Die letzte Blüte Roms - Peter Heather - E-Book

Die letzte Blüte Roms E-Book

Peter Heather

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Beschreibung

Das Weströmische Reich ist untergegangen. Das Oströmische Reich unterliegt im Krieg gegen die Perser, der Nika-Aufstand 532 n. Chr. stürzt das Reich innenpolitisch in die Krise, Konstantinopel, die kaiserliche Hauptstadt, liegt in Schutt und Asche. Wie kommt es aus dieser verfahrenen Situation heraus zur letzten Blüte Roms, zur größten Ausdehnung des Reichs im 6. Jahrhundert? Peter Heather erzählt meisterhaft die Geschichte einer Umbruchzeit. Zwischen Antike und Mittelalter, zwischen Rom und Byzanz manifestiert sie sich vor allem in der Herrschaft eines Kaisers, der als Bauernsohn ein sozialer Aufsteiger war und sich selbst als "Herrscher von Gottes Gnaden" verstand. Justinian (reg. 527-568) eroberte Nordafrika und Italien, Bauwerke wie die Hagia Sophia in Istanbul oder San Vitale in Ravenna gehen ebenso auf ihn zurück wie der Codex Iustinianus. Am Ende aber bleibt die Frage, wie hoch der Preis für Roms letzte Blüte war.

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Seitenzahl: 748

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Alle Titel und weitere Informationen zu wbg Paperback finden Sie unter www.wbg-wissenverbindet.de/paperback.

Peter Heather ist Professor für mittelalterliche Geschichte am Londoner King’s College. Zu seinen Werken zählen internationale Bestseller wie »Der Untergang des römischen Weltreichs«, »Invasion der Barbaren« und »Die Wiedergeburt Roms«.

Die englische Originalausgabe ist 2018 bei Oxford University Press, London, unter dem Titel »Rome Resurgent. War and Empire in the Age of Justinian« erschienen.

© 2018 by Oxford University Press

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.

© der deutschen Ausgabe 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Neuausgabe der 2019 bei wbg Theiss erschienenen Ausgabe

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Melanie Kattanek, Hemmingen

Gestaltung und Satz: TypoGraphik Anette Bernbeck, Gelnhausen

Einbandabbildung und rechte Seite: Ausschnitt aus dem Mosaik in der Kirche San Vitale in Ravenna, das Justinian mit Hofstaat zeigt. akg-images / Album

Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27332-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-534-74661-3

eBook (epub): 978-3-534-74662-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Justinian und der Niedergang des römischen Ostens

1

»In diesem Zeichen wirst du siegen«

Ideologie und Imperium

Die Politik des Siege(r)s

2

Geld und Männer für den Krieg

Die Soldaten des Imperiums

Der Kostenfaktor

3

Regimewechsel in Konstantinopel

Anastasios, der glücklose Kaiser

»Der purpurne Tod«

4

Der letzte verzweifelte Schachzug

Von Gottes Gnaden

Krieg im Osten

Misserfolg auch an heimischer Front

Der Nika-Aufstand

Auf nach Westen

5

Fünftausend Pferde

Vandalen und Alanen

Der Niedergang der Vandalen

6

Rom und Ravenna

Petros Patrikios

»Eine Nachbildung des einzigen Reiches«

Via Flaminia

7

Die Kultur des Siegers

Der Kampf um das Gesetz

»Salomo, ich habe dich übertroffen«

Der Friede Gottes

8

»Unser Bruder in Gott«

Der Adler ist gelandet

Das Alexandertor

Frieden in unserer Zeit

9

Totilas Aufstand

Imperator für zehn Jahre

Der Gote Totila

10

Justinians Westreich

Drei Kapitel

Geopolitik und der Balkan

Das Exarchat

Das Ende im Westen

11

Der Niedergang des Oströmischen Reiches

Islamischer Satellitenstaat

Verlust der Kerngebiete

Justinians Strategie zur Verteidigung des Reiches

Anhang

Die Quellensituation

Texte und Übersetzungen

Zeitleiste

Glossar

Anmerkungen

Bibliografie

Bildnachweis

Register

Justinian und der Niedergang des römischen Ostens

Mitte des 6. Jahrhunderts ließ das Herrscherhaus von Konstantinopel im zentralen Balkan auf einem niedrigen Plateau zwischen zwei kleinen Flüssen, der Svinjarica im Westen und der Caricina im Osten, eine neue Stadt errichten. Am nordwestlichen Ende des Plateaus thronte die Akropolis dieser Stadt, von massiven Wallanlagen umgeben. Diese Wallanlagen waren aufgrund der Beschaffenheit des Geländes ganz unregelmäßig. Fünf riesige Türme zierten sie, und es gab nur ein einziges Tor (Abb. 1). Im Inneren befand sich ein riesiger Kirchenkomplex (aus Basilika, Baptisterium und bischöflichem Audienzsaal), gegenüber ein nicht weniger aufwendig gestalteter Palast für die weltliche Macht und dazwischen ein von Säulengängen umgebener Platz. Weiter unten umgaben große Mauern die fünf Hektar große Oberstadt. Hier gab es mehrere Kirchen, von Arkaden gesäumte Straßen und eine große Kornkammer, einige Wohnhäuser für reiche Leute und auch diverse Einrichtungen der Wasserwirtschaft, wie sie im Altertum in den trockeneren Regionen rund ums Mittelmeer üblich waren, unter anderem eine Zisterne und einen Wasserturm. Außerhalb der Mauern erstreckte sich die Unterstadt, auf drei Hektar. Dort haben Ausgrabungen die Standorte weiterer Kirchen zutage gefördert sowie eine weitere riesige Zisterne und zwei große öffentliche Bäder.

