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Einen Borderlinebetroffenen zu verstehen ist ein Ding der Unmöglichkeit?! Ja, das kann sein. Das komplizierte, häufig ambivalente und fast sekündlich wechselnde Gefühls- und Gedankenleben eines Borderlinebetroffenen komplett lückenlos zu verstehen, ist für Nicht-Betroffene vermutlich wirklich unmöglich. Doch das heißt nicht, dass man deshalb gleich aufgeben sollte und stattdessen lieber weiterhin auf seine Vorurteile gegenüber der Diagnose beharren darf. Denn auch wenn etwas unverständlich erscheint, so kann man dennoch versuchen, es wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen. In diesem Buch wird anhand verschiedener bildlicher Vergleiche, Metaphern und anschaulicher Beschreibungen das Gedanken- und Gefühlsleben eines Borderlinebetroffenen auch für Borderline-unerfahrene-Personen verständlich gemacht. Auf einer „Traumreise“ lernt der eigentlich gefühlskalte und sehr vorurteilsbehaftete Steffan den kleinen Bordi kennen, der ihn mit auf eine Reise durch seine chaotische, kunterbunte, schwarz-weiße Welt nimmt. Denn hinter dem paradox wirkenden Verhalten des Bordis verstecken sich meistens ganz logische Denkansätze und einfache Erklärungen. Was im ersten Moment wie ein Kinderbuch klingt, ist in Wirklichkeit ein tiefgründiges Buch, das versucht, Vorurteile abzubauen, Berührungsängste zu lindern und für mehr Akzeptanz sorgen will. Das einzige, was an diesem Buch „kinderleicht“ ist, sind die Erklärungen. Fachwörter oder komplizierte Vergleiche werden Sie in diesem Buch nicht finden. Denn mein Ziel ist es, keine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, sondern einen Einblick in meine Welt zu geben. In die schwarz-weiße, kunterbunte Welt eines Borderlinebetroffenen. Sind Sie dazu bereit mitzukommen? Haben Sie Lust auf ein Abenteuer, das zum Nachdenken anregt, eventuell Ihre Sichtweise auf die Welt verändert? Besitzen Sie den Mut, hinter Fassaden zu schauen? Vielleicht auch hinter ihre eigene? Dann sind Sie auf dieser Traumreise genau richtig!
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Die Kunst, ein Stachelschwein zu umarmen
Aus der schwarz-weiß-bunten Welt einer Borderlinebetroffenen
Manchmal träumt man, manchmal wird aus Träumen Realität, manchmal kann man sich an seine Träume erinnern, manchmal vergisst man sie direkt wieder nach dem Aufwachen, manchmal beeinflussen uns unsere Träume, manchmal machen sie uns Angst, manchmal schenken sie uns Hoffnung …
Was wird wohl dieses Buch aus dir machen?
Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig. Original Ausgabe erschienen im Juni 2018 bei Merlins Bookshop.
Copyright © Merlins Bookshop
Korrektorat & Lektorat: Klarissa Klein & Merlins Bookshop
Verlag: Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach
Alle Rechte liegen bei Merlins Bookshop, Inh. Dietmar Noss, Waldstr. 22, 65626 Birlenbach
Coverfoto/Fotograf: Dirk Ludwig - www.dirk-ludwig.de Model: Anna Lena Engel Gestaltung: Merlins Bookshop
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Alles fängt mit einem Traum an
3. Achterbahn der Gefühle
4. Ein Meer von Emotionen
5. Drahtseilakt
6. Ein Leben voller Berge und Täler
7. Komplizierte Beziehungen
8. Die Kunst, ein Stachelschwein zu umarmen
9. Selbstverletzendes Verhalten
10. Wer bin ich?
11. Nicht verstanden werden
12. Die Vergangenheit prägt jeden Menschen
13. Schutzmauer
14. Sich öffnen
15. Wie gelähmt
16. Das Gefühl, alles falsch zu machen
17. Alleine unter vielen
18. Mein Leben kam ohne Bedienungsanleitung
19. Ein echter Kämpfer
20. Alles wirkt sinnlos…
21. Verzweiflung: ein altbekanntes Gefühl
22. Verständnis
23. Therapie
24. Ein Irrgarten mit wilden Kreaturen?!
25. Vertauschte Rollen
26. Ratlos
27. Alles platt walzen!
28. Es kommt immer anders, als man denkt …
29. Bombenentschärfung
30. Das panische Pferd
31. Seine Gedanken und Gefühle bändigen
32. Die stärksten Waffen, die ein Mensch besitzen kann
33. Nach jeder Nacht kommt auch wieder ein Morgen
34. Sprechende Gedanken
35. Aufklärung ist alles
36. Fremdenführer
37. Abschied
Leseprobe Zersplitterte Seele Kapitel 1
Leseprobe Zersplitterte Seele Kapitel 2
1. Einleitung
Hallo, mein Name ist Stefan und ich bin der Ich-Erzähler dieser Geschichte.
