Die Winter im Süden - Norbert Gstrein - E-Book

Die Winter im Süden E-Book

Norbert Gstrein

4,6

Beschreibung

Ein Vater und seine Tochter. Er hat sie nach dem Krieg als Kind in Wien verlassen und ist nach Argentinien gegangen, wo er jeden Sinn für die Realität verloren hat. Sie hat jahrelang Abbitte dafür geleistet, dass er im Krieg auf der falschen Seite stand. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, kommen beide in ihre jugoslawische Heimat zurück und finden dort ihre Vergangenheit wieder - und die eines ganzen Landes: Ein großer europäischer Roman von einer der außergewöhnlichsten Stimmen der Gegenwartsliteratur in Deutschland.

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Hanser eBook

Norbert Gstrein

Der Winter im Süden

Roman

Carl Hanser Verlag

Meinen Dank an den

Deutschen Literaturfonds e. V.

N. G.

eBook ISBN 978-3-446-23338-6

© Carl Hanser Verlag München 2008

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.hanser.de

Der Winter im Süden

it’s war, baby, it’s war

Eins

Es war in ihrem zweiten Monat in Zagreb, im Herbst, in dem der Krieg begonnen hatte, als Marija die Nachricht erreichte, die ihr das eigene Leben für immer fremd machte. Sie hatte ihren Vater seit mehr als fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen und ihn fast genauso lange für tot gehalten und reagierte zuerst gar nicht auf die Anzeige, die ihr die Nachbarn vor die Tür gelegt hatten und die unmöglich von ihm sein konnte. Es mußte sich um ein Mißverständnis handeln, und doch, als sich das ein paar Tage später wiederholte, eilte sie hinunter auf die Straße, kaufte sich an einem Kiosk die Zeitung, die sie trotz des Windes sofort auseinanderfaltete, und starrte mit dem Gefühl, die Dinge um sie würden ihre Umrisse verlieren und konturlos ineinander verschwimmen, auf das nicht besonders große Kästchen mitten in den »Vermischten Nachrichten«. Dann verging eine Woche, in der sie nichts tat, aber voller Unruhe war, und als sie schließlich auf eine weitere Annonce stieß, saß sie in einem Café, und sie hatte augenblicklich Tränen in den Augen und sah sich um, ob die Leute an den anderen Tischen sie beobachteten und merkten, was mit ihr da geschah.

Im Dezember davor war sie fünfzig geworden, ihr Mann hatte mit ihr eine Woche auf Elba verbracht, und die Unbeholfenheit, mit der er sich dort um sie kümmerte, weckte in ihr den Verdacht, daß er wieder einmal eine Geliebte hatte. Über Mittag saß sie mit ihm, in eine Decke gehüllt, in der Sonne, schaute hinaus auf das Meer und wußte nicht, ob sie es riechen konnte, in der feuchten Luft, oder sehen, draußen an der Horizontlinie, oder ob es ihr Gehör war, das sie alarmierte, aber sosehr sie sich dagegen wehrte, der Rechnerei um ihren Geburtstag nachzugeben, gerade im Stillstand merkte sie, wie die Zeit verflog. Obwohl sie zu Hause längst schon getrennt schliefen, nahmen sie sich für diese paar Tage ein gemeinsames Zimmer, und am Ende lohnte sie ihm seine Anstrengungen, ihr zu zeigen, wie sehr er sie immer noch begehrte, beugte sich über ihn, erweckte mit ein paar Handgriffen den verschlafenen Wurm zum Leben, dem sie früher einmal wie eine Schlangenbeschwörerin die zärtlichsten Namen gegeben hatte, und hörte erst auf, sich an ihm abzumühen, als er sich mit ein paar schlaffen Zuckungen blind in ihren Mund ergoß. Damit hatte sie es hinter sich, denn er entschuldigte sich umständlich dafür, wie er es immer getan hatte, wenn es ihm nicht gelungen war, sich ihr rechtzeitig zu entziehen, und wußte am nächsten Morgen nicht mehr, wie er sie anschauen sollte, warf ihr verstohlen die verzweifelten Blicke des Internatsschülers zu, der er einmal gewesen war, und alberte mit den jungen Engländerinnen herum, mit denen sie sich in ihrem Hotel den Frühstücksraum teilten, während sie still neben ihm saß und dachte, was war seine Sehnsucht schon gegen ihre, sie hätte den überkandidelten Damen folgen können, wenn sie sich später mit großen, ganz und gar unzeitgemäßen Hüten aufmachten, die Insel zu erkunden, und einen Tag lang wieder ein Mädchen sein.

Zurück in Wien, ließ sie ein paar Monate verstreichen und erkundigte sich schließlich mehr, um ihm zu schmeicheln, als daß sie es wirklich hätte wissen wollen, warum er abends so viel außer Haus sei. Es wäre für sie keine Katastrophe gewesen, die Wahrheit zu erfahren, und sie sah ihm zu, wie er sich wand, bis er soweit war, sich alles von ihr anzuhören. Dann fragte sie ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie eine Weile nach Zagreb ginge, und ärgerte sich darüber, daß sie es in derselben Sekunde auch schon abschwächte.

»Es wäre nur für den Sommer.«

Das klang, wie wenn sie selbst die größten Bedenken hätte, und als er sie bat, ihm zu erklären, was sie dort wolle, hob sie nur beide Hände, und er hatte es leicht, sie zu verunsichern.

»All die Jahre verschwendest du keinen Gedanken daran, und gerade jetzt, wo dort jeden Augenblick alles in Flammen stehen kann, willst du unbedingt hin«, sagte er. »Warum stellst du dich nicht gleich vor eine geladene Kanone und hoffst, sie wird schon nicht abgehen?«

Er hätte in seiner Ablehnung nicht deutlicher sein können, aber wie es seine Art war, wenn er sich einmal echauffiert hatte, lenkte er gleich wieder ein.

»So extravagant das ist, du mußt es selbst wissen.«

Darüber hinaus beschränkte er sich darauf, das zu sagen, was er in den Wochen davor immer gesagt hatte, wenn sie ihm in den Ohren gelegen war, was die Zeitungen über das »Pulverfaß« schrieben, als das sich der Balkan von neuem erwies, und sie sich zu der Prophezeiung hatte hinreißen lassen, es würde nicht bei den paar Toten bleiben, die es schon gab.