Der gewaltige architektonische Aufwand, der beim Bau dieser Stadt betrieben wurde,1 war durch keinerlei wirtschaftliche, administrative, religiöse oder strategische Zwänge gerechtfertigt: Justiniana Prima (das heutige Caričin Grad in Serbien) entstand einzig und allein zu Ehren von Justinian I., der im 6. Jahrhundert römischer Kaiser war und Anfang der 480er-Jahre in eben dieser Gegend des Balkans als Petrus Sabbatius zur Welt gekommen war.

Heute ist Justinian einer der bekannteren römischen Kaiser. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er uns eine Reihe markanter Baudenkmäler hinterlassen hat. Dabei muss man sich gar nicht für irgendwelche Ruinen auf dem Balkan interessieren (was ich durchaus tue, wie ich gestehen muss), um sich für sein architektonisches Erbe zu begeistern: Es genügt ein Blick auf die atemberaubende Hagia Sophia im heutigen Istanbul. Oder auf die wunderschönen Mosaiken in San Vitale in Ravenna – das auf der einen Seite zeigt Justinian und seine Höflinge, das auf der anderen seine Frau, die Kaiserin Theodora, und deren Hofstaat (abgebildet auf S. 217). Sie locken jährlich Tausende Besucher in die Kirche. Was das Aussehen des Kaisers betrifft, so existieren in zeitgenössischen Quellen zwei ganz hervorragende Porträt (s. Abb. 8 und 12 a), und sie sind sich in allen wichtigen Punkten einig. Wie der Chronist Malalas es ausdrückt:

Abb. 1 Justiniana Prima. Kaiser Justinian verwandelte seinen Geburtsort, einst ein kleines Dorf, in eine Metropole.

Er war klein mit breiter Brust, guter Nase, heller Haut, lockigem Haar, rundem Gesicht, gutaussehend, mit zurückweichendem Haaransatz, gerötetem Teint; Haar und Bart wurden bereits grau.2

Ich bin allerdings der Ansicht, er wäre heute noch viel bekannter, wenn er schon im 1. Jahrhundert n. Chr. gelebt hätte. Seine Herrschaft war so außergewöhnlich und seine Leistungen so vielfältig, dass ihm ein Platz Seite an Seite mit den »Stars« aus Ich, Claudius – Kaiser und Gott gebührt hätte.

Justinian bestieg den Thron im Jahr 527. Er war von Gott auserkoren als Herrscher eines Römischen Reiches, das sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt hatte, dass es im Jahrhundert zuvor die gesamte westliche Hälfte seines Territoriums eingebüßt hatte. Das Römische Reich war das größte, das es im Westen Eurasiens je gegeben hatte, und noch dazu existierte es länger als alle anderen. Nach einem halben Jahrtausend – gegenüber einer solchen Zeitspanne sieht man die europäischen Empires des 19. und 20. Jahrhunderts mit ganz anderen Augen – hatte es nun, im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts, erlebt, wie alle seine westlichen Provinzen unter die Kontrolle diverser fremder Militärmächte gerieten: Angeln und Sachsen übernahmen in Britannien das Ruder, Franken und Burgunden in Gallien, Westgoten und Sueben auf der Iberischen Halbinsel und Vandalen und Alanen im Westen Nordafrikas (dem heutigen Libyen, Tunesien und Algerien). Italien, das frühere Herz des Imperiums, und damit natürlich auch die Stadt Rom wurden von einem Exilfürsten der Skiren regiert, der nach Italien geflohen war, nachdem im Jahr 460 das Königreich seines Vaters zerstört worden war: Odoaker. Er hatte in Italien einen Staatsstreich angezettelt, bei dem im Sommer 476 Romulus Augustulus als letzter weströmischer Kaiser gestürzt worden war – Odoaker hatte dann die Insignien des Westkaisers nach Konstantinopel schicken lassen.

Im Laufe des halben Jahrhunderts, bevor Justinian Kaiser wurde, durchlief Europa weitere Veränderungen: Vor allem konsolidierten die merowingischen Franken ihre Macht und expandierten von ihrer ursprünglichen Machtbasis im heutigen Belgien aus nach Süden und Westen, und zwischen 489 und 493 eroberte der Ostgote Theoderich Odoakers Königreich in Italien (Karte 1).

