Die Kühe, mein Neffe und ich - Uta Ruge - E-Book

Die Kühe, mein Neffe und ich E-Book

Uta Ruge

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kühe auf den Weiden, das ist ein in uns allen tief verwurzeltes Bild. Aber wie ist es, mit ihnen aufzuwachsen, zu leben und zu arbeiten? Davon erzählt Uta Ruge kenntnisreich, persönlich und mit historischer Tiefenschärfe. Kühe waren klug, Kühe trugen Namen. Für das kleine Mädchen waren sie die interessantesten Tiere auf dem Hof, auf dem ihr Neffe heute noch Milchwirtschaft mit 140 Kühen betreibt. Wie war es damals, in den 1950er-, 1960er-Jahren, und wie ist es heute? Und wie hat alles angefangen vor Urzeiten, als die Menschen die ersten Rinder domestizierten, mit ihnen wanderten und schließlich mit ihrer Hilfe sesshaft wurden und Ackerbau betrieben? Uta Ruge erzählt vom täglichen Umgang mit den Kühen, vom Füttern, Melken, von Besamungen und Geburten. Sie erzählt von der Nähe, die durch die Arbeit entsteht, und davon, wie man gleichzeitig die gebotene Distanz zu den Tieren erlernt. Sie hat die Historie der Beziehungen zwischen Menschen und diesen großen Tieren recherchiert, wie sie sich in Höhlenmalerei, Artefakten und religiöser Überlieferung zeigt. Und sie ist über die Dörfer gefahren und berichtet, wie der ökonomische Zwang zur großen Menge und die neuen Regularien die Existenz kleinerer Höfe bedroht. Wie fatal die Entfremdung von unseren Lebensgrundlagen ist, macht dieses hervorragend recherchierte und großartig erzählte Buch deutlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 287

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



UTA RUGE

DIE KÜHE, MEIN NEFFE UND ICH

Mit großen Tieren aufwachsen, leben und arbeiten

Verlag Antje Kunstmann

für Fenja

Die Menschen lernten etwas über die Natur, wenn sie in der Erde gruben, Samen ausstreuten und Pflanzen ernteten … Sie lernten Natur kennen, wenn sie Holz und Stein bearbeiteten, mit Tieren lebten, sie aufzogen und schlachteten … Sie haben gezogen, getragen und Entfernungen überwunden, sie haben die Kraft von Tieren, von Wasser und Wind genutzt … Was sie von der Natur wussten, haben sie als körperliches Wissen erworben.

Richard White

RINDER nennt man nach der Geburt Kuh- oder Bullenkälber, als weibliche Halbwüchsige dann Färsen, Sterken oder Kalbinnen, nach dem Kalben sind sie Kühe. Männliche Rinder werden Bullen, Stiere oder, nach der Kastration, Ochsen genannt.

Nach der ersten Kalbung geben Kühe das erste Mal Milch. Um das nächste Kalb zu bekommen und weiterhin Milch zu geben, muss die Kuh entweder künstlich besamt werden, heute die Regel, oder der Bulle springt auf und begattet sie mit dem sogenannten Natursprung. Beides geschieht etwa drei Monate nach dem Kalben. Vor der nächsten Kalbung stehen Kühe etwa sechs Wochen trocken, d. h., sie werden nicht gemolken.

Ochsen werden bis heute in Afrika und Asien – früher auch in Europa – vor allem als Zugtiere genutzt. Sie sind ebenso stark wie Bullen oder Stiere, aber wesentlich ruhiger und lenkbarer als sie. Von Laien und auch in den Medien werden alle Rinder oft Kühe genannt, ebenso heißen Rinder in alten Texten oft Ochsen, auch wenn sie keine kastrierten Bullen oder Stiere sind.

INHALT

TEIL I

1. Aufwachsen mit der Herde

2. Erste Kühe und erste Menschen

3. Auf dem Hof meines Bruders im Frühling

4. Höhlenmalerei, Sesshaftigkeit und Ackerbau

5. Ein Roboter rutscht aus und eine Kuh hat sich quergelegt

6. Zu Hause ist, wo die Tiere sind

7. Rinderherden in der Sahara und die erste Melkerin

8. Unser Vieh und die Ungeduld der neuen Zeit

9. Kuhgöttinnen, Gilgamesch und hornlose Kühe

TEIL II

10. Meine Reise über die Dörfer

In den Norden

In den Süden

In den Osten

11. Zu Besuch in einer der ältesten Tierkliniken der Welt

TEIL III

12. Die schönen Kühe des Zeus und das Goldene Kalb

13. Über Fürsorge und Gewalt

14. Was mit heiligen Kühen geschieht

15. Auf dem Hof meines Bruders im Herbst

16. Vom gehörnten Teufel zur kleinen weißen Kuh mit der Geige

17. Gedanken beim Altwerden als Bauer. Die Skepsis der Jungen.

Abends und morgens, jeden Tag, jedes Jahr

Literatur

TEIL I

1 AUFWACHSEN MIT DER HERDE

SPÄTER HERBSTNACHMITTAG. Der Himmel ist verdunkelt von niedrigen Wolken, es regnet.

