Die Kraft der Musik - Franziska König - E-Book

Die Kraft der Musik E-Book

Franziska König

0,0

Beschreibung

Eine Realdoku in Tagebuchform. Der Leser ist dazu eingeladen, eine Geigerin zwei Monate lang auf ihrem Lebenswege zu begleiten, und an den Freuden und Dramen zu partizipieren, die den Spätsommer und Frühherbst zu einem Wimmelbild, einem Lied oder gar einer Symphonie machen. Das Leben selber diktiert die Handlung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erinnerungen

Für Ming

Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.

„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ sagt sie.

Und drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.

Erzählt werden Geschichten aus ihrem Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.

Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis

Hier die engste Familie vorweg:

Oma Ella, (*1913) Omi väterlicherseits in Hessen

Buz (Wolfram), mein Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), meine Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Ein Buch ohne Vorwort.

Sie können gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

August 2002

Donnerstag, 1. August

Freitag, 2. August

Samstag, 3. August

Sonntag, 4. August

Montag, 5. August

Dienstag, 6. August

Mittwoch, 7. August

Donnerstag, 8. August

Freitag, 9. August

Samstag, 10. August

Sonntag, 11. August

Montag, 12. August

Dienstag, 13. August

Mittwoch, 14. August

Donnerstag, 15. August

Freitag, 16. August

Samstag 17. August

Sonntag, 18. August

Montag, 19. August

Dienstag, 20. August

Mittwoch, 21. August

Donnerstag, 22. August

Freitag, 23. August

Samstag, 24. August

Sonntag, 25. August

Montag, 26. August

Dienstag, 27. August

Mittwoch, 28. August

Donnerstag, 29. August

Freitag, 30. August

Samstag, 31. August

September 2002

Sonntag, 1. September

Montag, 2. September

Dienstag, 3. September

Mittwoch, 4. September

Donnerstag, 5. September

Freitag, 6. September

Samstag, 7. September

Sonntag, 8. September

Montag, 9. September

Dienstag, 10. September

Mittwoch, 11. September

Donnerstag, 12. September

Freitag, 13. September

Samstag, 14. September

Sonntag, 15. September

Montag, 16. September

Dienstag, 17. September

Mittwoch, 18. September

Donnerstag, 19. September

Freitag, 20. September 2002

Samstag, 21. September

Sonntag, 22. September

Montag, 23. September

Dienstag, 24. September

Mittag, 25. September

Donnerstag, 26. September

Freitag, 27. September

Samstag, 28. September

Sonntag, 29. September

Montag, 30. September

August 2002

Vorwissen:

In Ostfriesland tobte bereits seit zwei Wochen das große Musikfestival „Musikalischer Sommer in Ostfriesland“.

Unser Familienunternehmen.

Nun hatte die letzte Woche angehoben. Man bewegte sich dem festlichen Abschlußkonzert entgegen…

Donnerstag, 1. August Aurich

Auf heisere Weise fast tropisch verregnet

"Glaubt ihr, daß Kanzler Schröder die Doris wirklich liebt, oder daß er sich nur mit ihr schmücken will?" frug ich am Tische sitzend.

Wir frühstückten mit Buzens Spezi, dem Wiener Komponisten Peter Barcaba.

Diese Frage schien mir nicht ganz uninteressant, während die Erwachsenen jedoch anderes im Kopfe hatten, denn ein „Musikalischer Sommer“ ohne Ärger und Verdruß scheint ein Utopikum:

Diesmal ging es um einen russischen Cellisten, den Buz auf eine dubiose Empfehlung hin engagiert hatte, und dessen grobes Cellospiel Peters frischkomponiertes Capriccio zu verderben drohte. Ein Werk für Klavier und Orchester mit hinzugehörigem Solocellisten, das in wenigen Tagen im ausverkauften Abschlußkonzert zur Uraufführung gebracht werden sollte.

