Eine Ahnung vom Anfang - Norbert Gstrein - E-Book

Eine Ahnung vom Anfang E-Book

Norbert Gstrein

4,5

Beschreibung

Auf dem Bahnhof in einer abgelegenen Provinzstadt wird eine Bombe gefunden. Ein Lehrer glaubt auf einem Fahndungsfoto seinen Lieblingsschüler Daniel zu erkennen, der sich nach einer Israel-Reise in religiöse und politische Phantastereien verrennt. Ist Daniel dem amerikanischen Endzeitprediger verfallen, der eines Tages in ihrem Ort aufgetaucht war und dann nach Jerusalem ging? Oder hat ein gemeinsamer Sommer den Jungen auf Abwege geführt, als der Lehrer und Daniel ganze Tage außerhalb der Zeit verbrachten? Mit seinem bewegenden und spannenden Roman ist Norbert Gstrein auf der Höhe seiner Kunst: ein Roman über Heimat und Exil und über die verhängnisvolle Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit.

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Hanser E-Book

Norbert Gstrein

EINE AHNUNG

VOM ANFANG

ROMAN

CARL HANSER VERLAG

ISBN 978-3-446-24441-2

© Carl Hanser Verlag München 2013

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Bildnachweis Umschlag:

Peter-Andreas Hassiepen, München,unter Verwendung einer Fotografie

© Janie Airey/Getty Images

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Erster Teil

DAMALS IM SOMMER

Zweiter Teil

DER REVEREND

Dritter Teil

DRAUSSEN AM FLUSS

Nach allem

IN DAS DUNKELSTE BLAU

Der HERR wird für euch kämpfen,

ihr aber werdet still sein.             

Exodus 14,14

Erster Teil

DAMALS

IM SOMMER

1

Der Sommer, von dem ich erzählen will, mit allem, was davor war und danach, liegt jetzt zehn Jahre zurück, und auch wenn ich vieles davon vergessen geglaubt habe, kann ich meiner Erinnerung trauen. Ich bin dann lange nicht mehr draußen gewesen bei dem Haus am Fluss, das ich so sehr mit Daniel und den paar Wochen damals verbinde, als hätte es eine Welt außerhalb gar nicht gegeben. Es ist mein Haus, aber allein es so zu nennen kommt natürlich einer Beschönigung gleich. In Wirklichkeit handelt es sich um die Überreste einer alten Mühle, seit Generationen im Besitz eines anderen Familienzweigs, eine Ruine, mehr war es nicht, die ich in einem Anflug von Sentimentalität erstanden habe, weil sie über Nacht zu haben war und sonst versteigert worden wäre. Auch wenn ich den Kredit heute noch abzahle, war sie mit dem Grundstück drum herum fast geschenkt, wie man so sagt, nur ein paar Quadratmeter, aber weitab von jedem Bauland, weitab von der Stadt und weit genug auch von dem Dorf ein Stück flussaufwärts, das mit seiner Neubausiedlung zwar längst in die Au vorgedrungen ist, aber trotzdem zu einer anderen Sphäre gehört, auf einem anderen Kontinent, wenn man an einem Sommertag auf der Veranda sitzt, seine Gedanken schweifen lässt und sich vorstellt, ein Dampfer würde sich mühsam stampfend die Strömung heraufarbeiten, an der Biegung weiter drunten ins Blickfeld kommen und mit seinen von der Reling winkenden Passagieren wie ein Geisterschiff an einem vorbeiziehen.

Ich dachte, dass ich das Gebäude nie nützen würde oder gar so weit instand setzen, dass es wenn schon nicht bewohnbar wäre, so immerhin ein festes Dach über dem Kopf bieten würde, und es widerstrebte mir, etwas zu kaufen, nur um es zu besitzen, aber die Vorstellung, es könnte in fremde Hände gelangen, brachte mich dann doch dazu, die Mühle zu erwerben. Ich wollte sie haben, und als Begründung fiel mir gerade noch ein »um die Dinge zusammenzuhalten«, aber wenn ich nachdachte, was sich hinter »die Dinge« verbarg, wurde es schon schwieriger, und klar schien einzig und allein, dass es alles mögliche sein konnte, nur eben nicht Dinge. Zu dem Ort hatte ich kaum Erinnerungen, außer der einen, dass ich als Kind einmal dabeigewesen war, als das Heu eingebracht wurde, und ich dann mit meinen Cousins und Cousinen auf dem von einer Kuh gezogenen Heuwagen im Fuder saß und stolz über die weit unter mir träge vorbeiruckelnden Felder schaute. Darüber hinaus war es wenig genug, was ich mit ihm verband, und doch ist das die Gegend, aus der meine Leute mütterlicherseits stammen. Vom Haus ist es nur ein längerer Spaziergang bis zu der Stelle, an der mein Großvater noch vor meiner Geburt, von einem Motorrad erfasst, zu Tode kam, weiter unten am Fluss, durch die Schlucht bei Niedrigwasser erreichbar, befindet sich die Höhle, in der Robert, mein Bruder, seinem Leben ein Ende gesetzt hat, und obwohl niemand genau weiß, wo es gewesen sein mag, muss irgendwo hier mein Onkel ins Wasser gegangen sein. Wenn ich den kleinen, bewaldeten Abhang hinter dem Haus hochstieg, konnte ich die Wiesen sehen, die auch meiner Familie gehört hatten und in denen im vorletzten Kriegsjahr ein in Brand geschossener amerikanischer Bomber notgelandet war, und ich hatte augenblicklich wieder die Geschichte im Kopf, wie meine Mutter sie mir erzählt hat. Sie war damals, acht Jahre alt, mit den anderen Schulkindern bis zu der Stelle gelaufen, an der das Flugzeug schließlich niedergegangen war. Die ganze Klasse hatte es brennend um den freistehenden Berg im Osten kreisen sehen, der ein natürlicher Orientierungspunkt ist, und war von der Lehrerin nicht mehr zu halten gewesen und hinausgestürmt, während es mit dröhnenden Motoren knapp über dem Boden hereinschwebte. Ich habe ein klares Bild von meiner Mutter als Mädchen, obwohl es kaum Fotos von ihr aus der Zeit gibt und ich erst seit ihrem Tod die Obsession entwickelt habe, sie auch auf nur im entferntesten in Frage kommenden Bilddokumenten aus den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu suchen. Das Merkwürdige daran ist, dass ich mich dann immer als Gleichaltrigen sehe, immer als kleinen Jungen, der im Sommer 1944 an ihrer Seite war, vielleicht sogar unwillkürlich ihre Hand ergriffen und sie mit sich gezogen hat, Hals über Kopf hinter den anderen her.

Seit der letzte Abschnitt der Autobahn fertiggestellt ist, fahre ich manchmal hinaus zu der Raststätte, die ziemlich genau dort errichtet wurde, wo das Flugzeug bei seiner Notlandung zum Stillstand gekommen war. Die Trasse verschwindet unmittelbar dahinter im Berg, so dass das Dorf vom Verkehrslärm verschont bleibt, und man kann endlos zuschauen, wie der Tunnel gleich einem riesigen Schlund Auto um Auto verschluckt. Ich trinke an der Bar ein Bier oder auch zwei und mache mich dann auf nach Hause, eine Fahrt von kaum einer Viertelstunde, die sich nur schwer ausdehnen lässt, weshalb ich jedesmal mit dem Gedanken spiele, ich könnte ein Zimmer in dem Motel nehmen und über Nacht bleiben. Ich bin schon so weit gegangen, mir einen Grund zurechtzulegen, wenn ich gefragt würde, warum, aber auf dem Weg zur Rezeption hat mich noch immer der Mut verlassen. Fast alle, die auf dem Gelände arbeiten, sind aus dem Dorf, die meisten so jung, dass sie kaum wissen, wer ich bin, aber weil ich nicht auffallen will, sehe ich mich vor. In der einen Woche wähle ich den Montag für meinen Besuch, in der nächsten den Donnerstag, einmal vor, einmal nach dem Schichtwechsel am Abend, so dass mit einiger Wahrscheinlichkeit dieselben Leute mich nicht allzu oft zu Gesicht bekommen. Bis zu der Stelle, wo ich das Auto stehenlasse, wenn ich zu meinem Haus will, sind es von der Raststätte knapp zwei Kilometer, und ich müsste nicht einmal zurück auf die Autobahn, es gibt einen eigenen Weg, aber unter normalen Umständen käme ich in Monaten vielleicht einmal auf die Idee, vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen oder eine halbe Stunde vor der Tür zu sitzen und auf den Fluss hinauszublicken.