Nicht erst seit der Zeit des großen britischen Historikers Edward Gibbon diskutiert die Fachwelt über die Ursachen dieses erstaunlichen Niedergangs der Hälfte eines Kaiserreichs. In den letzten Jahren wurden die Stimmen der Revisionisten immer lauter: Sie versuchen, bei den Ereignissen des 5. Jahrhunderts sowohl die Rolle fremder Völker als auch das Ausmaß der stattgefundenen Gewalt kleinzureden. Ihrer Ansicht nach waren es verschiedene römische Interessengruppen, die beschlossen hatten, sich nicht mehr an den organisatorischen Strukturen des Imperiums zu beteiligen, und für ihre Ziele teilweise romanisierte Außenstehende einsetzten (wie die Franken und Ostgoten), denen sie somit den Weg zu einer lokalen Autonomie ebneten. Ein Buch über Justinian und seine Zeit bietet leider keinen Platz für eine ausführliche Diskussion dieses umstrittenen Themas. Dennoch werden wir uns in den folgenden Kapiteln ein wenig eingehender insbesondere mit den Vandalen, den Alanen und den Ostgoten beschäftigen, weil sie ins Visier von Justinians Armeen gerieten. Auch wenn der revisionistische Diskurs in bestimmten wissenschaftlichen Kreisen eine beträchtliche Anziehungskraft hat: In einigen wichtigen Punkten lässt er sich nicht in befriedigender Weise in eine Gesamtdarstellung der Zersplitterung des westlichen Imperiums einfügen.

Karte 1 Ostrom und die westlichen Nachfolgestaaten 525 n. Chr.

Weströmische Provinzeliten führten intensive Verhandlungen mit aufstrebenden Mächten (wie den Westgoten und den Vandalen und Alanen), die bereits im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts auf römischem Boden Fuß gefasst hatten. Aber das war nur die letzte Stufe eines Prozesses, der mehrere Generationen gedauert hatte und dessen frühe Phasen – als sich diese Gruppen auf römischem Boden etablierten – extrem von Gewalt geprägt gewesen waren. Westgoten und Vandalen/Alanen waren neue Koalitionen, entstanden auf weströmischem Territorium, und sie speisten sich aus zwei beispiellosen Migrationswellen über die Reichsgrenzen hinweg (zwischen 376 und 380 und zwischen 405 und 408). Ursprünglich waren sie Außenseiter des Imperiums; sie zwangen den römischen Staat durch eine ganze Reihe militärischer Siege, ihre dauerhafte Existenz auf römischem Territorium zu akzeptieren – man denke nur an den Sieg der westgotischen Koalition im August 378 in Adrianopel, bei dem an einem einzigen schrecklichen Tag Kaiser Valens den Tod fand und zwei Drittel seiner Armee vernichtet wurden. Dabei war der Tod vieler römischer Soldaten nur das unmittelbarste Problem, das diese Koalitionen von ihrem Entstehen bis zu ihrer Akzeptanz bescherten: Dadurch, dass Westrom ihnen einen Teil seiner Territorien überließ (die Westgoten durften sich in Südwestgallien niederlassen und die Vandalen und Alanen später in Nordafrika), büßte es auch einen Teil seiner regelmäßigen Einnahmen ein, und so wurde es immer schwieriger, in ausreichendem Maße militärische Streitkräfte zu unterhalten, die eine weitere gewaltsame Expansion seitens der neuen aufstrebenden Mächte im römischen Westen vielleicht hätten verhindern können. Und es waren nun nicht mehr nur Westgoten, Vandalen und Alanen, sondern auch Burgunden, Franken und andere, kleinere Gruppen, die sich im Zuge verschiedener politischer Krisen, die mit dem Aufstieg und Fall des Hunnenreichs Mitte des 5. Jahrhunderts zu tun hatten, auf dem Grund und Boden der Römer niederließen.

Die zentralisierte Kontrolle der westlichen Provinzen ging im Zuge dieser Entwicklungen verloren, und die Steuereinnahmen des Weströmischen Reiches wurden geschmälert. Und nicht nur das: Bei dieser neuen politischen Großwetterlage hatten die römischen Provinzeliten keine andere Wahl, als mit den neuen Königen um sie herum Geschäfte zu machen. Der Reichtum dieser Eliten rührte von ihrem Grundbesitz her, und genau das machte sie verwundbar – sie konnten ihre wichtigste Einnahmequelle schlichtweg nirgendwohin mitnehmen. Wenn plötzlich ein fränkischer oder gotischer König der wichtigste Herrscher in der Umgebung war, dann musste man sich wohl oder übel mit ihm arrangieren, oder aber man riskierte, alles zu verlieren. Solche Arrangements brachten so gut wie immer finanzielle Einbußen mit sich, aber solange die Gefahr bestand, dass man alles verlor (wie die römischen Eliten in Britannien und im Nordwesten Galliens, die den Zusammenbruch des 5. Jahrhunderts nicht überlebten), verabschiedete man sich lieber nur von einem Teil seines Reichtums. Wer diesen Prozess insgesamt als weitgehend friedlichen und freiwilligen Niedergang eines Imperiums charakterisiert, der klammert sich meines Erachtens zu sehr an das letzte Puzzleteil der Geschichte und sieht nicht das große Ganze, das sich aus all den relevanten Fakten ergibt.3