Eigentlich würde ich mich persönlich als ganz normal – eben durchschnittlich – bezeichnen. Mir ist noch nie etwas großartig Besonderes passiert. Ich wurde in einem kleinen Kaff als Einzelkind geboren, bin dort zur Schule gegangen, habe mit achtzehn mein Abitur gemacht und arbeite jetzt als Informatiker in einem der zahlreichen Großraumbüros in unserem Land. Ich bin weder in der Schule sitzen geblieben, noch habe ich irgendwelche Vorstrafen oder mir sonst etwas zuschulden kommen lassen. Selbst meine Eltern leben noch zusammen. Also kurz gesagt: Mein Leben ist stinklangweilig und das „Aufregendste“, was ich bis gestern erlebt habe, war nach meinem Schulabschluss der Auszug von zu Hause in eine mir unbekannte Großstadt, um zu studieren. Allerdings ist das ja auch nichts wirklich Besonderes…
Doch der Grund, weshalb ich das Buch schreibe, ist ein ganz anderer. Meine Geschichte handelt nämlich nicht von der Zeit von meiner Geburt bis jetzt, sondern lediglich von einem einzigen Erlebnis, das ich hatte. Dieses Erlebnis war gestern. Um genau zu sein: gestern Nacht.
Dieses Ereignis hat mein ansonsten so langweiliges und stinknormales Leben vollkommen verändert. Seit dieser „Begegnung“ ist nichts mehr so wie vorher. Mir scheint es fast so, als wäre ich seitdem ein anderer Mensch und mit „anderen“ Augen durchs Leben gehen würde. Aber jetzt erst einmal der Reihe nach von Anfang an, damit ihr versteht, was ich meine.
2. Alles fängt mit einem Traum an
Gestern Abend konnte ich nicht einschlafen. Über eine Stunde wälzte ich mich ununterbrochen von der einen auf die andere Seite. Doch egal, was ich machte, meine Augen wollten einfach nicht zufallen. Körperlich war ich zwar nach dem anstrengenden Büroalltag total erschöpft, doch die Gedanken in meinem Kopf waren noch so fit, dass sie selbst nach 23 Uhr noch Party feierten …
Gegen 23.30 Uhr überkam mich aber dann schließlich doch die Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. In diesem unruhigen Schlaf hatte ich dann irgendwann in der Nacht einen äußerst seltsamen Traum:
In meinem Traum schlenderte ich eine holprige Straße entlang. Es dämmerte bereits und die Straßenlaternen warfen ein zaghaftes Licht auf den Gehweg. Ich kannte die Umgebung nicht, in der ich mich befand, aber dennoch schien ich genau zu wissen, wohin ich gehen musste. Ich wurde wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt.
Nachdem ich eine Weile die Straße entlangspaziert war, sah ich in der Ferne eine merkwürdige, zwergenhafte Gestalt zusammengekauert am Boden sitzen. Ihre Kleidung war stark zerrissen und schmutzig, sodass sie eher an Lumpen als an Kleidung erinnerte und ihr Gesicht hatte sie tief in ihren Händen vergraben. Sie schien zu weinen. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, dass ihr gesamter Körper vor Traurigkeit bebte.
Langsam und mit einem leicht unbehaglichen Gefühl in der Magengegend ging ich auf die Person zu. Als ich näherkam, konnte ich erkennen, dass ihre Arme von tiefen Narben übersät waren. Manche Verletzungen schienen bereits etwas älter zu sein, andere hingegen wirkten noch ziemlich frisch, so als ob sie erst wenige Tage oder Stunden alt wären.