Ungerührt gehe ich durch Regen und Nachmittag die Trift hoch, um die Kühe zum Melken zu holen. Sie grasen auf der am weitesten entfernten Weide hinter dem Kanal. Ich stiefele durch den Matsch des von großen Treckerrädern aufgewühlten Wegs. Über Kopf und Rücken hängt mir ein grober Jutesack, dessen Ecken sind ineinandergesteckt, eine Kapuze wie für einen Riesen. Ich bin noch klein, der Sack hängt mir bis in die nackten Kniekehlen. In die hinein stoßen bei jedem Schritt die Schäfte der dünnen schwarzen Gummistiefel, saugen sich klebrig an und lösen sich wieder.

Umhüllt von modrig süßsaurem Geruch aus Jute, Getreidestaub und Feuchtigkeit, spüre ich das Aufspritzen des Regens in den Pfützen, höre das Ein und Aus meines Atems und das gurgelnde, saugende Einsinken und wieder Herausziehen der Stiefel aus den tiefen, wassergefüllten Schlepperfurchen. Dann kürze ich den Weg ab, laufe quer über die umzäunten Weiden, klettere über Drähte und grätsche über Gräben, und plötzlich springt ein Hase vor mir auf, reißt mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart – und mitten hinein in ein rasend schlagendes Herz, umspannt von nassem Fell.

Mit einem Ruck stehe ich, starre dem flüchtenden Tier nach.

Dann setze ich mich wieder in Bewegung.

Lange blieb mir das Bild des im Sprung weit ausgestreckten Tieres auf der Netzhaut stehen. Es war noch da, als ich die vor dem Ausgang schon wartenden Kühe nach Hause trieb, im Stall die Ketten um ihre Hälse schloss, dicht an ihre großen, nassen Leiber gedrückt. Eingetaucht in den Geruch nach Kuh, Mist und Milch, half ich meinem Vater beim Melken. Das Bild des Hasen war noch da, als ich das Melkgeschirr säuberte und zum Abtrocknen auf die Haken an der Wand hängte, beim Umsetzen des Wasserkühlers, beim Tränken der Kälber. Es löste sich erst auf, als ich die Katze streichelte, die um meine Beine strich und auf ihrer Milch bestand, und als ich ihr Fell unter meiner Hand spürte.

Nichts an der Natur war heilig, alles war Arbeit, vor allem unsere Tiere. Breitbeinig im Mist stehend, hoben und schoben, drückten und zogen wir die kleinen und großen Tiere dorthin, wo sie stehen oder liegen sollten. Wir sprachen mit ihnen, schmeichelnd, aufmunternd, drohend. Wir legten die neugeborenen Ferkel mit ihren Schnäuzchen an das Gesäuge der Sau, schoben einen Finger in die Mäuler der Kälber und zogen ihre Köpfe nach unten in die Eimer, denn dort war die Milch zu finden, nicht oben, im instinktiv von ihnen gesuchten Euter der Kuh, deren Milch wir für uns und zum Verkauf beanspruchten. Wir drückten die Kühe, die wir am späten Nachmittag von der Weide zum Melken in den Stall geholt hatten, ein Stück näher an die vom Balken herab zum Boden führenden Ketten, um sie anzubinden. Als Kinder mussten wir unser ganzes Körpergewicht einsetzen, um die großen Tiere einen Schritt weiter zu bewegen, die mindestens zehn- oder zwanzigmal schwerer waren als wir. Und außerdem mit gleich vier Beinen ausschlagen oder ihre Füße mit scharf behornten Klauen auf unsere im Sommer oft nackten Kinderfüße stellen konnten. Mit Kraft und Vorsicht mussten wir unsere Schultern gegen ihre Schultern lehnen, um sie ein paar Zentimeter näher zur Kette zu bewegen. Und manchmal hielt eine Kuh dagegen.

Wir stießen uns an ihnen – und sie sich an uns. Wenn sie uns widerstanden oder sogar gegen uns ausschlugen, dann schlugen wir oft zurück, obwohl wir das nicht sollten. Und weil es auch nichts half, nur Ruhe und Geduld halfen.

Mal rissen wir uns bei der Arbeit mit ihnen die Haut an einem Holzbalken auf, an dem wir uns hatten festhalten wollen, oder spritzten uns mit klebriger Milch voll, wenn die Kälber ungeduldig gegen die Eimer stießen, quetschten uns Hand oder Fuß in einer zu schnell zuschlagenden Stalltür oder rutschten im Mistgang aus, zerrten uns einen Muskel und humpelten weiter. Wir mühten uns alltäglich mit Schwere und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte, hielten das Brennen von Mückenstichen und Brennnesseln aus, das dumpfe Bohren in einem gequetschten Daumen – und vergaßen den Schmerz bei der Arbeit. Wir kannten die Gerüche der verschiedenen Tiere und auch den ihres Dungs, konnten Pferde- und Rindermist unterscheiden und natürlich auch den von Schweinen, Hühnern und Enten. Beim Ausmisten der Ställe mischte sich in ihren Geruch unser eigener Schweißgeruch und begleitete die in Armen, Beinen und Rücken brennende Anstrengung vom Stoßen, Schieben und Heben, Aufladen und Abwerfen.

Das war unser Erleben von Natur, unser Lernen von ihr und über sie, es war das Verrichten einer Arbeit, die nie fertig wurde und jeden Morgen von Neuem begann.

Dazu kam die Stille. Unsere Stille.