Uns als musikalischem Unternehmen ging es somit wie einem Konditormeister, dessen makelloser Ruf auf dem Spiele steht: Der neue Mitarbeiter tendiert dazu, ranzige Butter in den Teig zu rühren. Bittet man ihn höflich, mit diesem Unfug aufzuhören, so schaut er einen glasig an und rührt weiter…

Buz & Peter überlegten auf feinfühligste Weise, wie sie diesen ungehobelten Klotz schonend drum bitten könnten, seinen Platz am Pult zu räumen und weiterzuziehen? „..und dabei würde ein barsches "Du gänn nach Haus!" für diesen rohen Menschen, der auch als Autoschieber und Zuhälter eine gute Figur abgeben würde, doch wohl vollkommen ausreichen!“ warf Rehlein scherzend aber auch ein wenig bitter ein. „Man könne aber auch eine Pistole zücken und sagen: „Du gäään, sonst ich machen kapuuut!““

Daß ein vielbeschäftigter Mann wie Buz seine Zeit damit verplempert Hochsensibilitäten für einen Rohling auszubrüten ist Rehlein als leicht vernachlässigter Ehefrau schlicht unbegreiflich.

Da fiel mir ein, daß die Gloria heute Geburtstag hat, und so setzte ich Buz mitten in diese Debatte hinein, scheinbar zusammenhangslos darüber in Kenntnis, da mich der weichstimmende Gedanke beweht hatte, die verliebte Gloria könne ganz traurig werden, wenn Buz ihren Geburtstag vergäße – zumal es doch der 25. ist!

Doch noch während ich Buz darüber in Kenntnis setzte, schob sich eine Sorge dazwischen: Wenn Buz sie heute morgen womöglich bereits heimlich angerufen hat, und das gutgestimmte Rehlein nun ausrufen würde: "Ruf sie doch an! Das mach mal lieber gleich! Du vergisst es sonst wieder, wie ich Dich kenne! Die freut sich gewiss…"?

Auf ihre zupackende lebhafte Art wählt Rehlein die Nummer und reicht Buz den Hörer.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ sagt Buz ein wenig beklommen und auch eher für die Ohren Rehleins bestimmt, und die Gloria am anderen Ende der Leitung ist ganz bestürzt darüber, daß es bei ihrem vergötterten Lehrer mit der Alzheimerei wohl doch ein wenig früh loszugehen scheint?

In der Pause des abendlichen Konzerts in der Kirche zu Münkeboe waren alle so überschäumend nett zu uns.

Zufrieden, und verbindend schnatternd standen die Wurst- und Sektgenießer an diesem feuchten Sommerabend unter einem Zelt beieinander.

Die schöne Ariane, die Ming am Klavier so hingebungsvoll die Noten geblättert hatte, ließ durch Gesten des Entzückens wissen, wie tief berührt sie sei. Im zweiten Satz von der Fauré-Sonate habe sie aufpassen müssen, daß ihr keine Tränen auf die Tasten tropften, weil sie so bewegt war von der schönen Musik.

Ein Herr aus London spendierte mir gar eine leicht gebogene Wurst, für die er mit großer Geste eine kleine Spende hinblätterte.

Buzens Klavierschüler Hendrik und seine kleine Schwester Evi tobten herum, und in juvenilem Unfugsgebaren verteilte der Hendrik zarte Kinderküsschen durch ein Röhrchen.

Übermütig gestimmt wedelte er stolz mit einem Zettel herum: Einem Gutschein, den er bei „Jugend musiziert“ gewonnen hat.

Die magere Summe jedoch zeugte von beschämender Knickrigkeit der Jugendkultur gegenüber:

Einzulösen ausschließlich für Musikalien im Wert von zehn €uro.

Nach dem Konzert war der musikbesessene Hendrik derart aufgeheizt, daß er nicht nach Hause fahren wollte, und sich dem Vater gegenüber bockig gab.

"Dieser Ton zieht bei mir nicht", sagte Vati Johann nach außen hin milde, so doch unterschwellig bedrohlich, "ich find´s nur unhöflich!"

Freitag, 2. August

Sonnig

Die kostbare Frühstückszeit war leider knapp bemessen, da ich um halb elf mit meinen Spezeln unter der musikalischen Fuchtelei eines Ulrich W. im Orchester zu spielen hatte.

Wenig später im Ständesaal der „Ostfriesischen Landschaft“: Die Musikanten trödelten ein, und der Raum füllte sich mit dünnem Gefitschel und tutender Blasmusik.

Die mit den Jahren emotional erschreckend gedörrte und hinzu unvorteilhaft in die Breite gegangene Dirigentengattin Wiltrud, die einst so quirlig, lebhaft und lustig war, daß man sich immer wieder nach ihr und ihrer so mitreißenden Lebendigkeit gesehnt hatte, saß die ganze Zeit einfach nur rum. Der Zauber von einst war behäbig seniorilem Stumpfsinn gewichen, und ich frug mich bekümmert, wie man sich in der Rolle einer trockenen spröden Frau bloß gefallen kann?