Damit will ich sagen, ich hätte mich wohl die längste Zeit nicht mit diesen Dingen beschäftigt, wäre ich nicht auf den Gedanken verfallen, ich sei in der Zeitung auf Daniels Bild gestoßen. Ich war wie jeden Dienstag und jeden Freitag während des Schuljahres ins Bruckner zum Abendessen gegangen und hatte gegen meine Gewohnheit die dort ausliegenden Blätter überflogen, und ich bin sicher, dass nur meine Beiläufigkeit mich überhaupt erst darauf brachte, er könnte es sein. Es wird Untersuchungen geben, die dieses Erkennen des flüchtigen Blicks erklären, und es muss mich nicht kümmern, dass ich bei genauerem Hinsehen nicht zu sagen vermocht hätte, wieso ich davon überzeugt war. Ich könnte mir etwas zusammenreimen, eine bestimmte Neigung des Halses, etwas in den Augen, den leicht geöffneten Mund, aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Es war ein grobkörniges Foto, aufgenommen wahrscheinlich von einer Überwachungskamera, sein Kopf in einer Menschenmenge hervorgehoben, indem er eingekreist und heller grundiert war. Dazu kam, dass er unrasiert wirkte und die Kapuze seines Sweatshirts übergezogen hatte, als wollte er sich unkenntlich machen, was sich bei Nachforschung womöglich sogar als einer der Gründe herausstellen würde, warum er von allem Anfang an in den Fokus geraten war.

Es war erst drei Tage her, dass es auf dem Bahnhof eine Bombendrohung gegeben hatte, und der Abgebildete, hieß es, werde im Zusammenhang damit gesucht. Die Aufregung in der Stadt hatte sich schon wieder gelegt, und ich konnte mich nicht genug wundern, wie schnell das bei uns ging. Ein paar Stunden, in denen sich ein Gefühl des Ausnahmezustands breitgemacht hatte, ein kurzes Aufflackern nach den ersten Nachrichten in der Zeitung, bevor von neuem die alte Lethargie eingekehrt war, wonach die Dinge, ob gute oder schlechte, nicht hier passierten, sondern anderswo, und ich starrte jetzt mit einer anhaltenden Empfindung von Unwirklichkeit auf das Bild. Er war es, sagte ich mir und hätte im nächsten Moment schwören können, dass ich mich täuschte. Das Gebäude mit den Schaltern und dem Warteraum war stundenlang abgesperrt gewesen, der Zugverkehr lahmgelegt, nachdem ein anonymer Anruf eingegangen war und man gleich danach auf einer der Toiletten eine Tasche entdeckt hatte, in der sich dann allerdings nur eine verbeulte Autobatterie mit einem Wirrwarr von Kabelwerk fand, bedrohlicher aussehend, als sie in Wirklichkeit war. Daneben lag ein Zettel mit den in Buchstaben unterschiedlichster Größe zusammengeklebten Zeilen »Kehret um!«, »Erste und letzte Warnung!« und »Beim nächsten Mal wird es ernst!«, gefolgt von einem unentzifferbaren Gekrakel, das wohl der Ersatz für eine Unterschrift sein sollte.

Ich wartete, bis Agata an meinem Tisch vorbeikam, und bat sie, einen Blick auf das Foto zu werfen, weil ich dachte, sie würde meinem Verdacht am ehesten noch folgen können. Immerhin hatte sie bereits im Bruckner gearbeitet, ihre erste oder zweite Saison im Café, als Daniel in seinem letzten Schuljahr an jedem Wochenende dorthin gegangen war, um Karten zu spielen. Sie stellte das Tablett mit den leeren Gläsern, das sie in der Hand hatte, auf den Nebentisch und setzte sich mit aufgestützten Ellbogen mir gegenüber. Ihr Chef mag es nicht, wenn sie allzu sehr fraternisiert, und für das Privileg, dass sie bei mir immer eine Ausnahme machte, akzeptierte ich, dass sie mich manchmal behandelte wie ein Kind. Daher erwartete ich, sie würde das auch jetzt wieder tun, und verhielt mich still, während sie nach der Zeitung griff. Ich brauchte gar nicht hinzuschauen, um mir den Gesichtsausdruck vorstellen zu können, mit dem sie mich gleich danach über den Rand hinweg ansah, die Mischung aus Spott und Gereiztheit, die es ihr ermöglichte, noch dem offensichtlichsten Aufschneider eine Zeitlang in sein Paralleluniversum zu folgen, ehe sie gerufen wurde oder selber befand, es reiche. Sie stammte aus einem kleinen Dorf in Ungarn, direkt hinter der burgenländischen Grenze, und bezog einen paradoxen Stolz daraus, durch diese Tatsache auf alles, was ihr im Leben widerfahren würde, so gründlich vorbereitet zu sein, dass es keine Überraschungen für sie gab. Also nahm sie von ihren Stammgästen die größten Merkwürdigkeiten hin, und vielleicht wäre es mit der Klientel von alleinstehenden Männern, die sich Abend für Abend an der Theke einfand, auch nicht anders gegangen, als dass sie zuhörte, bis sie einen auf diese Weise zu mustern begann. Es war eine wortlose Aufforderung, sich zu beherrschen, wenn einer endgültig ein Bier zuviel bestellt hatte und ausfällig zu werden drohte oder wenn er ihr mit seinen Sprüchen auf die Nerven ging oder gar zum wiederholten Mal die Geschichte seiner gescheiterten Ehe erzählte, zusammen mit der Präsentation einiger zerknitterter Schnappschüsse aus glücklicheren Tagen und der Versicherung, wie prächtig die Kinder sich machten. Sie hatte diese zerstreute Art, eine Zigarette aus der Packung zu ziehen und anzuzünden, die gleichzeitig Ausdruck äußerster Konzentriertheit war, und ich schaute ihr einmal mehr zu, wie sie das mit einer Hand bewerkstelligte und nach dem ersten Zug von neuem auf das Bild starrte.

»Du willst doch nicht im Ernst von mir wissen, wer das ist«, sagte sie und kniff scherzhaft die Augen zusammen, wobei über ihrer Nasenwurzel eine senkrechte Falte entstand, auf die sie den Daumen legte, wie um sie zu glätten. »Bei der Qualität der Aufnahme würde ich nicht einmal meinen eigenen Bruder erkennen.«

Sie unterdrückte ein Gähnen, als ich sie fragte, ob ich ihr einen Tip geben solle. Dann nickte sie, und als ich zögerte, wollte sie schon aufstehen und gehen. Im selben Augenblick sah ich einen Anflug von Staunen und Erschrecken in ihrem Gesicht, und ich wusste, sie hatte begriffen.

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

Es war klar, dass sie den Namen aus schierem Aberglauben nicht in den Mund nehmen würde, und ich gab ihr Zeit, sich an die Überraschung zu gewöhnen, während ich mich erinnerte, wie sehr sie Daniel mochte, wie ihr bei der Arbeit im Café noch im größten Trubel aufgefallen war, wenn er hereinkam, oder wie sie sich manchmal nach der Sperrstunde zu den Kartenspielern setzte und sie die letzte Runde in Ruhe fertig spielen ließ, nur um in seiner Nähe zu sein. Er musste gar nichts weiter tun, um ihr den Kopf zu verdrehen, und sie war beileibe nicht die einzige gewesen, die auf ihn aufmerksam wurde. Ich hatte zweimal bei ihr geschlafen und jeweils die halbe Nacht damit zugebracht, über ihn zu sprechen, was mir damals noch als ganz normal erschienen war, jetzt aber nicht nur angesichts ihrer Abwehr wie ein einziger Exzess vorkam.

»Wenn du mich fragst, du siehst Gespenster«, sagte sie, nachdem sie sich umgeschaut hatte, als befürchtete sie, jemand könnte uns zuhören. »Vielleicht solltest du mehr unter Leute gehen.«

Das war ihre übliche Empfehlung, wenn ihr eine Situation unbehaglich wurde, wenn sie Distanz suchte oder Überlegenheit signalisieren wollte. Aber allein daran, dass sich ihr Akzent bemerkbar machte, der sonst keinem mehr auffiel, erkannte ich, wie aufgeregt sie war. Etwas an dem Gespräch ging ihr gegen den Strich, und sie bemühte sich nicht, das zu verbergen.

