Die Kunst, unter Wasser zu leben - Olli Jalonen - E-Book

Die Kunst, unter Wasser zu leben E-Book

Olli Jalonen

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Beschreibung

London, 1688: Der von St. Helena stammende Angus steht in den Diensten des Universalgelehrten Edmond Halley. Dessen aktuelles Interesse gilt dem Leben unter Wasser, und Angus ist der Erste, der mit einer Tauchglocke in der Themse tauchen darf. Angus genießt nicht nur als Forschungsgehilfe Halleys Vertrauen, sondern fühlt sich sogar als Teil der Familie Halley, wenn auch nur fast. Wegen seiner einfachen Herkunft ist ihm der Schulbesuch verwehrt, und er fragt sich zunehmend, wie er sich von Halley emanzipieren kann – und wie es seiner Familie auf St. Helena geht. Seine Zuneigung zum Dienstmädchen Henrietta mündet in einen tragischen Vorfall, und Halley scheint ihn immer wieder zu vertrösten, wenn es um seine Zukunftsaussichten geht. Doch dann erhält Angus bei einer großen Schiffsexpedition zur Bestimmung der Längengrade die Chance, endlich aus dem Schatten seines Meisters zu treten.

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Olli Jalonen

DIE KUNST, UNTER WASSER ZU LEBEN

Roman

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

mare

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Merenpeitto bei Otava Publishing Company Ltd.

Copyright © 2019 Olli Jalonen

Die Übersetzung wurde gefördert von FILI – Finnish Literature Exchange.

© 2023 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung gameover / Alamy Stock Photo

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-818-2

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-679-9

www.mare.de

INHALT

TEIL I

TEIL II

TEIL III

TEIL IV

TEIL V

TEIL VI

QUELLEN

Über das Buch

* I *

Im Jahr 1688 bin ich sechzehn Jahre alt. Ich wohne im Hof zum Goldenen Löwen in der Obhut des von mir hoch verehrten Herrn Halley und darf mit seiner Familie am Esstisch sitzen.

1688 ist fast komplett ein gutes Jahr. Von jenseits des Kanals landet eine große Armee. Ich sehe eine anachoretische Einsiedelei. Henrietta kommt ins Haus. Dann ist da noch all das, woran man sich erinnert.

KLAR, SEHR KLAR und schön ist der Teich tatsächlich, Frau Halley hat vollkommen recht. So hat sie es beim Frühstück erzählt und dann befohlen, dass wir heute zum Karpfenteich fahren und ich, Angus, den Wagen holen darf.

Margaret springt gleich am Wendeplatz ab und läuft ans Ufer, sie hört einfach nicht, obwohl ihr Frau Halley hinterherruft, sie soll sich nicht den Kleidsaum im Gras schmutzig machen. Ich steige vom Bock, halte aber die Zügel mit einer Hand, während ich Frau Halley helfe, denn sie hat die kleine Catharine auf dem Arm, und die Stufen am Mietwagen sind hoch.

Danke, Angus. Du hast gute Manieren und bist flink, bei dir muss man nie warten, sagt Frau Halley und lässt Catharine mit den Kleinkindschuhen den Boden berühren. Sie sind neu und aus weichem Leder, ich habe nicht gewusst, dass der Schuster schon für so Kleine passende Schuhe nähen kann, mit Sohle und Oberleder und Schnüren, die das Oberleder in Falten ziehen und festigen.

Das Danke ist Frau Halleys Lob. Ich fühle mich dadurch erhaben, weil sie nur aus gutem Grund lobt und wenn sie gute Laune hat, und jetzt hat sie die gewiss, denn es ist ein schöner Tag, und der Park und die Parkbäume um den Karpfenteich herum tragen Herbstfarben, am meisten zwar noch Grün, aber auch schon Rot und Orange wie der Himmel manchmal, wenn sich der klare Abend senkt, weil der Herbst der Abend des Jahres ist und der Abend der Herbst des Tages.

Im Teich werden die Karpfen für Weihnachten gesäubert, damit der Schlammgeschmack rausgeht. Sie werden aus Reusen und Fütterkästen hineingelassen, und die Männer des Earls und die Wächter der Parkstraße werfen ihnen helles Futter hinein, übrig gebliebener Teig aus der Bäckerei und moderige Graupen. Auf die Art werden angeblich auch in den afrikanischen Handelsstationen die Würmer gesäubert. Wenn sie nur Mehl zu fressen bekommen, werden sie äußerlich hell, und ihr Darm leert sich. Jeder schmeckt nach dem, was er frisst, und aus diesem eindeutigen Grund sind knusprige Würmer wohlschmeckend. Herr Halley hat erzählt, dass er auch das bei einer der monatlichen Sitzungen der Royal Society erfahren hat.

Frau Halley hat den Kopf geschüttelt und nicht einmal glauben wollen, dass man in den Ureinwohnerdörfern Afrikas Würmer isst, auch nicht in Bratöl knusprig gebratene, aber Herr Halley weiß so viel über die Dinge der Welt, dass es wahr sein muss.

Seit ich sechzehn bin, darf ich mit der Familie an einem Tisch sitzen. Selbstverständlich nicht wenn Gäste zum Abendessen da sind, aber beim Frühstück und wenn keine da sind. Herr Halley hat das beschlossen, nachdem Frau Halleys Schwester geheiratet hat und aus dem Hof zum Goldenen Löwen ausgezogen ist und einen freien Platz am Tisch zurückgelassen hat, Herr Halley will, dass ich auch all das lerne, was mit dem Essen zu tun hat. In fast einem Jahr habe ich mich schon an meinen Platz auf der langen Seite bei der Küche gewöhnt und habe keine Angst mehr, etwas nicht zu können.

Daran, wie Margaret wächst, sieht man am besten, wie die Zeit vergeht. Jetzt hat sie schon ihren eigenen erhöhten Stuhl, und die kleine Catharine sitzt mit am Tisch, wenn auch noch auf dem Schoß ihrer Mutter. Herr Halley hat solche Erziehungslehren, dass die Mädchen von klein auf größer als ihr Alter sein dürfen, und darum spricht Herr Halley mit ihnen fast wie mit jedem anderen, selbst wenn Frau Halley mit ihnen im Singsang redet.

Darum spreche auch ich so mit ihnen und erzähle ihnen Sachen, wie ich sie in meinem früheren Leben auf St. Helena den Zwillingen Adam und Thomas erzählt habe, denen ich ebenso beigebracht habe, zu laufen und, ohne zu wanken, zu rennen, sogar die Buchstaben habe ich ihnen beizubringen versucht und die Zahlen, selbst wenn ich damit nicht fertig geworden bin, weil ich die Insel vorzeitig verlassen musste.

Ich gehe Margaret holen, weil ich sehe und ahne, dass Frau Halley schon auf jene Art auf die andere Seite des Teichs blickt, die sagt, das Kind soll nicht zu weit gehen und sich nicht schmutzig machen. Frau Halley kommt nicht dazu, mir einen Befehl zu geben, weil ich bereits losgehe. Ich sage, ich gehe hin, und sie sagt, das ist gut und recht.

Als ich dicht an der Uferböschung entlanggehe und die Sonne aus der passenden Richtung und dem richtigen Winkel einfällt, sodass es nicht blendet und die Wasseroberfläche nicht zu sehr wie ein Spiegel blinkt, kann ich bis zum Sandboden blicken. Dort sehe ich auf der Stelle lungernde Karpfen. Nur wenige schwimmen faul und schwenken ein bisschen die Flossen. Das ist ihr Leben, und auf dieser Seite ist das Leben der Menschen und das Leben der Landtiere und auch das Leben der Vögel, soweit sie in niedrigen Hecken sitzen oder über die Erde hüpfen und nach Essbarem picken, aber im Fliegen sind sie Lufttiere, so wie die Fische im Wasser Wassertiere sind. Unter der scharfen Grenze der Wasseroberfläche sind sie ganz für sich.

Eine Dreieinhalbjährige kann man noch leicht zurücklocken. Ich muss sie nur daran erinnern, dass unter dem Sitz des Mietwagens das Segelboot liegt. Margaret hat es von ihrer Patin als Geburtstagsgeschenk bekommen, und es ist ein feines Boot mit echten Baumwollsegeln und zwei Masten und Rahen und kleinen geflochtenen Schnüren als Taue. Margaret läuft am linken Ufer des Karpfenteichs voraus, aber ich gehe, weil es sich für einen fast Siebzehnjährigen nicht mehr schickt, zu rennen, obwohl ich es könnte, wenn es niemand sieht.

Darum komme ich mit großen Schritten am rechten Ufer entlang, weil Gehen mit großen Schritten nicht wie Laufen aussieht und trotzdem gut für die Beinmuskeln ist und sie und den Menschen kräftigt und ihn bereit macht und zäher für schwerere Zeiten. Auch auf dieser Seite des Teichs sieht man keinen Bach. Darum eignet er sich so gut für das Säubern der Sommerkarpfen zur guten Speise in der kalten Jahreszeit, weil das klare Wasser des Teichs sicher aus einer Quelle aufsteigt und man keine Ausreißersperren und keine Siebe anbringen muss.