Natürlich machten die Tiere Geräusche, gnurschten beim Fressen, pupsten und blubberten beim Misten, und die Ketten klirrten, wenn sich das Vieh legte oder aufstand. Wir nahmen es kaum wahr, gingen durch diese Fülle aus Geräuschen und Gerüchen hindurch, umwoben von den Klängen der Stöße gegen Stein oder Holz, hart oder hohl, ein Plumpsen, Brummen und Stöhnen, ein Klacken, Knacken und Knistern. Jeder Ton sagte uns, wo im Raum wir und das Vieh gerade waren, in welcher Phase der Arbeit. Und zu den Gerüchen und Klängen gehörte auch die Melkmaschine, das Knattern und Heulen ihres Motors, sie roch nach altem Öl, und das schönste Geräusch war, wenn man den roten Knopf nach dem Ausmelken der letzten Kuh endlich wieder eindrücken und die Maschine ausschalten konnte. Das war ein Ausatmen des ganzen Stalles.

Durch dieses Klang- und Geruchsbad bewegten wir uns ganz selbstverständlich, hatten und brauchten keine Worte dafür. Im Umgang mit den Dingen und dem Vieh stellten wir den Lärm und die Gerüche selbst mit her, gehörten dazu, waren Teil davon.

Unsere Stille war keine Totenstille, kein andachtsvolles Schweigen. Es war eine lebendige, feine Musik, die wir beständig mit allem anderen zusammen gleichzeitig komponierten und erzeugten. Die Rhythmen und Melodien stellten sich her aus unserem Wollen und Tun, aus dem, wie wir von den Tieren erschmeichelten, dass sie uns gaben, was wir von ihnen wollten. Im Sommer war unsere Arbeit in helle, leichte Töne gebettet. Durch weit geöffnete Türen hörten wir im Hof draußen vielleicht noch jemanden sprechen oder einen Hund bellen. Die Schwalben flogen in den Stall herein, wurden von fordernd piepsenden Küken im Nest erwartet, zwitscherten einander zu. Im Winter klang alles gedämpft, die Türen waren gegen die Kälte geschlossen, Heu und Stroh lagen auf der Diele und auf dem Heuboden über den Tieren, ihre Masse saugte die hohen und leisen Töne auf, schwächte sie ab, das Klirren der Ketten, das Knistern des Strohs, das Brummen und Rülpsen der Tiere und auch die Schritte der Menschen. Die Gerüche – von Kühen und Mist, ihrer Milch und ihrem Futter – übertönten die Geräusche.

Die Bäume, die den Hof umstanden, boten sommers wie winters eine schützende Umgrenzung, sie rauschten im Wind, aus ihnen tönten Vogelrufe. Wenn sich Wildtiere im späten Herbst und Winter den Höfen näherten, stimmten die Fasane in das Rufen ebenso ein wie unsere Hühner, der Hahn und die benachbarten Enten. In dieses Nebeneinander der häuslichen Tiere, ihrer Körper und Bewegungen, und der frei um den Hof herum lebenden, der Igel, Hasen, Vögel und am Rande der Felder auch der Wildschweine und Rehe, mischte sich unsere eigene Körperlichkeit – mit Atem, Herzschlag und Bewegung. Unsere Stille bestand in den nahezu wortlosen Abläufen gemeinsamer Arbeit.

Mit ihren Tieren vergrößern die Menschen den Raum um sich. Sie schaffen einen Hof durch Ställe und Scheunen, ziehen Zäune um Weiden, sie halten die Tiere bei sich, markieren sie als Eigentum, schützen andere vor ihrem Tritt, Biss und Mist.

Wo immer Menschen sich niedergelassen haben, tauchen bald auch ihre Tiere auf, mindestens Katzen und Hunde, meist Schafe, Ziegen und oft, wenn auch nicht immer, Schweine, dazu Rinder und Pferde, Hühner, Enten, Gänse und Truthühner. Tiere haben immer schon die Fantasie der Menschen angeregt. Noch vor der Domestizierung schnitten, gravierten und ritzten frühe Menschen die Umrisse und Leiber der sie umgebenden Tierwelt in Höhlen- und Felswände, zeichneten und malten Bären und Wildkatzen, Rentiere und Mammuts, wilde Pferde und die urwüchsigen großen Wildrinder, Wisente und Auerochsen. Und schon die frühen Homines sapientes schmückten die Dinge ihres alltäglichen Bedarfs, ihre Gefäße, Geräte und Höhlenwände mit den Leibern, Köpfen, Klauen, Hörnern und Flügeln großer und kleiner Tiere. Sie stellten sich vor, Verwandte von Tieren zu sein, wie noch heute einige indigene Kulturen in Südamerika. Sie stellten sich ihre Götter und Göttinnen als Tiere vor, als Menschen mit den Attributen von Tieren, mit Hörnern, Flügeln und Klauen, so wie sie sich selbst auf der Jagd als Wild verkleideten. Sie kreierten Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, als Wächter ihrer Paläste und bedeckten die steinernen Leiber über und über mit Schriftzeichen.

In all dem lag, so glaube ich, gleichermaßen Angst und Ehrfurcht gegenüber der wilden und der gezähmten Welt. Und neben einem gewissen Stolz auf die Unterwerfung der Tiere drückt sich darin auch, behaupte ich, eine Dankbarkeit aus – für die Hilfe, die man von den Tieren bekam.

