinem Gürtel.

»Ich frage mich nur eins, Herman. Ist das okay für Sie? Dass ich Sie Herman nenne?«

Blount starrte ihn nur böse an.

»Warum verkriecht sich ein Kerl, der nichts zu verbergen hat, in einem Erdloch?«

»Wir sind jeden Tag von krebsverursachenden Hochspannungsleitungen umgeben. Ich gehe in regelmäßigen Abständen unter die Erde, damit meine Zellen sich vom Dauerbombardement mit elektromagnetischer Strahlung erholen können.«

»Hm.« Slidell nickte, als würde er darüber nachdenken.

»Außerdem ist es friedlich.«

»Ist das der Grund, warum Sie Stromproduzenten sabotieren? Weil die Ihnen die Eier rösten?«

»Ich sabotiere niemanden. Aber wenn ich es getan hätte, wäre das ein legitimer Akt der Selbstverteidigung. Die Riverbend Steam Station vergiftet die Menschen, indem sie Kohleasche in die Trinkwasserversorgung kippt. Das sollte man unterbinden.«

Befeuert entweder von der Inbrunst des Eiferers oder der Wut eines Wahnsinnigen, gleißten Blounts Augen wie zwei Gasflammen. Hypnotisierend. Ich fragte mich, ob Edith seinem Zauber erlegen war.

»Schon mal an eine Anzeige gedacht?« Slidell, die Stimme der Vernunft.

»Die Gerichte bringen doch nichts. Die Regierung ist an der Sauerei beteiligt. Umweltgifte machen die Menschen schwach und fügsam.«

»Sprengstoffe sind viel direkter.« Skinny beugte sich vor, um in die Unterlagen zu schauen. »Wie bei Destin’s Chinchilla Ranch und den Arnett Labs.«

»Da haben Sie den Falschen. Ich wurde nie angeklagt.«

»Sie haben gesessen, weil Sie Nägel in Bäume geschlagen haben.«

»Ein dummer Jungenstreich. Inzwischen bin ich schlauer.«

»Und diese Anlagen, die Sie online ins Visier genommen haben? Die gehen wie durch Zauberhand von selber in die Luft?«

»Offensichtlich bin ich mit meinen Ansichten nicht alleine.«

Blount hielt Slidells Blick stand, er wirkte selbstbewusst und gefasst. Aber seine bleichen Lippen deuteten auf angestaute Emotionen hin. Angst? Wut?

»Ein Polizist hat einen Daumen verloren, als er die Arnett-Bombe entschärfte.«

»Ein kleines Opfer im Vergleich zu den Tieren, die dort gequält wurden.«

»Was ist mit Edith Blankenship? Ist sie auch ein kleines Opfer?«

Die Volte sollte Blount überrumpeln. Ich schaute mir sein Gesicht genau an. Keine Reaktion.

»Mit wem?«

»Eine Masterstudentin an der UNCC.«

Blount hob eine muskulöse Schulter.

»Vielleicht haben Sie beide sich bei Impact Watch kennengelernt. Hat sie Ihr Manifest für Sie kopiert? Sie können doch schreiben, oder, Herman?«

Blount schluckte den Köder nicht. »Impact Watch ist eine Horde Lakaien. Die Regierung tätschelt ihnen die Köpfe und tut so, als würde sie ihnen zuhören. Die Probleme bleiben, nichts wird gelöst.«

»Ist es so passiert? Wurde Edith zu einem Problem, das Sie lösen mussten?«

»Sie haben sie gefunden?«

»Wer hat gesagt, dass sie verschwunden ist?«

»Ich lese Zeitung.«

»Wo waren Sie am achten September?«

»Ich weigere mich, nach den Fesseln eines Kalenders zu leben.«

»Ich will Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, Herman.« Slidell beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht nur noch Zentimeter von Blounts entfernt war. »Am achten September haben Sie Ihre Gedanken, wie man die Riverbend Steam Station zerstören könnte, online gestellt.«