Während der Westen im 5. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund groß angelegter Attacken von außen im Chaos versank (insbesondere in den 440er-Jahren, der großen Zeit Attilas und seines Hunnenreichs), blieb die östliche Hälfte des Römischen Reiches stabil. Aus Gründen, die ich in Kapitel 1 näher untersuche, war es Ende des 3. Jahrhunderts und im 4. Jahrhundert zur Regel geworden, dass die riesige römische Welt von zwei Kaisern regiert wurde: Der eine herrschte von Konstantinopel aus über den Osten, der andere von Trier an der Mosel bzw. nicht allzu weit vom Rhein oder Mailand bzw. Ravenna in Norditalien aus über den Westen. Der Ost- und der West-Kaiser gerieten oft aneinander und führten zeitweise sogar Krieg gegeneinander, aber das Römische Reich blieb dennoch ein geschlossenes Imperium, wie sich daran zeigt, dass die übergreifenden rechtlichen und kulturellen Strukturen durch den Aufstieg und Fall diverser kaiserlicher Regimes nie ernsthaft bedroht waren.4 Und während die zentrale kaiserliche Macht im Westen schließlich am Ausbleiben von Steuereinnahmen aus den Provinzen zugrunde ging (insbesondere nachdem die Vandalen und Alanen in den 440er-Jahren die reichen nordafrikanischen Provinzen übernommen hatten), blieben Konstantinopel seine Territorien mit den höchsten Steuereinnahmen größtenteils erhalten: Ägypten, Syrien, Palästina und der Westen Kleinasiens (der heutigen Türkei) waren der wirtschaftliche Motor Ostroms. Und so brutal und erfolgreich Attilas Armeen auf dem Schlachtfeld auch waren, es gelang ihnen nie, den Balkan hinter sich zu lassen und Gebiete jenseits von Konstantinopel zu erobern.

Der Staat, den Justinian im Jahr 527 erbte, wies somit in kultureller und institutioneller Hinsicht die charakteristischen spätrömischen Strukturen auf (auch wenn es sich um den östlichen Mittelmeerraum handelte, der weitgehend von griechischsprachigen Eliten gelenkt wurde). Die Herrschaftsinstrumente und Mechanismen wirtschaftlicher Organisation in der überlebenden östlichen Hälfte der römischen Welt waren im Großen und Ganzen dieselben wie jene, die schon vor den katastrophalen Ereignissen des 5. Jahrhunderts im gesamten Römischen Reich am Werk gewesen waren. Ganz eindeutig verfügte der Kaiser auch über weitaus mehr Macht und größere Ressourcen als die neuen Königreiche im Westen. Dies sollte sich erst im 7. Jahrhundert ändern, als das Oströmische Reich ein ähnliches Schicksal erlitt wie zuvor Westrom: Zwischen zwei Drittel und drei Viertel seiner Territorien fielen in die Hände der unbezwingbaren Armeen des aufstrebenden Islams, der dem Sand der arabischen Wüste entstieg und sich explosionsartig verbreitete. Was vom Oströmischen Reich übrig blieb, war gezwungen, sich kulturell, wirtschaftlich und institutionell anzupassen, und zwar auf so grundlegende Weise, dass man das Gebilde von diesem Punkt an, genau wie die frühmittelalterlichen Reiche im Westen, eher als einen Nachfolgestaat betrachten muss denn als Fortsetzung des alten Römischen Reiches. Aus diesem Grund bevorzugen viele Historiker (so auch ich) für diesen post-islamischen östlichen Nachfolgestaat den Begriff Byzantinisches Reich, um ihn von der östlichen Hälfte des Römischen Reiches zu unterscheiden, die ihm vorausging.5

Doch auch wenn Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. alle Signale auf eine Auflösung des Römischen Imperiums deuteten – das Weströmische Reich ging im 5. Jahrhundert unter, im 7. Jahrhundert folgte das Oströmische Reich seinem Schicksal, wie schon gezeigt –, so bekam Petrus Sabbatius davon offenbar nichts mit. Als er im Jahr 565 mit weit über achtzig Jahren starb, hatten die Armeen Konstantinopels nicht nur verhindert, dass sich die territorialen Verluste, die Westrom im 5. Jahrhundert erlebt hatte, im Osten wiederholten, im Gegenteil: Seinem berühmten Feldherrn Belisar war es gelungen, diesen Prozess regelrecht umzukehren. Anders als im Fall des Kaisers selbst hat kein antikes Bildnis Belisars überlebt, doch es heißt, er sei groß und gut aussehend gewesen und von eindrucksvoller Statur – ganz anders als der schmächtige Justinian, dem bereits das Haar ausging (siehe Abb. 2).6 Doch auch wenn die beiden in physischer Hinsicht ein recht skurriles Paar abgaben: Gemeinsam brachten der Kaiser und sein Feldherr die von den Vandalen und Alanen eroberten nordafrikanischen Provinzen, Sizilien und Italien, den Nordwestbalkan und sogar Teile Südhispaniens zurück unter römische Kontrolle, auch wenn es nun das Oströmische Reich war, das diese Gebiete kontrollierte, von Konstantinopel aus. Im Zuge dessen wurden zwei der frühen »barbarischen« Nachfolger-Königreiche im Westen, die Vandalen und die Ostgoten, vollständig ausgelöscht.