»Fängst du wieder damit an?«

Mehr als zwanzig Jahre früher, in ihrer ersten gemeinsamen Nacht, hatte sie ihm erzählt, daß sie in Jugoslawien geboren war, und auf seine Bemerkungen dazu reagierte sie immer noch empfindlich. Damals hatte er sie sofort ausgefragt, in seinem Kellerzimmer im zweiten Bezirk, und ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Antworten zu erfinden oder ihm etwas möglichst Belangloses entgegenzuhalten, um sein Schwärmen zu stoppen, daß sie aus einem Land stamme, in dem der Kommunismus gesiegt habe, seine immer neu aufflackernden Reden zwischen zwei Küssen für den Großen Vorsitzenden und für die treuen Gefährten im Kampf. Er hatte eine Trophäe in ihr gesehen, mit der er vor seinen Freunden renommieren konnte, die mit ihm zu der Zeit Tag für Tag einen eigens angemieteten Proberaum für den Ernstfall vollqualmten und die Weltrevolution planten, hatte ihr das Gefühl gegeben, ein Schmuckstück im doppelten Sinn zu sein, eine mediterrane Schönheit, wie das unter Kennern wohl hieß, und ein politisches Prachtexemplar, und vielleicht war der Anfang aller Mißverständnisse in ihrer Angst gelegen, ihm zu sagen, daß das alles nicht so einfach war, ihrer Furcht, ihn sofort zu verlieren, wenn sie ihm mehr von sich und ihrer Herkunft anvertraute und ihn aus seinen Träumen riß.

Tatsächlich hatte sie damals nur ihr Widerspruch in sein Bett gebracht, oder genaugenommen nicht in sein Bett, sondern auf den nackten Fußboden seines Unterschlupfs gleich hinter dem Praterstern, in dem es kein Bett gab, und sie dachte immer noch voll Scham daran, wie es dazu gekommen war, nach einem Abend, an dem er sie als reaktionäre Gans abgekanzelt hatte, weil sie so unvorsichtig gewesen war, sich über eine seiner Parolen lustig zu machen. Sowenig ihr der Gedanke gefiel, wußte sie doch längst, daß sie nur mit ihm gegangen war, weil er sie vorher gedemütigt hatte und sie alles wiedergutmachen wollte, auf den Knien oder auf Händen und Füßen vor ihm kriechend, wenn es sein mußte, alles aus der Welt schaffen, was gegen sie sprach, und zeigen, daß sie eine gelehrige Schülerin war. Wie es sich für einen richtigen Revolutionär gehörte, hatte er nur eine Hängematte gehabt, die unter ihrer beider Gewicht aus der Verankerung riß, und sie erinnerte sich noch an den wundgescheuerten Rücken, den sie sich dann auf den rohen Dielen geholt hatte, Striemen, als wäre sie bis aufs Blut ausgepeitscht worden, und an die vollkommene Dunkelheit, in der alles geschah, weil er seine Rechnungen nicht zahlte und ihm schon vor Wochen der Strom abgestellt worden war, eine Dunkelheit wie in den Nächten im Krieg.

Dazu gehörte auch, wie er am Morgen danach aus dem unteren der beiden übereinandergestapelten Überseekoffer, die seine einzigen Möbel bildeten, ein Exemplar der von ihm selbst verfaßten Broschüre hervorgeholt hatte, die kleine Schrift mit dem Titel »Die Partisanenkrankheit als Chance«, die er in ein paar hundert Exemplaren hatte drucken lassen und nach einem halbherzigen Versuch, sie auf der Straße zu verteilen, nach und nach an seine Freunde verschenkte. Wahrscheinlich war sie weitum die einzige gewesen, die sie noch nicht besaß, aber als er sich anschickte, eine Widmung hineinzuschreiben, wußte sie vor dem ersten Strich, wie sie lauten würde, so oft hatte sie in den Bücherregalen von anderen Studenten die zwei Möglichkeiten gesehen, die in Frage kamen. Den Männern hatte er immer ein »Genosse« zugedacht und den Frauen ein machohaftes »für diese Nacht«, als wären sie davor unterschiedslos alle durch die Finsternis und Muffigkeit seines Zimmerchens geschleust worden und hätten sich dadurch erst für die höheren Weihen qualifiziert, und welche Ehre, sie bekam beides, »compañera« stand da, weil er gerade seine südamerikanische Phase hatte, mit einem nicht anders als phallisch zu nennenden Ausrufezeichen, und »para esta noche«, beglaubigt mit Namen und Datum, allein ein Stempel, der fehlte, ein fünfzackiger Stern, eine geballte Faust oder sonst ein bedrohlich aussehender Kringel.

In der Aufregung jener Tage hatte er dann von ihren jugoslawischen Geschichten nicht genug kriegen können, und die Mischung aus Müdigkeit und Gereiztheit, mit der er sie jetzt zum Schweigen zu bringen versuchte, war erst viele Jahre später in ihm aufgekommen.

»Sieh zu, daß du dich endlich davon befreist«, sagte er. »Das Traumland deiner Kindheit gibt es nicht mehr und hat es wahrscheinlich auch nie gegeben.«

Es war die alte Leier.

»Dein Leben ist hier.«

Sie wollte ihm schon soufflieren.

»Etwas anderes habe ich auch nie behauptet«, sagte sie statt dessen und wünschte sich, sie hätte genausowenig Zweifel wie er. »Das wäre ja noch schöner, wenn ich das täte.«

Das Sommersemester war zu Ende und damit auch der Serbokroatisch-Kurs, den Marija an der Universität hielt, und bis zum Herbst hatte sie Spielraum und konnte alles als eine Art Urlaub verbuchen, auch wenn jeder, der bei Sinnen war und es sich leisten konnte, aus Zagreb verschwand und nicht dorthin fuhr. Sie hatte keine genaue Vorstellung von der Reise, aber ihre Entscheidung war so klar, daß ihr jeder ausgesprochene Grund, warum sie das Wagnis auf sich nehmen wollte, wie ein Vorwand erschienen wäre, hinter dem sich noch etwas ganz anderes verbarg. Immerhin war es ihre Heimat, und die Nachrichten von den ersten Auseinandersetzungen hatten sie wieder in die alten Gedanken gestürzt, was gewesen wäre, wenn sie als Kind nicht hätte weggehen müssen, damals im Krieg, mit ihrer Mutter in das scheinbar noch sichere Wien, weil die Partisanenkämpfe das ganze Land in Aufruhr versetzten und sie zu Hause an der kroatischen Küste nicht mehr bleiben konnten. Sie hatte sich immer gefragt, ob das Leben sich dann auch so zufällig angefühlt hätte oder ob es notwendiger gewesen wäre, schwerer vielleicht, in dem Paradies, das sie in Erinnerung hatte, aber notwendiger, und das holte sie jetzt wieder ein.