Zögerlich ging ich noch weiter auf die merkwürdige Gestalt zu, bis ich direkt neben ihr stand. Vorsichtig beugte ich mich zu ihr hinunter und sprach sie an: „Was hast du? Warum sitzt du hier im Dunkeln auf der kalten Straße und weinst?“
In meinem Kopf herrschte höchste Alarmbereitschaft. Mein Verstand schrie mich an, dass ich schnellstmöglich meine Beine in die Hand nehmen und fliehen sollte, denn irgendwas an dieser Situation war mir ganz und gar nicht geheuer, doch mein Gefühl, sagte mir, dass die Person am Boden Hilfe benötigte. Ich konnte nicht einfach so an ihr vorbei gehen und sie unbeachtet am Boden liegen lassen. Das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren! So ein Unmensch war ich dann doch nicht.
Langsam und fast schon verängstigt hob die Gestalt am Boden ihren Kopf und blickte mich aus ihren großen, verweinten Augen an. Sie schluchzte und an ihrer Körperhaltung konnte ich erkennen, dass sie mir nicht traute. Sie wirkte völlig verängstigt. Trotzdem brachte sie nach einigen hektischen Atemzügen ein paar Sätze heraus. „Ich bin so traurig“, sagte sie, „ständig verletzen mich irgendwelche Menschen und fügen mir tiefe Wunden zu. Die meisten dieser Verletzungen heilen nur sehr langsam und es bleiben jedes Mal hässliche Narben zurück.“
Traurig zeigte sie mir ihre verwundeten Arme. Teilweise sahen die Verletzungen echt heftig aus. Die Person musste höllische Schmerzen ausgehalten haben. Verständnisvoll blickte ich sie an: „Das tut mir leid. Warum machen die Menschen so etwas mit dir?“
„Weil sie mich nicht verstehen“, schluchzte die Gestalt. Immer mehr und mehr Tränen rollten über ihre Wangen. „Sie verstehen nicht, wie ich denke, wie ich fühle und dadurch auch nicht, dass ich mich manchmal anders verhalte als sie. Sie können mit dem Begriff „Borderline“ nichts anfangen oder haben falsche Vorstellungen davon. Doch, anstatt nachzufragen, was mit mir los ist, werde ich als verrückt oder geisteskrank hingestellt, bekomme Vorurteile zu hören und werde in eine Schublade gesteckt oder ausgegrenzt! Das macht mich traurig, tut weh und verletzt mich jedes Mal aufs Neue. Ich mag vielleicht anders sein als „normale Menschen“, aber trotzdem bin ich doch in erster Linie immer noch Mensch! Auch ich bestehe aus Fleisch und Blut und habe ein Herz und Gefühle.“
Die Stimme der Person klang sehr traurig und verzweifelt und ihre Worte machten auch mich traurig. Denn ich musste mir eingestehen, dass ich ebenfalls zu den Menschen gehörte, die mit dem Wort „Borderline“ nicht allzu viel anfangen konnten und andere Menschen gerne mal als verrückt abstempelte, weil sie anders waren, als meine Vorstellung es zuließ. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – wollte ich der traurigen Person helfen. Meine anfängliche Angst und mein Misstrauen ihr gegenüber waren inzwischen komplett verschwunden. Sie tat mir nur noch leid und ich wollte ihr das geben, wonach sie sich offensichtlich gerade sehnte: Verständnis und Aufmerksamkeit. Doch dafür musste ich erst einmal herausfinden, wer oder was dieses Borderline war.
Ohne großartig nachzudenken, kniete ich mich neben sie auf den Boden, gab ihr ein Taschentuch in die Hand, mit dem sie ihre Tränen wegwischen konnte, und fragte sie: „Kannst du mir erklären, was Borderline ist, wie du dich fühlst und wie du denkst? Dann kann ich vielleicht versuchen, dich zu verstehen, und dir damit helfen.“
Diese paar Worte zauberten sofort ein Lächeln in das ansonsten so traurige Gesicht der Person, die wie ich jetzt wusste, ein „Bordi“ war.
Schnell wischte sich die Bordi die Tränen aus dem Gesicht und begann wie ein Wasserfall zu reden.
3. Achterbahn der Gefühle
Allein durch meine Ansage, dass ich ihr zusicherte, dass ich ihr zuhören wollte, schien es der Bordi um ein Vielfaches besser zu gehen und sie blühte innerhalb von Sekunden auf.