Auf dem letzten Stück, das ich mit langen Schritten gehe, fallen mir wieder neue Fragen ein. Als letzte kommt mir in den Sinn, wie das Wasser eines Teichs ohne Zufluss eins mit dem Meer sein kann, so wie es Herr Halley zu seinen gelehrten Freunden gesagt hat, nämlich dass alles Wasser eigentlich ein und dasselbe Wasser ist, aber verwandelt und in unendlicher Kreisbewegung von einem Aufenthaltsort zum anderen.

Margaret hat bereits das Segelboot vom Mietwagen heruntergenommen. Ich muss nur noch die Segel trimmen, damit es schwimmen und Wind aufnehmen kann. Margaret schlägt die Hände an den Handballen zusammen und klingt auch sonst so, wie ein kleines Mädchen klingt. Von diesen Lauten bekomme ich immer gute Laune. Dann habe ich überhaupt keine Angst, dass Margaret jederzeit etwas Schlimmes passieren kann. Eine solche schwarze Wolke habe ich nämlich in mir, und die bleibt. Darum passe ich ein bisschen wie ein Wachhund auf die beiden Mädchen auf, damit sie nicht auf der steilen Treppe stürzen und nicht aus dem Hof auf die Straße unter ein Fuhrwerk rennen, weil deren Kutscher nicht darauf achten, was von der Seite kommt.

Jetzt ist ein guter und schöner Tag, und beide sind unter Aufsicht. Auch Frau Halley hat sich beruhigt und ist überhaupt nicht mehr so wie damals vor vier Jahren, als ich in ihr Haus in Islington kam. Als du auf einmal vor der Tür gestanden hast, sagt Köchin Beth noch immer manchmal und denkt an die schwarzen Zeiten zurück, als Herrn Halleys Vater ermordet und in den Strom gestoßen wurde.

Die Zeit hat an ihren unterschiedlichen Stellen unterschiedliche Wärmegrade. Manchmal ist sie langsam und steif und will nicht vorwärtsgehen und dann wieder losgelöst und schnell, sodass nichts an ihr ganz gleichbleibend wäre ohne die gleich großen Markierungskästchen im Kalender. Wenn man denen folgt, bleiben die Tage und Monate im Zaum, aber auch das würde nicht gelingen, wenn man die Dauer jedes Tages und die Länge der Monate nicht exakt im Voraus wüsste. Wenn Wissen vorhanden ist, kann sich das Neue auf das Alte legen. Auf diese Art werden auch die großen Entdeckungen gemacht und ganz und gar nicht so, dass es vom Glück abhängt und derjenige, der ein Experiment macht, nur aus Versehen etwas Neues und Wichtiges entdeckt.

Im Lauf des Sommers hat mir Herr Halley am meisten über den Aufbau von Experimenten beigebracht, und ich habe auch bei wichtigen Messungen sein Gehilfe sein dürfen. Den Versuch, der am besten gelaufen ist, haben wir gleich zu Beginn des Sommers gemacht, und das war einer, bei dem viele gleich große, mit Strichen versehene Messbecher mit verschiedenen Flüssigkeiten gefüllt wurden. An der Schattenwand der Garteneinfassung wurde Wintereis unter einer Schicht aus Sägeabfall und Lehm ausgegraben. Dann wurde eine bestimmte Zeit abgewartet, und die eiskalt gekühlten Flüssigkeiten wurden gemessen, und später wurden dieselben Flüssigkeiten auf verschiedene Temperaturen erhitzt und noch einmal gemessen. Die Versuche wurden auf vier Arten gemacht, mit Wasser, mit Quecksilber, mit Rheinwein und mit starkem, aus dem billigsten Wein gebrannten Schnaps. Ich habe mit Herrn Halley die genauen Messergebnisse anschauen dürfen, also wie die Pegel zwischen den Strichen gestiegen und gefallen sind, und habe sie in Tabellen übertragen und in den Spalten mit den Flüssigkeiten die Werte in den Temperaturzeilen notiert.

Das ist eine große und glänzende Arbeit, und ich versuche immer gut zu sein, wenn ich dabei sein darf. Gut heißt fleißig und gelehrsam. Herr Halley selbst ist beides, auch wenn er schon alt ist und weit über dreißig.

Sobald die Segel mit den kleinen Schnüren straff gezogen sind, schaue ich, aus welcher Richtung der schwache Wind kommt, und wir begeben uns alle an die richtige Stelle am Teichufer. Frau Halley führt Catharine an der Hand, und Margaret trägt ihr Segelboot und kann es nicht erwarten, es ins Wasser zu setzen. Ich zeige ihr, wo sie mit trockenen Füßen über die Bülten bis an die Uferlinie gelangt.

Dort streckt sich Margaret und bekommt das Boot in den Teich. Frau Halley klatscht in die Hände und nennt es Jungfernfahrt. Aber es hat ja noch gar keinen Namen, wie soll es denn heißen?, sagt und fragt sie. Schmetterling, sagt Margaret, als wäre es eine klare Sache und längst allen bekannt. Also gut, Schmetterling, sagt Frau Halley. Weißfalter, gibt Margaret ihm noch einen anderen Namen, meiner Meinung nach einen besseren, weil es viele Sorten Schmetterlinge gibt, ich aber noch nie von einem Weißfalter gehört habe.

Sofort erfasst der Wind die Segel, und das Boot bewegt sich zur Mitte hin, leicht zur Seite geneigt. Zuerst freuen sich alle darüber, aber ich weiß ziemlich bald, was passieren wird, weil ich sehe, an welcher Stelle des Teichs sich das Wasser kräuselt und wo es vollkommen glatt ist. Weißfalter gleitet schön mitten ins Glatte und bewegt sich dort noch kurz mit seiner alten Kraft, aber dann erschlaffen die Segel, und das Boot treibt fast genau in der Mitte des großen mandelaugenförmigen Karpfenteichs.

Margaret bekommt Angst, und Frau Halley ärgert sich und befiehlt Margaret, sie soll aufhören, so viele Worte zu machen, weil es schon bald weiter zum anderen Ufer fahren oder zurückkehren wird, falls der Wind dreht. Es will nicht, ruft Margaret. Dinge haben keinen Willen, sagt Frau Halley. Weißfalter ist kein Ding, widerspricht Margaret mit lauter Stimme und genau so sicher, wie ihre Mutter spricht.

Das ist auch etwas Schreckliches. Dass man einem Menschen von klein auf ansieht, dass er einmal wie seine Mutter oder sein Vater wird.

Der Wind vertrocknet, so wie es bei Vormittagswind oft passiert. Bald ist die ganze Oberfläche des Teichs ein regungsloser Spiegel, in dessen Mitte das Segelboot treibt und unter ihm auf den Kopf gestellt das Bild des Segelboots. Es ist wie der Deckel des Würfeletuis, auf den mit Schwarz ein Würfel gemalt ist und mit Weiß die Augenpunkte mit der Drei oben und darunter das Spiegelbild mit den gleichen drei sichtbaren Augen, aber wie bei einem Spiegel in die andere Richtung schief.

Es gibt nicht annähernd einen so langen Stock und auch keine hohen Bäume, von denen man einen Ast abbrechen könnte, sage ich, als Frau Halley unruhig wird und von mir verlangt, etwas zu unternehmen, und ich sage auch, dass man, wenn man einen Haufen Steine hätte, vielleicht Wellen machen könnte, wenn man mit ihnen würfe, aber der Park besteht aus Bäumen und Rasen, und man sieht keinen einzigen Stein.

Dann musst du hineinwaten und es holen, sagt sie.

Ich antworte nicht, denn ich sehe, dass der Teich vom Ufer aus schnell tiefer wird. Ich gehe über die Bülten an dieselbe Stelle, an der Margaret ihren Weißfalter abgesetzt hat. Ich bücke mich und fühle mit der Hand, und das Wasser ist viel kälter, als es bei dem Sonnenschein aussieht. Ich stehe auf und gehe zu Frau Halley zurück, strecke die Hand aus, damit sie sie berührt, aber sie schüttelt sich sofort die kalten Tropfen vom Finger.

Ich weiß nicht, was von beiden mehr wirkt, dass Frau Halley es befiehlt oder dass Margaret angefangen hat zu schluchzen, jedenfalls ziehe ich die Kleider aus und löse zuerst den Gürtel und mit dem Gürtel die daran befestigte Messerscheide. Ich leere die Hosentaschen und entblöße den Oberkörper ganz und ziehe auch noch Schuhe und Wollstrümpfe aus, aber die Hose lasse ich an, weil nackt ungehörig wäre und vor Frau Halley und den Mädchen auch unmöglich. Margaret hat aufgehört zu weinen und kommt zu mir ans Ufer.