»Wann war er eigentlich zum letzten Mal hier?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich, wenngleich ich es ganz genau wusste, und schaute an ihr vorbei auf den großen Abreißkalender neben der Theke, der einen Sonntag im April anzeigte, aber natürlich wieder einmal um ein paar Tage hintan war, weil niemand sich die Mühe machte, jeden Morgen das Blatt vom Vortag abzureißen. »Es ist auf jeden Fall schon einige Zeit her.«

»Wenn ich mich nicht täusche, müssen es knapp zwei Jahre sein«, sagte sie. »War es nicht bei der Hochzeit von Judith?«

Als ich nicht antwortete, lachte sie.

»Ich weiß, du willst nicht darüber sprechen, aber ich habe nun einmal meine Freude daran, ihn mir dabei vorzustellen.«

Sie nannte es ein schauriges Ereignis, und ich nahm das hin, obwohl ich kaum an mich zu halten vermochte, ihr nicht den Mund zu verbieten.

»Er hätte sogar Trauzeuge sein sollen und ist erst im letzten Moment abgesprungen«, sagte sie dann. »Zur Feier ist er aber trotzdem gekommen.«

Die alte Geschichte beschäftigte sie immer noch. Wir hatten uns schon oft darüber unterhalten, und es kam für mich nicht überraschend, dass sie sofort wieder darauf ansprang. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob ich ihr widersprach oder zustimmte, es endete unweigerlich in ihrem Lamentieren.

»Trauzeuge bei der Hochzeit der Frau, für die er sich so lange zum Narren gemacht hat. Allein die Vorstellung ist geschmacklos. Die ganze Stadt hat gesehen, dass er ihr nachgelaufen ist wie ein aufgeregtes Hündchen. Bei allem Verständnis für seine Spinnereien, das muss mir einmal jemand erklären. Er hat so etwas doch gar nicht nötig gehabt. Mein Gott, ein Glückskind wie er. Wenn er nur ein bisschen geschickter gewesen wäre, hätte er an jedem Finger drei Verehrerinnen haben können.«

Darauf wusste ich wieder nichts zu erwidern, und ich sagte auch nichts von dem kurzen Besuch, den er mir vor knapp sechs Monaten abgestattet hatte, unserer tatsächlich letzten Begegnung. Es war in den ersten Novembertagen, Abend schon, draußen bereits dunkel, und er stand unangekündigt vor der Tür, wollte sich zuerst nicht überreden lassen hereinzukommen und blieb über Nacht. Das überraschte mich nicht, war er doch in den Jahren nach seiner Schulzeit immer wieder einfach so bei mir aufgetaucht, anfangs noch häufiger, dann seltener, und auch seine Bitte, ihm Geld zu leihen und keine Fragen zu stellen, strapazierte unser Verhältnis nicht weiter. Ich wollte wissen, wieviel, und als er sagte, alles, was ich dahätte, sah ich ihn zwar erstaunt an, ging dann aber ins Schlafzimmer und holte es. Es war keine große, aber auch keine ganz kleine Summe, zweieinhalbtausend Euro, die ich neben meinem als gestohlen gemeldeten Pass nachlässig unter ein paar Hemden verwahrte, um vor mir die romantische Vorstellung aufrechtzuerhalten, jederzeit verschwinden zu können, und er nahm die Scheine, lauter Hunderter, faltete sie mit einem ausweichenden Blick und steckte sie in die Hosentasche. Er hatte sich schon einmal einen Betrag bei mir geborgt und ihn zurückgezahlt, ohne etwas zu erklären und ohne dass ich ihn daran erinnern musste. Deshalb kam ich auch jetzt nicht auf die Idee, er sei vielleicht in Schwierigkeiten, und als wir uns später am Küchentisch gegenübersaßen, irritierte mich höchstens die Tatsache, dass er nach meinem Haus fragte und ob ich noch manchmal an den Fluss hinausführe. Er war in einer Gesprächspause darauf gekommen, aus einer Verlegenheit, die ihn plötzlich befallen hatte, und ich wurde das Gefühl nicht los, er tue es nur meinetwegen, er liefere mir ein genau bemessenes Quantum Sentimentalität für mein Entgegenkommen. Es hörte sich wie Trost an, ohne dass ich hätte sagen können, wofür, es sei denn dafür, dass die Zeit verging und ich immer noch nicht weiter war als sein ehemaliger Lehrer, während er sich auf und davon gemacht hatte.

Dass ich das Agata verschwiegen hatte und auch jetzt noch verschwieg, war ungewöhnlich, weil ich sie sonst brav über Daniel auf dem laufenden hielt. Dafür sorgte sie, indem sie regelmäßig fragte, ob ich etwas von ihm gehört hätte, und genau bedacht war er in all den Jahren zu einer Konstante in unseren Gesprächen geworden, wenn ich ins Bruckner kam und sie sich zu mir setzte und sich mit einem verträumten »Wo Daniel jetzt wohl ist?« oder einem fahrigen »Was Daniel jetzt wohl macht?« nach ihm erkundigte. Sie war neugierig, aber es war ihr nicht verborgen geblieben, dass mich das auch beschäftigte, und also gerieten wir ins Spekulieren, als er sich nicht mehr so oft blicken ließ wie in den ersten Monaten nach der Matura. Wir wunderten uns, ob er noch in Bosnien sei, wo er nach Abbruch seines Studiums hingegangen war, um beim Wiederaufbau eines im Krieg zerstörten Dorfes mitzuhelfen, ob es stimme, dass er sich auf einem Frachtschiff verdingt hatte, oder ob er wirklich bei der jährlichen Verlosung zu einer Greencard gekommen sei und sein Glück in Amerika versuche, und als eine der letzten Möglichkeiten blieb immer Israel, weil er bereits in seiner Schulzeit einmal dort gewesen war und seither davon schwärmte. Dann wieder hieß es, er sei in einem Dorf zwanzig Kilometer flussabwärts als Handlanger auf einem Bau gesehen worden, er jobbe von Dezember bis März oder April in einem der Täler als Skilehrer und schlage sich die restlichen Monate irgendwie durch, fahre Lastwagen für eine Spedition, überstelle Neuwagen von Deutschland in die Türkei oder gar in den Iran oder den Irak oder lebe von der Hand in den Mund, wenn er nichts anderes bekomme oder keine Lust habe zu arbeiten.

Agata gegenüber hatte ich ihn nicht nur einmal meinen besten Schüler genannt, und das sagte ich auch jetzt wieder. Ich glaube, »der vielversprechendste« war das Wort, das ich verwendete, und ich fügte hinzu »der klügste, der begabteste« und ärgerte mich im selben Augenblick über meine Nostalgie. Ich hatte mir nicht überlegt, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde, wenn ich nicht achtgab, aber als ich sah, wie sie sofort aufmerkte, war mir klar, dass ich es mit einem Satz in die Richtung gelenkt hatte, die mir am wenigsten behagte.

»Du bist mir ein schöner Kindskopf, Anton«, sagte sie lachend, obwohl die Schwere in ihrer Stimme nicht zu überhören war. »Wenn du so weitermachst, trauerst du ihm noch in der Rente nach.«

Außer ihr gab es unter meinen Bekannten niemanden, der mich mit meinem Namen ansprach, und ich hätte ihn auch sonst von keinem hören wollen. Bei ihr war es etwas anderes, war es nicht Ermahnung, nicht Festschreibung, gefälligst der zu sein, der ich immer schon gewesen war, sondern Staunen darüber, was wohl noch alles von mir kommen würde, und das schwang auch jetzt mit. Ich sah, wie sie ihre Zunge von einem Mundwinkel zum anderen gleiten ließ, und während ich überlegte, wie ich mich am besten herauswinden könnte, machte sie ein spitzes Geräusch zwischen den Zähnen und räusperte sich.

»Ein Lehrer, der nicht von seinem Schüler loskommt.«

»Da redet die Richtige«, sagte ich. »Was ist mit dir?«

Ihre Anhänglichkeit hatte ich nie ganz verstanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in den Monaten, in denen Daniel regelmäßig ins Bruckner gegangen war, öfter als ein paar Mal auch nur wenige Worte mit ihm gewechselt hatte, und in den Jahren danach dürfte sie ihn nicht allzu oft gesehen haben. Fragen wollte ich sie nicht, aber ich brachte meine Verwunderung über ihre Beharrlichkeit zum Ausdruck.

»Wo Daniel jetzt wohl ist? Erinnere dich, Agata. Du hast mich nicht hundertmal, du hast mich tausendmal gefragt. Was Daniel jetzt wohl macht?«

Dabei bereute ich, sie überhaupt angesprochen zu haben. Ich schaute ihr zu, wie sie in der Pause, die dann entstand, noch einmal die Zeitung in die Hand nahm und so tat, als würde sie das Bild genauer studieren. Etwas Hartes war in ihr Gesicht getreten, und als sie sich wieder an mich wandte, schwang das auch in ihrer Stimme mit.