„O. k. Du willst wissen, wie ich mich fühle? Ich beschreibe es mal so: Ich kann lachen, weinen, vor Wut toben, glücklich sein und kurz danach verzweifeln, und dass innerhalb von nicht einmal einer Stunde!“, begann sie zu erzählen. „Es ist für mich nur sehr schwer, oft sogar unmöglich, meine Gefühle zu kontrollieren. Mein Gefühlsleben ist wie eine außer Kontrolle geratene Achterbahnfahrt. Ständig geht es hoch und genauso schnell wieder runter, zwischendurch gibt es scharfe Kurven, und ab und zu ist noch ein Looping dazwischen. Jedoch weiß ich nie, wohin mich die Gleise als Nächstes führen und was hinter der nächsten Kurve auf mich wartet. Die Route der Achterbahn ändert sich nämlich ununterbrochen. So etwas wie einen routinierten Rhythmus gibt es bei meinen Gefühlen nicht. Jeder Tag ist ein neues Überraschungspaket. Hinzu kommt, dass ich die Achterbahn sozusagen zusätzlich noch blind, mit verbundenen Augen, fahre. Es ist für mich unmöglich, vorherzusehen, in welche Richtung es geht oder wann die Gleise bergauf und wann bergab führen. Ich kann lediglich versuchen zu erahnen, was als Nächstes passieren könnte und anschließend probieren, die Geschwindigkeit der Achterbahn positiv zu beeinflussen.“
In Gedanken versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mit verbundenen Augen eine Achterbahnfahrt über mich ergehen lassen müsste. Ohne Frage war bereits das eine schwierige Vorstellung für mich. Denn – ganz ehrlich – wer fährt schon gerne Achterbahn mit verbundenen Augen, wenn man keine Ahnung hat, wohin es als Nächstes geht?
Allein die gedankliche Vorstellung löste schon ein unbehagliches Gefühl in mir aus. Keine Kontrolle darüber zu haben, was passiert und somit auf gewisse Weise machtlos ausgeliefert zu sein, war nie ein schönes Gefühl. Und wenn ich mir jetzt noch vorstellen müsste, diese „blinde Achterbahnfahrt“ täglich, 24 Stunden am Tag aushalten zu müssen, überstieg das eindeutig meine Vorstellungskraft! Ich glaube, da würde ich persönlich durchdrehen! Ich hatte schließlich schon das Gefühl, verrückt zu werden, wenn meine Stimmung einen Tag lang zwei- oder dreimal grundlos umschwenkte, doch im Vergleich zu dem, was die Bordi von ihren Gefühlen erzählte, schienen meine eher seltenen Gefühlsschwankungen noch harmlos zu sein, deshalb antwortete ich ihr: „Das klingt ziemlich kompliziert und extrem anstrengend!“
Sie seufzte: „Ja, das ist es, aber jeder Borderline-Betroffene kann – beziehungsweise muss – lernen, damit umzugehen. Etwas anderes bleibt einem nicht übrig. Schließlich wird man diese Gefühlsschwankungen als Borderliner so schnell nicht mehr los ...“
Sie schaute kurz betrübt auf den Boden, bevor sie mich wieder ansah, und weitererzählte: „Mit der Zeit habe ich aber gelernt, diese chaotische Achterbahnfahrt etwas abzuschwächen. Also so, dass die Höhen nicht mehr ganz so hoch und die Abstürze nicht mehr ganz so tief sind. Das macht es etwas erträglicher für mich. Des Weiteren habe ich es durch lange, harte Arbeit und viel Mühe geschafft, eine Art Bremse in meine Waggons einzubauen, die die schnelle Geschwindigkeit der Achterbahn drosselt. Diese Bremse gibt mir unter Umständen die Gelegenheit, bei einem möglichen Absturz eventuell noch rechtzeitig entgegenzuwirken und einen Frontal-Crash zu verhindern. Mir persönlich gelingt das nach einigen Jahren harter Arbeit an mir und meiner Gefühlswelt zum Beispiel inzwischen relativ zuverlässig.“