Wann begann das alles? Irgendwann half der Hund mit seiner Wachsamkeit, Katzen halfen mit ihrem Hunger auf Mäuse. Irgendwann haben Menschen verstanden, dass Schafe und Ziegen, Rinder und Pferde, Kamele und Lamas mit ihrem Mist die Äcker düngen und dass er gemischt mit Lehm und Stroh zum Hausbau dienen konnte ebenso wie in getrockneter Form als Heizmaterial. Dass manche von ihnen gezähmt und geritten werden konnten, dass sie Lasten trugen und zogen, dass man Ziegen und Schafen die Wolle, den Kamelstuten und Kühen Milch abnehmen und sich die Milch mit Lämmern, Fohlen und Kälbern teilen konnte, und dass sich die Hühner ein paar Eier aus dem Nest nehmen ließen, die man dann der eigenen Nahrung zusetzte. Nicht zuletzt aus dieser Nutzung erwuchs die ungeheure Masse von Menschen auf der Erde – und daraus folgend eine immer weiter wachsende Menge von Tieren, die uns ernähren.

Das ist bekannt – und es wird, so scheint es, wegen der immer deutlicher werdenden Übernutzung des Planeten durch uns und unsere Tiere zunehmend bedauert und bereut. Dieses Bedauern formulierte der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond in einem Aufsatz 1987 besonders radikal, in dem er die Erfindung der Landwirtschaft als den schlimmsten Fehler der Menschheit bezeichnete. Könnte es in einer Gegenbewegung zur Nutzung der Tiere tatsächlich so weit kommen, dass die Viehhaltung, mindestens in Europa, zu Ende geht? Und was würde damit verschwinden – auch in uns und unserem Denken über uns selbst?

Wie fühlte und wie fühlt es sich an, so direkt und nahe mit Tieren zu leben, als Kind mit ihnen aufzuwachsen, mit den aus Nähe und Gemeinsamkeit stammenden Gerüchen und Geräuschen, dem deutlichen Gespür für Borsten, Fell und Federn in der Hand? Und wie ist es, im ganzen Körper ein Gefühl zu haben für die Räume, die man sich teilt mit kleinen und großen Zwei- und Vierbeinern? Wie bestimmt es das eigene Sein, die Wahrnehmung von sich selbst, wenn Tiere neben uns hüpfen, flattern, rennen, sich gegenseitig schubsen, begatten, bedrängen und fressen? Wie und wodurch haben wir gelernt und geschafft, die Tiere so nüchtern zu lieben, dass wir für sie sorgen konnten und sie dann weggeben, sogar schlachten, wenn es nötig war?

Auf welche Weise löste sich am Ende die kindliche Identifikation mit den Tieren auf? Sodass wir begriffen, dass sie Tiere und dass wir Menschen sind.

Und dass Tiere und Menschen sich zwar ähneln, aber doch nicht dasselbe sind.

Es war nur ein kurzer Weg. Und dann doch auch ein sehr langer.

Immer wieder bin ich als Erwachsene und inzwischen in der Stadt lebend ausgerechnet in Museen auf Erinnerungen gestoßen, die einem Kinderleben mit Tieren geschuldet sind. Einmal stand ich in Brüssel vor einem kleinen Gemälde, es heißt »Das Mädchen mit dem toten Vogel« – und es traf mich tief. Es stammt wohl aus dem 18. Jahrhundert, der Maler ist nicht bekannt. Ein kleines Mädchen steht vor einem schwarzen Hintergrund, ein bleiches Kind mit allzu roten Backen und tieftraurigen Augen. Ein blassblaues Tuch hält ihm das Haar aus dem Gesicht, das Blüschen ist mit hellen Schnüren über der Kinderbrust gehalten, dazu ein heller Rock, auf dem sich die Kinderhände treffen im festen Griff um den toten Vogel. Das braun gefiederte Vogeljunge ist frisch geschlüpft, man sieht es an dem gelb geränderten Schnabel, Signalfarbe für die fütternden Eltern. Es liegt schlaff im Griff des Kindes, sein Bauch zeigt nach oben, der Kopf hängt rücklings dem Betrachter entgegen, das Kind schaut still aus dem Bild. Enttäuscht? Vorwurfsvoll? Schuldbewusst?

Jemand, der es zu wissen scheint, sagt neben mir zu seiner Begleiterin: »Es ist ein Erinnerungsbild an ein gestorbenes Kind. Der Vogel vertritt den Tod des Kindes.«

Aber ich denke trotzdem, dass das Kind den Vogel getötet hat.

Die Schuld des Kindes ist meine.

Es war an einem Sonntagnachmittag im späten Frühjahr. Die alte Ente saß auf ihren Eiern und ich war der Meinung, dass sie schon zu lange brütete. Ob sie auf unbefruchteten Eiern saß, die unter ihr nun langsam verfaulten? Oder wiesen einige Eier etwa schon Spuren davon auf, dass die Küken ausschlüpfen wollten? Hatten sie mit den kleinen Schnabelhöckern, die sich später fast spurlos zurückbilden würden, schon die Eierschale von innen angeritzt? Ich wusste noch nicht, wie lange es dauern kann vom ersten Anritzen der Eierschale bis zum vollständigen Ausschlüpfen eines Kükens. Die nötige Geduld hatte ich noch nicht gelernt. Vielmehr stand ich irgendwann an diesem Nachmittag mit solch einem Ei in der Hand an dem Ausgussbecken in der Küche. Ich hatte abgewartet, bis die brütende Ente einen Moment ihr Nest verließ und sorgsam mit dem Schnabel das Gemisch aus Daunen und Stroh über die Eier zog, wärmendes Material, das nicht nur das Nest im Inneren polsterte, sondern es auch reichhaltig umgab. Ein wenig gestunken hatte es da, und zwar nicht nach den Schweinen, die nebenan zufrieden in ihren Koben grunzten, sondern vergoren und faulig.