Abb. 2 Auf dem berühmten Barberini-Diptychon aus Elfenbein unterwirft der siegreiche Justinian »Barbaren«.

Diese außergewöhnlichen Ereignisse werfen zwei grundlegende Fragen über Justinians Herrschaft auf. Mitte der 530er-Jahre, im zehnten Jahr seiner Regentschaft, wusste Justinians Propaganda zu verbreiten, es sei von Anfang an der sehnlichste Wunsch des Kaiser gewesen, die im 5. Jahrhundert eingebüßten westlichen Gebiete wieder unter römische Kontrolle zu bringen – eine Behauptung, der die meisten Forscher bis in die 1980er-Jahre hinein Glauben schenkten; die neuere Literatur zeugt von etwas mehr Skepsis.7 Es gibt inzwischen nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass Justinians Eroberungen für die menschlichen und finanziellen Ressourcen der Kernprovinzen des Ostreichs eine enorme Belastung darstellten und in den Gebieten, die sie betrafen, für unermessliches Leid sorgten – sie brachten Tod und Vertreibung. Justinian ließ nicht einmal von seinen Plänen im Westen ab, als der gesamte Mittelmeerraum in den 540er-Jahren von einer Pestepidemie heimgesucht wurde. Für viele Wissenschaftler, selbst für jene, die Justinian positiv beurteilen, ihn als eine Art romantischen Visionär sehen, wirft die Bilanz seiner Regierungszeit einige schwierige Fragen auf, allen voran: Waren die Eroberungen so viel Tod und Zerstörung wert? Und rechtfertigten sie in irgendeiner Weise den gewaltigen Aufwand? Immerhin nahm die Eroberung Italiens fast 25 Jahre in Anspruch, und kaum zehn Jahre nach Justinians Tod fiel ein Großteil Norditaliens in die Hände der Langobarden. Vor allem aber kam es Anfang des 7. Jahrhunderts zu einer nie dagewesenen Abfolge katastrophaler Ereignisse, die nun nicht mehr den Westen, sondern das Ostreich betrafen. Syrien, Palästina und Ägypten, die Kerngebiete des Oströmischen Reiches, die Konstantinopel das meiste Geld einbrachten, fielen zunächst den Persern in die Hände und wurden dann dauerhaft von den islamischen Armeen erobert; Konstantinopel wurde von der Hauptstadt eines Weltreiches zu einer Regionalmacht an der nordöstlichen Ecke des Mittelmeers degradiert.

Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass Justinians ohne Rücksicht auf Verluste geführte Feldzüge die Ressourcen seines Imperiums dermaßen überstrapaziert hatten, dass es äußeren Feinden am Ende ein Leichtes war, sich seine Territorien einzuverleiben. Das Bild von Justinian als romantischem Visionär weicht daher heute zunehmend der Vermutung, dass die Rückeroberung des römischen Westens die inneren Strukturen seines Imperiums irreparabel beschädigte. Ziel und Zweck dieses Buches ist es, anhand einer Vielzahl von erhaltenen Quellen (siehe dazu eingehend S. 368 ff.) zu untersuchen, wie viel Wahrheit in diesen beiden Hypothesen über das außergewöhnliche historische Phänomen Justinian und seine Regierungszeit steckt.

Bevor man aber überhaupt damit beginnen kann, Justinians Regime, die Rolle, die es innerhalb der nach Westen gerichteten Expansionspolitik spielte, und die Auswirkungen dieser Politik zu untersuchen, muss man den politischen und institutionellen Hintergrund unter die Lupe nehmen, vor dem sich all dies entfaltete: Wie sah dieses Oströmische Reich aus, das Justinian im August 527 von seinem Onkel erbte? Wie funktionierte es in der Praxis, und welche politische Kultur hielt es im Inneren zusammen? Diese Fragen sind in der letzten Forschergeneration ein wenig zu sehr in den Hintergrund gerückt, woran nicht zuletzt der cultural turn schuld ist, der die Geschichtswissenschaft tendenziell von einer detaillierten Analyse politischer Prozesse und ihrer weitreichenden Konsequenzen weggeführt hat. Wie dieses Buch zeigt, bietet ein Abgleich der ambivalenten Berichte des Prokop, eines Historikers und Zeitgenossen Justinians – unsere wichtigste Quelle zu Justinians Zeit – mit den Anforderungen und den realen Grenzen der ideologischen wie auch praktischen Strukturen des Römischen Reiches der Spätantike eine ganz eigene Möglichkeit, dessen interpretative Darstellungen zu überprüfen. Zugleich hilft uns dies, sowohl die Ursachen als auch die Auswirkungen von Justinians außergewöhnlicher Karriere als Eroberer des Westens begreiflich zu machen.