Blount lehnte sich zurück, um den Abstand wieder zu vergrößern. »Ich musste in Buncombe County vor Gericht erscheinen. Ich war Stunden entfernt. Prüfen Sie’s nach.«

»Darauf können Sie Gift nehmen. Wer half Ihnen bei dem Video?«

»Ein Dreifußstativ.«

Slidell machte noch eine überraschende Volte. »Haben Sie mit Blankenship zusammen ein paar Maschinenventile verstopft? Ein schneller Angriff auf Belvedere Logging im letzten Mai?«

Blount schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. »Ihr Jungs kapiert das einfach nicht. Wir sind eine Armee. Wir wehren uns. Man kann uns nicht einfach wegwünschen. Man kann uns nicht wegdrängen.« Jetzt war es Blount, der das Gesicht vorstieß. Sein nächster Satz war kaum mehr als ein Flüstern. »Wir sind überall.«

Slidell zuckte nicht mit der Wimper. Normalerweise würde er jetzt den bösen Bullen spielen.

»Gehört Blankenship zu Ihren Gefolgsleuten?«

»Edith Blankenship und ihresgleichen haben nicht den Mumm, mir zu folgen.« Beim letzten Wort malte er Anführungszeichen in die Luft. »Proteste und Petitionen werden die Zerstörung nicht stoppen. Jetzt sind Aktionen nötig.«

»Edith war also mit Ihrer radikalen Einstellung nicht einverstanden. Drohte, Sie zu verpfeifen. Deshalb haben Sie sie umgebracht.«

»Mich wegen was zu verpfeifen? Dass ich mit einem Messer umgehen kann? Geräuschlos Beute verfolgen kann? Dass ich töte, was ich esse? Das sind Überlebenstechniken, Detective.« Blount lehnte sich zurück und legte die Arme auf die Lehnen. »Einfach nur am Leben bleiben.«

Slidell schnalzte mit der Zunge und deutete mit dem Finger auf Blount. »College-Junge, was? Ivy League?«

»Dartmouth. Na und?«

»Rohrbomben-Einmaleins. Gehört das zu deren Schickimicki-Lehrplan? Haben die Ihnen das beigebracht? Wie man Zeug in die Luft sprengt?«

Wieder das enttäuschte Kopfschütteln.

»Ich habe gelernt, dass Misstrauen gegenüber der Regierung und der Glaube an die freie Rede keine Verbrechen sind. Ich habe gelernt, dass wir Menschen von der Ausrottung bedroht sind, weil wir die Erde verbrauchen. Dass die Natur um jeden Preis geschützt werden muss.«

»Ganz schön großkotzig für einen Kerl, den wir aus einem Loch gezerrt haben.«

»Ich bin nicht verantwortlich für die Verbrechen anderer, auch wenn ich ihnen zustimme.« Blounts Neonaugen wirkten jetzt kalt wie Eis. »Sie haben nichts, um mich mit dieser Blankenship in Verbindung zu bringen. Das wissen wir beide, denn sonst wäre ich verhaftet.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber merk dir eins, du aufgeblasener Sack Scheiße.« Slidells Stimme war jetzt hart wie Granit. »Ich werde diese Verbindung finden. Und unterdessen kannst du Todesstrahlen und Hüte aus Alufolie vergessen. Ich bin dein schlimmster Albtraum.«

Slidell raffte seine Papiere zusammen und verließ das Zimmer.

5

»Was meinen Sie?«, fragte ich, als Slidell den Gang hochkam.

»Der Kerl ist ein Spinner, aber ich kann ihn nicht einsperren, weil er gaga ist.«

»Glauben Sie, dass er lügt?«

»Natürlich lügt er. Jeder lügt. Nur worüber? Das wüsste ich gerne. Ich muss ihn laufen lassen.«

»Können Sie ihn nicht wegen des unbefugten Zutritts hierbehalten?«

Slidell warf mir einen triefäugigen Leidensblick zu.

