Die kommenden Jahre - Norbert Gstrein - E-Book

Die kommenden Jahre E-Book

Norbert Gstrein

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Beschreibung

Richard erforscht Gletscher, Natascha erforscht Menschen. Als Autorin schreibt sie nicht nur über sie, sondern gibt sich ihnen hin. Eines Tages öffnet sie ihr Haus einer vor dem Krieg geflohenen Familie aus Damaskus. Und Richard? Er desertiert immer weiter aus der eigenen Existenz, träumt von Kanada und zweifelt an jedem Alltag, an der Politik, der Liebe und dem Leben. Dieses Portrait eines Sommers voller Aufbrüche erzählt von einem Paar im „mittleren Alter“, vom Flug der Zeit, vom Anderswerden und vom Älterwerden. Doch nach diesem Buch weiß man: Es geht nicht nur um Die kommenden Jahre, es geht um jeden Augenblick des Lebens.

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Über das Buch

Richard steht mitten im Leben und ist doch auf der Flucht: Vor seiner Frau, obwohl er sie geliebt hat, vor seinem Kind, das ihm so wichtig ist, vor der hohen Politik und vor seinem kleinen Alltag. Klar und nah an seinen Figuren wie nie erzählt Norbert Gstrein in Die Kommenden Jahre von einer fast gewöhnlichen Ehe, die allmählich auseinanderdriftet, bis schließlich Schüsse fallen.

Richard erforscht Gletscher, Natascha hält sich an Menschen. Als Schriftstellerin schreibt sie nicht nur über sie, sondern gibt sich ihnen hin. Eines Tages öffnet sie ihr Haus einer vor dem Krieg geflohenen Familie aus Damaskus. Und Richard? Er desertiert immer weiter aus seiner Existenz, träumt von einem Leben in Kanada und verstrickt sich in Abenteuer, die mehr sind als nur Seitensprünge.

Norbert Gstrein hat seinen schönsten Roman geschrieben. Dieses Porträt eines Sommers voller Aufbrüche erzählt vom Flug der Zeit, vom Anderswerden und vom Älterwerden. »Mir bleiben nur noch zehn Jahre!« ruft eine Frau einmal – doch nach diesem Buch weiß man: Es geht nicht nur um die kommenden Jahre, es geht um jeden Augenblick des Lebens.

Hanser E-Book

Norbert Gstrein

Die kommenden Jahre

Roman

Carl Hanser Verlag

Nicht für immer hier auf der Erde,

nur für eine kurze Zeit.

Aus den Gesängen

des Aztekenkönigs Nezahualcóyotl

Erster Teil Kanada

Erstes Kapitel

In einem knappen halben Jahr sollte der neue amerikanische Präsident gewählt werden, und die Stimmung, die auf der Tagung in New York herrschte, brachte am besten die Tatsache zum Ausdruck, dass von einheimischen Teilnehmern immer wieder der Satz zu hören war, wenn das Schlimmste einträte, würden sie nach Kanada auswandern. Ich hatte ein Sabbatical und war überhaupt nur hingefahren, weil unter den Organisatoren auch mein Freund Tim Markowich aus Montreal war und er mich gedrängt hatte, einen der Vorträge zu halten, verbunden mit der Einladung, danach noch für ein paar Tage zu ihm an den St.-Lorenz-Strom zu kommen. Also hatte ich meinen Dauerbrenner über Tropengletscher mit neuen Daten aufbereitet und ein Exzerpt eingereicht. Ich hatte nicht nur auf dem Mount Kenya und dem Kilimandscharo, sondern auch in der Cordillera Blanca in Peru und, solange es dort noch einen Gletscher gegeben hatte, auf dem Chacaltaya in Bolivien im Eis gearbeitet und konnte meine eigenen Messwerte und Beobachtungen aus vielen Jahren heranziehen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich wenigstens ein paar Monate gar nicht mit dem Thema zu beschäftigen, wozu auch gehörte, möglichst keine Kollegen zu treffen, aber Tim eine Bitte abzuschlagen fiel mir schwer. Obwohl das sonst nicht seine Art war, hatte er zum ersten Mal an mein Gewissen appelliert und mit einem für seine Nüchternheit erstaunlichen Pathos gesagt, wir dürften keine Gelegenheit auslassen, der Welt vor Augen zu führen, dass das ewige Eis keineswegs ewig sei. Es gibt immer noch die Unverbesserlichen und Ewiggestrigen, die alles leugnen, aber seit jeder Politiker mit auch nur einem Funken Verstand kaum umhinkommt, Klimawandel und Erderwärmung in seine Litaneien einzubauen, ist unsere Expertise mächtig aufgewertet, weil wir als Wächter der gefrorenen Riesen angesehen werden, die vom Aussterben bedroht sind. Die Aufmerksamkeit hat der Profession nicht immer gutgetan, und auch bei diesem Treffen fehlte es nicht an Warnern, die mit Zahlen jonglierten, als ob die Welt noch in unserem Jahrhundert unterginge, und ihren Befund mit Schreckensbildern illustrierten, ganze Länder verschwunden, halbe Kontinente unter Wasser, die Menschen zusammengedrängt auf ein paar herausragenden Gebirgszügen, Überlebende einer biblischen Katastrophe. Wir wurden immer nach Grenzwerten gefragt, soundso viele Grad wärmer bedeuteten soundso viele Zentimeter Anstieg der Ozeane, natürlich eine Vereinfachung, aber sobald die Journalisten dazukamen, malte sich aus schierer Angstlust einer aus, was passierte, wenn das Eis an den Polen ganz abschmelzen würde, und welche Gebäude etwa in Manhattan dann überhaupt noch ab dem wievielten Stockwerk aus der grenzenlos sich ausbreitenden Wasserwüste ragten. Dabei war das mit den Zahlen so eine Sache, und Tim hatte sich einmal in Schwierigkeiten gebracht, als er sagte, dass man über die wirklich wichtigen Parameter, von denen alles abhänge, viel zu wenig spreche. Er hatte auf die Frage eines Interviewers, was er global für die zwei wichtigsten Maßnahmen im Umweltschutz halte, durchaus ernst, wenn auch flapsig geantwortet, die Erdbevölkerung drastisch zu verringern und bei dem dann übrigbleibenden Haufen den durchschnittlichen Intelligenzquotienten ebenso drastisch zu erhöhen, und war dadurch ins Visier von Studenten seiner Universität geraten, die ihm Zynismus vorwarfen, mit Transparenten vor seinem Institut aufmarschierten und eine öffentliche Entschuldigung verlangten.