»Es ist seltsam genug, dass wir uns alle von ihm haben einwickeln lassen. Nicht, dass ich das nach dem Foto sagen könnte, aber genau genommen hat er nicht einmal gut ausgesehen. Und dass er ein umgänglicher Mensch war, kann niemand behaupten. Er muss uns mit etwas anderem hypnotisiert haben.«

Ich sagte, es sei seine Art gewesen, die Unbedingtheit, mit der er die Dinge ernst genommen habe, aber sie erwiderte nur, ein bisschen mehr Freundlichkeit hätte gewiss nicht geschadet, und schien sich plötzlich zu besinnen, worüber wir eigentlich sprachen.

»Müsstest du nicht auf der Stelle zur Polizei gehen und Meldung erstatten, wenn du wirklich überzeugt bist, ihn zu erkennen, und Grund zu der Annahme hast, dass er es ist, der wegen der Sache gesucht wird?«

Ich schwieg, aber ich war erleichtert, dass sie im selben Augenblick gerufen wurde. Vielleicht hätte ich ihr sonst gesagt, ich würde es nicht tun, aber es war auch so klar, und der ironische Blick, mit dem sie mich beim Aufstehen ansah, sollte deutlich machen, dass sie verstanden hatte. In ihm lag keine Komplizenschaft, eher eine aufgesetzte Verwunderung über das Spiel, und als sie sich im Weggehen nach mir umwandte, wusste ich, ich würde ihr vertrauen können, auch sie würde nichts ausplaudern, allein schon weil sie das Ganze nicht ernst nahm. Sie trug die Arbeitskleidung, die sie all die Jahre getragen hatte, einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse, und ich dachte blödsinnigerweise, dass ihr das etwas Verlässliches gab. Trotzdem überlegte ich, ob ich sie nicht doch ausdrücklich bitten sollte, das Gespräch zu vergessen, aber als sie nach wenigen Minuten mit leicht geröteten Wangen zurückkam, beruhigte mich gerade, dass sie den Faden genau dort wiederaufnahm, wo wir unterbrochen worden waren.

»Dein bester Schüler also«, sagte sie, als wollte sie alles in einem Wort zusammenfassen. »Sollte er es am Ende doch noch zu etwas gebracht haben?«

Mit einem solchen Sarkasmus hatte sie sonst nicht über ihn gesprochen, und ich weiß noch, dass auch sie mich dann von einem Augenblick auf den anderen nach dem Haus fragte.

»Fährst du manchmal hinaus?«

Ich schüttelte den Kopf, und sie verwendete das Wort »Refugium«, als sie sagte, Daniel habe es einmal als sein eigentliches Zuhause bezeichnet.

»Ich erinnere mich, wie er von den Tagen geschwärmt hat, die ihr zusammen draußen am Fluss verbracht habt. Er hat dich den wichtigsten Menschen in seinem Leben genannt. Ihr müsst euch sehr nahe gewesen sein.«

Damit wollte sie gewiss keine Anspielung machen, aber ich sah sie alarmiert an. Damals hatte die ganze Stadt davon gemunkelt, und es fanden schnell die ersten Spaziergänger den Weg zu uns hinaus, die gehört hatten, dass ein Lehrer mit zweien seiner Schüler ganze Tage in der Wildnis verbrachte. Sie wagten sich bis an die Grenze des Grundstücks vor, grüßten aufdringlich und begannen ein Gespräch, während sie sich auffällig unauffällig umsahen. Das musste sie wissen, aber was auch immer ihr Antrieb war, darauf zu sprechen zu kommen, so viel Frivolität, mich böswillig daran zu erinnern, traute ich ihr nicht zu.

»Du kennst doch die Geschichte«, sagte ich. »Wenn du willst, kann ich sie dir gern noch einmal erzählen, aber das ändert nicht das Geringste.«

Als sie gleich darauf von neuem wegmusste, nützte ich die Gelegenheit und verabschiedete mich. Zu dem Foto hatte ich nichts mehr sagen wollen, tat es dann aber doch, auch wenn es wieder nur der Ausdruck meiner Sorge war. Ich bat sie, den Zeitungsausschnitt mitnehmen zu dürfen, und sie blickte mich mit einem Lächeln an und meinte, ich möge ihn ruhig unter der Lupe betrachten, würde dadurch aber nicht mehr sehen, es sei alles nur in meinem Kopf. Dann ging sie, und ich schaute ihr nach, wie sie sich entfernte, bevor ich selbst aufstand. Sie war immer noch jung, immer noch keine dreißig und in gewisser Weise immer noch die geheimnisvolle Fremde, die von außen kam und allen zuhörte, aber kaum zu bewegen war, etwas aus dem Leben preiszugeben, das sie hatte, wenn sie im Frühjahr und im Herbst jeweils für ein paar Wochen nach Hause fuhr. Nicht nur einmal hatte ich sie danach gefragt, aber sie war ausgewichen, sie könne mir alles mögliche von sich erzählen, und doch würde ich von ihrer Welt wenig verstehen. Ich hatte mir damals die größte Mühe gegeben, mich nicht brüskiert zu fühlen, aber jetzt glaubte ich zu begreifen, worauf sie angespielt hatte. Es ging nicht nur um sie, und es ging nicht nur um mich. Sie hatte sagen wollen, dass niemand etwas vom anderen wusste, wenn es darauf ankam, und da konnte ich ihr schwer widersprechen.

2

Ich war damals schon in der letzten Schulwoche fast jeden Tag am Fluss draußen gewesen und hatte mich dort mit einem Buch in die Sonne gesetzt. Dahinter steckte kein weiterer Plan, als möglichst schnell der Unterrichtswelt zu entfliehen, und schon bald legte ich das Buch immer öfter beiseite und begann, auf dem Grundstück sauberzumachen, das ich bis dahin einfach so gelassen hatte wie bei meiner Übernahme. Ich fing an, Steine aus der Wiese zu klauben, trug sie zusammen und überlegte, ob ich sie hinunterbringen solle zum Flussbett, der Schotterbank direkt vor meinem Haus, schichtete sie dann aber neben den Mauern oder vielmehr Mauerresten der Mühle zu einem Haufen. Womöglich hatte ich da unterschwellig bereits die Idee, sie als Baumaterial zu verwenden, aber nicht, dass ich bewusst daran dachte, und tatsächlich war ich nach den Monaten im Klassenzimmer so zufrieden mit der Arbeit im Freien und ihrer Ziel- und scheinbaren Nutzlosigkeit, dass ich zum ersten Mal den Satz zu begreifen glaubte, nach dem man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen habe, weil ich mich bei dem Wunsch ertappte, jemand möge hinter mir alles rückgängig machen. Dann könnte ich von vorn beginnen, oder ich würde mein Sammeln und Jäten über die Grenzen meines Grundstücks auf die umliegenden Felder und die Au ausdehnen und mich langsam bis zum Dorf und über das Dorf hinaus bewegen. Ich hatte vorher die weniger erfreulichen Dinge getan, den Müll zwischen den Mauerresten beseitigt, Bier- und Colaflaschen, Glasscherben, Stanniolpapier, einen alten Schuh, zwei zerbrochene Federballschläger ohne Bespannung, und aus den Ecken den Kot, menschlichen Kot, tierischen Kot, ich wusste es nicht. Ich hatte die halb verkohlten Baumstrünke aus einer offenbar wiederholt genützten Feuerstelle zum Wasser getragen, sie hineingeworfen und zugeschaut, wie sie träge schaukelnd davontrieben, in einen Wirbel gerieten und dann von der kräftigen Strömung in der Flussmitte erfasst und mitgerissen wurden. Einen halben Nachmittag lang beschäftigte ich mich damit, den letzten wie ein Findling daliegenden Brocken wegzurollen, aber nach den ersten drei Umwälzungen, bei denen ich ihn mit aller Mühe hochgestemmt und über seinen Schwerpunkt gedreht hatte, gab ich es keuchend und schwitzend auf und ließ ihn keine drei Meter von der Ausgangsstelle entfernt liegen, an der eine Weile ein Oval von frischem Erdreich feucht in der Sonne glänzte, bevor es nach und nach vernarbte.