»Er taucht wieder unter. Und Sie verlieren ihn.«

»Ich werde ihn nicht verlieren.«

Ich wusste, dass Slidell ihn ohne triftigen Grund nicht festhalten konnte. Und dass er ihn beschatten lassen würde. Trotzdem war es frustrierend.

»Der Kerl hat was Unheimliches an sich.«

»Er ist ein Spinner, aber er ist nicht dumm. Er weiß, dass ich in Buncombe County anrufen werde. Das Alibi wird stimmen.«

»Der achte September ist der Tag, an dem Edith Blankenship verschwand. Wir wissen nicht, wann sie starb.«

Längeres Schweigen. Dann sagte Slidell: »Ich brauche mehr. Liefern Sie mir die Todesursache und den Zeitpunkt.«

»Ich bin dran.«

Zurück im MCME, verdrückte ich ein Thunfisch-Sandwich und schüttete eine Diet Coke hinunter, zog mich dann wieder um und kehrte in den Autopsiesaal vier zurück. Die Knochen lagen noch so da, wie ich sie verlassen hatte.

Eine Faustregel. Eine Woche über der Erde entspricht zwei Wochen im Wasser. Aber dann kommt eine ganze Menge Variablen ins Spiel.

Ich rief beim Wetterdienst an. Meine Erinnerung war korrekt. Der North Carolina Piedmont hatte einen sehr warmen Herbst erlebt.

Ich rief bei Duke Energy an. Einleitungen der Riverbend Steam Station erhöhten die Temperatur des Mountain Island Lake überdurchschnittlich. Das Wasser war vernünftig sauerstoffgesättigt. Das Leben im Wasser gedieh üppig.

Ich ging noch einmal durch, was ich über Verwesung unter Wasser wusste. Die Fettschichten in der Haut dehnen sich aus und deformieren eine Leiche binnen vierundzwanzig Stunden. Nach einer Woche lösen sich Fleisch und Bindegewebe von den Knochen, und Stücke fallen ab.

Bei den gegebenen Bedingungen schätzte ich die Leichenliegezeit für Edith Blankenship auf etwa vier Wochen.

Das war vereinbar mit der Zeit, zu der Edith Blankenship zum letzten Mal lebend gesehen wurde.

Ich trug die Informationen in mein Formular ein und wandte mich dann der Todesursache zu.

Wieder fing ich mit dem Kopf an. Keine Ein- oder Austrittswunden. Keine kreisförmig strahlenden, eingedrückten oder Haarriss-Brüche. Keine Schnitte, Kerben oder Hiebverletzungen.

Das Zungenbein ist ein kleiner, u-förmiger Knochen, der zwischen dem Unterkiefer und dem Kehlkopf in das weiche Gewebe des Halses eingebettet ist. Ich untersuchte Ediths auf Schädigungen, die auf ein manuelles Strangulieren hindeuteten. Sah aber nichts.

Keine Überraschung. Bei jüngeren Menschen kann das Zungenbein aufgrund der Knochenelastizität zusammengedrückt werden, ohne zu brechen.

Ich ging zum Mikroskop und stellte die Schärfe ein. Schaute durchs Okular.

Auf der rechten Seite des Knochens nichts. Ich wandte mich der linken zu. Ein winziger Riss furchte den Rand des Mittelstücks, wo es auf den seitlichen Fortsatz, das Horn, traf.

Ich richtete mich auf, spürte, dass mein Herz ein bisschen schneller schlug.

Edith Blankenship war stranguliert worden.

Ich stellte mir die letzten Augenblicke der Frau vor, den zuckenden Körper, die kratzenden Hände, so verzweifelt um Luft ringend, dass die Nägel sich ins eigene Fleisch gruben.

Ich schob meine Wut beiseite und arbeitete weiter. Rippen. Röhrenknochen. Das Becken versetzte mir den nächsten Schock.

An der Bauchseite des rechten Hüftknochens klebte eine kleine graue Masse. Ich löste sie mit einem Finger.

Beim Betasten brach die äußere Umhüllung auf und ließ ein Gewirr winziger Knochen zum Vorschein kommen. Und einen einzelnen Zahn.