Als ich in den Teich trete, sinke ich sofort bis zu den Oberschenkeln ein, sodass mich das kalte Wasser schneidet. Die Fische erschrecken schlimm und auf langer Strecke, und die ganze Wasseroberfläche braust und spritzt auf, weil sich die Rücken von fliehenden Karpfen entfernen.

Ich spreche nicht aus, dass es schrecklich kalt ist, aber ich schnappe lautstark nach Luft, sodass Frau Halley es hören muss. Sie treibt mich trotzdem an, ich soll schwimmen, wenn es tief ist, und fragt nichts, sondern sagt, wir müssen Margarets Boot wiederhaben. Zu den Mädchen sagt sie im Befehlston, das war das letzte Mal, dass wir den Schmetterling ohne Schnur schwimmen lassen.

Es heißt Weißfalter, sagt Margaret.

An den Leisten tut es am meisten weh, aber dann wird es an der Brust noch kälter, als ich in die Hocke gehe und anfange Schwimmbewegungen zu machen. Ich weiß, dass ich es kann, weil ich es schon als kleiner Junge gelernt habe, zuerst am Ladekai von Jamestown und später, als ich mit richtigen Schwimmbewegungen schwamm, in der Rupertsbucht nebenan, wo die Felsen der Halbinsel vor der Gischt schützen und es ein Stück Sandboden zum Hineinwaten gibt.

Ich schwimme, wie ein ins Wasser geworfener Hund schwimmt, trete mit den Füßen und mache Züge mit den Händen, damit der Kopf nicht untergeht, aber weil Frau Halley noch immer am Ufer ruft und mir befiehlt, mich zu beeilen, damit mir nicht kalt wird, tauche ich unter, weil ich das ebenso gut kann und als kleiner Junge gelernt habe. Es wird still, und es bleibt nur ein Rauschen, als die Stimmen vom Ufer abbrechen. Ich halte den Atem an und tauche mit offenen Augen weiter, und das salzlose Wasser brennt kein bisschen. Über mir ist es so hell, dass die Oberfläche als Glitzern zu erkennen ist, und mitten in der hellen Schicht schillert die Sonne als großes Licht und wie ein Kloß.

Als ich mit Hundebewegungen an die Oberfläche strample, höre ich als Erstes Frau Halleys erschrockenen Schrei. Der Verrückte ertränkt sich!, fängt sie an, als sie die Sprache wiedergefunden hat. Ich tauche erneut unter und steuere das Segelboot von unten an.

Das Wasser ist so durchsichtig, dass ich klafterweit nach vorne und bis auf den Grund sehe und über dem Kies des Grundes große, platte Karpfen. Nichts ist deutlich zu erkennen wie an der Luft, sondern undeutlicher, wie durch die Linse eines Fernrohrs, bevor man die Sicht durch Drehen scharf stellt.

Als ich auftauche und die Oberfläche aufbricht, hält der Wasserblick in den Augen noch eine Weile an, aber dann verschwindet er, und die normale Luftsicht kehrt zurück. Der Weißfalter ist so dicht vor mir, dass ich nur noch die Hand ausstrecken und vorsichtig nach dem Vordersteven greifen muss, damit das Boot nicht mehr entkommt. Dann schwimme ich zurück und muss mich dabei mit einer Hand abmühen und mit den Beinen strampeln, aber die Kälte spüre ich nicht mehr, weil man sich sogar an solches Herbstwasser und fast schon Winterwasser anscheinend gewöhnt.

Als mich Frau Halley für das Tauchen tadelt, mir aber auch dankt, tut es gut, dass sie sich bedankt und sich sogar Sorgen um mich macht, und es ist nichts Schwieriges mehr zwischen uns wie früher, bevor die Mädchen auf die Welt kamen. Als sie mich lobt, weil ich mutig bin, sage ich, wie man es sagen muss, dass es nicht der Rede wert ist und dass ich mich hier schon an die Winter gewöhnt habe und daheim sogar im Meer geschwommen bin, bei großen Wellen und in der Brandung.

Aber dann wird mir kalt, weil ich die klatschnasse Hose nicht wechseln und auch das Hemd nicht anziehen kann, bevor die Haut wenigstens ein bisschen getrocknet ist. Fahren wir bald?, frage ich und versuche das Zittern zu verbergen. Frau Halley bemerkt es trotzdem und befiehlt mir, mich in die Wagendecke zu wickeln, und so verlassen wir den Karpfenteich, ich lenke vom Kutschbock aus, krümme mich aber unter der Decke. Von den Hosen rinnt Wasser auf die Trittbretter, und durch das Fahren bläst der Wind noch kälter auf die feuchte Haut.

PFLAUMENBREI ist eine Delikatesse, vor allem wenn er heiß ist und noch nicht abgekühlt und klumpig geworden ist, und wenn die Milch kalte, oben aus der Kanne gegossene Sahnemilch ist, dann ist es zusammen gleichzeitig heiß und kalt, sauer und süß. Margaret und Catharine mögen Pflaumenbrei, und ich mag ihn auch. Beth will ihn selbst machen, weil sie das schon immer getan hat.

Beths Augen sind so große Glotzaugen geworden, dass es aussieht, als hingen sie über den Wangen, aber sie sieht jetzt besser und dankt jeden Tag Gott im Himmel, aber vor allem Herrn Halley, weil Herr Halley geschliffene Gläser gekauft und sie geschickt miteinander verbunden hat. Er hat aus demselben geflochtenen Kupferfaden noch eine Schleife in der richtigen Größe gemacht, sodass die Gläser an Beths Kopf und in der richtigen Position vor den Augen bleiben.

Frau Halley selbst isst nur einen Klecks von dem Brei und sagt, sie habe keinen Appetit. Herr Halley ist noch auf Dienstreise und nicht da, sondern in Deptford, um sich anzusehen, wie Schiffe gebaut werden, und um sich mit vielen Männern darüber zu unterhalten, wie man für die Ausrüstung neue Verbesserungen erfinden könnte. Das ist eine wichtige Arbeit, auch wenn sie noch so nach Gammelei aussieht, und auch die Abende sind wichtig, denn dann sitzt man lange in der Kneipe, redet aber und zeichnet auf die Rückseiten von Zetteln oder worauf man auch immer Pläne und Zahlenformeln zeichnen kann. Ich bin dabei gewesen und habe es gesehen und weiß daher ziemlich genau, wie sich die Tage in die Länge ziehen und was daran wichtig ist und was nicht.

Ich bin dabei gewesen, weil Herr Halley volles Vertrauen in mich hat und manchmal noch mehr. So hat er es gesagt und mich gefragt, ob ich weiß, was dieses noch mehr bedeutet. Ich habe es richtig gewusst: Wenn ich zuhören und zusehen darf, dann darf ich es mir merken, aber mit keinem Wort anderen erzählen, ich darf die Erweiterung von Herrn Halleys Gedächtnis sein, jedoch ihm allein berichten, falls er eine Einzelheit, die er später überprüfen will, vergessen hat und danach fragt, und ich höre und sehe auch den anderen zu, was sie leise zueinander sagen und mit welchen Mienen sie zuhören. Aber immer ist das Schweigen am wichtigsten, was immer ich höre und sehe, erzähle ich keinem anderen weiter, nicht einmal Frau Halley, auch wenn sie mich manchmal auszufragen versucht, was auf den Reisen passiert ist.

Frau Halley hat die volle Verantwortung für die Haushaltsführung und die Bediensteten, aber ich stehe mehr als zur Hälfte im Dienst von Herrn Halley. Im Haus stehe ich im Dienst von Frau Halley und auch unter dem Befehl der Köchin Beth, aber immer wenn Herr Halley mich als Gehilfen braucht, übertrifft das die anderen Arbeiten.

Ich missbrauche meine Position nicht, und ich lüge auch nicht. Ich erfülle im Löwenhofhaus alle meine Aufgaben und wache früher und noch in der Nacht auf, damit ich an den kalten Tagen die Roste von der Asche und den Kohleklümpchen befreie und den Herd und den Ofen und den Kamin heizen kann, bevor ich mich mit Herrn Halley auf den Weg mache.

So geht es gut, wenn man fleißig ist und sich nicht vor der Arbeit drückt. Frau Halley mag es, wenn es warm ist. Darum ist sie vom Morgen an zufrieden, wenn sie aufwacht und die Feuer schon brennen, und nur selten aufbrausend zu mir, weil ich auch meine Tagesarbeiten gut erledige. Bei denen befiehlt noch öfter Beth, und die ist sanft und hat mich noch kein einziges Mal geschlagen.

Läusekontrollen werden oft durchgeführt, denn Frau Halley will es so. Sie ist ganz und gar sauber und kann kein Ungeziefer ertragen, schon gar keine Spinnen. Wanzen gibt es im Haus nicht, weil die Bettwäsche ausgelüftet wird und, was gekocht werden kann, im Hof im Kessel gekocht wird, in dessen Wasser Laugenkrümel gegeben werden wie Salz in die Suppe. Auch die Perücken von Herrn Halley werden in heißem Wasser gut gekocht, aber dann gibt man keine Lauge hinzu.