Ich hatte Tim Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bei dem großen Forschungsprojekt auf dem Juneau-Eisfeld in Alaska kennengelernt. Wir waren zwei junge Wissenschaftler gewesen, beide bei unserem ersten internationalen Feldeinsatz, und die gemeinsam auf dem Eis verbrachten Sommerwochen, Hitze und Kälte schweißten und froren uns bleibend zusammen. Man muss nicht soweit gehen zu sagen, dass diese Art Arbeit einen bestimmten Menschenschlag anzieht, aber in der Isolation der Wildnis, in der Gleichförmigkeit der Tage ohne die Annehmlichkeiten oder auch nur Ablenkungen einer Stadt wird doch jeder zum Charakter. Für Tim, der manchmal Wochen allein in den Bergen verbrachte, aber unter Leuten dann nichts davon ausstrahlte und sich bis zur Selbstverleugnung umgänglich gab, galt das doppelt. Hinter ihm auf Skiern auf den fernen Horizont zuzulaufen, der bloß durch ein paar aus der schier endlosen weißen Fläche ragende weiße Spitzen markiert war, ließ einen ahnen, dass es ihn über den letzten sichtbaren Punkt hinauszog und nur die Vorgaben der Arbeit ihn daran hinderten, weiter und weiter zu gehen. Nicht nur, dass er den Mount McKinley bestiegen und andere alpinistische Hochleistungen vorzuweisen hatte, für die er genausoviel Respekt wie Unverständnis erntete, er war bei unserer Expedition gewöhnlich auch der erste am Morgen, der die Hütte verließ, hatte schon die Messinstrumente überprüft, Feuer gemacht und Teewasser gekocht, wenn wir anderen aufstanden, und kehrte am Abend als letzter zurück, brütete dann noch im schwindenden Licht über seinen am Tag gemachten Aufzeichnungen. Es war eine seiner Extravaganzen, dass er sich immer vor dem Schlafengehen rasierte, während die meisten ihre Bärte sprießen ließen, und danach zog er gern einen absurd weißen Anorak mit einem riesigen roten Ahornblatt auf der Brust und der Aufschrift CANADA auf dem Rücken an, als wollte er damit eine letzte Zugehörigkeit demonstrieren.

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Calgary, hatte er kaum meinen Namen gehört, als er mich nach meinem Bruder fragte, der erst wenige Jahre vor unserem Kennenlernen bei den Olympischen Spielen dort auf dem Weg zur sicheren Goldmedaille im Slalom keine fünf Sekunden vor dem Ziel einen Fehler begangen hatte, der ihn den Sieg kosten sollte. Als Jugendlicher war Tim selbst Skirennen gefahren und in den Provinzen Alberta und British Columbia einer der besten Abfahrer gewesen. Man hatte ihm angesichts seines Mutes und der Rücksichtslosigkeit, mit der er sich die Hänge hinunterstürzte, früh prophezeit, er werde sich entweder das Genick brechen oder Karriere auf den Weltcup-Pisten in Europa machen, was dann ganz anders kam. Er fuhr eine sechzehnjährige Schülerin über den Haufen, wie er es selbst formulierte, und es war einzig und allein seine Schuld. Ohne sich zu vergewissern, ob jemand dahinterstand, war Tim in voller Schussfahrt über eine unübersichtliche Stelle gesetzt und hatte das Mädchen im Sprung mit der messerscharf gefeilten Kante seines Skis am Hals erwischt. Als er sich noch im Abschwingen umwandte und mit zusammengekniffenen Augen den Hang hinaufblickte, war im Schnee schon ein Fleck hellroten Bluts zu sehen gewesen, der sich mit seinem eigenen Pulsschlag auszubreiten schien.

Ich war einer der wenigen, denen er die Unglücksgeschichte selbst anvertraut hatte, während die anderen sie nur vom Hörensagen kannten. Wir waren mitten auf dem Eisfeld von einem Schlechtwettereinbruch überrascht worden, und weil die nächste Hütte zu weit entfernt lag und wir Angst hatten, uns im einsetzenden Nebel zu verirren, entschieden wir uns, den Sturm im Biwak auszusitzen. Die nächsten paar Stunden verbrachten wir, schnell eingeschneit von einem feinen Augustschnee, unter dem im Wind flappenden Nylon auf allerengstem Raum im Gespräch.