Langsam pulte ich die Eierschale ab, unter ihr war noch die zähe weiße Haut, die das Ei innen auskleidet. Das Küken wollte ich herausholen, ihm helfen, sah mich gewissermaßen als Hebamme dieses rätselhaften Vorgangs, des Schlüpfens. Aber was ich dann vorfand und was in meinen Händen blieb, war ein trauriges, von einer Sekunde zur anderen lebloser werdendes, nasses Küken, das an seinem Hintern einen dicken, gelb-blutigen Sack trug, den Dottersack. Den in sich hineinzuziehen hatte es durch meinen Eingriff nicht mehr die nötige Zeit gehabt. So starb es, bevor es gelebt hatte.

Beschämt hielt ich das tote Küken in den Händen, und ich weiß nicht einmal, ob ich es der unbesorgt weiter brütenden Ente wieder untergesteckt habe, vielleicht in der Hoffnung, dass es durch die Wärme zurück ins Leben käme. Falls ich es getan habe, wird die Ente es bald umstandslos aus dem Nest befördert haben.

»Ich habe Lust, Fleisch zu essen«, schreibt Moyshe Segal aus dem belarussischen Witebsk 1922 über den kleinen Jungen, der er einmal war. Da hatte er seinem Großvater beim Schlachten einer Kuh zugesehen. Aber vor der Lust auf Fleisch und vor dem Schlachten war er zu dem Tier in den Stall gegangen.

»Ich strecke die Arme aus, um ihr Maul zu streicheln und ihr ein paar Worte zuzuflüstern, dass sie ruhig sein soll, dass ich kein Fleisch essen werde; was sollte ich weiter tun? – Sie hört, wie der Roggen wogt, und hinter der Hecke sieht sie den blauen Himmel.«

Als er das schrieb, nannte sich Moyshe Segal seit zwei Jahren schon Marc Chagall und lebte in Paris. Er hat in dieser Zeit ein sehr großes Bild gemalt, über zwei Meter breit und einen knappen Meter hoch. Ein Viehhändler sitzt in der Mitte des Bildes auf dem Kutschbock seines Wagens, auf riesigen gelben Rädern rollt er über den Halbkreis des Horizonts. Auf dem Wagen liegt eine blaue Ziege. Der Händler hat eine Peitsche in der Hand, aber er dreht sich um zu einer Frau, die hinter seinem Wagen hergeht und ein Kalb auf den Schultern trägt. Auch die Frau blickt zurück, als wäre da in der Vergangenheit etwas, das mehr Aufmerksamkeit verlangte als der Weg, den ihre Füße gehen, dem Wagen des Viehhändlers nach. Das Kalb auf ihren Schultern sieht aus ängstlichen Augen nach vorn, wie auch die ruhige, großäugige Stute. Sie zieht den Wagen des Händlers vielleicht schon viele Jahre lang. In ihrem Bauch liegt ein Fohlen, alle viere nach oben gestreckt, ein ungeborenes Fohlen in einem durchsichtigen Pferdebauch. Der Kutscher aber tritt der Stute gegen den Schenkel, sein Stiefel zielt, verlängert man die Kraftlinie des Beines, auf den Kopf des Ungeborenen.

Chagalls ländliche Szene ist gegen einen schwarz-blauen Hintergrund gesetzt und ich frage mich, ob diese ewige Nacht, in der Händler, Pferd, Wagen und Frau auf dem bunt gemusterten Erdenrund gehen und fahren, den frühesten Morgen bedeutet, den dunklen Tagesanbruch, den all jene erleben, deren Arbeit früher am Morgen beginnt als die der anderen, die mit sauberen Händen und weißen Kragen ihr Geld verdienen.

In die Schwärze des Bildes hat der Maler noch ein paar andere Gestalten gesetzt, etwa die Köpfe eines Paares im Vordergrund, eine ältere Frau mit Kopftuch, die den jungen Mann neben sich, ihr uniformiertes Söhnchen, denkt man, deutlich ausschimpft. Vielleicht kann sie sich aus dem Aufruhr ihrer Gefühle heraus nicht anders helfen gegenüber dem Jungchen, das gerade frisch zum Militär auszieht – ein Kalb zum Schlachter. Und wem gehört das seltsame Auge, das ohne einen erkennbar dazugehörigen Körper von Tier oder Mensch im Astwerk eines Bäumchens schwebt? Vielleicht ist es das Auge des Betrachters, das immer etwas anderes sieht, je nachdem, zu wem es gehört.

Ich bewundere die Wahrheit, die im Nebeneinander von fröhlichen Farben und dem Schwarz des Alls, in der Angst des Kalbes auf den Schultern der Frau und dem ruhigen Vorwärtsgehen der Stute liegt. In dieser sanften Pflichterfüllung der trächtigen Stute und dem groben Tritt des Viehhändlers, dem Gehen in die eine Richtung und dem Blick in die andere. Es ist dieses melancholische Wissen über die Ambivalenz des Menschen, wie sie Chagall auch in seiner Erinnerung ausdrückt, als er vor dem Schlachten der Kuh versprach, ihr Fleisch nicht zu essen, und der seiner Lust auf Fleisch nachgibt, nachdem sie geschlachtet war.