1

»In diesem Zeichen wirst du siegen«

Die Geschichte des christlichen Römischen Reichs begann mit einem Traum. Im Herbst des Jahres 312 zog Konstantin mit seiner Armee nach Süden über die Alpen und weiter in Richtung Rom, um seinen direkten Rivalen Maxentius anzugreifen. Am Vorabend der großen Schlacht

erhielt Konstantin im Traum den Rat, die Schilde seiner Soldaten mit dem himmlischen Zeichen Gottes zu versehen, bevor sie in den Kampf zogen. Er tat, wie ihm geheißen: Mit einem schrägen Buchstaben Chi, dessen Spitze oben umgebogen war, markierte er Christus auf ihre Schilde. Mit diesem Zeichen gerüstet, griff die Armee zu den Waffen.1

Am 28. Oktober trug Konstantin einen überwältigenden Sieg davon, und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Der siegreiche Kaiser bedankte sich bei seinem göttlichen Beschützer, indem er eine Christianisierung einläutete, die die politische und religiöse Kultur des spätrömischen Kaiserreichs veränderte, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Konstantins Vermächtnis war der Grundstein des Imperiums, das Justinian am 1. August 527 erbte. In seinem Werk Bauten beschreibt Prokop ein monumentales Reiterstandbild im Herzen Konstantinopels, das Justinian von sich selbst aufstellen ließ:

In der linken Hand hält er einen Globus, durch den der Bildhauer andeutet, dass dem Kaiser alles Land und alle Meere unterworfen sind, aber er trägt weder Schwert noch Speer noch irgendeine andere Waffe: Ein Kreuz steht auf dem Globus, den er trägt; allein durch das Kreuz erhielt er sein Reich und war siegreich im Krieg.2

Nach Konstantins Traum wurde nika – »siege!« oder »erobere!« – zur Parole des römischen Heeres, das durch die Symbole des christlichen Gottes geschützt war. Dieses Nebeneinander von »christlich« und »Krieg« ist uns so vertraut, dass wir beinahe übersehen, welch fundamentales Paradox dahintersteckt. Als Christus gefragt wird, wie man reagieren soll, wenn jemand einem etwas Böses tut, antwortet er, so berichten die Evangelien: »Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!«3 Wenn wir uns genauer anschauen, wie es kam, dass römische Armeen in der Spätantike ihre Siege im Zeichen des Kreuzes errangen, können wir besser nachvollziehen, warum die Kriegsführung für die Ideologie und für das Funktionieren von Justinians Reich eine solche Schlüsselrolle spielte.

Ideologie und Imperium

Das römische Kaiserreich galt unter seinen Bürgern als beste Form der politischen Organisation – nicht nur verglichen mit den Herrschaftssystemen aller anderen Staaten, die damals existierten (wobei die Ausdehnung der in der Spätantike bekannten Welt die Bandbreite möglicher Vergleiche von vornherein einschränkte), sondern auch gegenüber jedem denkbaren politischen System. Grundlage dieser Behauptung war ein Mix aus Ideen und Konzepten, die größtenteils der Philosophie und dem politischen Denken des klassischen Griechenland entlehnt waren und die unter dem Dach des römischen Kaiserreichs eine neue Ideologie bildeten.

Ausgangspunkt war ein spezifisches Verständnis des Menschen und seiner Rolle im Universum: Der Mensch steht an der Grenze zwischen der Welt des Spirituellen, die von überlegenen, vollkommen rationalen Wesen bevölkert ist, und der irrationalen, rein physischen Welt darunter, der alle anderen Lebewesen angehören. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das zugleich eine rationale Seele und einen irrationalen physischen Körper hat, was bedeutet, dass er die inhärente Fähigkeit besitzt, entweder völlig rational zu werden, sodass die rationale Seele den irrationalen Körper kontrolliert (wie es die göttlichen Mächte vorgesehen haben), oder völlig irrational wie ein ausschließlich von seinen körperlichen Trieben gesteuertes Tier. Die überlegenen, komplett spirituellen Wesen sind zwangsweise rational und die minderwertigen, komplett physischen Wesen irrational. Allein der Mensch hat die Wahl, sich für eine der beiden Richtungen zu entscheiden.

Dadurch erhielt auch der klassische, griechisch-römische Kulturbegriff eine ganz spezifische Bedeutung. Zivilisation – im Lateinischen civilitas – meinte eine bestimmte Art der sozialen Organisation, die es den Menschen ermöglichte, vollkommen rationale Wesen zu werden, so wie ihr göttlicher Schöpfer es sich wünschte. Konkreter ausgedrückt: Nach der klassischen Theorie gab es eine Reihe spezifischer kultureller Elemente, die der griechisch-römischen Gesellschaft ihre einzigartige zivilisatorische Kraft verliehen, auch wenn diese von verschiedenen Theoretikern unterschiedlich gewichtet wurden. Die charakteristische klassische Bildung der gesellschaftlichen Elite, die Grammatik, Rhetorik und Literatur (auf Griechisch oder Latein) umfasste, galt als wesentlicher erster Schritt. Die Grammatik lehrte Logik und brachte Ordnung ins Denken, die Rhetorik vermittelte die Fähigkeit, beides auszudrücken, und die Literatur lieferte eine Art moralische Datenbank, aus der sich wichtige Erkenntnisse über menschliche Verhaltensweisen und ihre wahrscheinlichen Folgen ziehen ließen. Von Alexander dem Großen etwa konnte man lernen, dass es wenig ratsam war, beim abendlichen Gelage so viel zu trinken, dass man seinen besten Freund mit einem Speer attackierte. Andere Erkenntnisse waren durchaus gehaltvoller. Die Barbaren waren in den Augen der Römer geradezu lächerlich emotional – beim geringsten Erfolg glaubten sie, sie hätten die Welt erobert, beim kleinsten Rückschlag fielen sie in sich zusammen und degenerierten zu einem jämmerlichen Häufchen Elend. Wer sich mithilfe der Literatur mit dem Leben und dem Charakter der Menschen auseinandersetzte, konnten beide Extreme vermeiden.