Zu ihren beiden Freundinnen, die sie ein paar Tage vor ihrer Abfahrt bei ihrer wöchentlichen Runde im Hotel Regina traf, sagte sie, sie habe keinen Grund zu klagen, weil sie es sich nicht so einfach machen wollte, auch nur den Anschein zu erwecken, sie könnten recht haben, als sie fragten, ob es etwas mit ihrem Mann zu tun habe. Es wäre ihr zu komfortabel gewesen, ihre Unruhe damit zu erklären, und sie bemühte sich, ihre Erwartungen zu enttäuschen, bis sie nicht mehr wußten, was angebracht war, sie zu bemitleiden oder sie zu beneiden, und sich darauf verlegten, davon zu schwärmen, daß sie auf Besuch kommen würden, schließlich könnten sie auch ein kleines Abenteuer gebrauchen, und so schlimm dürfte alles nicht werden. Das Künstliche daran, ihre gewollt gute Stimmung, das Feuchtfröhliche, als sie mitten am Nachmittag eine Flasche Champagner bestellten und dazu eigens herbeigeschaffte Punschtörtchen aßen, wirkte so schrill auf sie, daß sie zum ersten Mal selbst Bedenken hatte und sie irritiert ansah. Denn ihre Küsse am Ende, die Umarmungen, die nicht mehr nur angedeutet waren, ihre Versprechen, zu schreiben, machten ihr deutlich, daß es wohl nicht nur die paar hundert Kilometer Entfernung waren, die paar Stunden Fahrt mit dem Auto, sondern daß sie sich anschickte, viel weiter zu gehen, als sie bis dahin geahnt hatte.

Ihr Mann sprach nach ihrer ersten Ankündigung nicht mehr darüber, als hoffe er, daß sich alles wieder legen würde, wenn er nicht viel Aufhebens davon machte. Er eilte am Morgen in die Redaktion und kam am Abend vielleicht eher nach Hause, und wenn etwas auffallend war, dann die Ruhe, als hätte er allen, die sonst Tag und Nacht bei ihm anriefen, gesagt, sie sollten ihm ein bißchen Zeit geben. Er ging mit ihr ins Kino, was er schon jahrelang nicht mehr getan hatte, und mied seine Stammlokale, wenn er sie zum Essen ausführte, die Restaurants in der Innenstadt, wo man ihn kannte, und zum ersten Mal seit langem sah sie ihn wieder lesend auf dem Sofa liegen, das all ihre Umzüge mitgemacht hatte, und legte sich wortlos zu ihm, drängte sich ganz dicht an seinen Körper und wagte fast nicht zu atmen, wollte nur, daß er weiterlas und einen Arm um sie schlang, als sie eines Nachts erst spät nach Hause kam. Sie hatte geklagt, sie hätten zu viele Leute um sich, aber keiner wäre wirklich da, und plötzlich schien er ihre Sehnsucht zu beherzigen, ihr Verlangen wahrzunehmen, sich nicht einfach so in das anscheinend Unvermeidliche zu schicken, seine kleine Zeitungswelt nicht mit dem zu verwechseln, wovon sie einmal geträumt hatten, und darüber mehr und mehr eine allseits hofierte Wiener Lokalberühmtheit zu werden, genauso selbstgefällig und aufdringlich in seinen Artikeln, wie er es früher nur verachtet hätte.

Ihre Tochter hatte ein Jahr in Philadelphia studiert und kurz vor Beginn der Sommerferien gesagt, sie wolle sich eine Arbeit suchen und noch ein paar Wochen bleiben, und es war ein Gespräch über sie, oder genaugenommen bereits die Eröffnungsfrage, die Marija zeigte, daß ihr Mann doch nicht einfach alles so hinnahm.

»Vermißt du das Kind?«

Kaum hatte sie genickt, bereute sie es auch schon, weil ihr im selben Augenblick auffiel, daß eine Ewigkeit vergangen war, seit er Lorena das letzte Mal so genannt hatte.

»Das Kind?«

Sie wiederholte es ungläubig.

»Das Kind?«

Ihre Tochter war dreiundzwanzig Jahre alt, und natürlich hatte sich etwas geändert, seit sie nicht mehr im Haus war, aber das ging zu weit.

»Du glaubst doch nicht, es hat etwas damit zu tun?«

Als Marija am gleichen Abend das Wohnzimmer betrat, legte er eben den Hörer auf, und ohne daß sie noch etwas aufgeschnappt hätte, wußte sie, daß er mit Lorena gesprochen hatte. In den vergangenen Monaten hatte sonst immer sie den Kontakt gehalten, während er nur grüßen ließ oder am Ende mehr aus Pflichtschuldigkeit, als daß es ihm wirklich ein Bedürfnis zu sein schien, ein paar Worte mit ihr wechselte, und jetzt tat er ertappt. So, wie er um sie herumstrich, hätte Marija ihm auf den Kopf zu sagen können, warum er sich plötzlich derart interessiert zeigte, und die Bestätigung kam geradezu postwendend, als wenig später Lorena noch einmal anrief und nicht lange herummachte.

»Ist alles in Ordnung?«

Sie hatten erst vor ein paar Tagen miteinander telephoniert, aber das war vielleicht eine Frage. Es kam ihr wie die Übersetzung aus einer anderen Sprache vor, und Marija mußte sich hüten, nicht auf englisch zu antworten. Deshalb lachte sie nur, und es klang ein wenig aufgekratzt, und dann war der Augenblick schon wieder vorbei.

»Natürlich.«

Es war ihre eigene Schuld, wenn sie sonst nichts sagte und nicht einmal versuchte, ihren Mißmut zu verbergen, aber die Direktheit ihrer Tochter hatte sie dann doch nicht erwartet.

»Willst du Vater verlassen?«

Die Pause begann schon zu zählen, bevor sie mit ihrer Antwort auch nur hatte zögern können, und sie sah ihren Mann an, als hätte er selbst sie damit konfrontiert, und wartete. Er stand jetzt reglos da, und sein Gesichtsausdruck verriet ihr nicht, ob er ahnte, worum es ging, oder ob die Frage ursprünglich vielleicht wirklich von ihm kam. Solange sie ihn kannte, war immer er es gewesen, der alles im Griff gehabt hatte, und sie hätte viel darum gegeben, nicht plötzlich seine Angreifbarkeit sehen zu müssen, den Blick, der etwas Unterwürfiges hatte, und das Demutsvolle in seiner Haltung, als sie ihm wortlos den Hörer reichte und dann zuschaute, wie er sich bemühte, mit ein paar nichtssagenden Sätzen davonzukommen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er schließlich, aber er hatte aufgehört, ins Telephon zu sprechen. »Die Welt wird ohne dich schon nicht untergehen.«