Mir stieg Hitze in die Brust. War Edith schwanger gewesen?

Aber nein. Die Formen stimmten nicht. Der halbe Unterkiefer war zu lang, das Schlüsselbein zu scharf s-förmig. Der Zahn war zwar winzig, wirkte aber voll ausgebildet.

Ich trug meinen Fund zum Mikroskop. Zog mit der Pinzette Knochen um Knochen heraus.

War es ein Tumor? Ein außer Kontrolle geratenes Teratom?

Teratome sind Tumore, die Gewebetypen oder Strukturen aller drei Zelltypen enthalten, die ein Embryo entwickelt. Haare, Zähne, Knochen. Selten ein ganzes Organ wie ein Auge oder eine Hand.

Dann die Erkenntnis.

Was zum Teufel …?

Verwirrt schob ich das Häufchen zusammen und legte es in eine Schale. Dann kehrte ich zur Bahre zurück.

Am linken Hüftknochen ein zweiter Klumpen, ganz ähnlich dem ersten.

Ich richtete mich auf und ging diverse Szenarios durch.

Ich habe schon einige Opfer sexueller Sadisten untersucht. Kannte die Verderbtheit, zu der Menschen fähig waren. War Edith gequält worden? Hatte irgendein kranker Mistkerl ihr diese Obszönität mit Gewalt hineingezwungen? Angeblich gab es Perverse, die kleine, lebende Tiere in Körperöffnungen schoben.

Eine Idee zupfte am Ärmel meines Bewusstseins. Pst.

Was?

Mein Blick wanderte über Waschbecken, Schränke, den ganzen Edelstahl um mich herum. Kehrte zur Bahre zurück.

Ich schaute das Skelett an. Und die triefenden Kleidungsstücke, die aufgeschnitten und ausgebreitet darunterlagen.

Frustriert massierte ich mir die Schläfen.

Pst.

Ediths Kleidung? Ich hob eine Seite des ramponierten T-Shirts an und legte das Gewebe wieder auf die Rippen. Las das ausgewaschene Wort.

Natürlich.

Ich hob Bein- und Beckenknochen an, zog die Jeans heraus und schnitt die Gesäßtaschen weg. Noch mehr graue Einkapselungen. Ich brach jede auf und leerte sie.

»Bingo.«

Ich zog einen Handschuh aus und rief Slidell an. Er nahm tatsächlich ab.

»Ich habe was.«

»Was?«

»Kommen Sie her. Sofort.«

Ich hätte es ihm am Telefon erklären können. Aber Slidell im Autopsiesaal war interessanter.

6

Die Tür ging auf. Slidell kam herein und warf einen Umschlag auf die Arbeitsfläche. Ein Hauch Körpergeruch wetteiferte mit Eau de Wasserleiche.

»Eins kann ich Ihnen sagen. Dieser Kerl Chou ist ein echter Wichser.«

Ich bedauerte den glücklosen Zahnarzt, Dr. Chou. Sein Vormittag war kein glücklicher gewesen.

Kommentarlos klemmte ich Ediths Röntgenaufnahmen der Zähne neben die postmortalen Aufnahmen, die Joe gemacht hatte, an den Lichtkasten. Auf einem der kleinen schwarzen Rechtecke in jeder Serie saßen zwei schneeweiße Kappen auf zwei Backenzähnen. Füllungen. Ich verglich ihre Lage und ihre Form. Die Wurzelkonfigurationen.

»Wir brauchen noch die Bestätigung eines Odontologen, aber ich würde wetten, dass es ein Treffer ist.«

Slidell nickte. Schon jetzt schwitzte er heftig, vermutlich raste sein Puls. Nach Jahrzehnten im Morddezernat machte ein Autopsiesaal ihn immer noch nervös.

»Und was haben Sie, das so wichtig ist?«

Ich zeigte ihm meine winzige osteologische Sammlung.

Slidell betrachtete die Knochen und verdrehte dann die Augen.

»Ratten«, sagte ich.