Auch die Wichtigkeit ganz nüchterner verschriftlichter Gesetze wurde hervorgehoben, auch wenn sie je nach Kontext Ursache oder Wirkung sein konnten. Einige Theoretiker waren der Ansicht, dass die Gesetze das Individuum daran hinderten, seine eigenen Interessen über die aller anderen Menschen zu stellen. Anders formuliert: Die Bildung sorgte dafür, dass das Individuum vernünftig genug war, um seine persönlichen Interessen dem Wohl der Gemeinschaft unterzuordnen, indem es sich den geltenden Gesetzen unterwarf. Ein weiterer wichtiger Faktor waren selbstverwaltete Städte (civitates, Sg. civitas): Sich mit Gleichgesinnten zu treffen, um vernünftige Debatten zu führen und am Ende gemeinsam wichtige Entscheidungen zu treffen, half bei der Weiterentwicklung der eigenen Vernunft weit mehr, als zu Hause zu sitzen und nur mit Sklaven und Frauen zu interagieren. Wer Letzteres tat, war für Griechen und Römer ganz wortwörtlich ein »Idiot« (Lat. idiota, Griech. idiotes – jemand, der sich ins Privatleben zurückzieht, anstatt sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, was zu Vernunft und civilitas führen würde).4

Dieses Modell war ganz unverhohlen elitär. Nur Angehörige der vermögenden Elite konnten sich eine private klassische Bildung leisten, und dem Stadtrat einer griechischen oder römischen Gemeinde konnte nur angehören, wer über eine bestimmte Menge Grundeigentum verfügte. Außerdem war das Modell eindeutig patriarchalisch ausgerichtet. Zwar sah das Konzept rein theoretisch die Existenz vollkommen vernünftiger Frauen vor, aber in der Realität galten sie als absolute Ausnahme. Die allgemeine Überlegenheit der gesellschaftlichen Institutionen der Griechen und Römer indes war grenzenlos. Unter Bezugnahme auf die Philosophen Pythagoras und Ptolemaios hatten die Griechen und Römer ein Organisationsprinzip entdeckt, das den gesamten Kosmos durchzog und dafür sorgte, dass allen Dingen eine gewisse Ordnung zugrunde lag. Diese Ordnung spiegelte sich im Abstand der Planeten zur Erde genauso wider wie in der Harmonie in der Musik und in den Proportionen in der Architektur.5 Deshalb war die Vernunft so wichtig: Sie half den Menschen dabei, in die Tat umzusetzen, was der Schöpfer sich ausgedacht hatte. Das erklärt auch, wie die Römer – eine letzte, aber für unsere Zwecke entscheidende ideologische Wendung – zur Überzeugung gelangen konnten, das Göttliche habe ein einzigartiges Interesse an ihrem Staat und seinem Schicksal. Auch hier laufen wieder einige Gedankengänge zusammen: Erstens machte die kosmologische Ordnung auch vor der menschlichen Politik nicht halt; kein irdischer Herrscher konnte Macht ausüben, wenn die göttlichen Mächte dagegen waren. Zweitens war die kulturelle und gesellschaftliche Ordnung, die die römische Politik perfektioniert hatte, auf einzigartige Weise im Einklang mit den allgemeinen Zielen des Göttlichen für die Menschheit – nach dieser Logik war das Römische Reich Gottes Werkzeug zur Schaffung vollkommen vernünftiger Menschen; das Wohlergehen des römischen Staates und seine guten Absichten waren damit ein einzigartiges Zeugnis dafür, dass dieser Staat göttliche Unterstützung genoss.6

Alle diese Gedankengebäude waren längst etabliert, als Konstantin seinen Traum hatte. Sie waren Teil der Ausbildung, die die römische Elite – von adligen Grundbesitzern aufwärts – genoss und die zu diesem Zeitpunkt im gesamten Römischen Reich einigermaßen einheitlich war. Von Schottland bis zum Irak wurden jungen Leuten diese Ideen und Konzepte vermittelt, und alle genossen sie eine sprachlich-literarische Bildung in Latein und/oder Griechisch. Ihre Lehrer waren Grammatiker, Privatgelehrte, wie es sie in jeder größeren Marktstadt des Reiches gab und deren Bildungsprodukt die Conditio sine qua non für eine Aufnahme in die kaiserliche Elite war, sprich: für eine Chance auf eine profitable Karriere innerhalb der politischen und administrativen Strukturen des Kaiserreichs. Es gab gute und nicht so gute Grammatiker, guten und nicht so guten Unterricht, aber alle Grammatiker vermittelten die gleichen Grundwerte und -konzepte; sie waren ein fester Bestandteil des römischen Ausbildungssystems und sorgten über viele Tausend Kilometer hinweg für ein überraschend hohes Maß an kultureller Einheit.7