Am nächsten Tag nahm er Marija mit in die Stadt und kaufte für sie ein, als wäre sie ein Schulkind, das ins Zeltlager ging, und obwohl ihr seine Überdrehtheit penetrant vorkam, wehrte sie sich nicht dagegen, daß er sie von Kopf bis Fuß ausrüstete. Dadurch machte er alles zu einem Spiel, und sie sah ihm zu, wie er die Dinge anhäufte, und gab es auf, ihn darauf hinzuweisen, daß es keine Expedition in die Wüste oder an einen der Pole sei, ließ seine groteske Offensive auch dann noch über sich ergehen, als sie merkte, daß es ihm nur darum ging, auf allem seine Hand zu haben. Beginnend mit der Füllfeder, die er passend zu einem ledergebundenen Notizbuch und Briefpapier aussuchte, von dem sie gleich wußte, daß sie nie eine Zeile darauf schreiben würde, über den Regenschutz in Tarnfarben, der sich wenden ließ und innen türkis war, und die klobigen Stiefel bis hin zu dem Gaskocher, den er unschlüssig aus dem Regal holte, fehlten zuletzt nur Tropenhelm und Buschmesser, um endgültig eine Karikatur aus ihr zu machen, aber das war leider nicht alles.

Denn das Lachen über diese Bevormundung verging ihr erst, als er in einer Drogerie eine Zehnerpackung Kondome auf das Laufband bei der Kassa legen wollte.

»Man kann nie wissen«, sagte er und schien im selben Augenblick zu merken, wie unangebracht das war. »Es ist besser, du hast sie dabei.«

Das war seine mitunter etwas anstrengende Art, Scherze zu machen, und sie nahm ihm das Päckchen aus der Hand, als wäre er ein Kind, das sich an einem Spielzeug vergriffen hatte, von dem es besser die Finger lassen sollte.

»Mich wird schon keiner vergewaltigen.«

Damit warf sie es nachlässig zurück.

»Wenn es doch dazu kommen sollte, dürfte es wohl kaum ein Herr mit ausgesuchten Manieren sein«, sagte sie. »Zumindest wäre es dann fraglich, ob er solche Feinheiten überhaupt in Erwägung ziehen würde.«

Das verschärfte sie noch, indem sie ihr schmutzigstes Lachen hinterherschickte, und er sah sie so flehentlich an, daß sie es sofort bereute und sich noch zwei Tage später, auf der Fahrt nach Zagreb, zurückhalten mußte, sich nicht dafür zu entschuldigen. Sosehr sie sich dagegen wehrte, er ließ es sich nicht nehmen, sie mit dem Auto hinzubringen, und sie saß schweigend neben ihm, schaute hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft und wartete, daß jenseits der Grenze alles anders sein würde, aber abgesehen von einem Militärkonvoi, den sie irgendwann überholten, und davon, daß außer ihnen kaum jemand unterwegs war, breitete sich das Land vollkommen reglos und nur am Horizont zitternd in der flimmernden Augusthitze aus. Wären nicht die Zeitungen gewesen, die sie beim ersten Halt kaufte, hätte alles wie in anderen Jahren sein können, eine Urlaubsreise in den Süden gar, auch wenn er nach ihrem ersten Mal in Jugoslawien, bei dem er eifersüchtig beobachtet hatte, wie sie sich am Strand mit den einheimischen Jungen in ihrer Sprache unterhielt, später nie mehr mitgekommen war.

»Da ist nichts«, sagte sie schließich, als wollte sie sich gegen die bedrohlichen Berichte, die sie gelesen hatte, Mut machen, aber es klang nur verzagt. »Schau doch.«

Sie deutete mit beiden Händen hinaus.

»Siehst du etwas?«

Die Geste schloß das ganze Blickfeld ein.

»Ist das ein Land, das sich im Kriegszustand befindet?«

Obwohl sie es wußte, fragte sie ihn, warum er selbst noch nicht darüber geschrieben hatte, wenn er sonst schon nichts ausließ. Ihre Entdeckung, daß er unter Pseudonym Beiträge auch an das Konkurrenzblatt verkaufte und sich dort in einem strammen Scharfmacher-Ton über die gleichen Dinge erregte, die er unter dem eigenen Namen manchmal so lange abwog, bis sie sich in Luft aufzulösen drohten, lag erst wenige Wochen zurück, und er fürchtete ihre sarkastischen Bemerkungen. Dabei hatte sie davor schon aufgehört, seine Artikel zu kommentieren, wie sie es seit seinen Anfängen bei der Zeitung immer getan hatte, und gewöhlich las sie seine Kolumne, die an drei Tagen der Woche erschien, nicht mehr oder wußte nicht, worum es darin ging, kaum daß sie mit dem Lesen fertig war. Es war eine Abwehr, die sich langsam aufgebaut hatte, und sie konnte auch jetzt nicht anders, als es ihn spüren lassen.

»Du weißt nicht, welche Seite die richtige ist«, sagte sie voll Spott. »Spielt das eine Rolle, wenn du am Ende ohnehin auf beiden bist?«

Sie hatte geglaubt, sich längst damit abgefunden zu haben, und war jetzt doch wütend, wenn sie an sein ewiges Hin und Her dachte, mit dem er es möglichst allen recht machen wollte.

»Hauptsache, brillant formuliert.«

So weit war sie bisher nicht gegangen.

»Hauptsache, These, Antithese und dann noch deinen eitlen Senf dazu«, sagte sie und war sich selbst nicht ganz geheuer. »Hauptsache, du, du, du.«

Sie sah, daß er sich wie unter einem Schlag duckte und dann langsam den Kopf wieder hob, als würde er hinter einer Deckung hervorkommen und sich trotzdem jeden Augenblick nur Schlimmeres erwarten.

»Du verzeihst mir immer noch nicht.«

Er war wieder in seinen resignierten Ton verfallen, nachdem er damals ihre ersten Fragen mit Vorhaltungen pariert hatte, geradeso, als hätte er sich auf das Doppelspiel nur ihretwegen eingelassen. Sie erinnerte sich, wie er versucht hatte, sich zu rechtfertigen, und konnte sich noch immer nur wundern. Es war kläglich gewesen, jeder Satz beklemmender in ihren Ohren als der vorhergehende, und das um so mehr, als er tatsächlich den Anschein erweckt hatte, selbst darauf hereinzufallen und nicht zu merken, wie er sich damit belog.

»Was glaubst du, woher das Geld kommt?«

Das hatte er immer wieder gesagt und sich in in seiner Aufzählung aller nur denkbaren Auslagen unterbrochen, angefangen mit den beiden Stadtwohnungen, dem Haus im Waldviertel, dem jährlichen Skiurlaub in Lech und Lorenas Eskapaden, wie er sich ausgedrückt hatte, ihrem Amerika-Aufenthalt oder dem Auto, das sie zur Matura bekommen hatte, um von dem Kleingeld, das eine Dame wie sie Tag für Tag brauche, gar nicht zu reden.