In der Pause setzte ich mich neben sie, und lenkte die Rede auf eine Phrase in der Partitur, die kurz zuvor wenig befriedigend er- und wieder verklungen war: "Wie würdest du das machen?"

Dies frug ich zum einen, weil sie Sängerin von Beruf ist, aber auch weil sie mir ein bißchen leid tat.

Ihr Leben in meinen Sinnen dampfte zu einem zweistündigen Film zusammen:

„Die Frau an seiner Seite“

Das ganze Leben hatte sie im Windschatten eines großen Dirigenten verbracht. Hauptsächlich bestand es aus Warten. Warten, warten, warten…. Nun ist sie alt geworden – die Ziellinie unmittelbar vor Augen. War´s das jetzt??

"Ich halt mich da raus", sagte sie geistlos.

Das war das eine.

Das andere war, daß der Christoph-Otto, der doch eigentlich Cellist von Beruf ist, nach der Probe so selbstverständlich und hinzu ganz bezaubernd auf der Geige spielte, nachdem er zuvor kunstvoll einen Kontrabass bezupft hatte.

"Das muß er aber noch üben", sagte die Wiltrud in ihrer unvorteilhaften Dachfrisur spröd.

In der Fußgängerzone lief eine Gruppe mittelalterlicher Gaukler des Weges.

Einer der Gaukler lief auf Stelzen die mit langen Hosenbeinen überhüllt waren, und sah somit aus wie der längste Mann, den man jemals gesehen hat, so daß man daheim nicht müde werden möge zu erzählen, man habe den längsten, oder zumindest langbeinigsten Mann seines Lebens gesehen!

Die stringenten Bürger drumherum liefen aber einfach so weiter, als sei gar nichts.

Am Ende der Fußgängerzone begegnete ich dem sonnengebräunten Rehlein, und Rehlein in ihrem feschen roten Netztop wirkte wie ein einziges Energiebündel! Wie ein Flummibällchen, das Kraft und Lust hätte, bis zum Mond empor und wieder zurück zu fliegen.

Ich erzählte von der Wiltrud: „Hoffentlich wirst du net auch amal so!“ sagte ich wie die Löffler Irmi im Film „Man spricht deutsh“ auf bayrisch.

Ich be-ulkte* Rehlein damit, daß ich soeben aus der Tierhandlung käme, wo ich mir einen gelehrigen und bunten Papageien bestellt habe.

Die Lieferzeit beträge vier Wochen.

*Wie soll man das nun schreiben? Schrübe man „beulken“, so sieht´s befremdlich aus. Schreibt man jedoch „be-ulken“ so sieht es aus, als habe man bei der Korrektur geschlampt

Samstag, 3. August

Grau. Nachmittags ein großer Regen

Am Flügel stehend beplapperte ich Ming, wie schon so oft darüber, daß das Leben nur eine Generalprobe sei.

Doch dies bemerke man erst hinterher:

So manch einer von uns ist dazu verdammt, in der Hülle eines unerbittlich vor sich hingilbenden Menschen, bestülpt mit einem passenden und doch leicht beamtlich klingenden Namen – „Karlheinz“ beispielsweise - 70 - 80 Jahre, bestehend aus kleinen und größeren Verdrüssen abzuleben, und plötzlich klatscht der Regisseur in die Hände und ruft:

"Klappe! Mittagspause!"

Die Probe in Emden zog sich ganz lange hin und strengte mich entsetzlich an.

Der Ulrich - im Banne des großen „ottO“ (Waalkes) - schien sehr gestreßt und brachte überall Kürzungen an, und ich bin´s doch so gewöhnt, nicht hinzuhören, bzw. erst dann zu bemerken, nicht hingehört zu haben, wenn´s zu spät ist.

Zuweilen polterte der Gestresste bedrohlich auf.

"Weiterspielen!" donnerte er beispielsweise in die zögerliche Musikantengruppe hinein, und die Theresa hinter mir, die Ungerechtigkeiten nicht vertragen kann, schwenkte auf „Angriff“ über:

"Weiterdirigieren!" rief sie zänkisch und returkutschelnd, und dennoch klang ihre Stimme aus dem Tuttitroge dünn dabei.

Buz hatte im Auto so lustig über den Ulrich gesagt: "Er macht jetzt einen auf "alternder Maestro"!"