Er brummte eine Bemerkung, die ich nicht verstand, und beugte sich wieder über die Schale.

»Und vielleicht auch ein paar Mäuse.« Ich deutete auf die grauen Massen, die jetzt offen dalagen. »Die Knochen stammen aus denen da.«

»Und die sind?«

»Speiballen oder Gewölle von Eulen.«

»Igitt.«

»Halb so wild. Kommen Sie mit.«

Ich führte ihn in mein Büro und rief eine Website auf meinen Laptop.

»Carolina Raptor Center?« Slidell klang mehr als skeptisch. »Ein Raubvogelzentrum. Adler und Falken oder so?«

Ich nickte. »Raubvögel sind erstaunliche Fleischfresser. Sie schlucken das ganze Tier, samt Knochen, Organen und Fleisch. Ein bisschen wie Sie beim Grillen.«

»Sie sind zum Totlachen, Doc.«

»Danke. Eulen sind anders als andere Raubvögel. Sie können Fell, Zähne, Knochen, Klauen oder Federn nicht verdauen.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wenn unverdauliche Materialien den Verdauungstrakt passieren, werden sie im Kaumagen zu einem Klumpen verdichtet, den die Eule wieder hochwürgt. Das ist ein Gewölle.«

»Sie zeigen mir gerade Vogelkotze.«

»Ich habe zwei Gewölle in Ediths Beckenhöhle gefunden, direkt unter der Stelle, wo ihre vorderen Jeanstaschen waren.«

Slidell sagte nichts.

»In einer Gesäßtasche hatte sie noch vier weitere Gewölle. Ich nehme an, sie hat über Eulen recherchiert.«

»Und hat dabei dieses Raubvogelzentrum entdeckt.«

Ich nickte.

»Sie wissen, wo das ist?«

»Am Mountain Island Lake.«

»Morgen früh pünktlich neun Uhr. Ich hole Sie zu Hause ab.«

Slidell kam zwanzig Minuten zu früh. Ich ließ meine halb gegessenen Cheerios stehen und kippte den Kaffee in einen Thermobecher.

Ganzkörperlatex ist für Skinnys Auto genauso angemessen wie für Autopsiesaal vier. Fast-Food-Kartons, Zigarettenkippen, Überreste alter Brotzeiten. Ich setzte mich behutsam hin, um den Kontakt mit Sitz und Boden zu minimieren.

Wir fuhren auf der Route 16 in nördlicher Richtung aus der Stadt. Bald wichen die Hochhäuser mit Eigentumswohnungen und Büros vorstädtischen Wohnvierteln und Einkaufsstraßen, und die schließlich Feldern und hin und wieder einer Autowerkstatt, einer Kirche oder einem Grillrestaurant.

Nach fünfundvierzig Minuten bog Slidell vom Highway auf eine schmale, zweispurige Straße ab. Nichts als Ufer, Wald und Weiden. Hier und da ein aufgeschrecktes Pferd oder ein Bootssteg.

Bald sahen wir einen Pfeil, der auf unser Ziel hinwies. Slidell fuhr links auf den Parkplatz und stellte den Motor ab. Ein Schild warnte: »Gesichert durch Alarmanlage, Kameras und scharfe Klauen.«

Das Carolina Raptor Center war hell und luftig, geschmückt mit Fotos und Zeichnungen von Vögeln. Von der Decke hingen Nachbildungen von Adlern. In Körben türmten sich Souvenirs für Touristen – ausgestopfte Wanderfalken, Eulen-Schlüsselketten, T-Shirts mit mehr oder weniger originellen Vogelsprüchen. Ein grünes Wandgemälde stellte den Lebenszyklus des Rotschwanzbussards dar.

»Hallo!«, zirpte eine Siebzigjährige mit einem erstaunlich linken Lächeln. »Ich bin Doris. Kann ich Ihnen helfen?«

Doris sah aus wie einem Comic von Gary Larson entlaufen. Katzenaugen-Brille, eine Strickweste mit Zopfmuster und mehr Knöllchen als eine Politesse. Klein, aber stämmig. Fit.