»Wahrscheinlich wird uns alles geschenkt.«

Bei der Jämmerlichkeit, die das hatte, war es ihr trotzdem noch lieber gewesen als die Art, wie er sich ihr jetzt auslieferte, als wenn sie nur schnell ein Urteil über ihn sprechen sollte, er würde Buße tun, und danach wäre alles wieder in Ordnung. Im Grunde konnte sie nicht einmal sagen, ob sie wirklich abgestoßen davon war, daß er sich hier so und dort so äußerte. Denn je länger sie darüber nachdachte, um so mehr war ihr sein Lavieren sogar recht. Sie brauchte sich nur zu erinnern, wie manchmal unmittelbar nach Erscheinen der Abendausgabe die ersten Leute anriefen und er zu Hause in dem Fauteuil, das er in seinem Hang zu aufdringlichen Wortspielen immer Feuilleton nannte, mit geschlossenen Augen ihre Huldigungen entgegennahm und sie in einem Ton, den sie sonst nicht von ihm kannte, je nachdem als mein Lieber oder als meine Liebe titulierte, und sie hatte ein für alle Mal genug davon. Dann war sie froh, daß er das ganze Gebilde mit wenigen Sätzen auflösen konnte, indem er nur ein paar Tage später in seiner anderen Rolle eine richtige Stammtischsuada über die größten Schmeichler ausgoß und ihre Liebedienerei in markigen Sprüchen ertränkte, vermeintlich geschützt durch seinen Nom de guerre, den er mit seinem jüdischen Anklang für die dubiose Sache nicht widerwärtiger hätte wählen können.

Sie hatten nie so werden wollen, doch es war nicht der Augenblick, darüber zu sprechen, und sie verkniff es sich, nahm seine Hand, die er auf dem Ganghebel liegen hatte, in ihre beiden Hände und drückte und knetete an seinen Fingern herum, um ihre Unruhe niederzuhalten, den Drang, ihn weiter in die Enge zu treiben, die aufkommende Verzweiflung, die sie beim Gedanken packte, wie müßig es war, bis sie schließlich den Kopf schüttelte.

»Schon gut«, sagte sie. »Schon gut.«

Es war ihre übliche Absolution.

»Da gibt es nichts zu verzeihen.«

Natürlich war alles einmal anders gewesen, und sie hätte ihn an die Zeit erinnern können, in der er die Tage in stundenlangen Diskussionen mit seinen Freunden verbrachte und die Nächte auf der Straße, ihm sagen, wie sie oft auf ihn gewartet hatte, bis er endlich im Morgengrauen zu ihr ins Bett gekommen war, um sich wortlos an sie zu schmiegen, als wäre er froh, einen Tag und noch einen Tag Aufschub zu haben, nichts von seinen groß angekündigten Plänen in die Tat umsetzen zu müssen und statt dessen ein weiteres Mal den günstigsten Augenblick abwarten zu können, in der Hoffnung, daß er nie kam. Dabei erschien es ihr ganz und gar unmöglich, daß sie damals tatsächlich geglaubt hatte, sein Kommando wäre mehr als ein Hirngespinst und sie würden irgendwann losschlagen, er und die paar Wirr köpfe, die er um sich geschart hatte, mehr als die Streiche, die sie mit so viel unverdautem Zeug aus ihren Büchern verbrämten, daß jedes öffentliche Urinieren ein Akt des Widerstands war, eine Geste der Solidarität mit den Unterdrückten der Erde, ein Protest gegen Armut und Ausbeutung, ein stummer Schrei gegen das Reich des Bösen in Amerika. Schließlich war es in der Regel beim Vorspiel geblieben, waren es höchstens Sprüche gewesen, die sie irgendwo hingepinselt hatten, hier und dort eingeschlagene Auslagenscheiben mit kriegerisch formulierten Warnungen oder Flugblätter mit vorauseilenden Bekennerschreiben, in denen sie sich zukünftiger Aktionen bezichtigten, was mehr oder weniger alles zur Folklore der Jahre gehörte und keine große Sache war, und sie sagte sich, was auch immer er später für Heldentaten daraus machte, wirklich zu Buche stehen hatten sie nur die in der ganzen Stadt von den Kühlerhauben gepflückten und dann in den Blumenrabatten auf dem Karlsplatz neu eingepflanzten Mercedes-Sterne, mit denen sie es zumindest auf die Vorderseiten der Tageszeitungen geschafft hatten. Doch das war alles nur mehr Nostalgie, genauso wie seine kargen Antworten, sooft sie etwas Genaueres hatte wissen wollen, wenn er länger ausgeblieben war, und er sie jedesmal wieder mit der Ausflucht geküßt hatte, es sei immer das gleiche, Kritik und Selbstkritik, von einem Augenblick auf den anderen so zärtlich, als wäre ihm bewußt, was er im Ernstfall alles aufs Spiel setzte, bevor er sich einmal so weit distanziert hatte, zu sagen, ihr Programm sei nur verstiegener Quatsch, und ein anderes Mal lachend über sie hergefallen war und nicht aufgehört hatte, sich über den Jargon lustig zu machen und ein und denselben Satz zu wiederholen, bis er nicht mehr konnte.

Das fiel ihr wieder ein, während sie sich plötzlich danach sehnte, daß er sie sein Mädchen nannte, wie er es manchmal tat, wenn er ein Gespräch mit ihr nicht weiterführen wollte.

»Ich ficke dich, weil ich ein Chauvinist und ein imperialistisches Schwein bin, und ich bin ein imperialistisches Schwein und ein Chauvinist, weil ich dich ficke.«

Sie hatte ihn schon tausend Mal gebeten, mit dem Gesülze aufzuhören, aber jetzt wünschte sie es sich, um sich dem kindischen Ritual hingeben zu können, das er dabei erwartete, ihren Kopf an seine Schulter lehnen, die Augen schließen und an nichts denken, und war enttäuscht, daß er schwieg. Als sie sich schlafend stellte, legte er von Zeit zu Zeit seine Hand auf ihren Schenkel, und sie spürte, wie sich unter dem Kleid auf ihrer nackten Haut in der Hitze feucht und warm die Form seiner Finger ausbreitete. Dann wartete sie jedesmal von neuem, daß er vielleicht doch noch etwas sagte, eine Andeutung, die kleinste Regung, und wenn es ein letzter Versuch gewesen wäre, sie aufzuhalten, aber er starrte stur vor sich hin und schien sie trotz der Berührung vergessen zu haben.

Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie im ersten Hotel der Stadt absteigen müssen, aber sie konnte sich durchsetzen, und sie mieteten sich in einer einfachen Pension in der Nähe des Britanski-Platzes ein. Obwohl er verärgert war, versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, und doch konnte er dann nicht anders und drehte mit betontem Ekel die Bettwäsche um, kaum daß er ihre Sachen abgestellt hatte. Sie wußte, er hielt es für eine Kinderei, auf Annehmlichkeiten freiwillig zu verzichten, und ließ ihn mit seinem Schmollen allein, bis er sich endlich beruhigt hatte. Er duschte ausgiebig, während sie auf dem einzigen Stuhl saß und in ihrem Reisefüherer blätterte, und als er sich zum Ausgehen herrichtete, konnte sie nicht sagen, ob ihr vor Rührung flau wurde oder ob es dieses leichte Unwohlsein war, das sie seit einiger Zeit überkam, wenn sie bemerkte, wie er nach jeder Irritation weitermachte, eine Fähigkeit, die sie am Anfang so sehr an ihm geliebt hatte und die ihr mit den Jahren immer unheimlicher geworden war. Denn da stand er bereits in seinem besten Anzug vor ihr, und sie mußte lachen, weil er gerade mit seinem vornehmen Äußeren in der Kärglichkeit des Zimmers wie ein Ganove wirkte und es selber nicht zu ahnen schien, ein Geschäftsmann, der sich nicht zufällig in eine solche Absteige verirrt hatte und dort ohne Zweifel Transaktionen vornehmen wollte, die nicht ganz sauber waren.

Es wurde dunkel, doch es kühlte nicht ab, als sie hinausgingen, auf den Straßen kaum Leben, ein paar Uniformierte, aber sonst nichts weiter Auffälliges außer der Beflaggung an vielen Gebäuden, vielleicht daß es mehr Bettler gab, und wenn sie später darüber nachdachte, fragte sie sich, ob es seinetwegen war, daß sie an dem Abend so wenig gesehen hatte. Denn allein seine Erscheinung schien das größte Übel fürs erste undenkbar zu machen, seine Stattlichkeit, so, wie er ging, ging ein Herr in die Oper oder ins Theater oder war er vielmehr zu anderen Zeiten gegangen, an anderen Orten wohl auch, in der Gewißheit, daß ihn sein Rang schützte, und das war es, was sie sich bei ihm früher nie hatte vorstellen können. So unsicher er als junger Mann gewesen sein mochte, er vertraute doch längst darauf, noch seinen Henkern die Tür weisen zu können, im Augenblick des Todes eine Stimme zu haben, die ihn ein letztes Mal vor allem bewahrte, egal, ob wegen seiner Verdienste oder aus einer Anmaßung, die ihm mit den Jahren selbstverständlich geworden war, während sie von sich dachte, es könnte ihr jederzeit alles passieren und sie hätte kein Recht, auch nur zu klagen. Der Gedanke, wie ausgeliefert er gerade dadurch war, erschütterte sie, eine Situation, in der seine Autorität nicht mehr zählte, und er könnte nicht einmal davonlaufen, würde dastehen, wie er zu Hause immer in der Wohnung stand, wenn der Lift in Beschlag genommen war und er die drei Stockwerke zu Fuß gehen mußte, ein wohlgenährtes, verhätscheltes Riesenkind mit rosaroter Haut, ungläubig um Luft ringend und an die Wand gestützt, bis sie ihm die Tasche abnahm und er sich eine Zigarette anzünden konnte und noch im Vorraum in gierigen Zügen rauchte. Mit seinen Allüren war er ihr nie fremder erschienen als in dieser auf die Katastrophe wartenden Stadt, die sich unversehrt in alle Richtungen ausbreitete, und seine Existenz darin hätte nicht vorläufiger sein können, die eines Meerestieres, das von einer unerwarteten Welle an Land gespült worden war und noch nicht gemerkt hatte, daß sich das Wasser schon wieder zurückzog.

Die meisten Restaurants waren bereits geschlossen, aber sie fanden dann doch eines, das noch offen hatte, und er aß mit einem so demonstrativen Behagen, daß sie selbst fast nichts nahm und ihm nur zuschaute. Sie waren nicht länger als eine Stunde herumgelaufen, aber so, wie er sich vor ihr gütlich tat, hätte es die halbe Nacht in der tiefsten Dunkelheit gewesen sein können, und sie vergaß erst langsam, wie übellaunig er sich gerade noch von Straße zu Straße hatte ziehen lassen. Er schien alles persönlich zu nehmen, die versperrten Türen, die dunklen Fenster genauso als Respektlosigkeit zu betrachten wie die zuvorkommende Behandlung durch die Kellner als die angemessene Form, ihm zu begegnen, und sie sah sich um, ob nicht von überallher die Blicke auf ihn fielen, aber niemand beachtete sie. Eine feste Größe war er nur zu Hause in Wien, unter den entsprechenden Bedingungen, und obwohl das natürlich keine Überraschung sein konnte, stellte sie es mit Vergnügen fest, wenn sie daran dachte, wie ihn dort manchmal sogar seine ehemaligen Studienkollegen und die Mitkämpfer seiner damaligen Gruppe mit einem für sie gerade noch als ironisch erkennbaren Bückling begrüßten und auch sonst keinen Schlenker ausließen, um ihm ihre Reverenz zu erweisen.

Hinzu kam, daß am Nebentisch eine Frau saß, die Marija an die Sprecherin der Abendnachrichten erinnerte, mit der er sich in der bewegten Zeit ein paar Wochen lang ein Bett geteilt hatte, und ihr fiel das absurde Theater wieder ein, das er um sie immer machte. Sie hatte es lange für einen Scherz gehalten, aber er behauptete ernsthaft, daß ihm die Gute höchstpersönlich aus dem Fernseher zuzwinkere, wenn sie ein Interview mit einem Politiker führte und dem armen Teufel so lange zusetzte, bis er aus lauter Tautologien und Widersprüchen und einer bestürzenden Tolpatschigkeit bestand, und wie er sie dafür bewunderte, hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Es war vielmehr seine Art, sie nach all den Jahren noch wie ein Gourmet zu verschlingen, das wurde Marija schlagartig klar, sein trauriges Gespeichel, wenn er sich oft schon mit der zweiten Flasche seines Lieblingsweines auf das Sofa gefläzt hatte, ohne ein Auge von dem Drama zu lassen, und in höchster Zustimmung schwelgte, die darin gipfelte, daß er alle paar Augenblicke ein anfeuerndes »it’s war, baby, it’s war« aus sich herauspreßte und schließlich erschöpft in sich zusammensank.