Ein stolzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Doch leider gibt es auch immer noch Tage in meinem Leben, an denen meine (Not-)Bremse defekt ist und die Wagen der Achterbahn wieder ungebremst die Strecke entlang brettern und ich keine Chance habe, darauf einzuwirken. Allgemein ist bei mir kein Tag wie der andere. Was ich in diesem Moment denke und fühle, kann im nächsten Moment schon ganz anders sein. Mal komme ich mit meinen Gefühlen gut klar und mal ist es die reinste Katastrophe. Diese Stimmungswechsel sind an manchen Tagen echt die Hölle und nur sehr schwer auszuhalten. Und damit meine ich nicht nur für die Leute in meiner Umgebung, sondern auch für mich. Häufig bekomme ich nämlich nur zu hören, dass ich anstrengend bin oder dass ich mich mal auf eine Stimmung festlegen soll, aber wie ich mich selbst in solchen Situationen fühle, daran denkt niemand. Alle bekommen lediglich mit, wie ich mich nach außen gebe, doch was alles in meinem Innern passiert, bleibt unerkannt. Dabei herrscht in meinem Kopf meist noch ein größeres Durcheinander, als ich nach außen hin widerspiegele.“
4. Ein Meer von Emotionen
„Da hast du recht“, bestätigte ich sie. „Das ist ein großes Problem in unserer heutigen Gesellschaft. Jeder denkt an sich, seine Gefühle und seine Empfindungen. Aber was das Gegenüber verspürt, ist vielen Menschen inzwischen leider egal.“
Noch während ich den letzten Satz aussprach, merkte ich, dass ich in meinem wahren Leben kein Stückchen besser war. Auch ich gehörte (leider) zu den Menschen, die erst einmal ihr Gegenüber zur Sau machten, bevor sie überhaupt einmal daran dachten, dass derjenige vielleicht einen Grund haben könnte, wieso er oder sie heute so schlecht gelaunt war, keine ausreichenden Leistungen erbrachte oder etwas Sonstiges verzapfte, was mir gerade nicht in den Kram passte. Doch bevor ich mir noch weitere Gedanken über mögliche Fehlhandlungen von mir machen konnte, sprang die Bordi hoch motiviert auf, nahm mich bei der Hand und sagte: „Komm, ich zeige dir etwas!“
Puh, das schien gerade noch mal gut gegangen zu sein. Sie hatte offensichtlich nicht gemerkt, dass sie mich mit ihrer Aussage zum Nachdenken gebracht hatte. Das war gut, denn ich hasste es, mir selbst Fehler einzugestehen! Bereits in der Schule und Ausbildung und später auch im Berufsleben hatte ich nämlich gelernt, dass, wenn man im Leben erfolgreich sein will – also so wie ich – man nie die Schuld bei sich suchen oder ein schlechtes Gewissen wegen irgendetwas haben darf. Aus diesem Grund waren es meiner Meinung nach immer die anderen Menschen, die Fehler machten und nie ich selbst.
Allgemein konnte man sagen, dass Gefühle, Empathie und Erfolg im Berufsleben so gut wie nie zusammenpassten. Wenn man wirklich erfolgreich sein wollte, musste man sich für eine Sache entscheiden. Und ich persönlich hatte mich von Anfang an für den Erfolg entschieden und Gefühle und Empathie für die Weicheier im Betrieb übrig gelassen. Wie zum Beispiel für die verheulte Sekretärin im Büro. Diese hohle Nuss fing wegen jeder Kleinigkeit an zu weinen und brachte nichts zustande. Weiter kam ich in meinen Gedanken jedoch nicht.
Kaum hatte sich ihre Hand um die meine geschlossen, färbte sich vor meinen Augen alles schwarz und ich hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Alles um mich herum begann sich zu drehen und ich schien von einer magischen Kraft immer tiefer und tiefer in ein endloses, schwarzes Nichts gezogen zu werden. Keine Ahnung, was da gerade um mich herum passierte, aber es war auf jeden Fall äußerst unheimlich und leicht angsteinflößend! Ich verlor jegliche Orientierung und durch die zunehmend schnelleren Drehungen wurde mir schnell übel.
Das Nächste, an das ich mich erinnern konnte, war der salzige Geruch von Meeresluft. Langsam und vorsichtig öffnete ich meine Augen und versuchte mich zu orientieren.
Leicht verwirrt musste ich feststellen, dass ich mich nicht mehr auf der Straße befand, auf der ich soeben noch mit der Bordi gemeinsam stand, sondern mitten in einem riesigen Watt!