Bei Frau Halley selbst wird nicht nach Läusen geschaut, auch nicht bei Beth, weil beide vom Alter her so erfahren sind, dass sie ihr Haar und ihren Kopf kennen und wissen, dass sich dort nichts seinen Weg gebahnt hat. Margie fährt mit dem Kamm durch Margarets lange Haare und untersucht die Verfilzungen. Willow kämmt Catharine und schaut und zupft. Dann bürsten sich Margie und Willow gegenseitig die Haare und necken mich und befehlen mir, Henrietta zu kontrollieren.

Henrietta ist erst im Frühling ins Haus geholt worden, Frau Halley hatte sicher Mitleid und hat sie aus gutem Herzen aufgenommen, weil das Mädchen auch die Mutter verloren und noch nie irgendwo eine Dienststelle gehabt hatte, sondern von klein auf nur ihrer Mutter Hilfe beim Nähen gewesen ist. Henrietta ist an einem kirchlichen Feiertag mit einem großen Bündelbeutel eingetroffen und hat einen Schlafplatz auf dem Fußboden in der schrankgroßen Kammer der Dienstmädchen bekommen. Tagsüber hat sie keinen eigenen Platz, aber die Sachen aus dem Bündel dürfen unter Willows Bretterbett liegen.

Eigentlich könnten sie mir gar nichts befehlen, aber Beth macht beim Necken mit und gibt mir ihren beinernen Kamm und befiehlt Henrietta, sich vor mir hinzusetzen und stillzuhalten. Ich lasse mir nicht anmerken, dass irgendwas wäre, sondern fange ausdruckslos an, Henriettas lockiges Haar zu kämmen. Mehr scheint Henrietta das Necken zu spüren, denn sie schaut auf den Boden, und der Haaransatz auf dem Hals ist rot geworden.

Keine Einzige, sage ich, nachdem ich es überprüft habe, und ich sage es wie etwas ganz Gewöhnliches.

Margie befiehlt Henrietta, mich zu kämmen. Ich werfe einen Blick auf Beth, ob es sein muss, aber es muss wohl, also setze ich mich auf denselben niedrigen Schemel. Henrietta steht auf und nimmt den beinernen Kamm in die linke Hand und fängt an, meinen Kopf zu untersuchen.

So fühlt es sich auch gut an. Henrietta rupft überhaupt nicht, so wie die anderen bei früheren Kontrollen, sondern fährt mit dem Kamm sachte über den Kopf und lenkt ihn mit den Fingern der anderen Hand. Woher kommt es, dass man eine Berührung am Kopf und im Nacken als Kitzeln an den Fußsohlen spürt, das frage ich mich, weil ich es vorher nicht so gespürt habe. Wenn der Mensch Punkte hätte, die mit haardünnen Fäden miteinander verbunden wären, dann könnte man verstehen, warum die fernsten Stellen wie dicht beieinander sein können. Henrietta kämmt langsam und jede Stelle am Kopf, und wenn ich nicht ausdruckslos sein müsste, würde ich die Augen schließen.

IHR, DIE IHR ALLES über Geografie und die Grafschaften wisst, kann ich Euch fragen, wie weit es von London in das Gebiet der größten Gemeinde von Kent ist? Und die zweite Frage ist, wie man auf dem besten Weg hinkäme und wie lange die Reise dauern würde?

Das waren schon drei Fragen, korrigiert Herr Halley und sagt, die größte ist natürlich Canterbury, und der Weg dorthin beträgt Luftlinie vermutlich fünfzig Meilen. Aber über die Fahrwege kommt man wahrscheinlich auf fünfundsechzig, und das dauert dann ein paar volle Tage. Warum fragst du?

Ich erkläre es so, wie ich es mir fertig überlegt habe, dass ich möglicherweise Pastor Burch besuchen werde, weil ich einen Brief von ihm erhalten habe.

Ich habe gar nicht gewusst, dass Burch in Canterbury ist. Und ich habe auch nichts von einem Brief gehört. Warum nicht?

Ihr wart an der Küste, Erkenntnisse über gesunkene Schiffe sammeln, und dann auf der Werft. Ich bin nicht dazu gekommen, es zu erzählen, sage ich und habe ein bisschen Angst, weil Herr Halley schnell tadeln kann, wenn er etwas nicht vor den anderen weiß.

Und wann ist er von Ashford nach Canterbury übergesiedelt? Der Brief, den ich erhalten habe, kam nämlich von dort oder eigentlich aus Tenterden, sagt er.

Ich antworte schnell, dass ich es überhaupt nicht weiß und nicht sicher bin, aber glaube, dass der Herr Pastor in die Heimatgemeinde seines Vaters und seines Bruders gegangen ist und im dortigen Pfarrhaus wohnt.

So hat er es immer gesagt, dass es die größte und wichtigste Gemeinde von Kent ist, dass dort zuerst sein Vater Propst war und dann sein Bruder.

Noch ist William Sancroft Erzbischof und verwaltet die Ämter von Canterbury, auch wenn er in den Tower musste. Die Sippe von Burch hat die dortigen Amtsländereien nicht zu verteilen. Ich glaube also, du hast das falsch verstanden. Stattdessen kann Ashford seine Gemeinde sein. Die ist klein genug und Tenterden in der Nähe geradezu ein Dorf am Waldrand. Vielleicht sind sie also dort, aber sehr abgelegen, oder was glaubst du nun?

Ich stimme sofort zu, denn Herr Halley weiß es besser, und es sind so viele Jahre vergangen, seit der Herr Pastor von seinem Vater und seinem Bruder gesprochen hat, dass ich mich bestimmt längst falsch erinnere, und darum stelle ich auch sofort die gleichen Reisefragen über Ashford, damit Herr Halley nicht den Verdacht schöpft, ich würde nicht glauben, dass sein Wissen das richtige ist.

Das weiß ich aufgrund meiner eigenen Messungen auf die Meile genau, denn ich war einmal auf Bitten des königlichen Kaplans John Wallis in der Gegend. Das heißt, er war gar kein Kaplan mehr, sondern der hochgeachtete Kryptograf des Parlaments, auch mich hat er in der komplizierten Kunst der Geheimschrift und in höherer Mathematik unterwiesen. Du kannst Herrn Wallis sogar kennen. Erinnerst du dich an die liegende Doppelnull? An das verschlungene Unendlichkeitszeichen, das ich dir beigebracht habe? Das hat mir Wallis gezeigt, und auch wenn er es das Zeichen für den achten Tag der Schöpfung nannte, so glaube ich doch, dass er es aus dessen zweifacher Leere entwickelt hat, denn Leere mal Leere ist unendliche Leere, und die Leere ist nichts und darum alles und unendlich.

Also begab ich mich in Angelegenheiten der Royal Society auf Vermessungsreise, weil Kryptograf Wallis darum gebeten hatte. Und warum bat er ausgerechnet darum, mich nach Ashford zu schicken? Weil er in Ashford gewohnt hatte, aber wegen der Pest von dort nach Tenterden geflohen war, wo er eine gute Schule besuchen durfte. Auch ihm kamen im Alter die Dinge der Jugend in den Sinn, so geht es nahezu jedem, man denkt an die Zeiten und Orte seiner Kindheit zurück, ob man gelehrt ist oder nicht, das habe ich festgestellt, es gibt keinen Mann, der sich nicht an den Schoß seiner Mutter und an die starken Arme seines Vaters erinnerte, sagt Herr Halley und bleibt in seinen eigenen Gedanken, und auch er ist schon ziemlich alt, bald zweiunddreißig, in dem Alter, in dem Jesus starb. Mit zweiunddreißig oder mit dreiunddreißig, hat er mir gesagt und es so berechnet, wie er auch versucht hat, den Beginn der Sintflut genau auszurechnen und wie lange die schweren und tiefen Wasser auf der Erde lagen, und noch weiter darüber hinaus, bis zur Erschaffung der Welt. Er berechnet und untersucht alles, obwohl es gefährlich sein kann, solche Religionsangelegenheiten zu untersuchen, und er kann auch nicht mit allen über seine Berechnungen und über die Fehler in der Bibel reden. Er weiß sehr wohl, mit wem er es kann. Mit mir kann er es, weil er weiß, dass ich stumm bin wie ein Spiegel und nur antworte, wenn er mich um meine Antwort bittet.

Also bis Ashford sind es mit dem Wagen fünfundfünfzig Meilen. Daher konnte ich die Entfernung von Canterbury schätzen, aber bis Ashford habe ich es genau gemessen, als wir hinfuhren, immer von Gerade zu Gerade und dabei die Kurven auf dem Kartenblatt streckend, sagt er dann wie mitten in Gedanken, weiß aber noch genau, was ich gefragt habe.

Ich bedanke mich und wiederhole fünfundfünzig. Ich bin kein Echo, auch wenn ich der gleichen Meinung bin, ich versuche nicht mehr, als wozu ich fähig bin, und beharre nie auf etwas. Ich bin ein Spiegel, und für meine richtigen Antworten lobt er mich.