Slidell zeigte seine Marke.

»O Gott.« Die Frau drückte sich eine altersfleckige Hand ans Herz, ihr Blick zuckte hektisch von links nach rechts, als erwarte sie ein hereinstürmendes SWAT-Team. »Gibt es ein Problem?«

»Das wäre Doris …?« Slidell hob fragend das Kinn.

»Kramer. Doris Kramer.«

Slidell zog ein Foto aus der Innenseite seines Sakkos. »Erkennen Sie diese Frau?«

»Natürlich. Das ist Edith.« Doris runzelte die Stirn. »Ist mir ein Rätsel. Ich hätte nie gedacht, dass sie uns einfach so verlässt.«

»Sie war oft hier?«, fragte ich.

»Viele von Professor Olsens Studenten machen hier im Zentrum Projekte. Er kommt jeden Dienstag mit einer Gruppe. Edith liebte unsere Vögel so sehr, dass sie als Freiwillige im Krankenhaus arbeitete.«

»Krankenhaus?«

»Jedes Jahr kommen mehr als siebenhundert verletzte oder verwaiste Raubvögel in unsere Einrichtung. Wir sind eins der wenigen Zentren im Südosten, die die Amerikanischen Weißkopfseeadler wieder in die Natur eingliedern.« Wenn Menschen tatsächlich strahlen können, tat Doris das jetzt. Dann verdüsterte sich ihr Gesicht. »Schrecklich, wie viele dieser majestätischen Kreaturen von Autos angefahren werden oder an Stromleitungen einen tödlichen Schlag erhalten.«

»Stromleitungen?«, fragte ich.

»Einen tödlichen Schlag?«, fragte Slidell.

Doris nickte feierlich. »Weil ihre Flügel eine so große Spannweite haben, dass sie zwei Leitungen auf einmal berühren können. Es hätte Edith fast das Herz gebrochen. Stundenlang konnte sie bei den verletzten Vögeln in der Notaufnahme sitzen. Sie gehörte auch zu unserem Krankenwagenteam, fuhr Einsätze, wenn unsere gefiederten Freunde in Schwierigkeiten waren. Aber vorwiegend kümmerte sie sich um unsere Bewohner.«

»Bewohner?« Slidells Tonfall deutete auf rapide schwindende Geduld hin.

»Wir beherbergen über hundert Raubvögel, die aufgrund von Verletzungen, Amputationen oder menschlicher Prägung nicht in die freie Wildbahn entlassen werden können. Besucher können dreiundzwanzig verschiedene Arten beobachten, wenn sie über unseren Greifvogelpfad wandern.«

»Was genau tat Edith?«, fragte ich.

»Sie reinigte die Käfige, füllte die Futterstellen auf, führte routinemäßig Gesundheitschecks durch.« Doris lachte, und es klang wie eine Mischung aus Schluckauf und Husten. »Ich schwöre Ihnen, dieses Mädchen mochte Vögel mehr als Menschen. Vor allem Eulen. Das waren ihre Lieblinge.« Doris’ Lächeln zerbröckelte wieder. »Ich meine, sind.« Sie schüttelte den Kopf. »Ach du meine Güte. Es ist ja so bestürzend.«

Ein Paar kam mit einem Beagle-Welpen im Arm herein. Doris sprang auf, als hätte man ihr einen Taser in den Rücken gedrückt.

»Mit Verlaub! Hunde sind strengstens verboten.« Mit schnelleren Bewegungen, als ich einer Frau ihres Alters zugetraut hätte, scheuchte sie die Übeltäter wieder zur Tür hinaus.

Ich stieß Slidell an. Und deutete auf eine Bekanntmachung neben einem Nest, das groß genug für Flugsaurier war. »Wehrt euch gegen Duke Energy – Lernt, autark zu leben.« Die Kontaktadresse war [email protected].