Es war gegen Ende der zweiten Ferienwoche, und ich hatte gerade angefangen, aus den gesammelten Steinen eine Umfriedungsmauer zu errichten, als Daniel und sein Freund Christoph bei mir auftauchten. Ich hatte schon lange das Knattern eines Mopeds gehört, das den Fluss entlang lauter wurde, mich aber nicht darum gekümmert, weil es nicht das erste Mal war und ich in den vergangenen Tagen immer wieder vom nahen Sportplatz in der Au Motorenlärm in den Ohren gehabt hatte. Mit Besuch rechnete ich nicht, und sie mussten bereits eine Zeitlang dagestanden sein, als ich auf sie aufmerksam wurde, denn plötzlich schienen alle anderen Geräusche zu verstummen, und das Rauschen des Flusses unterstrich die Stille. Ich richtete mich auf, und sie waren nur wenige Meter entfernt und sahen mir zu. Sie warteten, bis ich ganz zu ihnen herantrat, und mir fiel erst im nachhinein auf, dass ich mit dem Stück Ast, das ich in die Hand genommen hatte, und mit meiner Einsilbigkeit nicht sehr einladend gewirkt haben konnte. Wir sprachen kurz miteinander, bevor sie wieder verschwanden, und als sie am nächsten Tag von neuem erschienen, eine Flasche Wein dabeihatten und fragten, ob sie sich zu mir setzen dürften, nahm die Geschichte ihren Anfang, die sich in den Vorstellungen der Dorfbewohner zu einer Ungeheuerlichkeit auswuchs.

Da war es gerade zwei Jahre her, dass ich die Mühle mit dem Grundstück gekauft hatte, und zwei weitere Jahre, dass ich aus Istanbul zurück war, wo ich zwei Jahre, noch einmal zwei, an der Österreichischen Schule unterrichtet hatte. Zwei plus zwei plus zwei, also sechs Jahre zusammen, seit Robert an einem Sonntagmorgen zum Fluss hinuntergegangen war und sich den Lauf des Gewehrs, das er aus dem Schützenverein mitgenommen haben musste, in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Ich erzähle das, weil mich die beiden danach fragten und weil sie in all der Zeit die ersten waren, die es wagten oder überhaupt nur daran dachten, es zu wagen.

Dabei wunderte ich mich zuerst, dass sie überhaupt wiederkamen. Ich hatte geglaubt, ihnen deutlich gezeigt zu haben, dass ich allein sein wollte und keinen Wert auf Gesellschaft legte, und trat ihnen diesmal schon entgegen, als ich das Geräusch des Mopeds in der Ferne nur ahnte. Es ist merkwürdig mit der Akustik am Fluss, man hört manchmal, was man nach den Gesetzen der Physik nicht hören kann, Stimmen, die vom Wind zuzeiten wie aus einer anderen Welt herangetragen werden, das Gemurmel einer Prozession oder das Gebimmel der Glocken von den in der Au weidenden Kühen, als wäre es Himmelsgeklingel, aber ich ließ mich davon genausowenig irritieren wie von dem Motorenlärm. Auf alles vorbereitet, sah ich, wie die beiden sich näherten, auf dem moosbedeckten Waldweg so langsam daherkurvten, als müssten sie Schlaglöchern oder Regenlachen ausweichen und könnten jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren. Am Tag davor hatte ich sie gar nicht gefragt, ob sie zufällig auf mich gestoßen waren oder ob sie gehört hatten, dass ich mich am Fluss aufhielt und sie deswegen herausgekommen waren, aber diese Frage stellte sich nicht mehr, als sie winkten, sobald sie merkten, dass ich auf sie aufmerksam wurde, und ich, ohne lange zu überlegen, zurückwinkte.

Ich legte die Heckenschere beiseite, mit der ich gerade die wild wuchernden Büsche kaum weniger wild zurechtgestutzt hatte, zog die Handschuhe aus und machte ein paar Schritte auf sie zu. In den letzten Monaten hatte ich sie immer wieder bei mir zu Hause empfangen, wenn sie sich auf ihre berüchtigten Samstagnachmittagsrunden machten und ihre Lehrer besuchten, einmal beim einen, einmal beim anderen vor der Tür standen und warteten, dass sie hereingebeten wurden, und deshalb wunderte ich mich jetzt, wie fremd sie mir waren. Es musste mit der anderen Umgebung zu tun haben, mit der Abgeschiedenheit des Ortes oder damit, dass sie ihre Sturzhelme in der Hand behielten und mir nicht entgegenkamen. Nicht, dass ich mich bedroht fühlte, aber obwohl es keinen Grund dafür gab, dachte ich einen Augenblick, sie könnten auf mich losgehen, es könnte eine Rechnung zwischen uns offen sein, eine Summe, die sich über die Jahre ohne mein Wissen gegen mich addiert hatte und die sie nun begleichen wollten.

Im Grunde genommen gaben sie ein unwahrscheinliches Paar ab. Damit meine ich nicht, wie sie in der Schule waren, und schon gar nicht, ob gute Schüler oder schlechte, auch wenn Daniels Ernsthaftigkeit sich deutlich abhob von dem Schlendrian, dem Christoph sich spätestens in der Oberstufe, aber wahrscheinlich schon davor ergeben hatte. Ich meine nicht die Jungen- oder sogar Mädchenhaftigkeit des einen und das manchmal ebenso Großsprecherische wie Grobschlächtige des anderen, der so schon auf die Welt gekommen zu sein schien. Nichts davon, und auch nichts, was sich über ihre Elternhäuser oder ihre Herkunft sagen ließe. Ich meine das, was sie hätte auseinanderbringen müssen, was sie aber immer stärker verband und im letzten Schuljahr unzertrennlich machte, und das war mit einem Wort Judith, mit zwei Worten ihre Liebe, mit drei, vier oder fünf Worten ihre vergebliche Liebe zu ihr. Schon im Jahr davor hatte ich beobachtet, wie sie fast gleichzeitig für sie entflammt waren, und ihre Freundschaft gründete darin, dass sie beide nicht in Frage kamen und nach den ersten Zurückweisungen die Rolle von zwei ironischen Verehrern einnahmen. Es war, als hätten sie unabhängig voneinander entschieden, anstatt zu schmachten sich über ihr Schmachten lustig zu machen, und so umtänzelten sie die Angebetete, schlugen immer neue Volten, staksten und scharwenzelten um sie herum und warfen sich ihr in den hellsten Begeisterungsausbrüchen zu Füßen. Man sah die drei in den Schulhof hinuntergehen und rauchen, sah sie mittags Arm in Arm davonschlendern, das Mädchen in der Mitte, großgewachsen, blond, den Rücken durchgedrückt, aber trotzdem fast keine Brüste, und links und rechts die beiden Stenze, die sich in ihrer Schlagfertigkeit gegenseitig zu übertreffen versuchten, manchmal ein paar Schritte rückwärts vor ihr herliefen und auf ein Lächeln, einen Blick, eine winzige Bemerkung von ihr hofften.

Ohne Zweifel erklärt das auch ihre Ruhelosigkeit an den Samstagen, ihr endloses Umherstreifen mit dem Moped, ihre Überfallsbesuche, weil Judith da von ihrem Freund abgeholt wurde. Er war ein paar Jahre älter, studierte schon und kam nur an den Wochenenden zurück in die Stadt, und es muss viele Male geschehen sein, dass die beiden auf sie einredeten, nicht zu ihm zu gehen, ihn sitzen zu lassen, wenn sie sein Auto auf dem Parkplatz vor der Schule entdeckten. Dann gönnte sie ihnen fünf, gönnte ihnen zehn Minuten, gönnte ihnen eine letzte Zigarette vor dem Eingang, stimmte in ihre Witze über den Wartenden ein, sobald sein Hupen zu hören war, und ließ sie im nächsten Augenblick mitten im Satz stehen. Ich weiß nicht, wie sie es jedesmal wieder schafften, ungläubig zu schauen, wenn sie mit großen Schritten davoneilte, sich kurz nach ihnen umwendend, ihre Tasche schwenkend und lachend, wenn sie auf dem Treppenabsatz innehielt, bevor sie die Stufen hinunterstieg, seitwärts gehend wie eine Frau in hochhackigen Schuhen, und keinen Blick mehr für sie hatte.

Daran erinnerte ich mich, während ich jetzt von ihnen wissen wollte, was sie schon wieder zu mir herausgeführt hatte. Sie stellten nicht einmal das Moped richtig ab und antworteten nicht, standen mit ihren Sturzhelmen da, als würden sie sich beim kleinsten Hinweis, nicht willkommen zu sein, augenblicklich aus dem Staub machen. Es war ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch, mehr als dreißig Grad im Schatten, Hitzegeflirr über den Wiesen, Grillengezirp, und ich wusste da noch nicht, dass Judith, mit der sie in den letzten Schulwochen fast jeden Nachmittag im Schwimmbad verbracht hatten, mit ihrem Freund nach Italien gefahren war.