Fünfundfünfzig Landstraßenmeilen bis Ashford und von dort nach Tenterden genau zwölf über Wege und Graspfade. Es war eine gute und erfrischende Reise, und Herr Wallis hatte absolut recht. Danach war ich mit ihm einer Meinung darüber, dass man den Kirchturm von Tenterden sehr gut als Zwischenhalt und hohen Aussichtspunkt über den Wald und die Felder von Weald benutzen kann, wenn man einmal mit einem großen Dreieck die Entfernung von London nach Paris und von Greenwich zum Observatorium von Cassini ausmisst. Die müsste genau gemessen werden, damit die Gradunterschiede bei zeitgleichen Beobachtungen mehr verraten, als sie es jetzt ungenauerweise tun. Die Momente der Uhren kann man inzwischen angleichen, so gute und im Takt bleibende Mechanismen können die besten Uhrmacher bereits herstellen, aber noch müsste man die Entfernungen auf die Stelle genau messen, vielleicht bis auf die Kabellänge und gar bis auf den Klafter.

Mit einer Übernachtung schafft man es also. Oder wenn du unterwegs nicht mitgenommen wirst und zu Fuß gehst, dann zwei Nächte und drei Tage, sagt Herr Halley, und ich habe das Gefühl und bin fast sicher, dass ich die Erlaubnis bekommen werde, mich auf den Weg zu machen, sobald die passende Zeit dafür und eine Lücke in meinem Dienst und in meiner Tätigkeit als Beobachtungsgehilfe da ist.

»DER BRIEF VON PASTOR MARTIN BURCH

Angus, mein kleiner Junge,

das darf ich doch sagen, auch wenn sehr viel Zeit an uns vorbeigeströmt ist, in den plätschernden kalten Bächen von den Bergen wie in den überschwemmungsfrei gestauten Flüssen meiner jetzigen Wohngegend? Um das Vergehen der Zeit wissend und meine eigene Schwäche eingestehend, wundere ich mich nicht und verurteile es nicht, wenn Du längst zu dem für mich trostlosen Gedanken gelangt bist, ich wäre für immer aus dem Leben Deiner lieben Mutter und von Euch verschwunden.

So ist es nicht, und so wird es auch niemals sein. Ihr kommt mir gleich in der frühesten Stunde in den Sinn, wenn ich aufwache, und am Abend seid Ihr an erster Stelle, wenn ich mein Gebet spreche und Bitten um Taten der Kühnheit und des Rechts an den Herrn im Himmel schicke.

Ich bin unfähig gewesen und habe geschwiegen, das gebe ich zu, und dafür habe ich in meinem Inneren gelitten, aber jetzt spüre ich an diesem Morgen, Gott sei Dank, plötzlich wieder, wie sich Sein Zeichen auf mir niederlässt. In mich kam in dem Augenblick die Kraft, zur Tat zu schreiten, in dem ich begriff, dass Gott zu mir mit der Stimme der Vögel spricht. Ich wandelte im hinteren Lindenhain des Pfarrgartens und erinnerte mich auf einmal stark an Bilder von unserer fernen Insel. Vielleicht hatte der heilige Frieden des frühen Morgens meinen Geist entsprechend gestimmt oder aber das herzzerreißende Gefühl der Vergänglichkeit aller Dinge und der gleichzeitigen Schönheit alles Vergänglichen.

In meinen Gedanken und vor meinen Augen stieg der Blick von den hohen Lüften auf, als hätte ich die Insel unserer Erinnerungen aus der Höhe der Greife erschauen dürfen. Dort lag sie unter mir: ein kleiner steiniger Fleck inmitten des grüngrau schäumenden Ozeans, das langsam dahintreibende Schiff des Lebens, unsere herrliche, schöne Insel St. Helena.

Vielleicht erinnerst Du Dich nur zu gut daran, wie ich Dir einmal vor langer Zeit von meinen Gedanken über die Möglichkeiten der Welt erzählte. Unsere geliebte Insel war bereits von Gottes Licht erleuchtet. Du erinnerst Dich an den ersten Bewohner, den zum Krüppel ohne Ohren zerstückelten Fernando Lopez, der ein karges, aber frommes Einsiedlerleben führte. In seiner Nachfolge hätte unser Schiff mit dem steinigen Boden zu einem Hort guter Menschen heranwachsen können, zu einem Land der heilig Geborenen. Es hätte wahrlich eine neue Arche Noah sein können, die der gute Gott in seiner Barmherzigkeit uns für unsere Reise gerüstet hätte.

Aber der Geblendete sieht nicht, der von falschen Reden Erfüllte hört keine sanften Worte. Zu wenige ergreifen Gottes Hand. Der aus dem Herzen kommende Glaube ist geringer als das Trachten nach dem eigenen Vorteil. Macht berechtigt nicht dazu, andere in den Staub zu drücken. Eine vom König erhaltene Aufgabe und Position bedeuten nicht, dass man die Untergebenen niederhält wie zum Schweigen gebrachte Sklaven.

Unter solchen Wirren inmitten der tiefen Blindheit der Insel konnten sich allerlei Aufwiegler, jene vom Wege Gottes abgekommenen Sektierer, heimlich untereinander vermehren und sich anschicken, ihre falschen Hasslehren unter den Unschuldigen zu verbreiten. Wir waren gezwungen, Zeugen von Gräueltaten zu werden, die denen glichen, zu denen Herodes seine Beamten und Soldaten angewiesen hat: zum Kindermord, zum Schüren der Angst.

An plötzliche Tode war man auf unserer Insel zwar gewöhnt, wie auch an große Krankheiten und düsteren Nachbarhass, aber das vergisst man immer, wenn man lange genug ein gewöhnliches Leben geführt hat. Auch wenn der Mensch zu allem Bösen fähig ist, so ist das Töten und Niedertreten Unschuldiger doch etwas, von dem man nicht glaubt, dass es unter den Augen Gottes im Leben geschehen kann. Solche Taten kann man nicht fassen, und darum fand sich für sie auch keine diesseitige Begründung und Erklärung, kein mutmaßlicher vernünftiger Sinn. Wer könnte verstehen, dass es für jemanden Ziel und Zweck sein könnte, Schrecken zu säen?

Darum fingen sie an, eine Erklärung für das Unfassbare zu suchen, für die uns des Nachts umgebende Finsternis, für all das, was sich in jeder Nacht schleichend bewegt. Fensterläden und Türen wurden mit doppelten Riegeln von innen verschlossen. Man schreckte vor Schatten zurück, sodass man Feuer in den gegenüberliegenden Ecken der Höfe entzündete. Von der Garnison schickte man Wachpatrouillen auf die Uferwege, und Soldaten von James Fort wurden nach weiter unten verlegt, zum Schutz der Siedlungen, aber diejenigen, die von anderswoher auf die Insel gekommen waren, um ihren Dienst zu versehen, wussten in der Dunkelheit nicht einmal auf den steilen Pfaden voranzukommen, sondern hatten ebenso viel Angst wie alle anderen. Darum hielten sie sich nur an offenen Stellen auf, viele von ihnen zusammen und bei brennenden Laternen, vor allem über die schlimme Zeit der Mitternacht hinweg.

Es gibt im Allgemeinen nur wenige, welche die Bibel ausreichend gut gelesen haben, und auf unserer Insel hat es immer ganz außergewöhnlich wenige gegeben, die in irgendeiner Weise in der Lage waren, in der Bibel und in den Kommentaren zur Heiligen Schrift nach Erkenntnissen über vergleichbare Gräueltaten zu suchen. Diejenigen, die etwas wussten, verstanden es trotzdem nicht, weil sie nicht fähig waren, über die Schatten ihres eigenen Hofes hinauszusehen. Falsche Lehren erkennt man nicht als falsch, wenn man nicht ohne Unterlass wachsam und auf der Hut ist. Wenn man nicht sehen und verstehen will, verkriecht man sich, und in sich selbst verkriecht man sich am ehesten. Kein einziges Mal haben die Inselbewohner eine gemeinsame Richtung gegen das Unsichtbare gehabt, sondern jeder hegte im Innern seine eigene Angst und Vermutung und hatte nur die nächsten Nächte vor Augen.

Jeder kann zwei Gesichter haben. Jeder kann seine Gedanken verbergen. Die Nacht ist anders als der Tag. Die Nacht ist ein schwarzer Sack, eine tiefe, zugedeckte Grube und ein verriegelter Schuppen ohne Fenster.

Wenn eine Epoche abbricht und das Gewesene verbraucht, unnütz und verhöhnt zerrinnt, können von der Verhöhnung und Verfolgung knöcherne Dornen zurückbleiben, die so spitz sind, dass sie endgültig die Gedanken und die Seele durchbohren. Wenn das Gewesene gegen das Neue verliert, entwachsen der Sehnsucht nach dem Alten Bitterkeit und Rachsucht. Bei den meisten Menschen erlöschen sie, so wie das Ätzende des gebrannten Kalks durch viel Zeit und Wasser lauer wird, aber bei anderen bringt das Unrecht nicht nachlassenden Hass und Rache hervor.