Mittags in einer Emder Pizzeria:

Wir saßen im Freien. In unserem Nacken das Ehepaar Ulrich und Wiltrud W.

Doch man spürt so gar keinen gesteigerten Drang (mehr), sich zu den Eheleuten zu gesellen.

Über die Wiltrud hatte ich alle möglichen Leute bereits anpsychologisiert:

Sie habe sich ganz und gar auf den Schatten ihres Mannes reduziert:

"Wir zwei gegen den Rest der Welt!" scheint sie dem Rest der Welt bedeuten zu wollen.

Rehlein neben mir nannte mich oftmals "Schätzchen!" und ich liebte Rehlein unglaublich für diese wohltuende Freundlichkeit.

In der Konzertpause am Abend frug ich die hübsche Ariane keck, ob sie nicht bei uns bleiben könne? Ming suche noch eine Frau.

Ming hatte ich die Ariane bereits vor einigen Tagen empfohlen: Eine bezaubernde Frau mit einem sehr künstlerisch geschwungenen weichen Po, den man als Ehemann betätscheln darf, wenn immer einem danach zumute ist, ohne daß dies brüskiert.

Doch die Ariane meint, sie sei keine gute Frau für Ming, der etwas Besseres verdient habe.

"Aber du wärst zumindest eine gute Schwägerin für mich!" sagte ich warm.

Sonntag, 4. August

Stickig, schwül und sonnig. Vereinzelte Wolken unterschiedlichen Kolorits

Ich träumte, daß ich auf dem Heimweg von der Musikschule an der Fahrschule Reck vorbeikam - dort, wo sich Buz im wahren Leben demnächst zeigen sollte, da sich für ihn neun Punkte in Flensburg angesammelt haben.

Der Dame am Tresen, einer Russin, erzählte ich, daß mein Papi neun Punkte in Flensburg habe. Da lachte sie, und trug seinen Namen gleich in einen Stundenplan ein.

"Halt!" rief ich aus, "ich will mich doch nur erkundigen, wie so ein Seminar abläuft und wieviel es kostet!"

Ich erfuhr, daß es über einen Zeitraum von fünf Jahren laufe, und somit SEHR teuer würde. Eine Summe, die man gar nicht nennen möchte, so erschütternd hoch wäre sie.

Mit diesem neuen Wissen erhob ich mich.

Matinée in Emden:

Der Peter hatte einen kuriosen, schelmisch formulierten Aufsatz über sein Capriccio verfasst, und hoffte so sehr, der ottO könne ihn vorlesen.

Dies hätte den Peter soooo gefreut!!

Darin war von Ohrwürmern und dem rettenden Blatt Papier die Rede. Ein Triebkomponist!

Doch der ottO lehnte dies Ansinnen einfach ab.

Schad fand ich, daß der ottO die gleichen Scherze, die er letztes Jahr über Prokofieff riss, diesmal über Brahms gemacht hat.

Zum Schluß sang er noch den Hit "Yesterday" mit Streichquartett, so daß das Lied hernach als Ohrwurm in meinem Ohr weiterhaften blieb und alle Gedanken aufsaugte. Alles was ich dachte wurde in diese Melodie gepresst.

Ich dachte beispielsweise an Petras bevorstehenden Geburtstag:

"Gestern noch! War die Petra noch ein junges Ding! Heute ist sie eine reife Frau o-hooo-ho-ho-hohooooooooooo!"

Das Abschlußkonzert wird stets zwiefach geboten: Vormittags um elf, und abends um 20 Uhr.

Und somit blieben ein paar Stunden, um uns für das anspruchsvolle Abendpublikum ein paar Verbesserungen auszudenken:

Buz war unfroh über den Peter, und seine weitausschwingende Art des Dirigierens, durch die das Orchester automatisch alles im Fortissimo gespielt habe. Und außerdem hatte das Podest mit dem Flügel unter der weitausholenden Stabführung so sehr gewackelt, und mit ihm der Flügel, so daß man um das teure Instrument bangen mußte.

Zudem wäre Buz heut beinah von einer Leiter erschlagen worden, so daß dieses Kapitel in unserem Leben ebenso beinah jäh beendet worden wäre. Das kam so: Die hohe Leiter im Foyer kam ins Wanken und krachte zu Boden. Doch auf Buz selber war nur der Zwischenraum zwischen den Leitersprossen herabgedonnert, und so blieb Buz gottlob unverletzt.