Vielleicht machte uns endgültig zu Freunden, dass Tim mir an diesem langen Nachmittag, an dem immer neue Böen an unserem kleinen Zelt rissen, während rundum noch die letzten Markierungen in einem gleichförmigen Weiß aufgingen, seine Kindheit erzählte, als wäre sie meine. Den ersten Schnee jedes Jahr, die erste Schlittenfahrt, das erste Mal auf Skiern hatte ich in den Alpen in Tirol nicht anders erlebt als er in den kanadischen Rocky Mountains. Das war dann unausgesprochen immer unser Anknüpfungspunkt, wenn wir uns lange nicht gesehen hatten, und selbst an einem Ort wie New York blieben wir zwei Jungen, die man zum Spielen hinaus in die Kälte geschickt hatte und die dort sich selbst überlassen waren und zusehen mussten, wie sie zurechtkamen.

Wir hatten uns am Abend vor Beginn der Tagung in der Nähe des Hotels auf ein paar Bier verabredet, waren da aber kaum zum Sprechen gekommen. In dem Diner lief ein Fernseher, und es dauerte nicht lange, bis es um die Wahlen ging und der sich um Kopf und Kragen redende Kandidat auf dem Bildschirm erschien, das fleischige, wie gerade erst nach einem Boxkampf wieder verheilte Gesicht mit den in alle Richtungen übereinandergekämmten, blondierten Haaren, die Bewegungen seiner rechten Hand, aufgestellter Daumen, zurückgenommener Zeigefinger, dann Daumen und Mittelfinger bei erhobenem Zeigefinger aneinandergelegt und am Ende alle Finger gestreckt in einer nur vermeintlich beschwichtigenden Geste. Der Ton war leise gedreht, und Tim machte sich einen Spaß daraus, dem Unhörbaren mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen und aus dem Stegreif eine Rede zu improvisieren. Er sagte, die Mär von der Erderwärmung sei nur etwas für Schwächlinge, in Wirklichkeit stehe der Welt eine neue Eiszeit bevor, und eher, als dass New York im Schmelzwasser untergehe, könnten die nächsten Generationen beobachten, wie sich die Gletscher in Grönland und Alaska wieder über ganz Kanada ausbreiten und sich das Eis am Ende das Hudson-Tal herunterschieben würde auf die Außenbezirke der Metropole und auf Manhattan zu. Dabei merkte er nicht, dass er immer lauter wurde und die Leute an den Nachbartischen aufhorchten, bis ein Kellner herantrat und dem Flüstern nahe, aber unmissverständlich auf ihn einsprach.

»Die anderen Gäste fühlen sich gestört, Sir«, sagte er mit einer ausgestellten Vornehmheit, die nicht zum ganz und gar schlichten Ambiente des Lokals passen wollte. »Ich muss Sie auffordern, leise zu sein.«

Tim entschuldigte sich, wobei er das »Sir« aufgriff und allein damit einen spöttischen Ton anschlug, den er dann nicht mehr loswurde. Er fügte vielleicht ein bisschen zu übermütig hinzu, er empfinde es als Ehre, überhaupt hier sein zu dürfen, schließlich sei es, mit allem Respekt, ein großes Land. Dabei machte er ein betrübtes Gesicht, und während er sich schon wieder mir zuwandte, weil er dachte, dass alles gesagt sei, wollte der Kellner wissen, wie er das meine.

»Wie soll ich es denn meinen?« sagte Tim. »Das Land der Freien.«

Der Kellner sah sich jetzt nach einem Kollegen um.

»Sir?« sagte er. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts weiter«, sagte Tim, vermochte aber ein Lachen nicht mehr zu unterdrücken und kehrte seinen kanadischen Akzent so deutlich hervor, wie er nur konnte. »Es ist ein wunderbares Land.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sir.«

»Das Land der Tapfersten, die Heimat der Edelsten. Haben Sie noch nie davon gehört? Amerika, die Schöne, Gottes eigenes Land.«

Der Kellner fragte, ob er die Rechnung bringen solle, und wir standen bereits draußen auf der Straße, als Tim sich immer noch über seine Empörung mokierte. Er versperrte den schmalen Gehsteig, aber die Passanten, die seinem Gestikulieren auswichen und um ihn herumgehen mussten, beachteten ihn nicht einmal, und als am Tag darauf zuerst ein Kollege aus Minneapolis und dann einer aus Seattle fast gleichlautend zu ihm sagten, sie würden nach Kanada auswandern, wenn das Schlimmste einträte, sah er sie mit einem ebenso mitleidigen wie herablassenden Nicken an. Für ihn war Auswandern etwas anderes als ihre am Ende wahrscheinlich folgenlosen Träumereien. Denn sein Vater war bald nach dem Krieg Anfang der fünfziger Jahre aus Jugoslawien weniger ausgewandert als geflohen und bei seinen Versuchen sieben Mal an der Grenze erwischt und sieben Mal ins Gefängnis geworfen worden, bevor er es beim achten Mal schließlich nach Italien und dann weiter nach Kanada geschafft hatte, wo er eine regelrechte Aufsteigerkarriere zuwege brachte, vom Bergarbeiter und Lastwagenfahrer zum Besitzer mehrerer Autohäuser.