Die Schwärze des Morgens, wie sie Chagall in seinem Viehhändler-Bild zeigt, lässt mich auch an den persischen Mystiker Rumi aus dem 13. Jahrhundert denken. Er schrieb einmal: »Die Brise im Morgengrauen hat Geheimnisse zu verraten, geh nicht zurück ins Bett.« Ich frage mich, ob Rumi wusste, was schon vor dem Morgengrauen los ist in Stadt und Land bei allen, die heben und tragen, schieben und schrauben und putzen, die Stein auf Stein setzen, säen und ernten, Kohle aus dem Berg und Fische aus dem See holen, die Wasser heranschaffen, Feuer anzünden, melken und das Vieh füttern, bevor sie die Kinder anziehen und ihre Nahrung zubereiten.

Oder er hat sie sogar gemeint, und dass sie alle ihr Geheimnis tragen in der Stille und Tragik ihres Tuns.

Kälber kommen mit den Füßen zuerst in die Welt. Wenn sie richtig liegen, sind es die Vorderbeine, auf denen der Kopf liegt, manchmal hängt ihnen eine blaue Zunge weit aus dem Hals. Gelb schimmert das Horn ihrer weichen Klauen, die gerade eben noch von Fruchtwasser umgeben waren. Manchmal liegt ihnen die feuchte, weißrot-blau schimmernde Haut der Fruchtblase, in der das Tier bisher gewachsen ist, eng am Kopf, manchmal platzt die Fruchtblase erst spät und das Kalb schluckt viel Wasser. Das Kalb kann, wie ein Menschenkind, falsch herum in den Geburtsvorgang eingetreten sein. Wenn es dann rückwärts herausgedrängt wird, die Hinterbeine zuerst zu sehen sind, ist die Gefahr seines Ertrinkens im Fruchtwasser groß und erfahrene Bäuerinnen und Bauern werden in ihren Handreichungen eiliger, damit die Geburt schleunigst zum Ende kommt. So oder so waren es wohl das Stöhnen und Keuchen, das hohe Muhen und tiefe Brummen der gebärenden Tiere, vielleicht auch das Blut, weshalb uns die Eltern anfangs aus dem Stall scheuchten, wenn es ernsthaft losging mit dem Kalben.

Paarung, Geburt und Tod – das erlebten wir zuerst bei den Tieren, lernten es fürs Leben. Und lernten auch die Wörter dafür. Ich erinnere mich, dass ich schon lesen konnte und mich täglich ausprobierte beim Zeitungslesen, als ich auf das Wort »schwanger« stieß und meine Mutter fragte, was »schwanger« ist. Das ist, wenn eine Frau ein Kind erwartet, hörte ich.

Wir waren in der Küche, das Geschirr war gespült, das Zeitunglesen füllte die Mittagsträgheit nach dem Essen. Ich hob den Blick und sah durch das Fenster, wie die alte Katze über den Hof zum Schweinestall lief. Sie hatte einen sehr dicken, hängenden Bauch und wir wussten, dass sie schon nach dem Ort suchte, wo sie ihre Jungen werfen und die blinden Kätzchen verstecken würde.

»Also ist die Katze schwanger?«, fragte ich.

Meine Mutter lachte. Ja – und nein. Gleich lernte ich, dass wir es bei den Tieren anders nannten, nämlich »trächtig« und »tragend«. Mir gefielen diese Wörter, denn die Schwere des Tragens, diese Zusätzlichkeit des Gewichts sah man ja auch der Katze an, die etwas weniger flink und elegant als sonst jetzt im Schweinestall verschwand.

Wie viele Monate oder Wochen Katzen tragen, wie lange es bei Kühen, Hunden, Pferden oder Schweinen dauert, wie lange Enten, Hühner und Gänse brütend auf den Eiern sitzen – diese Fragen schlossen sich an. Die Antworten merkte ich mir, oder vergaß sie auch gleich wieder. Immer behielt ich, wenn es hieß, »genauso lange wie bei den Menschen« – das war nämlich bei den Rindern der Fall, eine Kuh trug neun Monate. Und dann kalbte sie, während Katze und Hund warfen, das Pferd fohlte, die Sau ferkelte oder warf. Die Hühner- und Entenküken wurden nicht geworfen, nicht aus weiblichen Tierleibern hervorgebracht, sondern sie schlüpften, so hieß das Wort hier, von alleine aus dem Ei. Sie hackten von innen die Eierschale durch und befreiten sich so von der Hülle, in der sie gereift waren.

Auch bei den Pflanzen gab es das Säen und Reifen, die Keimung nach der Aussaat und Berührung mit der feuchten Erde, dann den Aufwuchs. Das konnten schon wir Kinder verfolgen, Blühen und Reifen, schließlich die Ernte, das Abschneiden und Einfahren und Lagern für den Winter von Obst, Heu und Getreide. Und das Ausgraben von Kartoffeln und Rüben aus der Schwärze des Bodens.

Reifungsvorgänge, Arbeitsvorgänge.

Vor dem Schlüpfen, Werfen, Fohlen und Kalben kam die Paarung. Auch das war alltäglich gesehen und gewusst. Ob ich einmal ausdrücklich danach gefragt habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war da schon beim Beobachten oder bei zotigen Bemerkungen in der Nachbarschaft gleich eine Verlegenheit mitgeliefert worden, eine Beklemmung, die entstand aus dem, was als Gewaltakt auf männlicher Seite, als Ertragen auf weiblicher wahrgenommen wurde. Wieso eigentlich wurden Hahn und Bulle zu Symbolbildern männlicher Kraft und Potenz und wieso blieben auf der weiblichen Seite nur das dumme Huhn, die dumme Kuh und die dumme Gans übrig? Eigentlich doch erstaunlich – diese Verächtlichkeit gegenüber dem Hervorbringen, Gebären, der grundlegenden Produktivität.