Montag, 5. August

Nieselig und trübe. Manchmal regnete es prasselnd

Nachmittags bei uns daheim:

Als Buzens treuester Jünger, der Taiwanese „Franz“, der Veronika eine Tasse Tee einschenken wollte, wunk die Veronika mit einer geradezu unwirsch zu nennenden Geste ab, so daß es direkt ein wenig unhöflich gewirkt haben mag. Doch der schüchternen Veronika ging´s ja nur darum, uns nichts wegzutrinken, und außerdem mußte sie sich schon bald auf den Zug sputen. Wir waren traurig, denn so manch einen Gast lässt man nicht so gerne ziehen.

Zum Schluß zog die Veronika eine weiße Bioschokolade hervor und sagte jene Worte auf, die sie sich beim Kauf womöglich bereits zurechtgelegt hat?:

"Damit ihr nicht so traurig seid, wenn ich weg bin!"

Doch kann eine Schokoladentafel über die Lücke hinwegtrösten die ein liebgewonnener Mensch hinterlässt?

So wurde im Flur erstmal hilflos an der Veronika herumverabschiedet.

„Bleibe! Hier sind wir Dir nah!“ nutzten wir eine Phrase aus einem Gedicht, das der Opa Buzen im Jahre 1968 zu dessen 30. Geburtstag gedichtet hat.

Damals wie heute war der junge Buz voller Pläne

und stand mal wieder kurz vor der Auswanderung:

„Was willst Du in Kanada?

Bleibe! Hier ist sie* Dir nah!“

(Nur ein winziger Ausschnitt aus einem wunderschönen langen Gedicht.)

*Schwiemu Mobbl war gemeint

Wir erfuhren, daß die Veronika heuer nicht in die Ferien reist, sondern bloß nach Pforzheim fährt, um ihre in die Jahre kommende Mutti zu entlasten.

(Seit gestern 78 Jahre alt.)

"Ich dachte, du bleibst noch ein bißchen hier, um uns im Haushalt zu entlasten?" sagte ich keck, denn Mutti H. mag auf dem Papier alt sein - doch als ich sie gestern zum Geburtstag anrief, meinte sie, sie fühle sich noch gut 10 - 20 Jahre jünger und irgendwelche nennenswerten Alterserscheinungen seien - toitoitoi! - bislang nicht zu beklagen.

Sie fährt noch mit dem Auto herum und hat Freude am Leben.

Selbst ihr schlagbefallener lieber Mann macht im Grunde kaum Arbeit, da er sich noch selber ankleiden kann, und sich zudem große Mühe gibt, keine Last zu werden.

Bis auf leichte Wortfindungsstörungen merkt man ihm nicht wirklich etwas an.

Bald darauf war unser Haus ganz voll, so daß die Lücke, die die Veronika hinterlassen hat scheinbar, wenn auch etwas gewaltsam zugequetscht wurde. Aber niemand kann uns die Veronika ersetzen.

Ununterbrochen wurde Tee aufgesetzt…

Der Gärtner Christoph G. regte an, daß die drei Ostler, die bei ihm residiert haben (Nataša, Miladin und Maxim)←(letzterer jener Cellist, von dem zu Buchbeginn die Rede war) doch wohl mal ein Hauskonzert bei uns geben könnten?

Dazu sollten wir ein paar millionenschwere Kulturmäzene einladen. Vielleicht springt ein Stipendium für die jungen Leute dabei heraus, weil sie sonst nämlich putzen gehen müssten?!

Der Franz aber fand diese Idee nicht gut. Er und seine Frau Silvia hatten damals auch putzen gehen müssen, als man sich zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn in Stuttgart niedergelassen hatte.

"Und das schadete gar nichts!" sagte er resolut in einwandfreiem Deutsch.

Das Haus war voll, und dennoch fühlte ich mich einsam. Ein Gefühl das mich zuweilen in Großstädten zu packen pflegt, bewehte mich nun in meinem eigenen Heim, und so rief ich die einsame Frau Kettler an, um ihr lustvoll zu erzählen, daß auch ich einsam sei.

Frau Kettler lachte. Sie sei grad auf dem Sprung in die Kirche.

"Leider!" fügte sie nett hinzu, da sie viel lieber mit mir telefoniert hätte. Aber sie habe versprochen, die Orgel zu schlagen, undhernach sprach ich mit Ming darüber, wie es wohl sei, wenn man zu allen alten Freunden so allmählich den Draht verlöre?