Angus, verzeih mir, wenn ich so lang an die schwarzen Zeiten zurückdenke. Ich habe seit meinem Wegzug viel nachdenken und mir immer wieder vor Augen führen müssen, was ich hätte tun können und ob ich etwas falsch gemacht habe und, falls ich etwas falsch gemacht und das mir auferlegte Amt schlecht ausgeübt habe, wie ich meine unbedachten Entscheidungen wieder gutmachen könnte.

Ein ums andere Mal kommen mir die Gesichter Deiner Schwester Ann und des kleinen Thomas in den Sinn. Sie schauen mich ernst an, als wollten sie von jenseits der Grenze zur Ewigkeit mit mir sprechen. Sie sind in Gottes Obhut, das wollen sie uns vor allem zu Bewusstsein bringen. Und das will ich auch Dir als sichere Tatsache mitteilen. Ihr Himmelslos ist ein gutes, auch wenn der Tod der beiden uns vorläufig auf der Erde Zurückbleibenden dauerhaft anmutenden Schmerz und Sehnsucht bereitet.

Als Thomas verschwand und Ann später, im Herbst 1684, dem Jahr Deiner Abreise, nach einem Sturz in die Schlucht gefunden wurde, war ich mir noch nicht sicher, obschon ich es ahnte und befürchtete, aber ich konnte es mir selbst noch nicht sagen. Zumal ich stark und eine Stütze für Deine Mutter sein musste in ihrer großen Trauer und Not. Jetzt bin ich so weit, mir einzugestehen, dass man beiden Unschuldigen das Leben genommen hat. Jetzt glaube ich, dass beiden auf diese Weise Unrecht und Böses geschah. Vielleicht werden wir nie erfahren, wer die Schuldigen sind, vielleicht müssen wir uns damit abfinden, aber ich bin sicher, Angus, dass Gott der Allmächtige ihre niederen Taten kennt und sie bestrafen wird, so wie die schwersten Verbrechen in der gerechten Ewigkeit bestraft werden. Mögen sie an einem vom Satan gedrehten Spieß über den Flammen des Unterweltfeuers sengen.

Mein Gewissen lässt mir jedoch keine Ruhe, immer wieder kommen die schweren Gedanken, ob ich etwas hätte anders machen können. Ob es unter allem Rechten und Guten doch spitze Stacheln gab, als ich Deine liebe Mutter und Euch alle bat und überredete, im Haus neben meinem Haus zu wohnen. Mein reines Zusammensein mit Deiner Mutter Catherine mag für einige fanatische Taugenichtse, die das Christentum falsch verstanden, der letzte Ansporn und die Quelle der Anstiftung zum Hass gewesen sein. Diesem Konflikt gehe ich in meinen Gedanken wie auf einer endlosen Kreislinie nach.

Von Euch fünf sind auf Erden nur noch drei übrig. Nachdem Du nach London gezogen bist, harren nur noch Deine Mutter und der kleine Adam jenseits des beinahe unüberwindbaren Meeres aus.

Seit Du fortgingst, ist auf St. Helena viel passiert. Nach meinem Fortgang ist noch mehr passiert. Die Verhältnisse dort haben sich geändert. Von den Männern, die sich gegen die Alleinherrschaft von Gouverneur Blackmore erhoben hatten, wurden William Bowyer und Joseph Clarke gehenkt. Ousman und More und Dennison, der Bedränger Deiner Mutter, wurden zu Verbannung auf der Sklaveninsel Barbados verurteilt. Ich versuchte mein Bestes, um ihren Jähzorn mit Beweihräucherung zu bändigen. Auch in dieser Hinsicht tat ich mein Bestes, so wie es der Hirte seiner Herde tun muss, aber dennoch brach der Aufstand aus, und die bewaffneten Märsche fingen an. In deren Folge, aber auf direkte Anweisung des Gouverneurs, wurden aus dem Schutz der Mauern von James Fort heraus drei Männer erschossen und bei einem nächtlichen Angriff noch einer vor Bowyers Haus. Ich segnete sie, Friede ihrer Seele. Es waren schwarze Monate, ein Bruderkrieg auf schlammigen Pfaden.

Auf unserer kleinen Insel schwelten gleichzeitig zwei Herde tiefen Hasses, die unverzeihlichen Umtriebe der in die Irre geführten Sektierer und der berechtigte Aufstand der Hofbesitzer und anderen freien Männer gegen das falsche Handeln des Gouverneurs. Erst jetzt sehe ich alles klar und bezichtige mich selbst dafür, nicht fähig gewesen zu sein, mehr zu tun. Ich war nicht einmal fähig, meine Nächsten zu schützen, und konnte das Gemüt der Aufständischen nicht einmal so weit abkühlen, dass sinnlose Tode vermieden worden wären. Gott ist ein großer Tröster, aber Tag und Nacht dringen spitze Dornen in mich ein.

Dennoch berührt mich am tiefsten, was ich vielleicht selbst meinen Liebsten durch eine falsche Entscheidung zugefügt habe. Ich konnte jedoch nicht anders. Ich war gezwungen, die ehrenhafte Trennung und den erlaubten Wegzug zu wählen, da in der anderen Waagschale schändliches Getrenntwerden gelegen hätte und danach ein Leben vom Gnadenbrot der anderen. Aus dem Hirten seiner Herde wäre über Nacht ein gescheckter hinkender Hammel geworden.

Angus, jetzt ist es heraus. Vielleicht habe ich nicht richtig gehandelt. Dies zu entscheiden aber sei dem Höchsten überlassen.

Gib nie in Deinem Leben nach, so wie ich es, fürchte ich, habe tun müssen. Als ich allein fortging, war ich mit dieser Entscheidung zugleich gezwungen, Deine mir so liebe Mutter und Deinen Bruder Adam auf der Insel zurückzulassen.

Ungeachtet dessen will ich, dass Du Dich über die düsteren Ereignisse hinweg an all das einstige Gute und Schöne erinnerst. Weißt Du noch, wie wir nahe am Gipfel des Mount Actæon auf dem eine Handbreit schmalen Grat saßen und deutlicher als je zuvor sahen, wie Gottes Schiff unter uns dalag? Wir erkannten die Feldflicken und den Küchenrauch aus den Häusern. Hoch über unseren Köpfen wölbte sich ein klarer Kristallhimmel, Vögel stiegen an der drückenden Wand des Windes empor.

Vielleicht bekam ich durch das Flattern der kleinen Sperlinge im Morgennebel am Rand des Weidelandes so viel von meiner früheren Kraft zurück, wie in ein Senfkorn passt, und fand so den Mut, Dir einen Brief zu schreiben. Dem kurzen Antwortschreiben auf meinen an die Geschäftsstelle der Royal Society gerichteten Erkundigungsbrief entnahm ich zu meiner großen Freude und Erleichterung durch die Worte von Herrn Halley, meinem Gesprächspartner aus vergangenen Zeiten und inzwischen hochgeehrten Angestellten dieser bedeutenden Gesellschaft, dass er Dich gleich nach Deiner Ankunft als Schützling in seinem Haushalt aufgenommen hatte. Für all das danke ich sowohl Deinem Gönner als auch der Güte Gottes im Himmel.

Dennoch möchte ich Dich gern sehen und Dir umfassendere Erklärungen über die Hintergründe meiner Taten mitteilen und über die Zeiten, die dazu führten. Ich wünschte, in Dir möge immer die Lehre erhalten bleiben, dass falsch verstandene Frömmigkeit verbunden mit dem falschen Charakter menschlicher Ruinen zu Vorfällen führen kann, die am Ende alles zerstören.

Ich scheue mich nicht, meinen eigenen Anteil anzuerkennen. Ich versuchte mutig zu sein und in allem richtig zu handeln, aber verstand ich bisweilen doch etwas falsch und war in meinen Entscheidungen ein Feigling? Erklärte ich mir die Ursachen und Folgen falsch herum und floh am Ende nur um meiner selbst willen von der Insel und wage es nicht, zurückzukehren, obschon ich so viele Male versprach, nur einen kurzen Abstecher nach England zu machen, um in der Nähe von Bischof und König die in Unordnung geratenen Angelegenheiten zu klären?

Mit einem Gefühl schneidenden Schmerzes erinnere ich mich daran, wie ich Deiner lieben Mutter Catherine laut versprach zurückzukehren. Ich versprach ihr, dass alles wäre wie zuvor, wenn ich wiederkomme, samt all den von Gottes Gnaden geschenkten guten Tagen und Nächten früherer Zeiten. Ich sagte und schwor Catherine, sie nach meiner Rückkehr mitzunehmen, damit wir den Rest unseres Lebens gemeinsam in barmherzigem Frieden verbringen können, bis Gott der Allmächtige uns schließlich zu Sich ruft.