Wenn sie das beobachtete, hatte sie immer das Gefühl, daß nicht nur in ihrem Leben, sondern überhaupt auf der Welt etwas schiefging und lange schon schiefgegangen war, und das empfand sie auch, als sie sich nach Mitternacht auf der Straße wiederfanden und er sich gebärdete wie bei einem Überfall, obwohl nur zwei Männer auf sie zugetreten waren und nach der Uhrzeit fragten. Er holte seine Geldtasche hervor und streckte sie ihnen hin, während sie schon mit hoch erhobenen Händen vor ihm zurückwichen, und Marija sah, er hatte Mühe, seine Fassung zu wahren, trippelte von einem Bein auf das andere, fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar, klopfte unentwegt seine Anzugjacke ab und schien allmählich zu begreifen. Verdattert schaute er ihnen nach, und als er wieder soweit war, über die schlechte Beleuchtung zu schimpfen, in der er ihre Gesichter nicht erkennen konnte, wußte sie, er genierte sich, und es war am besten, die Episode mit keinem Wort zu erwähnen.

In der Pension angelangt, merkte sie endlich, wie betrunken er war. Trotz der späten Stunde klingelte er den Wirt heraus und verlangte ein zweites Zimmer, und weil sie das Auto behalten sollte, ließ er sich die Zeit für den Frühzug nach Wien geben, als hätte er vergessen, daß er erst am Nachmittag hatte abreisen wollen. Dann stieg er, den Schlüssel in der Hand, die Treppe hinauf, und obwohl er nicht einmal schaute, ob sie ihm folgte, wandte er sich vor seiner Tür abrupt nach ihr um und umarmte sie.

»Wir haben doch ein gutes Leben«, sagte er, nachdem er sich ein paar Mal geräuspert hatte. »Sind wir nicht glücklich?«

Damit schien alle Kraft aus ihm gewichen, und sie stand, sein ganzes Gewicht auf ihren Schultern, mit ihm da, als er sich auf einmal hängen ließ, und sah sich selbst zu, wie sie mit den Händen eine Zeitlang leere Bewegungen über seinem Kopf vollführte. Schließlich fuhr sie ihm mechanisch durchs Haar und schaute in das Halbdunkel des Gangs, wie wenn von dort Rettung nahen müßte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und doch fürchtete sie schon, er sei im Stehen eingeschlafen, weil sein Atem an ihrem Ohr so ruhig war und er sich Zeit ließ, bis er von neuem anfing.

»Hast du es jemals mit mir bereut?«

Das hatte ihr gerade noch gefehlt, daß er jetzt eine seiner melancholischen Anwandlungen bekam und mitten in der Nacht ausgerechnet an diesem Ort Treueschwüre von ihr verlangte, und sie sprach wie mit einem Kind.

»Albert, ach, Albert.«

Dabei brachte sie kaum eine Silbe hervor.

»Warum machst du das?«

Sie hatte nicht gedacht, daß er darauf antworten würde, aber als er es tat, nahm er papageienhaft das Wort auf, und sie wußte nicht, ob er nicht einfach nur vor sich hinplapperte.

»Ich mache ja nichts«, sagte er und bemühte sich, deutlich zu sprechen und nicht weinerlich zu klingen. »Du bist es doch, die das macht.«

Er löste sich von ihr, als wäre er bereit, in einen neuen Kampf zu ziehen, sperrte sein Zimmer auf und verschwand, und sie stand noch eine Weile vor der Tür. Zu jeder anderen Zeit wäre sie sicher gewesen, daß er nur auf ihr Klopfen wartete und daß sie eintreten und ihn untertänig fragen würde, ob sie bei ihm schlafen dürfe, und sie hätte es auch getan, ob sie sich im Unrecht fühlte oder nicht, aber dieses Mal ging sie, und sie mußte sich nicht zwingen zu gehen. Sie war gerade dabei, sich auszuziehen, als er seine Sachen holen kam, und während er Hemd und Hose, die er am Abend einfach hatte fallen lassen, vom Boden aufhob und in die Tasche stopfte und im Badezimmer seine Utensilien klappernd in den Waschbeutel warf, rührte sie sich nicht von der Stelle. Dann drehte und wendete er noch einmal das Bett um und sah sie an, und sie dachte, wenn er dazu überhaupt imstande wäre, hätte er sie in diesem Augenblick geschlagen.

»Ich weiß, du erwartest eine Entschuldigung von mir«, sagte sie, selbst überrascht, wie spöttisch es klang. »Das werde ich dir aber nicht spielen.«

Es lief jedesmal nach dem gleichen Schema ab, und obwohl er plötzlich ganz nüchtern wirkte, war es nicht nur die Kälte seines Blicks, es waren die verächtlich herabgezogenen Mundwinkel, was sie daran denken ließ, wie all die Jahre ein Streit mit ihm enden konnte. Wenn er sich in Bedrängnis fühlte oder keine Argumente mehr hatte, verschanzte er sich hinter dieser Haltung, die er jetzt einnahm und die ihr zeigte, daß es am Ende jenseits irgendwelcher Meinungsverschiedenheiten einen viel tieferen Grund für alles gab, und der Grund war sie selbst mit ihrer Herkunft. Ob er es ihr ausdrücklich sagte oder nicht, nach seinen Ausfällen gleich in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft wußte sie, wenn er sie so herablassend behandelte, konnte das nur bedeuten, daß von ihr nichts anderes zu erwarten war, und während er sie immer noch fixierte, als würde er sich gleich auf sie stürzen, erinnerte sie sich, wie ihre Freundinnen nicht nur einmal gesagt hatten, sie wirke an seiner Seite nicht wie seine Frau, sondern wie eine viel jüngere Geliebte, und kostete in einer plötzlichen Laune die Situation aus.

»Was kann ein armes, kleines Jugoslawenmädchen tun, damit der große Meister ihm ein letztes Mal verzeiht und nicht mehr traurig ist?«

Sie sah, daß er keine Miene verzog, und lachte, aber er blieb todernst, wurde nur immer finsterer, als sie ihm zeigte, wie pathetisch das war.

»Wenn du damit sagen willst, ich habe dich dazu gemacht, hast du einen wichtigen Teil vergessen«, sagte er. »Erinnerst du dich, was du ganz am Anfang einmal zu mir gesagt hast?«

Sie wußte nicht, was er meinte.

»Ich habe viel gesagt.«

Er deutete ein Nicken an.

»Du hast viel gesagt.«

Noch schien er unschlüssig, ob er damit herausrücken sollte, aber es war nur ein Augenblick, und in Wirklichkeit hatte er längst keine Wahl mehr.