Tim war seit dem letzten Mal grauer geworden, sein Gesicht markanter, die große Nase vorspringend wie je, die Augenhöhlen und Schläfen tief in den Schädel gesunken. Mit seinem dunkelblauen Anzug schien er noch weniger der Vorstellung zu entsprechen, die man sich von ihm machte, wenn man von seinen Expeditionen hörte oder gar den Eskapaden seiner Jugend, die mit dem Ski-Unglück endeten. Dafür bekam man eine Ahnung davon, was die Journalistin gemeint haben könnte, die in einem Porträt über ihn geschrieben hatte, er wirke wie ein Klaviervirtuose, der sich in das falsche Metier verirrt habe. Er hielt seinen Vortrag über das Phänomen der »Galoppierenden Gletscher«, die selbst in Zeiten des allgemeinen Rückgangs durch periodische Vorstöße von manchmal mehreren Metern am Tag auffallen, und zuletzt wirkte er müde. Die drei Tage in Gesellschaft hatten ihm so zugesetzt, dass er sich beim Abschiedsessen entschuldigte, er habe Kopfschmerzen, und als wir uns später am selben Abend noch in einer Bar trafen, war er in düsterer Stimmung. Bei meinem Eintreten saß er aufrecht in seinem Ledersessel, blickte in der Spiegelwand gegenüber durch das eigene Bild hindurch und sagte, er hätte es nicht ertragen, sich von noch einem anhören zu müssen, wenn das Schlimmste einträte, würde er nach Kanada gehen. Er selbst hatte nach einem halben Arbeitsleben in Montreal gerade einen Ruf nach St. John’s in Neufundland erhalten und sollte dort im kommenden Jahr seinen neuen Lehrstuhl einnehmen, und als er mich fragte, was mit mir sei, und ich ihn zuerst nicht verstand, sah er mich über sein Glas hinweg an und erkundigte sich, ob ich nicht mitkommen wolle und warum ich mir eigentlich nicht überlegte auszuwandern.

Tatsächlich hatten wir in den Jahren, die wir uns kannten, immer wieder einmal über diese Möglichkeit gesprochen, am Anfang mit einigem Nachdruck, später als eine Art Running Gag zwischen uns, Kanada als Fluchtpunkt, aber jetzt konnte es kaum ernst gemeint sein. Offenbar hatte der Alkohol Tims Urteilsvermögen so weit beeinträchtigt, dass er nicht wusste, was er sagte. Mit einem Lachen allein ließ er sich dennoch nicht abspeisen, und ich erinnerte ihn daran, wie alt ich war und dass ich in Hamburg ein Leben hatte, eine Frau und ein Kind, um von den bürokratischen Hindernissen gar nicht zu reden, die sich sicher auftun würden.

»Wie stellst du dir das vor, Tim?« sagte ich. »Ich komme nach Hause zurück und sage zu Natascha, wir holen Fanny aus der Schule, packen alles zusammen und gehen nach Kanada?«

Es war auffällig, dass er sich bis dahin nicht nach ihr erkundigt hatte. Seit er uns vor ein paar Jahren in Hamburg besuchen gekommen war, gebärdete er sich vielleicht ein bisschen allzulaut als Nataschas stiller Verehrer. Zu ihren Geburtstagen schickte er ein Kärtchen und kam unweigerlich darauf zurück, was für schöne Tage er mit uns in unserem Sommerhaus am See verbracht habe. Dabei waren er und ich die meiste Zeit nur im Garten gesessen, und Natascha hatte hinter offenen Fenstern geschrieben, unser Gespräch als anhaltendes Begleitgeräusch. Er mochte, dass sie Schriftstellerin war, gab sich ihr gegenüber ungehobelter und unbelesener, als er in Wirklichkeit sein konnte, und nahm mich ungefragt auf in diesen Club der etwas Tumben, für die es eine Ehre war, überhaupt in Nataschas Nähe sein zu dürfen. So ironisch er das tat, im Grunde meinte er es ernst und machte uns beide damit zu verqueren Zottelbären, die nach ihren Alleingängen im Eis nie mehr ganz in die Zivilisation zurückgekehrt waren. Wenn er am Abend von Natascha wissen wollte, was sie zustande gebracht habe, sagte sie glücklich: »Nichts Brauchbares«, und ich stand daneben, öffnete eine Flasche Wein und wünschte mir, an seiner Stelle zu sein. Teil seiner Komplimente war immer auch, dass er dagegen protestierte, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, ja, er bestand darauf, das sei unmöglich, jedenfalls in dieser Welt, eine Kopie von ihr käme einem Gottesbeweis gleich. Er hatte Katja nie gesehen, aber ihre Existenz so lange geleugnet, dass er sich schuldig fühlte, als er von ihrem Tod erfuhr, und Natascha einen untröstlichen Brief schrieb. Daran dachte ich jetzt, was für ein Träumer er war und was für ein Realist in seinen Träumen, während er mich regelrecht bearbeitete.

»Es hat eine Zeit gegeben, in der allein die Erwähnung von St. John’s gereicht hätte, dass du nicht mehr zu halten gewesen wärest«, sagte er, als ich schon hoffte, dass er endlich aufhören würde. »Vor den Orten, nach denen du dich gesehnt hast, waren es immer die Namen der Orte, Richard. Bei mir ist es Dalmatien gewesen. Ich habe lange gedacht, ich könnte dort ein Leben haben, nicht weil mein Vater von da stammt, sondern wegen des Klangs.«

»Aber ich bin nicht mehr jung.«

»Davon rede ich ja.«

»Mir fehlt die Zeit für solche Träume.«

»Willst du wirklich in Hamburg alt werden?«

»Als ob ich in Kanada davon verschont wäre.«

»Willst du unter Deutschen sterben, Richard?«

Er sah mich jetzt mit einem zweifelnden Blick an.