Außer ihr und mir war weit und breit kein anderer Mensch zu sehen. Nicht einmal eine einzige Möwe kreiste am Horizont. Um uns herum herrschten nur endlose Leere und eine bedrückende Stille. Verdutzt über diesen merkwürdigen Ort schaute ich mir die trostlose Umgebung an. Soweit ich blicken konnte (und das war fast schon unendlich weit), konnte ich außer dem matschigen Boden des Watts und ein paar kleineren und größeren Pfützen hier und da nichts erkennen.
Ratlos fragte ich die Bordi: „Ich verstehe nicht ganz. Was willst du mir an diesem Ort zeigen? Außer uns zweien ist niemand hier, und auch ansonsten gibt es nichts Aufregendes zu sehen. Davon abgesehen: Wie sind wir überhaupt hierhergekommen?! Kurz nachdem du meine Hand berührt hast, ist mir schwindelig und schwarz vor Augen geworden und alles um mich herum hat sich gedreht.“
„Das ist meine Art, mit dir von einem Ort zum anderen zu reisen“, antwortete sie mir mit recht nüchterner Stimme. „Da das hier ein Traum ist, ist vieles möglich. Und ich mag diese Art zu reisen. Es geht schnell, ist unkompliziert und man kommt so gut wie immer dort an, wo man hinwill. Die Trefferquote liegt so gut wie bei 90 Prozent. Doch das ist gerade nebensächlich. Der eigentliche Grund, weshalb ich dich hierhergebracht habe, ist, dass ich dir diese endlose Weite zeigen möchte.“
Sie machte eine kurze Pause beim Sprechen und drehte sich einmal um die eigene Achse, so als ob sie nochmals verdeutlichen wollte, dass weit und breit tatsächlich nichts anderes als nasses Watt zu sehen war.
Nachdem sie ihre Drehung vollendet hatte und wieder mit Blickrichtung zu mir stand, fuhr sie fort: „An manchen Tagen sieht es in mir drinnen genauso aus wie gerade unsere Umgebung. Alles ist genauso leer, trostlos und ohne Leben. Es gibt nichts, woran ich mich erfreuen könnte oder was mir Halt verspricht – sondern nur unendliche Leere und erstickende Einsamkeit. Meine Gefühle sind dann wie tot. Alles Leben in mir ist verschwunden und ich fühle mich verloren in mir selbst.“
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend begutachtete ich die Leere um mich herum. Dieses weite Nichts und die dazugehörige Stille machten mich bereits nach diesen wenigen Minuten schon wahnsinnig! Wie ein Strick legte sich die Trostlosigkeit der Umgebung um meinen Brustkorb und zog sich zunehmend enger zu. Obwohl hier mehr als genug Luft zum Atmen war, hatte ich trotzdem das Gefühl zu ersticken. Es war verrückt, wie sich so ein leeres Umfeld so schnell auf mich, meine Psyche und meinen Körper auswirkte. Nie hätte ich gedacht, dass wortwörtlich Nichts meine Empfindungen und Gefühle so negativ beeinflussen konnte.
„Und plötzlich, wie aus dem Nichts, kommt die Flut zurück“, unterbrach die Bordi die unangenehmen Sekunden der völligen Stille, die mir wie Minuten vorkamen. „Ohne Vorwarnung scheinen dann hunderttausend Gefühle auf einmal auf mich einzustürzen und ich habe das Gefühl, dass ich in dieser gigantischen Flutwelle ertrinke. Innerhalb von Sekunden bin ich in einem tobenden Meer aus allen erdenklichen Gefühlen gefangen und muss um mein Überleben kämpfen.“
Panisch blickte ich mich in alle Richtungen um, um eine mögliche Flutwelle zu entdecken. Ich traute ihr nicht. Obwohl wir uns erst kennengelernt hatten, wusste ich bereits, dass ich in ihrer Gegenwart mit allem rechnen musste. Das Mädel war immer für eine Überraschung gut. Egal, ob positiv oder negativ.
Doch – glücklicherweise! – konnte ich keine Anzeichen einer Flutwelle erkennen, und auch meine neue Bekannte redete unbeirrt weiter, sodass ich davon ausgehen konnte, dass ich nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten von einer Flut überrascht werden würde.