Es grüßt Dich Martin Burch, Pastor

Grafschaft Kent,

an diesem schönen heiligen Morgen a. D. 1688«

WENN MAN NICHT GENAU WEISS, wohin man gehen soll und bei wem man suchen kann, muss man einfach losgehen und suchen. Wenn man genügend Leute fragt, findet man vielleicht unweigerlich ans Ziel. Man darf keine Angst haben, zu fragen und zu gehen. Man darf eigentlich vor gar nichts Angst haben, aber man darf auch nicht tollkühn sein. Nimm sicherheitshalber zwei Garnituren Kleider mit. Zieh die schlechten an, wenn du in fremden Gegenden unterwegs bist, damit man dich nicht versehentlich für reich hält und ausraubt. Aber halte in deinem verschlissenen Bündel die besseren verborgen, die du anziehst, wenn du dich nah genug an Burchs jetzigem Aufenthaltsort befindest. So kommst du weiter als nur bis zur Tür und zum Fragen und man hält dich nicht für einen Dieb und Vagabunden. Und behalte immer ein heiteres Gesicht und eine sichere Stimme bei.

Solche Ratschläge erteilt mir Herr Halley für die Reise. Beim Essen nennt er sie Expedition, zum Scherz, das verstehe ich, denn was ist es schon für eine Expedition, wenn man seinem früheren Beschützer und Pflegevater seine Aufwartung macht. Ich widerspreche natürlich nicht, sondern lächle nur. Herr Halley nimmt Catharine auf den Schoß und erzählt ihr, aber noch mehr Margaret, unser Angus geht jetzt fort, kommt aber bald zurück.

Und er muss auch bald zurückkommen, denn es wird kälter, und das Feuer im Haus muss am Brennen gehalten werden, und Cathy und sogar du könnt die Arbeit des Heizens noch nicht übernehmen, sagt Herr Halley zu Margaret, die widerspricht und behauptet, sie könne leicht Holz nachlegen und Kohle.

Aber da gibt es noch mehr, was man wissen muss, und vergesst nicht, auch wenn ihr groß seid, immer vorsichtig zu bleiben, damit nicht passiert, was vor langer Zeit in der Winchesterstraße passiert ist, wo beide Küchenkatzen starben, weil die Tür zugeblieben war und auf das Nest, das die Dohlen im Schornstein gebaut hatten, dicker Schnee fiel. Am Morgen roch es drinnen kein bisschen nach Rauch, die Katzen lagen nur übereinander in einer Ecke. Auch dieses Kausalverhältnis sollte man einmal genauer untersuchen, ich weiß noch nicht, wie, aber man sollte es trotzdem tun, sagt Herr Halley, den Schluss allerdings direkt zu mir. Ich weiß das, weil er mich ansieht, und zwar auf eine bestimmte Art, die sagt: Präge es dir ein.

Ich nicke nur, weil ich zu dem Katzen-Thema nichts sagen kann. Margaret fragt bereits, was für eine Farbe sie hatten. Frau Halley nimmt Catharine von Herrn Halleys Schoß, um sie nach oben zu bringen, und Margaret läuft hinterher.

Wir bleiben zu zweit am Esstisch zurück. Obwohl ich schon viel gewachsen bin, muss ich noch immer zu Herrn Halley aufblicken, weil er ein großer Mann ist und in gerader Haltung sitzen und auf die anderen herabsehen kann. Er holt seinen Geldbeutel hervor, schnürt ihn auf, schaut hinein und wählt aus und reicht mir dann über die Tischplatte und die Essensreste hinweg drei Königsmünzen. Ich stehe kurz vom Stuhl auf und bedanke mich. Als ich wieder sitze, blicke ich rasch auf die Münzen und drehe sie auf die gleiche Seite: Auf allen schaut König Jakob nach links.

Von ihm habe ich viel gehört, wenn Herrn Halleys Freunde bei uns gewesen sind, immer mehr Schlechtes, je kälter der Herbst geworden ist. So dürfte man nicht über den König reden, habe ich noch im Sommer gedacht, und auch Herr Halley ist vorsichtig gewesen und hat versucht, die heftigsten Reden zu beschwichtigen, aber bei den letzten Malen hat er nicht mehr die Hand gehoben, um zu zeigen, dass man über gewisse Dinge besser leise redet.

Bei den täglichen Besuchen von Herrn Halleys Freunden und den abendlichen Zusammenkünften habe ich oft an die Ecke im Kapellental und an die nächtlichen Treffen im kleineren Haus unseres Zweihäuserhofs gedacht. Dort hat der Herr Pastor versucht, die Hitzköpfe zum Schweigen zu bringen und als Mann Gottes Zucht und Ordnung aufrechtzuerhalten, aber dann hat auch er zugeben müssen, dass der größte Fehler und das größte Unrecht bei der Amtsgewalt und beim Gouverneur selbst liegen.

Ich bin älter geworden, sodass ich mich an verschiedene Zeiten und Jahre gleichzeitig und übereinander und hintereinander und in Stücken und als Ganzes erinnere, kleine Dinge und Punkte und Augenblicke, aber zugleich auch so gut wie alles. Auf die Art öffnet sich das Zurückgebliebene dem Sinn manchmal mitten im ganz Gewöhnlichen, aber es kommt auch vor, dass man Zeit hat und allein in Ruhe nachdenken kann, und dann ist man in der Lage, sich von einem ganzen Kalenderjahr Monat für Monat und Woche für Woche daran zu erinnern, was wann gewesen ist.

Es ist schon über vier Jahre her, dass ich von daheim weggegangen bin. Die letzten vier sind Londoner Jahre gewesen, alle früheren St.-Helena-Jahre.

Auch wenn ich von dort nicht mehr gehört habe als durch einen Brief von meiner Mutter und jetzt durch den Brief des Herrn Pastors, sind meine Mutter und Adam immer noch dort und wohnen vielleicht noch im selben Haus, aber das weiß ich nicht, nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Erinnern ist Wissen, soweit man sich erinnert, und Ann und Thomas sind in den vergangenen Zeiten ebenso lebendig wie alle Orte und alles, was passiert ist.

Ich weiß nicht, ob es bei anderen genauso ist. Solche seltsamen Dinge kann man niemanden fragen, und man sieht in den anderen nicht hinein und ahnt nicht einmal immer alles, nicht einmal was jetzt ist, geschweige denn, was einmal war.

Wenn du deine Reise leichter machen kannst, indem du dich mitnehmen lässt, kannst du ein bisschen was dafür bezahlen. Aber verschwende nichts unüberlegt. Nimm genug zu essen mit und trage lieber etwas zu viel davon mit dir, weil auf dem letzten Stück auf den Straßen von Tenterden nicht unbedingt leicht etwas zu finden ist, kein Nachtlager für einen wie dich und kein fertiges Essen. Vielleicht triffst du Pastor Burch nicht gleich, denn ich glaube, es kann sein, dass er sich versteckt hält, entweder in der Obhut seiner Verwandten oder, falls sie sich zerstritten haben, irgendwo bei Bekannten, wenn er nach den Jahren in der Isolation St. Helenas noch Freunde in der Gegend hat, rät mir Herr Halley, und ich weiß, dass es gute Ratschläge sind, weil er viel gereist ist, sowohl im weiten England als auch anderswo, sogar bis nach Rom.

Ende Oktober und Anfang November ist die Zeit eines hellen Mondes. Da kann man gut aufbrechen, denn wenn du nicht rechtzeitig einen Schlafplatz findest und bis spät wandern musst, dann siehst du auch mitten in der Nacht noch etwas, beiderseits von Vollmond hat man immer Nächte mit guter Sicht, auch wenn es bewölkt ist, sagt er.

Ich werde dann also gehen, wenn ich von Euch die endgültige Erlaubnis bekomme?

Die Erlaubnis erhältst du selbstverständlich, weil es ja schon entschieden ist. Richte Burch Grüße aus, falls du ihn findest. Soweit ich mich erinnere, war er kein dummer Mann, wenn auch voll mit seinem Glauben. An dieser Sorte ist nichts Schlimmes, denke das nur nicht von mir. Ich habe aber Glaubensmänner anderer Art zu Gesicht bekommen und mich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Doch für jetzt nicht mehr davon. Schließlich habe ich weiterhin meine Arbeit und wenigstens mein Amt bei der Society. Vielleicht ändert sich wieder etwas, da jetzt so viel geredet wird. Denn zuerst wird geredet, und dann passiert etwas. So kann sich alles zu einem neuen Anfang wenden. Oder was glaubst du, Angus? Glaubst du bei Staatsangelegenheiten überhaupt schon etwas?

Ich weiß nicht, Herr, antworte ich und bin höflich, so wie ich es auch sonst bin, denn wenn man etwas nicht weiß, ist es besser, es zuzugeben und gleicher Meinung wie der andere zu sein, und das Geringste ist, dass man höflich und gehorsam bleibt.