»Allein schon das Wort. Du musst nur einmal laut Deutschland sagen und weißt Bescheid. Kann man danach Sehnsucht haben?«

Eine ähnliche Diskussion, nicht weniger irrlichternd, hatten wir schon einmal gehabt, als ich von Innsbruck nach Hamburg gegangen war. Bloß hatte er mich damals gefragt, ob ich wirklich unter Deutschen leben wolle, und da war es noch ein Automatismus gewesen, die Deutschen als diejenigen, gegen die man ebenso selbstverständlich war, wie man ungestraft gegen sie sein konnte, die Deutschen als die wie nach einem alttestamentarischen Fluch für immer Ausgestoßenen, die nur alles falsch machen konnten, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühten, alles richtig zu machen. Ich hatte ihm schon ein paarmal gesagt, dass es mit den Österreichern kaum einfacher sei, aber das versuchte ich jetzt gar nicht, weil er ohnehin kein Ohr dafür gehabt hätte.

»Weißt du noch, was du mir auf dem Juneau-Eisfeld über dein Aufwachsen in Tirol erzählt hast, Richard?«

»Aber Tim«, sagte ich. »Was hat das damit zu tun?«

»Du hast gesagt, dass dich der Umgang mit den Gästen im Hotel deiner Eltern alles gelehrt hat, was du über das Leben wissen musst. Erinnerst du dich? Zu achtzig oder neunzig Prozent deutsche Touristen, und sie haben sich in dem winzigen Dorf in den Bergen aufgeführt wie die Kolonialherren und dich wie einen Halbwilden behandelt.«

»Habe ich das wirklich gesagt?«

»Und ob«, sagte er. »Armselige Kleinkrämer, die gedacht haben, sie könnten mit ihrem lächerlichen Geld alles und jeden kaufen und dabei auch noch sich selbst übers Ohr hauen und an Leben teilhaben, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten.«

Es mochte ja sein, dass ich mich damals zu solchen Sprüchen hatte hinreißen lassen, aber von ihm jetzt darauf festgelegt zu werden war etwas anderes, und ich wehrte mich.

»Ich würde heute nicht mehr so reden.«

»Wie denn?« wollte er lachend wissen, als hätte ich mir nur einen Scherz erlaubt. »Glaubst du im Ernst, es ist etwas anders geworden?«

Ich kam gar nicht soweit zu sagen, dass immerhin Jahre vergangen seien, weil er keine Antwort erwartete und sofort ungeduldig nachfasste.

»Du willst die Herrschaften doch nicht etwa verteidigen?«

Er hatte über halb Deutschland verstreut Onkel. Einer lebte in Berlin, einer in Stuttgart, einer in München, und unausgesprochen warf er ihnen vor, dass sie alle zu kurz gesprungen und nicht weit genug weggegangen seien, als auch sie sich aus Jugoslawien davongemacht hatten. Allein sein Vater, der Älteste, hatte es über den Atlantik geschafft, weil es zu seiner Zeit für ihn keine legale Ausreisemöglichkeit gegeben hatte und er wirklich geflohen war, ausgewandert nach Kanada, in das Land seiner Träume, und nicht bloß später als Gastarbeiter über die Grenze gegangen, Sommer für Sommer hin- und hergependelt und dann irgendwann halbherzig in ewig ungeliebten Umständen bei den Deutschen geblieben wie all die anderen. Er hatte einen Schnitt mit der Vergangenheit gemacht, und in seinem Namen hielt Tim jetzt Gericht.

»Soll ich dir den Unterschied erklären?« sagte er. »Mein Vater ist in Kanada ein freier Mann, während meine Onkel in Deutschland nach fünfzig Jahren immer noch glauben, sie müssten dankbar sein, dass sie für die feinen Herren die Drecksarbeit verrichten dürfen.«

Ich hatte ihm nicht erzählt, dass wir unser Sommerhaus knapp eine Stunde außerhalb von Hamburg erst drei Monate zuvor an eine Familie aus Damaskus vermietet hatten, aber alles, was er von einem bestimmten Punkt an sagte, bezog ich darauf. Die Nachricht war durch die Medien gegangen, allein schon wegen Natascha, die als Schriftstellerin natürlich Aufmerksamkeit auf sich zog, als wir uns dazu entschlossen. Man konnte nicht allein Meldungen im Internet und einen Bericht, den es im Fernsehen gegeben hatte, auf YouTube finden, sondern auch Hinweise in ausländischen Zeitungen, und Tim brauchte vor der Tagung nur ihren Namen gegoogelt zu haben, um darauf gestoßen zu sein. Was er davon halten musste, war mir klar, als er sich kopfschüttelnd über die Leute ausließ, die im vergangenen Herbst auf den Bahnsteigen gestanden waren und die in ganzen Zugladungen ankommenden Flüchtlinge mit Applaus begrüßt hatten. Ich fragte ihn nicht, aber je mehr ich mir vorstellte, dass er von unseren Mietern wusste, um so unheimlicher wurde mir sein Vorschlag, Natascha und ich könnten nach Kanada gehen. Über viele Dinge hatte ich mich nie mit ihm unterhalten, doch wenn stimmte, was ich vermutete, und wenn ich ihn ernst nahm, steckte hinter seinem Insistieren womöglich, dass er dachte, uns vor uns selbst retten zu müssen, und mir fiel nichts anderes ein, als ihm ein ums andere Mal trotzig zu beteuern, es stehe alles gut für uns in Hamburg und ich wüsste nicht, warum wir von dort wegsollten, was wie eine Beschwörung klang, an die ich selbst nicht recht glaubte.