„Dank der Diagnose Borderline ist mein Gefühlsleben wie eine Wattwanderung ohne Kompass, Karte und Uhr. Regelmäßig verirre ich mich in den unendlichen Weiten des Watts und verliere die Orientierung. Dadurch, dass ich keine Orientierungshilfen habe und alles gleich aussieht, finde ich nicht mehr den Weg an das sichere, belebte Festland zurück. So irre ich also Stunden, Tage oder manchmal auch Wochen in der leblosen Einsamkeit des verlorenen Meeres umher und versuche vergeblich, irgendwelches Leben und sicheren Boden zu finden. Dadurch, dass ich keine Uhr bei mir trage, verliere ich bei dieser Suche leider auch recht schnell mein Zeitgefühl. Schon bald habe ich keine Ahnung mehr, wie spät es ist und wann die gefährliche Flut kommt. Das heißt, im Klartext, dass ich neben der Leere und der Einsamkeit, die ich im Watt sowieso schon ertragen muss, zusätzlich noch immer die Angst, dass ich jederzeit von einer Gefühlsflut überrannt werden könnte, im Hinterkopf habe.“
Ursprünglich fand ich bereits die Vorstellung, tagelang nichts als Leere und Einsamkeit zu fühlen, ziemlich beklemmend, doch das, was die Bordi gerade über ihre Gefühle erzählte, war vermutlich ebenfalls nicht unbedingt angenehmer. Beide Extreme – sowohl nichts fühlen, als auch in seinen eigenen Gefühlen zu „ertrinken“ –, waren sicherlich nicht schön.
Keine Ahnung wieso, aber kurzzeitig überkam mich eine kleine Welle des Mitleids ihr gegenüber.
„Wie überlebst du diese Flut von Gefühlen, ohne darin zu ertrinken?“, fragte ich sie neugierig. Normalerweise war es nicht meine Art, andere Menschen verstehen zu wollen und dazu gezielt noch etwas über die Gefühle des anderen erfahren zu wollen – aber irgendwie faszinierte mich der Bordi mit seinen Erzählungen und seiner Art.
Sie seufzte: „Das frage ich mich auch manchmal. Nicht selten ist es mir selbst ein Rätsel, wieso ich noch nicht in meinen eigenen Gefühlen – vor allem meiner eigenen Traurigkeit – ertrunken bin. Aber irgendwie schaffe ich es jedes Mal zu ‚überleben‘. In erster Linie versuche ich es, mit Schwimmen über Wasser zu halten und mich in ruhigere Gewässer vorzukämpfen, in denen weniger Wellengang herrscht und ich vielleicht sogar stehen kann. Manchmal hilft mir dabei eine Rettungsweste. Diese Rettungsweste sind Techniken und Taktiken, mit denen ich meine Gefühle einigermaßen regulieren und die Flut besänftigen kann. Oder ein anderes Mal kommt ein guter Freund mit einem Rettungsboot vorbei und zieht mich aus den Fluten. Doch sehr häufig bin ich auch einfach nur auf mich alleine gestellt und auf meine eigenen Schwimmfähigkeiten angewiesen. In solchen Situationen nicht unterzugehen, kostet eine Menge Kraft und ist unter Umständen – je nachdem wie hoch die Wellen schlagen – ein harter Kampf.“
„Das glaube ich dir. Das hört sich, auch ohne, dass ich schon diese Erfahrung am eigenen Körper machen musste, sehr anstrengend an. Umso mehr beeindruckt es mich, dass du immer noch die Kraft hast zu kämpfen und nicht einfach aufgibst!“, versuchte ich ihr Mut zu machen.
„Aufgeben?“, fragte sie verwundert, „meinst du das ernst? Wenn ich dich mitten auf einem Meer über Bord ins Wasser schmeiße, was tust du da?“
Bevor ich überhaupt dazu kam, die Frage zu realisieren, beantwortete sie ihre Frage selbst und sprach ohne Punkt und Komma weiter.
„Schwimmen! Du schwimmst! Ob du willst oder nicht – du versuchst dich über Wasser zu halten. Das ist ein Reflex. Ein Reflex, der dir das Leben rettet. Und genau diesen Reflex, oder besser gesagt diesen Überlebenswillen, besitze ich auch. Selbst wenn ich keine Lust mehr habe, wenn ich aufgeben und aufhören will zu schwimmen, schreit mich mein Überlebenswille an und sagt mir „Schwimm weiter“. Ich kann mich nicht gezielt untergehen lassen. Dafür ist mein eigener Überlebenswille zu stark. Gewissermaßen MUSS ich kämpfen.“
Wow… Diese Aussage saß. Sprachlos stand ich mit offenem Mund da. Schlagfertige Argumente hatte diese kleine Person eindeutig und dazu war ihre Argumentation noch ziemlich gut. Wäre sie nicht so verrückt und anders, hätte sie in der Politik bestimmt gute Chancen.