Ich stellte uns Telefonate mit den Damen aus meinem ehemaligen Streichquartett vor. Fast allen kommt mein Anruf ganz ungelegen: „S´isch grad ganz ungelegen!“ sagen sie, so daß man sich fragen muß, warum sie dann den Hörer abgehoben haben? Haben sie einen bedeutsameren Anruf erwartet?

Oder sie sagen: "Kika, ich lebe jetzt mein Leben, und das füllt mich vollkommen aus. Dir möchte ich von Herzen alles Gute für deinen weiteren Lebensweg wünschen.“

Besuch bei Baumfalks in der Graf-Ulrich-Straße.

An einem langen Tisch saßen sämtliche Verwandte, und die große zwischenmenschliche Wärme mit der wir empfangen und willkommengeheißen wurden wirkte wohltuend wie ein warmes Wannenbad. Ein geborgtes Wohlempfinden, bis man wieder in die kalte Nacht entlassen würde.

Fast alle, bis auf den chinesischen Schwiegersohn "Läp" (einen schlaksigen und jünglingshaften Herrn aus Hongkong) und Omi Inges Bruder "Friedhelm" begrüßten wir mit Küssen und Umarmungen.

Die Insa hatte ihre kleine Familie mitgebracht, und auch den mittlerweile einjährigen Jakob lernte ich endlich kennen und küsste gleich auf seine heißen Wangen ein, auch wenn er doch gar nicht weiß, wer ich sein soll? Und hatte einst der junge Ming nicht stets einen Graus davor verspürt, wenn ihm das böse Uschilein auf ihre gierige, unersättliche und besitzergreifende Art verwandtschaftsbedingt ein bis zwei Wangenküsse abnötigte?

Abends feierten wir in Petras Geburtstag hinein.

Als wir ankamen hieß es: "In 13 Minuten wird sie 31, höhö!“ „Besser wär´s jedoch in 31 Minuten 13 zu werden!" rief ein Scherzkeks aus der Runde heraus.

Ja, dies wäre zweifellos besser, auch wenn es um die in 18 Jahren angesammelte geistige Reife schad wäre, aber man kann und will es einfach nicht fassen, daß das Alter so erbarmungslos auch nach jüngeren Leuten greift.

Doch jetzt war erst einmal Frohsinn angesagt, und man wollte sich seinen frischen Mut vorerst nicht nehmen lassen.

„Ist man dereinst 50, so gäbe man gewiss ein Königreich dafür, nochmals 31 zu sein!“ sagte ich.

Als die Uhr sodann Mitternacht schlug, machte Petras Freund Tobias, der wie alle Tage bloß stumm dasaß, keinerlei Anstalten aufzuhüpfen, um sich als Gratulant vorzudrängeln, da er sich durch seine gewöhnungsbedürftige Mundart von der schwäbischen Alb in Ostfriesland verlegen und deplaziert fühlt.

Nett wäre natürlich gewesen, er hätte gesagt: „Ich frage dich hier vor Zeugen: Willsch du meine Frau werdö?"

Nachtrag 2021: Mittlerweile verheiratet

Dienstag, 6. August

Sonnendurchglühtes diesiges Wolkenwetter

Am Morgen fiel mir die Auferstehung von den Toten wieder so schwer. Ade, Früherhebungstag!

Im Bett verlor ich mich in Fantasien darüber, wie es wohl gewesen wäre, wenn sich meine Spur gestern im düstren Hagebuttenweg für immer verloren hätte?

Pastor Rübel, der mich zu später Stund noch in den Hagebuttenweg gefahren hatte würde aussagen, daß ich - erfreut, daß noch Licht brannte - auf ein Haus zueilte, während er stringent nach Hause fuhr, wo er von seiner Hannelore seit Stunden sehnsüchtig erwartet wurde.

D.h. die Sehnsucht hatte sich bereits in Raserei gewandelt, wie eine Beule auf seinem Haupt zeigte.

Dann steckte Buz mitten in diese Überlegungen hinein den Kopf zur Tür herein um zu verkünden, daß ich in zehn Minuten zur Vertragsunterschreibung in der „Landschaft“ erwartet würde, da der Sekretär „Dirk“ dringend weg müsse.

Ich duckte mich noch ein wenig unter meiner Bettdecke vor dieser im Grunde wenig lustvollen Tätigkeit, fand dort aber keinen Frieden mehr.