Ich war froh, dass wir das Gespräch nicht weiterführen mussten, als andere Tagungsteilnehmer zu uns stießen, und nutzte die Gelegenheit, mich zu verabschieden. Zurück im Hotel, konnte ich lange nicht schlafen, und weil es zu früh war, zu Hause anzurufen, und Natascha und Fanny noch nicht wach sein würden, spielte ich an meinem Computer herum und hatte kaum die neuesten Nachrichten gelesen, als ich mich dabei ertappte, wie ich nach St. John’s suchte. Angeblich war es die älteste Stadt Nordamerikas, und die Bilder von bunten, nordisch wirkenden Häusern an einem Fjord und den beiden dominierenden Türmen der Basilika auf einem Hügel leuchteten in die Dunkelheit meines Zimmers. Ich fand die mittleren Januar- und Juli-Temperaturen heraus und überprüfte, wie lange man von Montreal mit Auto und Fähre dorthin brauchte und wie lange mit dem Flugzeug. Es war die Stelle Neufundlands, die am weitesten in den Nordatlantik hineinragte, und obwohl die geographische Breite bis auf ein paar Hundertstelgrad mit der von Innsbruck übereinstimmte und man von Hamburg aus schneller hinkam als nach New York, mussten im Frühling Eisberge von den kalbenden Gletschern in Grönland vorbeiziehen, bis sie weiter im Süden zerbrachen und schmolzen und sich, lange bevor sie wirklich warme Gefilde erreichten, im Meerwasser auflösten.

Zweites Kapitel

Für die Familie aus Damaskus, Vater, Mutter und die beiden zwölf- beziehungsweise vierzehnjährigen Söhne, hatte unser Sommerhaus genau die richtige Größe. Obwohl die Miete eher symbolischer Art war, ein Beitrag zu den Betriebskosten, den die Behörde trug, bestand Natascha darauf und sagte, dass wir uns nicht über die Natur dieses Verhältnisses täuschen sollten. Denn nachdem sie alles in Gang gesetzt hatte, begann es für sie mit der richtigen Wortwahl, weshalb wir niemanden aufnahmen, sondern vermieteten. Sie hatte die Farhis bei einer Veranstaltung im nahe gelegenen Städtchen kennengelernt und dann den wochenlangen Kampf mit den Ämtern ausgefochten und schließlich alle notwendigen Genehmigungen für eine Unterbringung erhalten, wenngleich das Asylverfahren noch in der Schwebe war. Als sie nach Ostern einzogen, verfiel Natascha darauf, dass wir sie hinbringen sollten, und so fuhr ich mit dem Kombi los, suchte die Stichstraße in der Nähe des Gewerbegebiets hinter dem Fluss, parkte auf dem Gehsteigrand vor dem wie erbrochen grün gestrichenen, vierstöckigen Wohnhaus, in dem sie bis dahin einquartiert gewesen waren, und sah zu, wie Herr und Frau Farhi ihre Habe in den Kofferraum packten, exakt zwei Reisetaschen, und zu mir ins Auto stiegen, er vorn, sie hinten zwischen die beiden Jungen. Überall an den Fenstern waren Gesichter aufgetaucht, und vor dem Haus standen Jugendliche herum, die uns beobachteten und die Familie verabschiedeten, als wären sie froh, sie los zu sein.

Natascha hatte das Haus zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Katja von ihren Großeltern geerbt, die nach der Wende ihren Besitzanspruch geltend gemacht und durch alle Instanzen gekämpft hatten, dass es ihnen restituiert wurde, ein bescheidenes Einfamilienhäuschen, das längst renoviert gehört hätte, mit einem erstaunlich großen, verwilderten Grundstück und einem direkten Zugang zum See. Es war winterfest, zwar nur über Kohleöfen beheizbar, aber wir nannten es Sommerhaus, weil wir nur die Sommerwochen dort verbrachten und übers Jahr höchstens das eine oder andere Wochenende, wenn wir aus der Stadt hinaus- oder auch bloß nach dem Rechten sehen wollten. Aus den vorderen Räumen war der Blick auf den See frei, und nur wenn man den Weg hinunter ans Ufer ging, sah man zu beiden Seiten andere Häuser, auch sie keineswegs Villen und mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall immer noch im Osten. Unsichtbar hinter den Bäumen am anderen Ufer versteckte sich ein Sanatorium, wo im Gemäuer eines ehemaligen Klosters und späteren psychiatrischen Krankenhauses längst Schönheitspatienten mit Geld untergebracht waren, die sich ihre Bäuche absaugen, ihre Nasen oder Hintern richten ließen und manchmal nach Einbruch der Dämmerung, der Schreck aller Kinder, mit einbandagierten Schädeln auf ihren elektrischen Stehrollern den Uferweg entlangrollten. An einer Kreuzung in Gehweite lag ein abgesperrtes Gelände mit ein paar Gebäuden, die zu einer stillgelegten Schraubenfabrik gehörten, und dort hielt sich für die wenigen bewohnten Häuser die Straße entlang, von allen die Siedlung genannt, auch ein Laden mit einem Ausschank, der zu den ungewöhnlichsten Zeiten geöffnet oder geschlossen sein konnte. Bis ins Städtchen waren es sechs Kilometer, zwanzig Minuten mit dem Fahrrad, ein Bus kam vier Mal am Tag durch, aber ich hatte mir eine Vespa gekauft und liebte es, über das offene Land zu fahren, wenn ich erst einmal die Treibhäuser hinter mir hatte, die sich fast direkt an das Grundstück anschlossen und in den letzten Jahren eine immer größere Fläche eingenommen hatten.