Sie blieben den ganzen Tag bei mir am Fluss, und es war nicht Daniel, es war Christoph, der sich nach meinem Bruder erkundigte. Wir saßen zuerst auf der Steintreppe, die zu der Mühle hinaufführt, und tranken aus den von ihnen mitgebrachten Pappbechern den Wein. Lange Zeit sprach keiner, und wir lauschten nur auf das Rauschen des Flusses und das Geräusch der Züge vom anderen Ufer, wo leicht erhöht auf einer Böschung die Bahntrasse verläuft. Dann gingen wir hinunter, an den Gumpen vorbei, den fauligen Tümpeln vom letzten Hochwasser, und an den gelben Schildern, die vor einer Flutwelle warnen, ganz hinaus auf die Schotterbank, wo man ein Gefühl für die erstaunliche Weite des Flussbetts bekommt. Ich erinnere mich nicht, ob Christoph davor schon etwas in diese Richtung angedeutet hatte, aber als er mich fragte, ob es hier irgendwo gewesen sei, wusste ich gleich, was er meinte, und sagte nur ja. Darauf schwiegen wir wieder und schauten über das Wasser, wobei ich den Eindruck hatte, ich bräuchte nur lange genug auf eine Stelle zu starren und es würde sich in der nächsten Sekunde dort kräuseln.

Es war alles so unspektakulär, wie ich es niederschreibe, und doch muss an dem Tag etwas geschehen sein, vielleicht mit der Frage und meiner Antwort, etwas, das sie sich von da an für mich zuständig fühlen oder jedenfalls meine Nähe suchen ließ. Sie kamen auch am Tag darauf wieder, noch einen Tag später wartete ich bereits auf das Geräusch des sich nähernden Mopeds, und nach ein paar weiteren untätigen Tagen, in denen wir nur in der Sonne saßen, lasen und sprachen und manchmal zum Fluss hinuntergingen, um die nackten Füße einzutauchen oder ein paar Züge in dem selbst mitten im Sommer eiskalten Wasser zu schwimmen, schlugen sie vor, die Mühle herzurichten, dass sie bewohnbar wäre. Es war ein Spleen, gab es doch keinen Strom- und keinen Wasseranschluss, geschweige eine Genehmigung, auf dem Grundstück zu bauen, aber sie hörten nicht auf meine skeptischen Einwände, begannen gleich mit der Arbeit, und ich ließ sie gewähren. Sie liehen sich bei Christophs Vater einen Pritschenwagen, fuhren, soweit sie damit kamen, und schafften dann mit einer Schubkarre das Baumaterial heran, das sie auf dem Gelände von seiner Holzfabrik »organisiert« hatten. Ich sah zu, wie sie Bretter stapelten, wie sie Zementsäcke abluden, wie sie mehrere Rollen Dachpappe an einen Baum lehnten, und dann stand eines Tages die Veranda, von der aus man diesen Blick in die flirrendste Unwirklichkeit hat, waren die Mauern ausgebessert, notdürftig Fenster eingesetzt, eines zum Fluss, eines neben der Tür, die an zwei Lederschlaufen in den Angeln hing, und sie hatten aus rohen Brettern ein Dach gezimmert und es wind- und wetterfest gemacht. Es war nicht viel mehr als ein komfortabler Unterschlupf für Kinder bei ihren Spielen im Freien, und von einem Haus konnte natürlich immer noch nicht die Rede sein, auch wenn wir es so nannten, aber es war zumindest ein Ort geworden, an dem man bei Regen trocken blieb, und es endete damit, dass sie in einem der beiden Räume eine Petroleumlampe aufhängten und unaufhörlich davon redeten, wozu ein solches Versteck einmal gut sein könne.

Ich weiß nicht, ob sich die Spaziergänger zuerst nur über die Bauarbeiten wunderten oder ob es nicht doch von Anfang an die Tatsache dieser merkwürdigen Gemeinschaft war, die wir bildeten. Zwar gab es weiter flussaufwärts eine Badestelle, aber mir war bewusst, dass wir auffielen, wenn wir am Nachmittag in kurzen Hosen auf der Schotterbank lagen, uns im Dreieck einen Ball zuwarfen oder um ein Feuer saßen und warteten, bis das Fleisch gar wurde, das wir an zugespitzten Zweigen in die Flammen hielten. Auch kann ich nicht sagen, wann ich darauf aufmerksam wurde, dass die scheinbar zufällig in unserer Nähe Auftauchenden vielleicht doch nicht ganz zufällig da waren, aber als einmal ein paar Jungen vom Sportplatz herabkamen, Zehn- oder Zwölfjährige in grasgrünen Trainingshosen und weißen Leibchen, und in einiger Entfernung stehenblieben, bis einer vortrat und etwas Unverständliches zu uns herüberrief, worauf alle lachten, ahnte ich, dass wir zum Ortsgespräch geworden waren. Sie wirkten nicht unmittelbar aggressiv, aber einer hob einen Stein vom Boden auf, hielt ihn hoch gegen die Sonne, als sollten wir ihn deutlich sehen, und warf ihn in unsere Richtung. Es war kein gezielter Wurf, eher eine Geste, die wir als Spiel nehmen konnten, und doch hing damit eine Drohung in der Luft, die nicht geringer wurde, als die Bande unter Gelächter wieder verschwand.

Das bestätigte mir prompt der Direktor des Gymnasiums, der mich eines Abends anrief und sich erkundigte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es waren Ferien, und ich hatte keine Lust, mit ihm zu reden, aber er war es gewesen, der mir geholfen hatte, die Stelle in Istanbul zu bekommen, als ich nach dem Tod meines Bruders zu ihm gesagt hatte, es sei wohl am besten, wenn ich eine Weile aus der Gegend wegginge, er war es gewesen, der mir beim kleinsten Zeichen, ich könnte es mir anders überlegt haben, anbot, mich sofort zurückzuholen, und ich war immer noch gerührt, wenn ich daran dachte, wie er mich mit einer kleinen Abordnung von Kollegen besuchen kam, gleich im ersten Herbst, und mich dann die ganze Zeit unauffällig beobachtet hatte, während ich die Gruppe brav von einer Sehenswürdigkeit zur anderen führte, mit ihnen die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und den Topkapı-Palast anschaute und mühsam zu kaschieren versuchte, dass ich außer dem Weg von meiner Wohnung zur Arbeit noch kaum etwas von der Stadt kannte. Er hatte auch seither seine schützende Hand über mich gehalten, und wenn ich alle paar Monate zu ihm nach Hause zum Abendessen eingeladen wurde, entging mir dieser Aspekt natürlich nicht. Ich fragte mich dann immer, ob ihm einer von den anderen Lehrern gesagt hatte, ich begänne wieder, mich zurückzuziehen, ob er gehört hatte, man sehe mich in letzter Zeit etwas viel im Bruckner, oder ob es gar kein Alarmsignal brauchte und es nur eine routinemäßige Kontrolle war. Zugegeben, auf Dauer strengte mich das an, und doch ging ich jedesmal brav hin, mit einer Flasche Wein und Blumen für seine Frau. Ich mochte ihn, mochte, wie ich von ihm empfangen wurde, ein wenig steif, aber immer mit einem Schulterklopfen, halb von Mann zu Mann, aber halb auch so, dass es mich zu einem Jungen machte, und ich mochte seine Frau, die sagte, er solle mich doch erst hereinkommen lassen, wenn er mich gleich in ein Gespräch verwickelte, mochte die Herzlichkeit ihres Tadelns und mochte, wie sie ihn Karl nannte, weil das für mich ein Kindheitsname war, der mir ein absurdes und ganz und gar nicht gerechtfertigtes Vertrauen einflößte, ein Name aus einer Welt, in der nichts passieren konnte oder in der es, wenn doch etwas passiert war, einen gab, der alles wieder heil machen würde.

Ich nannte ihn natürlich nicht so, weil er für mich trotz aller Vertraulichkeit Herr Aschberner blieb und immer bleiben würde, obwohl er mich duzte und ich mich mit Umschreibungen behalf, um es ihm nicht gleichtun zu müssen.

»Wenn es stimmt, was ich höre, bist du viel draußen am Fluss«, sagte er jetzt, und seine Stimme klang besorgt. »Du sagst mir, wenn ich etwas für dich tun kann.«

Er hatte meinen Vater gekannt, vielleicht war es das, vielleicht lag es an seinem früh verstorbenen Sohn, über den er nie sprach, aber vielleicht brauchte es auch gar keine weitere Begründung, um sich um mich zu kümmern.