»Wenn du mich einmal nicht mehr liebst, dann bring mich um«, sagte er. »Was glaubst du, was ich da für eine Vorstellung von dir bekommen habe?«

Damit hatte er sie wieder da, wo er sie haben wollte, aber obwohl alles ausgesprochen war, konnte er es nicht lassen, noch eine Gemeinheit hinterherzuschicken.

»Vielleicht ist da nicht viel gewesen, was ich hätte unterwerfen müssen, und du machst dir nur etwas vor, wenn du das denkst.«

Er war schon gegangen, als sie sich schluchzend auf dem Bett wiederfand, und sie schlief die ganze Nacht nicht und stand am Morgen am Fenster und schaute ihm zu, wie er, seine Tasche in der Hand, aus dem Haus trat und, ohne sich umzudrehen, mit großen Schritten um die nächste Ecke verschwand.

Sie hatte gehofft, er würde sich verabschieden kommen, aber wie sie ihn jetzt so gehen sah, war ihr klar, er hatte seine Entscheidung getroffen, und wenn er überhaupt an sie dachte, dann wahrscheinlich mit dem gleichen Gefühl wie zu Hause, als wäre sie eine Selbstverständlichkeit, über die es sich nicht weiter nachzudenken lohnte. Von einer nächtlichen Krise war ihm nichts anzumerken, er trug schwarze Jeans und ein weites, schwarzes Polohemd, das seine Hüften verdeckte, auf dem Kopf eine Schildkappe, von der sie nicht wußte, woher er sie hatte, und aus einer Person in beängstigender Auflösung war wieder ein gefaßter Mann mittleren Alters geworden, den sie auf den ersten Blick nicht hätte einordnen können, wenn er ihr zufällig begegnet wäre. Jedenfalls wirkte er mit sich im reinen, und sie konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, ihn in seiner Überlebensfähigkeit wieder einmal unterschätzt zu haben, denn die Welt, in die er sich begab, wäre ohne Zweifel seine Welt, in der er längst aufgehört hatte, Witze zu machen, und nur mehr scheinbar resigniert mit den Schultern zuckte, wenn er als Jahrhundertfigur des österreichischen Journalismus bezeichnet wurde, als Gewissen der Nation, als Blüte der Aufrechten und Anständigen im Land und als was nicht sonst noch alles.

Zwei

Die Geschichte mit der Tochter war für Ludwig eine Überraschung, und als er Monate davor, am Ende eines zweiwöchigen Aufenthalts in Argentinien, in die Dienste des Alten getreten war, hatte es sich um die Entscheidung eines Augenblicks gehandelt, bei der nichts darauf hindeutete, daß es mit einem Auftrag enden würde, den er unter normalen Umständen abgelehnt hätte. Er hatte die Weihnachtstage noch in Buenos Aires verbracht, reglos und schwitzend in der feuchten Hitze, in einem Hotel in der Avenida Callao, nicht weit vom Kongreßgebäude, und war schon auf dem Weg zum Flughafen, hätte am Tag darauf wieder zu Hause in Wien sein sollen, als er das Taxi kurzerhand umdirigierte, sein Gepäck noch einmal in der Rezeption unterstellte und von Retiro die erste Bahn hinaus nach San Isidro nahm. In der Woche davor hatte er in Villa Gesell, einem Badeort nördlich von Mar del Plata, die Frau des Alten kennengelernt, ihr beharrliches Drängen, sich nach den Feiertagen doch einmal anschauen zu lassen, weil ihr Mann jemanden wie ihn suche, jedoch nicht weiter ernstgenommen und gedacht, Claudia bliebe das, was sie war, eine Zufallsbekanntschaft vom Strand, mit der er einen schönen Abend gehabt hatte.

Tatsächlich hatten die junge Frau in dem sariartigen Kleid mit den goldenen Armreifen und das, was sie ihm von ihrem offenbar viel älteren Mann erzählte, während sie hinter einem Windschutz aus Glas saßen und auf das Meer hinausschauten, eine ungewöhnliche Mischung abgegeben, waren sich ihre grellrot geschminkten Lippen und das triste Schwarzweiß einer Geschichte, deren Anfänge ein halbes Jahrhundert zurücklagen, im Weg gestanden. Sie hatte trotz des ganzen Aufputzes so mädchenhaft gewirkt, ihre nackten Schultern vor der hereinbrechenden Dunkelheit weiß und verletzlich, daß es nicht zu ihr passen wollte, von einer Zeit zu sprechen, in der sie noch nicht einmal geboren war, und Ludwig hatte kaum hingehört und fasziniert zugeschaut, wie sie scheinbar gedankenverloren mit dem Strohhalm ihre Limonade in einem Zug austrank und eine Weile in ihrem leeren Glas herumschnorchelte, bevor sie eine neue bestellte. Das Schicksal ihres Mannes hatte ihn nicht weiter interessiert, der ganze jugoslawische Kram seiner Herkunft, den sie ihm erklären wollte, ob er Serbe war oder, wie sich dann herausstellte, Kroate, und richtig in Erinnerung geblieben war ihm nur, daß der Alte seit seiner Auswanderung nach Ende des Krieges vor fast fünfzig Jahren, die in Wirklichkeit wohl eher eine Flucht gewesen war, seine Heimat nicht mehr gesehen hatte, weil man ihn dort sofort vor Gericht gestellt und entweder exekutiert oder lebenslänglich hinter Gitter gebracht hätte.

»Jetzt ist die Situation zum ersten Mal so, daß er einen Besuch dort plant«, hatte sie gesagt. »Wenn er recht hat, bedeutet das aber auch, daß es zu Kämpfen kommen wird.«

Welchen Zusammenhang das haben sollte, hatte Ludwig nicht verstanden, aber er dachte an ihre bestimmte Art, als er sich der angegebenen Adresse näherte, gleich bei der Kathedrale, genau dort, wo das Gelände zur Flußmündung abfiel und er die riesige Wasserfläche zwar nicht sehen konnte, jedoch spürte, daß sie da sein mußte. Sie hatte eine einfache Erklärung für alles gehabt, und er erinnerte sich wieder, mit welcher Mischung aus Abwehr und Spott sie das Wort »Kommunisten« ausgesprochen hatte, während er auf das Haus zuging und vergeblich über die mehr als kopfhohe Umfriedungsmauer zu spähen versuchte, wo er gerade einmal das Dach und die Krone eines Zitronenbaums voller Früchte sah. Neben dem Eingang hing eine Überwachungskamera, aber er hatte bereits geklingelt, als er sie entdeckte, und seine Bedenken, worauf er sich da wohl einlassen mochte, kamen zu spät, war von drinnen doch schon Hundegebell zu hören und er wahrscheinlich längst auch von den Nachbarhäusern in der sonst wie ausgestorbenen, kopfsteingepflasterten Straße unter Beobachtung.