In der „Landschaft“ stand der telefonierende Dirk kurz vor´m Explodieren.

Er saß neben dem PC, auf dem sein eigener Namenszug - DIRK LOBBEN – in kunstvoll zusammengebastelten dreidimensionalen Buchstaben herumtänzelte. Am anderen Ende der Leitung befand sich Pfarrer Rübel, und das läppische Altherrengeschwätz ging dem Dirk so auf die Nerven!

„Der Hermann macht mich wahnsinnig!“ schnaubte er und klatschte übellaunig den Hörer auf.

Die Kontonummer, welche ich mir so mühsam gemerkt hatte, war mir durch diesen unschönen Zwischenfall nun doch ein bißchen aus dem Kopf hinweggerieselt, so daß ich von Zweifeln geplagt wurde, als ich sie so sorgsam niederschrieb, als könne die Sorgsamkeit der Schrift die Zweifel vertreiben.

Ming und ich besuchten den Franz, der allsommerlich bei Buzens väterlichem Freund Herrn Schüt zu logieren pflegt, und der süße Buz wollte gleich nachkommen.

Der Franz, Buzens treuester Jünger – man möchte beinah sagen sein heiliger Petrus, würde heut zusammen mit einer Horde bezaubernder junger Taiwanesen, die Buz und uns allen sehr ans Herz gewachsen sind, die lange Rückreise nach Taiwan antreten.

"Fritz-Werner!"

Der greise Herr Schüt, der aus der Küche trat, glaubte seinen Ältesten zu erkennen, und sprach den Namen zärtlich gewellt und freudig gerührt aus.

Doch es war ja "bloß" Ming.

Ich fand´s lustig, daß Herr Schüt seinen Sohn mit dessen Doppelnamen anzusprechen pflegt.

Auf dem Tisch in der Stube hatte Herr Schüt patiencenartig allerlei Fotos zurechtgelegt:

Alte Feldfotos, liebliche Fotos seiner jüngst verstorbenen Frau Grete, die noch immer allgegenwärtig in den Räumen schwebt, Erinnerungen an den lieben Gast Franz vom vergangenen Jahr…

Das Wohnzimmer füllte sich mit Zuverabschiedenden.

Buz hatte eine neue Geige vom Dr. Su bekommen, welche er jetzt übermütig - nackt und bloß, ohne den hinzugehörigen Violinkasten - über die Straße trug.

Tänzelnd und stolz zupfte Buz ein paar klangvolle Stellen, und eine Seniorin lachte darüber, weil es ja ein Anblick ist, den man nicht alle Tage zu sehen bekommt.

Darüber vergaß Buz fast, daß er sich auf der Straße befand, und Autos um ihn herum brandeten.

Rehlein hätte entsetzt aufgekrischen, doch nach all den Jahren darf konstatiert werden, daß nur etwa jede zehnte Aufkreischung Rehleins von Nöten gewesen wäre, da die meisten brenzligen Situationen dank unserer Schutzengel glimpflich ablaufen.

Eine Sorge peinigt mich z. Zt. wirklich sehr:

Daß ich gar nichts mehr zustande bringe.

Ständig wird man abgelenkt, und die Zeit rinnt unerbittlich. Ich hatte doch noch so viel vor im Leben und möchte z.B. schöne lange Brief schreiben, die wirklich etwas aussagen und für die Ewigkeit gedacht sind.

Nur etwas tröstete mich, wie ich Ming nun in der Küche erzählte:

Daß Ignaz Bubis, der Zentralrat der Juden, kurz vor seinem Tode gesagt habe:

"Ich habe nichts, aber auch gar nichts bewirkt!" (Der also auch)

Abends trugen wir Rehleins köstlichen Kokosgugelhupf zu Petras Gastmutti Ingrid T., um dort weiter an Petras Geburtstag herumzufeiern, der noch immer nicht vorbei war.

Der Tisch in der schönen Wohnung war so liebevoll gedeckt, und da die Ingrid selber erst vor wenigen Tagen Geburtstag gefeiert hatte, konnte man auch noch ihren Geburtstagstisch bestaunen. Jemand hatte ihr ein Buch mit dem Titel "Eine bemerkenswerte Frau" geschenkt, um sie darüber hinwegzutrösten, daß sie schon 55 Jahre alt ist. Ein Alter das – um Hannelore Kohl zu zitieren – „dem Leben seinen Platz eingeräumt hat“.