5. Drahtseilakt
„Leben mit Borderline ist eine ewige Gratwanderung zwischen allen möglichen Extremen der Gefühlswelt. Für Menschen mit dieser Diagnose ist es nicht einfach, die Balance zwischen diesen Extremen zu finden und zu halten, aber es ist möglich. Mit der Zeit kann man lernen, damit umzugehen und zurechtzukommen. Man gewöhnt sich daran, dass man sich auf einem schmalen Grat bewegt und lernt, wo man seine Füße hinsetzen kann und wo nicht. Komm, ich zeig dir etwas dazu, damit du es besser nachvollziehen kannst“, sagte sie und griff erneut voller Eifer nach meiner Hand.
Wie beim ersten Mal, begann sich auch dieses Mal, direkt nachdem sich ihre Hand um die meine geschlossen hatte, alles um mich herum zu drehen, und vor meinen Augen wurde es schwarz. Wieder hatte ich das Gefühl, in ein unendlich tiefes Loch zu stürzen und jeglichen Halt und Orientierung zu verlieren.
Als ich kurz darauf meine Augen öffnete, befand ich mich gemeinsam mit der Bordi auf der Zuschauertribüne eines Zirkuszeltes. In der Mitte der Manege war ein Hochseil aufgebaut, über das ein leicht bekleideter Seiltänzer balancierte.
„Siehst du den Artisten dort oben auf dem Hochseil?“, fragte sie und deutete dabei auf den Seiltänzer.
„So wie er sich gerade auf dem dünnen Seil über den Abgrund bewegt, bewege ich mich mein gesamtes Leben auf einem schmalen Grat zwischen den Extremen meiner Gefühlswelt. Bei jedem Schritt muss ich aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, abzurutschen, in einen der Abgründe zu stürzen und mit voller Wucht auf den Boden aufzuschlagen. Egal, was ich sage, denke, fühle oder tue, alles ist ein Balanceakt auf einem sehr schmalen Grat.
Der Abstand zwischen den Extremen zu viel und gar nichts, zwischen schwarz und weiß, gut und böse ist bei mir kaum breiter als das Seil des Hochseilartisten. Jeder Fehltritt und jeder noch so kleine Windstoß kann mir somit zum Verhängnis werden und mich zum Absturz bringen“, begann sie zu erklären.
„Der Unterschied zwischen dem Seiltänzer im Zirkus und zu mir ist jedoch, dass sich der Artist lediglich für die Zeit der Vorführung auf dem dünnen Drahtseil bewegt, und das freiwillig, und ich muss es den gesamten Tag über mein komplettes Leben lang, ob ich will oder nicht. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich Seiltänzer werden möchte. Jeder Tag, jede Stunde und jede Minute sind bei mir ein unfreiwilliger Tanz auf einem Drahtseil. Außerdem hat ein Artist im Zirkus häufig den Vorteil, dass bei solchen Vorführungen meistens ein Fangnetz unter dem Seil gespannt ist, das ihn im Notfall auffängt, falls er doch einmal das Gleichgewicht verliert und in die Tiefe stürzt – das habe ich in den wenigsten Fällen. Wenn ich abrutschte, knalle ich auf den Boden.“
Die Bordi machte eine kurze Pause, in welcher sie sehr nachdenklich wirkte.
„Nichtsdestotrotz haben der Seiltänzer, der seinem Beruf freiwillig nachgeht und ich, der zwangsläufig dazu gezwungen wird, tagtäglich auf einem Hochseil zu balancieren, auch einige Gemeinsamkeiten: Ein Hochseilartist muss – genauso wie ich – jahrelang dafür trainieren, um einigermaßen sicher über ein Drahtseil laufen zu können. Auch er wird besonders in der Anfangszeit beim Trainieren mehr als nur einmal das Gleichgewicht verloren haben und vom Seil abgerutscht sein. Vielleicht hat er in dieser Zeit genauso wie ich das Drahtseil verflucht und gedacht, dass er es nie schaffen wird, mit einer gespielten Leichtigkeit darüber zu laufen.
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