Unsere Beziehung zu den Tieren war eine der kindlichen Identifikation – aber von Anfang an war sie ambivalent. Wir waren das Tier, und doch waren wir ja auch der Mensch, der mit ihm arbeitete. Wir wurden weder angebunden, noch stand uns für die Zukunft das Melken bevor – und das Schlachten erst recht nicht. Gleichzeitig senkte sich im Zusammenleben mit ihnen auch das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit tief in uns ein.

So war es ein Spiel, wenn ich Gefangenschaft und Abhängigkeit ausprobierte, mich einsperrte, mir die Kuhkette um den Hals legte, die Trift hochtrottete und mich als Vierbeiner dachte, über Gräben grätschte und wie ein Pferd über eigens dafür hingelegte Äste sprang, Reiter und Pferd in einem. Ich wühlte mit der Hand in der Erde und stellte mir vor, ich hätte statt der Hand einen Rüssel, oder bewegte auch meinen Kopf in hektischem Picken zu Boden.

So war ich Kuh, Pferd oder Schwein, sogar zu einem Huhn wurde ich, obwohl ich Hühner nicht mochte. Mir missfiel ihr Gerenne im Zickzack mit vorgestrecktem Kopf und Schnabel, dass sie aussahen wie ein Pfeil, der aufs Ziel zufliegt – und der zu meinem Ärger kurz vorm Ziel abbog, wenn ich sie abends in den Stall treiben wollte. Da liefen sie zwar vor mir weg, was sie ja auch sollten, nämlich Richtung Stall. Aber dann schlüpften sie nicht etwa durch das Hühnerloch in den Stall hinein, sondern brachen kurz zuvor seitlich aus, als wären sie blind und sähen den Eingang nicht, und alles fing von vorne an. Natürlich versuchen fast alle Tiere, die man treiben will, dieses seitliche Ausbrechen oder sogar Umdrehen und Zurücklaufen. Selbst große Kühe – und alle Kühe waren für mich als Kind sehr groß – drehten sich, in die Enge getrieben, geschickt auf dem Absatz um und rannten wieder in die Gegenrichtung. Aber den Kühen nahm ich es nicht übel, und die meisten ließen sich ja auch treiben. Hühner dagegen waren genauso kopflos, wie man es ihnen nachsagte. Dass es mein ungeduldiges Treiben war, das sie ängstigte, machte ich mir natürlich nicht klar. Wenn es dunkel wurde, würden sie von selbst den Stall aufsuchen, dort zu den Sitzstangen auffliegen und sich im Schlaf aneinanderruckeln, ihre Lider würden sich in der Dunkelheit und Wärme des Stalles bald von oben und unten gleichzeitig weiß über die Augen schieben, ihre Krallen sich fest um die Stangen schließen und sie im Schlaf aufrecht halten. Und manchmal mochte ich ihre Sturheit ja auch, mit der sie etwa auf ihren Nestern sitzen blieben, wenn ich ihnen die Eier einzeln unter dem warmen Bauch herauspflückte, und wie sie sich dann nur ein ganz kleines bisschen anhoben und den Kopf neigten, um mit einem Auge den Feind, diese Kinderhand, zu betrachten, ungläubig und tantenhaft empört.

Wenn ich nun fand, sie sollten früher im Stall sein, als ihre eigene Natur sie nötigte, dann setzte ich mein Bedürfnis gegen ihres. Ich wollte endlich ins Haus gehen und die dreckigen Klamotten ausziehen, mich waschen und umziehen können und auch nicht später noch einmal zum Verschließen des Hühnerlochs rausgehen müssen. Womöglich würde ich es vergessen, und womöglich wären in genau dieser Nacht ein Fuchs oder ein Marder gekommen und hätten im Hühnerstall ein blutiges Schlachtfeld hinterlassen.

Meine Haltung war eine Mischung aus Verantwortung für die Tiere und ein Unwille, sich von ihnen vollständig den Ablauf des Tages oder Abends diktieren zu lassen. Mit anderen Worten: Ich wollte etwas beschleunigen, was sich nicht beschleunigen ließ. Wenn wir morgens zum Schulbus gingen, der gegen halb sieben durchs Dorf fuhr, wurde im Kuhstall längst gemolken, und natürlich waren auch die Hühner – wenn es hell war zu dieser Uhr- und Jahreszeit – schon draußen und scharrten eifrig in der Erde. Gerne ließ ich sie morgens auf dem Weg zur Schule hinter mir.

Auch die Schweine, die wir ein paar Jahre lang noch hielten, waren mir nicht so sympathisch. Ich mochte weder ihren Geruch noch den ohrenbetäubenden Lärm, mit dem sie auf die allmorgendlichen und allabendlichen Geräusche reagierten, die das Füttern ankündigten, auf das Türenklappen, die bestiefelten Füße, Menschenstimmen. Von jetzt auf gleich fingen sie an zu schreien und drängten zum Trog, waren außer sich. Sie kamen mir ein bisschen dumm vor in ihrer Gier, der sie offenbar völlig ausgeliefert waren. Die kleinen Ferkel fand ich lustig, wie sie da im Stroh umhersprangen und sich gegenseitig erschreckten und dabei totzulachen schienen, weil ihre vom Nasenrüssel aus weit nach rechts und links zu den Ohren gezogenen Mäuler bewirkten, dass ihr Gesichtsausdruck einem Lachen ähnelte. Einmal hatte ich versucht, die kleinen Ferkel dazu abzurichten, wie Pferde über kleine Hindernisstöckchen zu springen. Ich hatte meine Stöckchen in gewissen Abständen und in sich langsam steigernder Höhe in einem Tunnelgang angebracht, durch den die Ferkel, nicht aber die Sau, nach draußen gelangen konnten. Anfangs hüpften die Ferkel auch richtig über die Stöckchen. Sobald sie ihnen aber zu hoch lagen, schlüpften sie lieber untendurch. Und anstatt mich an ihrer Schlauheit zu freuen, brach ich meinen Versuch ab, enttäuscht über so wenig Ehrgeiz.