Dann steht Herr Halley auf und sagt, er gehe am Vormittag in die Stadt, um sich um rechtliche Dinge und um seinen Besitz zu kümmern. Er sagt eigens dazu, dass er mich jetzt nicht braucht, um Utensilien zu tragen. Beim Kümmern um rechtliche Angelegenheiten und ums Eigentum braucht es nicht mehr als Reden und Abmachungen und Unterlagen, aber all das kostet Zeit. Darum ist es leichter, überhaupt nichts zu besitzen.

Wenn man nichts hat oder nur wenig, kommt man mehr zu anderen Sachen. Dennoch muss man andererseits, wenn man keine große Familie hat und von Geburt an vaterlos gewesen ist, versuchen, alles gut und richtig zu machen, falls das überhaupt reicht. Obwohl Herr Halley mein Beschützer ist und mir in London alles gegeben hat, bin ich manchmal an dem falschen Gedanken hängen geblieben, dass er einen viel leichteren und ebeneren Weg gehabt hat, um im Wissen und im Ansehen so weit zu kommen. Er hat die beste Schule besuchen und in London leben dürfen, und sein Vater hat ihm schon Beobachtungsinstrumente gekauft, als er noch jung war, und dann hat er schon damals eine große und teure Reise machen dürfen, als er zu uns kam, um als erster Mensch die Sterne der südlichen Himmelskugel genau zu vermessen. Er war nicht mehr als knapp über zwanzig und kein bisschen mehr als vier Jahre älter, als ich es jetzt bin, und hatte schon die Schule zu Ende besucht und war ein geachteter Student an der Universität. Nichts davon werde ich jemals erreichen können.

Wenn ich über so etwas nachdenke, ist das kein gutes Gefühl, denn dann bin ich neidisch, und Neid frisst nur den auf, der ihn mit sich trägt, und man müsste im Gegenteil vorausplanen und nicht darüber nachdenken, was einem versagt geblieben ist. Ich erinnere mich, dass der Herr Pastor mich so zu unterweisen versuchte und sagte, am endgültigen Ende und am herrlichen Anbeginn der neuen Zeit gibt es vor Gott keine geringeren und keine wichtigeren Menschen, sondern jeder hat seinen Platz und eine wichtige Stellung im großen Uhrwerk des Herrn.

Auf St. Helena und noch in der Anfangszeit in London habe ich großartige Bilder von der Zukunft vor mir gesehen, zwar bilderlose Bilder, doch solche, bei denen mir kalte Schauer über die Haut liefen, wenn ich an sie dachte. Obwohl ich überhaupt nicht habe wissen können, was irgendwann ist, habe ich doch oft das Gefühl gehabt, dass ganz bestimmt etwas Großes kommen wird.

Jetzt kommt das nur noch selten vor. Manchmal befürchte ich, dass ich auf der Stelle stehen geblieben bin und gar nichts Wichtigeres mehr passiert. Ich mache meine Arbeit in Herrn Halleys Haushalt und in seinen Diensten gut und erledige auch alle zusätzlichen Aufgaben, die mir zugewiesen werden, aber in mir entsteht nicht mehr so ein großes Gefühl und Wissen um die Zukunft, dass ich nicht weiß, wohin damit. Wenn jeder Mensch sein Maß und seine Menge hat, bin ich vielleicht schon mit sechzehn und bald siebzehn zu meinem Maß herangewachsen.

NOCH BEVOR ICH aufbreche, will Herr Halley mit einem Experiment beginnen, bei dem Luft mit Bälgen in Ledersäcke gepackt wird. Er will die Messungen durchführen, bevor die Gewässer noch mehr abkühlen.

Meine Aufgabe ist es, in die Themse zu waten, den Sack unter die Wasseroberfläche zu drücken und dort unsichtbar auf der Stelle zu halten. Das Wasser ist bereits schneidend, und noch schlimmer und glitschig kalt fühlt sich der weiche Schlamm an den bloßen Füßen an, als ich bis zu den Hüften ins Tiefe gehe und versuche, bei jedem Schritt zu tasten, damit die Fußsohle nicht auf etwas Scharfes trifft.

Herr Halley muss selbst neben mir auf die gleiche Art waten. Er hält direkt unter der Oberfläche einen flachen Holzkasten, in den er mit einer Hand mit Maßen versehene Kupfergewichte aus der Brusttasche seiner Arbeitsjacke legen kann. Das Gerät ist eine umgedrehte Waage, hat er gesagt, als er zuerst darüber nachgedacht und es dann selbst gebaut hat. Es scheint gut als Waage zu funktionieren, jetzt, da Herr Halley überprüfen will, ob der dynamische Auftrieb des Luftsacks wächst und wie viel, wenn man ihn mit dem Schmiedebalg ganz vollpackt.

Ohne Balg und schnelles Zubinden der Öffnung bleibt der Sack schlaff und schafft es nicht, die Holzkiste und die Gewichte so stark nach oben zu drücken wie ein prall gepackter Sack. So hat Herr Halley es vorher vermutet, und so geschieht es schon bei den ersten Versuchen mit zwei verschiedenen Säcken, aber die Übungsversuche allein reichen nicht aus, denn er will genaue Werte haben.

Die Stelle ist schlecht zum Waten und stinkt, aber er hat sie ausgesucht, weil die Böschung der Themse an der Stelle flach ist und nicht zu viele Leute in der Nähe sind. So ist es am Anfang auch, aber sobald wir bis zu den Hüften ins trübe Wasser gewatet sind, kommen Zuschauer und bleiben stehen, und dann kommen sie sogar von weiter her. Achte gar nicht darauf, sagt Herr Halley zu mir, als ich zum Ufer blicke. Er selbst kehrt ihnen den Rücken zu und geht noch tiefer ins Kalte, sodass die Schöße seiner Arbeitsjacke hinten an die Oberfläche steigen.

Die Menschen sind so, dass, wenn irgendwo eine kleine Gruppe steht, sich bald in der Nähe und ringsum immer mehr von ihnen zu einer ganzen Herde versammeln. Ich habe das schon in Jamestown gesehen, obwohl es dort insgesamt nicht so eine Menge Leute gibt wie hier in einem Viertel. In London wimmelt es von Leuten in allen Ecken, und sogar an so einer abgelegenen Stelle des Flusses kommen während der Messungen ein Dutzend zusammen.

Herr Halley kann unmöglich alles gleichzeitig machen: den Kasten genau an einer Stelle direkt unter der Oberfläche halten und dabei Gewichte hinzufügen und auch noch die Unzenmaße auf Papier notieren, darum sagt er die Zahlen laut und befiehlt mir, sie mir zu merken. Ich wiederhole das Gewicht, und er wiederholt es noch einmal, sodass ich es mir bestimmt merke.

Ich merke mir immer leichter alles Mögliche. Auch wenn ich mir nicht vollkommen sicher bin, glaube ich, dass ich mir Sachen besser merken kann als andere, und das kommt daher, dass mir der Herr Pastor auf St. Helena das Auswendiglernen beigebracht hat, als ich noch klein war und kaum richtig lesen gelernt hatte. Sich-etwas-Merken war Lesenlernen und eine Art des Lesens, und der Herr Pastor wollte, dass ich alle Arten des Lesens gleichzeitig lerne.

Der Herr Pastor lehrte mich das Lesen und das Merken. Herr Halley lehrt mich, zu sehen und mir zu merken, was ich sehe. Und so glaube ich jetzt, dass ich mir vielleicht alles auswendig merken kann und dass Herr Halley das ausprobiert hat und weiß.

Als wir nach den ersten Messungen des Sackversuchs wieder ans Ufer waten, trocknet er sich zuerst in aller Ruhe die Hände an einem Handtuch ab, wirft einen Blick auf das glotzende Publikum und fängt dann erst damit an, die Werte in die Auftriebskraftzeichnung einzutragen, die er angefertigt hat. Wenn er nickt, sage ich die richtigen Zahlen, die ganze Serie, denn wir haben zur Sicherheit mehrere Versuche hintereinander gemacht, und zwischendurch habe ich die Luftsäcke unter Wasser in unterschiedliche Positionen gedreht.

Was ist da los? Was macht ihr da? Ist da ein Kind ertrunken?

Solche Fragen kommen von oben, aber keiner tritt in den Uferschlamm und kommt direkt zu uns. Nachdem er die Werte aufgeschrieben hat, dreht sich Herr Halley zu den Leuten um. Er ist barfuß und hat die vor Schlammwasser triefenden Hosenbeine bis zu den Knien aufgekrempelt, aber er sieht auch in dieser Haltung stark aus, wie ein Gentleman und einer, dem niemand so leicht widerspricht.

Ihr könnt weitergehen. Wir machen Auftriebversuche für die Königliche Marine, sagt er laut, aber freundlich, genau so, dass zumindest ich es glauben würde und eigentlich glücklich wäre, dass ein hoher Beamter der Admiralität mit mir spricht und mir sogar erklärt, was für einen wichtigen Auftrag er ausführt.