»Wolltest du nicht verreisen?«

Er hatte mich am letzten Schultag zu sich kommen lassen und gefragt, was ich für die Ferien plante, und ich hatte gesagt, ich wisse noch nicht, wohin, aber ich würde wegfahren, obwohl ich da schon angefangen hatte, an den Fluss hinauszupilgern, und nicht einmal denken wollte, ich könnte meine Tage in absehbarer Zukunft anders verbringen.

»Ich habe es mir noch einmal überlegt«, sagte ich. »Außerdem bleiben ja fast vier Wochen, bis der Unterricht wieder beginnt.«

Von ihm kam nur ein unwilliges Brummen, und ich stellte mir vor, dass seine Frau hinter ihm stand und ihm jetzt auf die Schulter tippte und etwas ins Ohr flüsterte.

»Und die beiden Buben?«

»Was soll mit ihnen sein?«

»Du kennst doch die Leute.«

Er war ein diskreter Mensch, und ich vertraute darauf, dass er im richtigen Augenblick abbrechen würde, aber er redete einfach weiter.

»Man zerreißt sich den Mund darüber«, sagte er. »Sie sind zwar nicht mehr deine Schüler, aber es ist nicht gut, wenn du dir eine solche Blöße gibst.«

Unter diesem Blickwinkel hatte ich es bis dahin noch gar nicht betrachtet, aber jetzt sah ich das Bild vor mir, zwei Jungen am Fluss und ein Mann, von dem ich mir in dieser Formulierung gar nicht vorstellen konnte, dass es ich sein könnte, noch, was seine Rolle in einer auch nur irgendwie erzählbaren Geschichte wäre. Ich hatte wieder vor Augen, wie Daniel einmal quiekend wie ein Kind in das seichte Wasser am Ufer hineingerannt war und dann direkt an der Wasserlinie entlang flussaufwärts, mit den Armen rudernd oder eher flatternd, so kurz schien er vor dem Abheben zu sein, die Beine links und rechts hochwerfend, und ich hinter ihm her. Ich hatte es als Aufforderung verstanden und war ihm so lange nachgelaufen, bis ich ihn eingeholt hatte, und dann hatte ich in einer plötzlichen Eingebung meine Arme um ihn geschlungen und ihn einen Augenblick festgehalten, vielleicht auch mehr als nur einen Augenblick, ja, in meiner Erinnerung viel mehr. Er war ganz ruhig dagestanden, ein wenig vorgebeugt, und ich hatte meine Hand auf seine Knabenbrust gelegt und dieses Wort im Kopf gehabt, ich hatte meine Hand auf seine Brust gelegt und Knabenbrust gedacht, und wie kühl die Haut vom hochgespritzten Wasser war, und darunter das Pochen seines Herzens gespürt. Sonst nichts, auch nicht, dass er die Situation als so besonders wahrgenommen hätte wie ich. Er ging neben mir zurück, und kein Wort darüber, aber auch kein beredtes Schweigen, wie man vielleicht meinen mochte, er war wie immer, kam gar nicht auf die Idee, das Vorgefallene zu kommentieren oder aus Verlegenheit darüber hinwegzureden, und es war absurd, dass ich jetzt überlegte, ob uns jemand gesehen hatte, ein Spaziergänger oder einer von den Spannern, die sich angeblich in der Nähe der Badestelle im Unterholz herumtrieben, mir aber, wenn ich davon gehört hatte, immer wie Figuren aus einem Ammenmärchen vorgekommen waren.

»Eine Blöße?«

Der Direktor räusperte sich.

»Nun ja, vielleicht nicht gerade eine Blöße.«

Er machte vor dem Wort eine lange Pause, als müsste er es erst abschmecken, und schien dann zufriedener damit zu sein, als er sich eingestand.

»Darüber, dass man nie den richtigen Ausdruck hat, brauchen wir nicht zu streiten, aber du verstehst«, sagte er. »Ich möchte dich nur bitten, ein bisschen vorsichtiger zu sein.«

Ich wusste nicht, was ich mit diesem Ratschlag anfangen sollte, und wenn überhaupt, war der Effekt nur, dass ich die Dinge von da an genauer ins Auge fasste. Die beiden weihte ich nicht ein, aber wenn Daniel lesend in der Sonne lag und meine Oberschenkel als Kopfstütze benützte, rückte ich ein wenig von ihm ab, und ich warf Christoph ein Handtuch zu, wenn er sich nach dem Schwimmen nackt auf dem flachen Felsen ausstreckte, der sich von der Schotterbank ein Stück ins Wasser vorschiebt. Ich sagte ihnen, sie sollten sich etwas überziehen, wenn sie in kurzen Hosen den Fluss hinauf zur Badestelle gingen, aber sie lachten natürlich, fragten mich, ob ich glaubte, wir seien noch in der Schule, oder warum ich mich sonst als Sittenwächter aufspielte. Die Spaziergänger beäugte ich genauso, wie sie uns beäugten, wenn sie dem Grundstück zu nahe kamen, und als ich anfing, mir Gedanken zu machen, was man aus den vorbeifahrenden Zügen vom anderen Ufer sehen konnte, die an der Stelle manchmal geradezu aufreizend langsam waren und deren Waggons sich gleichzeitig vor und hinter den Bäumen auf der Böschung vorbeizuschieben schienen wie auf dem Bild eines Surrealisten, wusste ich, dass es eine Verrücktheit war, und hörte wieder damit auf. Ich sah den Raftern zu, die weiter oben am Fluss, noch weiter als die Badestelle, ein Camp hatten, in ihren großen Schlauchbooten herabtrieben, mit zehn, zwölf und mehr Mann, und immer in Feierlaune waren, sich lachend ankündigten und lachend wieder verschwanden, eine Invasion von gutmütigen Eroberern mit ihren Helmen und Schwimmwesten. Sie hoben grüßend die Paddel, wenn sie auf unserer Höhe waren, und von dort konnten es keine drei Minuten mehr sein, bevor sie in die Schlucht mit ihren Stromschnellen einfuhren und alle Hände voll zu tun hatten, um auf Kurs zu bleiben und nicht zu kentern. Drunten gewesen bin ich nie, obwohl es bei Niedrigwasser auch am Ufer entlang nicht viel mehr als eine halbe Stunde sein kann, aber ich wusste, dass Freunde dort von Zeit zu Zeit Blumen ablegten und dass dann wohl für Tage auch eine Kerze brannte, die wahrscheinlich von der Flussmitte aus in der Nacht zu sehen war.

3

Was wünscht man sich als Lehrer für seine Schüler, was kann man sich wünschen? Und hat das auch nur die geringste Auswirkung auf das, was aus ihnen einmal wird? So viele Jahre, wie ich im Schuldienst bin, bald zwanzig, so viele Jahrgänge von Schülern. Ich habe allen irgendwann die Frage gestellt, was sie sich selber für ihr Leben wünschen, ich habe alle irgendwann im letzten, manchmal auch schon im vorletzten Schuljahr gefragt, was sie werden wollen, was studieren oder, wenn nicht studieren, was sonst mit ihrer Zukunft anfangen. Ich nehme an, die späteren Klassen wussten von ihren Vorgängern, dass sie eines Tages mit einer solchen Situation zu rechnen hatten, und natürlich gab es die gequälten, gab es die spöttischen Blicke, die jeder Lehrer zu gewärtigen hat, wenn er allzu sehr menschelt und vergisst, dass man von sich aus die Distanz zu den Schülern nie aufheben kann. Ich erkundigte mich nach ihren Vorstellungen von Glück, und wenn sie dies oder das von sich gaben, angefangen mit dem Üblichen, Familie, Erfolg im Beruf und was weiß ich was sonst noch, auch wenn sie es anders nannten, entlieh ich mir bei den Mathematikern eine Formulierung und wollte wissen, ob sie das nur für notwendige oder auch für hinreichende Bedingungen hielten. Es wird immer behauptet, die Schüler seien in den vergangenen Jahren anpassungswilliger geworden, hätten klare Vorstellungen, klare Ziele, die sie auf dem schnellsten Weg erreichen wollten, hätten schon früh das Credo eingesogen, es gebe nicht für alle einen Platz im Licht, weshalb nur die Schnellsten, die Gewieftesten, vielleicht auch die Abgebrühtesten einen errangen und alle anderen sehen müssten, wo sie blieben, aber ich glaube nicht daran. Sie sind noch so jung in diesen Jahren, und hinter all den aufgesetzten Masken gab es höchstens ein Vorzittern, wenn man das so nennen kann, eine Ahnung, dass etwas an den ewigen Versprechungen nicht stimmte, die einem immer den nächsten Lebensabschnitt als den zu ersehnenden hinstellten, nach dem Kindergarten die Schule, nach der Schule das Studium, nach dem Studium den Beruf und nach dem Beruf die Rente und ein schönes Fleckchen auf dem Friedhof oder ein paar Handvoll Asche, in den Wind gestreut.