Wir waren noch am Wochenende vor dem Einzug der Farhis im Haus gewesen, um persönliche Gegenstände zu entfernen und zuzusehen, dass alles bei ihrer Ankunft möglichst wohnlich wirkte. Viel war nicht zu tun, ein paar Fotos abnehmen, liegengebliebene Kleider vom letzten Sommer in eine Tasche packen, Natascha bezog die Betten, stellte neue Töpfe und Pfannen, die sie eigens gekauft hatte, in ein Regal, schaltete den Kühlschrank ein und füllte ihn, und ich schaute meine Sachen im Schuppen durch, die seit meinem Umzug aus Innsbruck dort lagerten, sah aber keinen Grund, die Bananenkartons mit Vorlesungsmanuskripten und Büchern einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Es war alles vorbereitet, und als ich mit dem Kombi auf den Weg zum Grundstück einbog, sprang mir eine Blumengirlande ins Auge, die zwischen den beiden Buchen links und rechts von dem weit offenstehenden Tor gespannt war, sowie ein schlaff herabhängender Transparentstreifen, auf dem in abwechselnd nach links und rechts geneigten Blockbuchstaben VIEL GLÜCK stand, der aber nicht von uns stammte.

Die Fahrt hatte wenige Minuten gedauert. Natascha war uns in ihrem Auto mit Fanny gefolgt, und obwohl es ein absurder Gedanke war, hatte ich sie im Rückspiegel als Aufpasserin empfunden, die achtgab, dass ich nichts falsch machte. Sie sprang jetzt geistesgegenwärtig aus dem Wagen, hob den Schriftzug hoch und befestigte ihn mit den beiden aufgegangenen Bindfäden an einem Ast. Die Farhis sollten gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dass etwas an dem Willkommensgruß merkwürdig sein könnte, und kaum dass sie ausgestiegen waren, führte Natascha sie mit einer Beschwingtheit durchs Haus, als wäre sie eine Maklerin, die endlich die Dummen gefunden hatte, die ihr die größte Bruchbude abnehmen würden. Sie machte in der Küche Feuer, zeigte ihnen, wie der Herd funktionierte, erklärte, wie sie die Öfen am besten anheizten, und sagte, wenn sie das Ruderboot im Schuppen nutzen wollten, könne ich ihnen in den nächsten Tagen helfen, es zu Wasser zu lassen. Die beiden Jungen entdeckten die Schaukel im Garten, und als Natascha ihnen mit einem Wink die Erlaubnis gab, kam Fanny ihnen zuvor und wollte gar nicht mehr aufhören, schaukelte sich so lange hoch, bis sie mit ihren Füßen über den Baumwipfeln in den Himmel stach und kopfüber in der Luft hing, ihr Haar ein wehender Schweif, den sie hinter sich herzog.

Es war früher Nachmittag, aber das Licht hatte schon abgenommen, ein milder Schauer über dem See, und Nataschas Geschäftigkeit ließ eine Weile die Verlorenheit gar nicht aufkommen, die ich später mit der Szene verband. Herr Farhi schien die ganze Zeit ein Lächeln um den Mund zu haben, wenn sie ihn auf etwas hinwies, als wollte er ihr zu verstehen geben, darum gehe es doch nicht, sie solle ihm nichts von den Fernsehprogrammen erzählen, die sie empfangen, nichts von dem Laden in der Nähe, wo sie einkaufen könnten, nichts von dem flachen Ufer, an dem die Jungen auch als Nichtschwimmer keine Angst haben müssten, wenn sie später im Jahr baden wollten, sie solle ihm vielmehr endlich erklären, was sie überhaupt hier draußen sollten. Dabei bedankte er sich unaufhörlich, und vielleicht interpretierte ich die Blicke auch falsch, die er mit seiner Frau wechselte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, vielleicht war es nicht Panik, die darin zum Ausdruck kam, sondern stiller Protest und ein Unbehagen, sich überhaupt auf die Situation eingelassen zu haben.

Schließlich händigte Natascha ihm die Schlüssel aus und sagte, sie werde morgen noch einmal vorbeikommen, aber er könne jederzeit anrufen, wenn etwas sei, und wir waren auf dem Weg zu den Autos, als ich mich umwandte und sah, wie Herr Farhi eine Zigarette aus der Packung klopfte und sie anzündete, wobei er die Flamme mit beiden Händen schützte. Schon auf der Herfahrt hatte er die Schachtel aus seiner Hosentasche geholt und sie unschlüssig wieder eingesteckt, als ich sagte, er könne gern rauchen, und jetzt glaubte ich an seinem Gesicht abzulesen, wie froh er war, endlich allein zu sein. Es war ein schmales Gesicht mit eng beieinanderstehenden Augen und einem Raubvogelblick, das trotzdem etwas Sanftes ausstrahlte, als er sich zu den beiden Jungen umdrehte, die sich über die Schaukel hermachten, die Fanny gerade erst verlassen hatte.