Mit mürrisch verkniffenen, sehr roten Lippen kehrte Doris zu ihrer Empfangstheke zurück. »Also wirklich. Wir haben überall Schilder. Verstehen die Leute denn nicht, dass Hunde für Vögel einfach furchtbar sind?« Sie drehte den Oberarm, um uns eine Quetschung zu zeigen, einen auberginefarbenen Bogen auf ihrem bleichen Fleisch. »Da hat mich letzte Woche ein Hund gebissen. Um ehrlich zu sein, ich traue diesen Viechern nicht.«

»Kannte Edith einen Mann namens Herman Blount?« Ich versuchte, das Gespräch wieder aufs Thema zu bringen.

»Ja.« Argwöhnisch.

»Sie sind kein Fan von ihm?«

»Gegen Hermans Tierliebe kann ich nichts sagen. Auch wenn es von wenig Urteilsvermögen spricht, sich einen Rottweiler zu halten, den schlimmsten Albtraum eines jeden Vogels. Aber er ist ein bisschen … extrem für meinen Geschmack.« Doris’ Augen wurden groß. »Hat Herman etwas Unrechtes getan?«

Slidell ignorierte ihre Frage. »Wie gut kannte Blount denn Blankenship?«

»Er brachte ihr einmal einen verletzten Streifenkauz. Das ist eine Eule. Edith half bei der Pflege. Das arme Ding überlebte nicht. Edith und Herman kämpften leidenschaftlich dafür, die Stromproduzenten zu zwingen, ihre Leitungen für Vögel sicherer zu machen. Und na ja, wenn Sie ihn gesehen haben, wissen Sie ja Bescheid. Herman ist kein übler Anblick.« Doris machte etwas mit ihren Augenbrauen, das wohl »Wenn Sie wissen, was ich meine« bedeuten sollte, aber ziemlich beunruhigend wirkte.

»Haben sie viel Zeit miteinander verbracht?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht.« Ein beiläufiges Achselzucken. »Das geht mich nichts an.«

Slidell kam direkt auf den Punkt. »Ist Blankenship zu Gewalt fähig?«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Stromleitungen manipulieren? Sachen in die Luft jagen?«

Doris wandte den Blick ab.

»Was ist?«, bedrängte Slidell sie.

»Ich will ja nichts Schlechtes sagen. Aber dieses Mädchen würde wohl alles tun, um ihre Vögel zu schützen.«

»Haben Sie irgendeine Vorstellung, was mit ihr passiert sein könnte?«, fragte ich sanft.

Doris schaute mich verständnislos an.

»Jedes Detail könnte uns weiterhelfen.« Ich lächelte ermutigend, wie ich hoffte.

»Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet«, murmelte Doris.

»Wenn Edith etwas angetan wurde, müssen wir den Schuldigen finden, um ihn vor Gericht zu bringen.«

Doris seufzte. »Mit einem verheirateten Mann zu schlafen bringt nie Gutes.«

Das hatte ich nun nicht erwartet.

Slidell ebenfalls nicht. »Edith hatte ein Verhältnis?«

Doris’ Hände spielten an der Kante ihrer Empfangstheke herum. »Ich habe schon zu viel gesagt.«

»Ich brauche einen Namen.« Slidell zog sein Notizbuch heraus.

»Edith hat ihn nur einmal erwähnt, aber streng vertraulich. Sie hatten sich gestritten, und sie war aufgewühlt. Ich glaube, sie hatte begriffen, dass er seine Frau nie verlassen würde.«

»Der Name!« Slidell bellte jetzt.

»Sie hatte ein Verhältnis mit ihrem Professor. Dr. Jack Olsen.«

7

Slidell stellte noch ein paar Fragen, dann kehrten wir zum Taurus zurück. Während Slidell vom Parkplatz raste, rief er die biologische Fakultät der UNCC an. An seinen Beiträgen zu dem Gespräch merkte ich, dass er nicht das zu hören bekam, was er sich erhofft hatte.

Ich war völlig aus dem Häuschen wegen der Spur, die Doris uns gegeben hatte. Wollte mich sofort darauf stürzen. Slidell hatte etwas anderes im Sinn.