In Wahrheit weiß ich von den wenigsten, was aus ihnen geworden ist. Sie verlassen am letzten Schultag die Schule, und wenn nach den Ferien das neue Unterrichtsjahr beginnt, werden sie von keinem vermisst. Mitunter ein kurzes Nachspiel in Gesprächen mit den Kollegen, das ja, wenn einer sich besonders hervorgetan hat, aufgefallen ist in den naturwissenschaftlichen Fächern oder der Lateinlehrerin eine kodierte, jedoch leicht zu entschlüsselnde Liebeserklärung ins Schularbeitenheft gekritzelt hat oder etwas dergleichen, aber dass man ihnen nachtrauern würde, ist eine Mär, und auch dass man sich zurückgelassen fühlt, wenn sie hinausgehen, dass man jedesmal wieder die Verlassenheitsgefühle von Eltern erlebt, deren Kinder frisch aus dem Haus sind, ist nur ein naheliegendes Klischee und übersteht keine genauere Überprüfung. Man sieht manchmal einen auf der Straße wieder, erinnert sich oder erinnert sich nicht an den Namen, ein, zwei Fragen, ein, zwei Antworten, und schon ist es vorbei, Vergangenheit, und oft genug wie gar nicht gewesen. Man hört, dass einer in Wien in die Geschäftsführung einer internationalen Firma aufgestiegen sei, dass eine andere ein Studium in New York angefangen habe oder dass ein dritter zum Pressesprecher des Landeshauptmanns ernannt werden solle, und versucht vergeblich, sich die Gesichter dazu vorzustellen. Es sind erstaunlich viele, die wieder in die Stadt zurückkommen, ob von Anfang an so geplant oder ob bei ihrem Aufbruch in die große Welt gescheitert, und es sind am Ende gar nicht so wenige, die den Kreis noch enger schließen und Lehrer an ihrer ehemaligen Schule werden, die man also plötzlich als Kollegen wiedersieht, nachdem man ihnen sechs oder sieben Jahre zuvor noch gesagt hat, wenn sie sich nicht mehr Mühe gäben, würden sie sich später wundern.

Ich will nicht behaupten, dass einem die Toten am besten in Erinnerung bleiben, aber irgendwie denkt man an die jung Verstorbenen, solange sie noch leben könnten, mit einer Intensität, als wäre in der von ihnen nicht beanspruchten Zeit um so mehr Raum für sie da. Ob das bei den jährlichen Schülerzahlen viel ist, weiß ich nicht, aber es sind insgesamt vier, vier von meinen ehemaligen Schülern, die nicht mehr leben. Zwei haben einen Unfall gehabt, eine von diesen aus den Nachrichten allseits bekannten Samstagnacht-Geschichten, eine Fahrt von einem Tanzlokal zum nächsten, ein Wettrennen mit drei Autos, die Fahrer betrunken, und tatsächlich sind in der Gegend die Täler voll mit Kreuzen am Wegrand, steht in jeder zweiten oder dritten Kurve eines, das an ein Unglück erinnert. Ein Junge ist beim Fußballspielen zusammengebrochen und war sofort tot, ein übersehener Herzfehler, schon seit seiner Geburt, und ein anderer hatte Krebs, mühte sich durch die Matura und starb keine zwei Monate später wie als Spott auf alle Bemühungen, ihn für das Leben vorzubereiten. Am häufigsten denke ich an das Mädchen, das nicht in meine Schule ging, das aber ein paar Wochen lang jeden Sonntag nachmittag zu mir nach Hause zur Nachhilfe kam. Sie war aus dem Dorf und hatte dieses zurückgenommene Auftreten eines Kindes armer Leute aus einer anderen Zeit, wie man es heute im Grunde gar nicht mehr findet. Ich sollte mit ihr Aufsatzschreiben üben, und sie saß mir stumm gegenüber, immer ein bisschen bleich im Gesicht, immer mit zu großen Augen und einem fragenden, verwunderten Blick, und besonders bedrückt mich bei ihr, dass mir ihr Tod erst mit mehr als zweijähriger Verspätung bekannt wurde und ich dieses lange Nichtwissen für eine Verfehlung halte, weil ich nicht wenigstens ab und zu in Gedanken bei ihr war, geradeso, als hätte ich sie dadurch in all der Zeit auf eine nicht wiedergutzumachende Weise allein gelassen. Gestorben ist sie unmittelbar nachdem ich nach Istanbul gegangen war, und entweder wollte man mich so bald nach dem Unglück mit meinem Bruder nicht damit belasten oder vergaß nur, daran zu denken, jedenfalls kam niemand auf die Idee, mir davon zu erzählen. So erfuhr ich es erst, als ich ein paar Wochen nach meiner Rückkehr auf den Friedhof ging. Ich wollte zum Grab meiner Großeltern, und als ich danach noch eine Weile zwischen den anderen Gräbern umherschlenderte, entdeckte ich den Grabstein mit ihrem Foto. Es war eine Lungenembolie nach einer unkomplizierten Operation gewesen, ein Beinbruch bei einem Fahrradunfall, und ich kniete mich hin und hätte sie am liebsten um Verzeihung gebeten, dass ich sie nicht davor bewahrt hatte.

Agata ist vermutlich die einzige, die versteht, warum ich immer an Daniel festgehalten habe, oder vielleicht ist »versteht« schon zuviel gesagt, sie hat jedenfalls Verständnis dafür. Die anderen sprechen ihre Vorbehalte in der Regel nicht aus, aber natürlich ahne ich sie, und ich merke die Verwunderung, wenn ich mich naiv gebe, merke die Empörung. Sie glauben zu wissen, dass er mich enttäuscht hat, und manche haben das auch angedeutet, aber ich bin nicht darauf eingegangen. Statt dessen habe ich so getan, als wüsste ich nicht, wovon sie reden, habe gefragt, warum sie da so sicher seien, und es ein Missverständnis genannt, wenn sie ausweichend antworteten. Ich hätte genauso sagen können, dass es vor jedem Ende einen Anfang gab und dass der dann oft alles Weitere rechtfertigte oder wenigstens erklärte.

Daran dachte ich auch, als ich an dem Abend, an dem ich Daniel auf dem Foto zu erkennen geglaubt hatte, das Bruckner verließ. Ich steckte die Zeitungsseite ein und trat hinaus in den Nieselregen. Es hatte erst vor zwei Wochen zum letzten Mal geschneit, und selbst jetzt konnte das Wetter noch einmal winterlich werden, aber ich entschied mich dennoch, das Auto stehenzulassen und zu Fuß nach Hause zu gehen, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Das Bild ging mir nicht aus dem Kopf, doch mehr noch als das Bild beschäftigten mich die Zeilen, die in der Tasche auf dem Bahnhof gefunden worden waren. Sie wirkten nicht gerade originell, aber das »Kehret um!« hatte in Daniels Denken seinen Platz, und natürlich war ihm auch der biblische Gestus nicht fremd.

Die Hauptstraße in der Nacht löste bei mir immer einen Schauder aus. In den vergangenen Jahren sind so viele Geschäfte aufgegeben worden, weshalb es etwas Gespenstisches hat, an den leerstehenden Lokalen vorüberzuschlendern, und manchmal brannte im Stockwerk darüber unerwartet Licht, was den Eindruck nur noch verstärkte. Die Auslagen der anderen Läden wirkten wie seit Jahren unverändert, hier eine flackernde Neonleuchte, dort ein blinkendes Licht, und ein einsames Auto umkurvte wie von weit her kommend die Blumentröge, die paradoxerweise zur Verkehrsberuhigung aufgestellt worden waren. Außer mir schien kein Mensch auf der Straße unterwegs zu sein, nicht nur an diesem Tag und nicht nur wegen des Wetters, sondern weil es an allen Tagen so war, ausgenommen vielleicht samstags, und bis vor zwei, drei Jahren wäre das für mich ein Grund gewesen, zu überlegen, ob ich nicht doch noch einmal weggehen solle, irgendwo ins Ausland oder nach Wien, aber zwei, drei Jahre können eine lange Zeit sein.