Kühe dagegen waren etwas vollkommen anderes.

Die damals noch selbstverständlichen Hornträgerinnen waren nicht nur groß und imposant. Mit ihren schwarz-weiß und sehr individuell gescheckten Fellen trugen sie ein exzentrisches Kleid, wie als Lob des überflüssig Schönen. Während sie in mal eiligem, mal trödeligem Schritt vor einem hergingen – je nachdem, wie man sie antrieb –, nickten sie im Gehen mit den Köpfen wie zur Bestätigung ihrer Existenz und ihre Euter schaukelten mit jedem ihrer Schritte hin und her. Sie boten früheste Anschauung von Überlegenheit und Würde, aber auch von Demut und Hingabe bis zur Lächerlichkeit. Ihr Dasein war wie eine Anleitung zu Widerstand und Resignation zugleich.

Deshalb also legte ich mir auch einmal die Kette um, stand wie eine Kuh im Stall, als die Herde tagsüber auf der Weide war, legte mich hin wie sie, auch wenn meine zwei Beine merkwürdig mangelhaft waren gegenüber ihren vieren, die sie in feinsinniger Choreografie so unter sich anzuordnen wussten, dass im Akt des Hinlegens ihr Kopf durch die Kette nicht zu einem Platz gerissen wurde, an dem sie dann nicht liegen bleiben konnten und gleich wieder aufstehen müssten.

Kühe waren klug.

Und Kühe trugen Namen.

Wenn bei Bella oder Julchen oder Gerda eine Geburt bevorstand, durften wir zwar Bescheid sagen, »wenn die Füße rausgucken«. Sobald aber die Presswehen einsetzten, hieß es: »Raus aus dem Stall, ihr habt hier nichts verloren.«

Es war aufregend, wenn eine Kuh kalbte. Einmal wurde ich mit dem Fahrrad zum Kaufmann ins Nachbardorf geschickt, weil keine Kälberstricke mehr da waren. Ich trampelte heftig in die Pedale. Natürlich sollten die Stricke so schnell wie möglich zur Verfügung stehen, aber vor allem wollte ich auch nichts verpassen. Als ich zurückkam, wurden Schlaufen aus diesen dünnen kurzen Stricken um die glitschigen dünnen Fesseln des Kalbes gelegt, weil die Hände unseres Vaters oder unserer Mutter, die mit ruhigem, starkem Zug der kalbenden Kuh helfen wollten, beim Ziehen sonst abrutschen würden.

Viele Kühe kalbten auch ohne Hilfe, aber wir lernten, dass man trotzdem die Kuh im Auge behalten muss, immer wieder hingehen und prüfen, wie weit sie ist und ob alles so abläuft, wie es ablaufen sollte. Wie beim Menschen kommt auch bei den Kühen alles Mögliche vor, was nicht im Lehrbuch steht.

Als kleine Kinder betraten wir den Kuhstall während einer Geburt mit Scheu. Das Kalben der Kühe, ihr Ausgeliefertsein an die Wellen, die durch ihre großen Körper gingen, besaß den ganzen Schrecken, den das Unabwendbare hat. Es dauerte ein paar Jahre, bis wir selbst mithelfen durften, das Kalb aus der Kuh herauszuziehen. Nur in den seltensten Fällen wurde zur Geburt einmal der Tierarzt geholt, und der musste manchmal mit einem Kaiserschnitt Kuh und Kalb retten. »Ein Eimer warmes Wasser und Seife«, hieß es dann, und einer von uns rannte ins Haus, um es aufgeregt von der Mutter in der Küche zu erbitten. Manchmal sah man schon an den Füßen des Kalbes, dass es für die kleine Kuh einfach zu groß war, ein Besamungsfehler, der eigentlich nicht vorkommen durfte.

Das Schönste am Kalben war für uns, wenn wir das neugeborene Kalb, das klatschnass und erstaunlich groß im Stroh vor uns lag, trocken reiben durften. Während es heute auf dem Hof einen Tag bei der Kuh bleibt, wurde es damals noch gleich in den Kälberstall gebracht und dort angebunden – mit dem dünnen Strick, der ihm geholfen hatte, auf die Welt zu kommen. Der Griff ins Maul und in die Nasenlöcher befreite es vom Schleim, und mit kräftigen Strohwischen rubbelten wir Rücken und Kopf, Beine und Bauch des Kalbes trocken, ersetzten die raue Zunge der Kuh.

2 ERSTE KÜHE UND ERSTE MENSCHEN

WANN FING ES AN MIT DER DOMESTIZIERUNG der Rinder? Und wie soll das vor sich gegangen sein: Rinder zähmen? Wie kann man sich in diese Fremde, die unsere Vergangenheit ist, hineindenken?