Seit wir auf das Grundstück gekommen waren, hatte ich kein Wort mit Natascha allein gewechselt, aber kaum hatten wir uns weit genug entfernt, kam sie auf das Transparent zu sprechen und hörte nicht auf, sich zu erregen, dass das sicher nicht ernst gemeint sei, wer das gewesen sein könne, was für Menschen sich überhaupt die Mühe machten, ihre Ablehnung auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen, und ob ich glaubte, dass die Farhis etwas gemerkt hätten. Bei den Autos angelangt, winkten wir dem Mann und der Frau zu, die neben dem Haus standen wie ein offizielles Abschiedskomitee, er in seiner besten Anzugjacke, die er mit ihren absurden Nadelstreifen bis hierher gerettet hatte, sie in einem dunkelblauen Mantelkleid und einem wie nur notdürftig über den Kopf geworfenen Tuch. Ich hörte ihr »Jalla! Jalla!«, mit dem sie die beiden Jungen von der Schaukel scheuchte, damit sie unser Winken erwiderten, während Natascha zusah, dass ihr Gesicht freundlich blieb, und in einem fort weiter lamentierend ihr bezwingendstes Lächeln aufsetzte.

Auf der Heimfahrt hatte ich Fanny bei mir im Auto, und wie sie es bei neuen Bekanntschaften zu tun pflegte, fragte sie, ob ich den Mann möge, ob die Frau, ob die beiden Jungen, und weil das unser Ritual so wollte, musste ich ihr dann dieselben Fragen stellen, und sie sagte jedesmal ja, erkundigte sich aber doch, wie lange die vier bleiben würden und ob sie diesen Sommer nicht ihre Freunde zum Schwimmen und zum Zelten an den See einladen dürfe wie all die Jahre davor. Ich beugte mich zu ihr, strich ihr übers Haar und tröstete sie, wir könnten ja trotzdem zum Haus herauskommen und die Familie besuchen, aber sie schwieg, ihr Gesicht ernst und mit einem harten, erwachsenen Ausdruck, vor dem ich sie gern bewahrt hätte. Sie wusste, dass sie nicht weiter jammern durfte, und lächelte, als ich ihr versprach, dass wir in den Ferienwochen stattdessen etwas anderes unternehmen würden, vielleicht jeden Tag ins Schwimmbad gehen oder überhaupt verreisen, am besten nach Tirol, wo ich ihr endlich die Gletscher zeigen würde, die sie bisher nur aus Bilderbüchern kannte.

Wir hielten an der Kreuzung mit dem Laden und dem Ausschank, wo es auch zwei Tanksäulen gab und ich volltankte und den Gehilfen, der dort arbeitete, nicht davon abhalten konnte, die Windschutzscheibe zu putzen. Obwohl ich ihn schon ein paarmal gesehen hatte, war ich überrascht, dass er mich offenbar erkannte und mich ebenso nachlässig wie anscheinend konzentriert bei seiner Arbeit ansprach. Er titulierte mich als Herr Professor, wünschte mir einen schönen Tag, sagte, er höre, wir hätten Gäste in unserem Haus am See, und fragte, ob das für diese Jahreszeit nicht ein bisschen früh sei. Dabei richtete er sich auf, sah mich mit seinen hellen Augen an und rieb sich ausgiebig die Hände an einem Lappen, ein untersetzter junger Mann in einem blauen Overall, der beim Sprechen die Silben vernuschelte und den Blick lange nicht abwandte.

Für Natascha genügte das zur Beunruhigung. Kaum dass wir vom Haus losgefahren waren, war uns ein sandfarbener Jeep mit einem Pferdeanhänger begegnet, dessen Fahrer uns zunickte und der in ihren Augen nicht hierhergehörte, und jetzt dieser unverschämte Kerl in seinem Blaumann, der uns mit seinem Geschwätz zu verstehen gab, dass wir nichts ungesehen tun könnten. Wir waren noch gar nicht richtig heimgekommen, als sie schon im Haus anrief, ob alles in Ordnung sei, und Herr Farhi musste sie beschwichtigen, seine Frau habe Tee gemacht, er sitze mit ihr in der Küche, die beiden Jungen spielten unten am Wasser, und nein, es sei ihm nichts Besonderes aufgefallen, sie hätten keinen Menschen zu Gesicht bekommen, alles sei ruhig.

Meine Bedenken, ob das Haus wirklich der richtige Platz für eine Familie aus Damaskus sei, so weit weg von der Stadt, mit nur den paar Nachbarn in der Nähe, hatte Natascha immer zerstreut. Ich wusste oder bildete mir jedenfalls ein, dass sie mir unausgesprochen unterstellte, ich würde die Farhis lieber nicht darin sehen, und jetzt konnte ich ihr zuschauen, wie sie beim Telefonieren auf und ab ging und dabei mit einem Finger eine Haarsträhne ein- und ausrollte und sich auf die Lippen biss, wenn sie nicht sprach. Das war bei ihr ein Zeichen äußerster Anspannung, und es war klar, dass auch ihr bewusst wurde, wie allein die Familie da draußen war, wie ausgesetzt, wie verloren in der Landschaft und ohne jede Hilfe, wenn sie Hilfe brauchte.

Ich begleitete sie nicht, als sie bereits am Morgen darauf wieder hinausfuhr, um den Farhis noch ein paar Dinge zu bringen, wie sie sagte. Sie holte die alten Federballschläger vom Dachboden, versuchte Fanny zu überzeugen, dass sie nur eine der beiden Frisbee-Scheiben brauche, die ich ihr schon vor Jahren aus New York mitgebracht hatte, und packte kopfschüttelnd eine ein, als das Kind sich nicht entscheiden konnte. Dann kaufte sie noch einmal Vorräte, obwohl sie den Kühlschrank ja schon am Vortag gefüllt hatte, und der Kofferraum ihres Autos war voll, als sie sich endlich aufmachte. Sie wollte nur die Sachen abliefern und sofort wieder zurückkommen, aber kaum hatte sie auf dem Grundstück geparkt und war zum Haus hinuntergegangen, da tauchte Herr Brahms auf.