Auf den meisten Ebenen passte Konstantins neue Religion in diese Gedankengebäude auffallend gut hinein. Der erste wirklich christliche Theoretiker des Römischen Reiches, Bischof Eusebius von Caesarea, erklärte noch zu Lebzeiten Konstantins, es sei kein Zufall, dass Christus während der Herrschaft des ersten römischen Kaisers, Augustus, zur Welt kam. Das Christentum und das Reich seien im Geiste des Göttlichen miteinander verbunden, und mit der Ankunft der christlichen Kaiser sei es Roms Schicksal, die gesamte Menschheit zum Christentum zu bekehren. In der christianisierten Version der althergebrachten römischen Ideologie war der Kaiser nicht weniger als der Stellvertreter Jesu Christi, der bis zu dessen Wiederkunft an seiner Stelle auf Erden regierte, und der römische Staat war der irdische Ausläufer des Himmelreichs. Jedes staatliche Ereignis galt als direkte verbale und zeremonielle Ausdrucksform dieser zentralen christlichen Ideologie, und eine sakrale Aura umgab die Person des Kaisers und seine Untergebenen. Alles war »heilig«, vom kaiserlichen Schlafzimmer bis hin zum kaiserlichen Finanzamt.8

Die Gottheit, der so viel am Wohlergehen des Römischen Reiches lag, zum Gott des Alten und Neuen Testaments umzudeuten, war nicht allzu schwierig, doch es gab durchaus auch einige weiter reichende Veränderungen. Im vorchristlichen Reich beispielsweise hatte keiner so recht gewusst, ob der göttliche Plan auch die armen Landbewohner der römischen Welt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung) betraf, die keinerlei Zugang zu jenen Strukturen hatte, die einen Menschen zum vernünftigen Wesen machten, wie Bildung, Stadträte usw. Die Lehre des Christentums hingegen stellte ganz kompromisslos klar, dass jeder Mensch eine Seele habe und dass vor Gott das Heil jeder einzelnen Seele gleich wichtig sei. Aus diesem Grund galten in den entsprechenden Debatten der postkonstantinischen Zeit, soweit sie uns überliefert sind, immer häufiger nicht mehr die Bildung und die Teilhabe an der städtischen Selbstverwaltung als entscheidendes kulturelles Merkmal, das die vernünftige, von Gott geweihte römische Gesellschaft von ihren minderwertigen – »barbarischen« – Nachbarn unterschied, sondern die schriftlich festgelegten Gesetze.

In einer berühmt gewordenen Stelle bei einem römischen Autor verkündet der westgotische König Athaulf, er habe den Plan, das Römische Reich durch ein gotisches zu ersetzen, aufgegeben, weil seine Anhänger nicht in der Lage seien, sich an schriftlich fixierte Gesetze zu halten. Seine beste Option, fand er, bestand darin, das gotische Militär dazu einzusetzen, Rom zu unterstützen. Und bei einem anderen Autor bricht ein ehemaliger römischer Kaufmann, der inzwischen ein wohlhabender Hunne ist, in Tränen aus, als er sich daran erinnert, wie angenehm das Leben damals war, als sich die Menschen noch an das kodifizierte römische Recht hielten. Überhaupt kam das Erlassen von Gesetzescodices im poströmischen Westen einer Deklaration gleich, dass das eigene Gemeinwesen nun dem Club zivilisierter christlicher Nationen angehörte, selbst wenn diese Gesetze in der Praxis gar nicht zur Anwendung kamen.9 Gesetze eigneten sich dafür deshalb so gut, weil sie jeden Bürger, den Adligen wie den Bauern, innerhalb einer festgelegten Sozialstruktur verorteten. Das geschriebene Recht war eine Gabe Gottes, die dazu diente, allen Menschen den Platz zuzuweisen, der ihnen gebührte.

Das Christentum hatte auch einen Einfluss auf die religiöse Komponente des Berufsbilds des Kaisers. Die römischen Kaiser hatten schon immer auch eine religiöse Funktion gehabt; seit Augustus gebührte allein dem Kaiser der Titel Pontifex Maximus, und als solcher trug er letztendlich die Verantwortung dafür, dass die Götter dem Imperium gewogen waren. Dazu hielt er beispielsweise bestimmte Sühne-Rituale ab, wenn Omina (Vorzeichen) oder Ereignisse darauf hindeuteten, dass die Unterstützung der Götter ausblieb. Da es im Christentum bereits die »Fachleute« gab, die für alle Rituale verantwortlich waren, wurde schnell klar, dass der Kaiser nicht länger als bloßer Priester gelten konnte. Als Gottes Stellvertreter hatte er nach wie vor eine einzigartige Beziehung zum Göttlichen und behielt eine allumfassende religiöse Autorität. Genau das aber machte seine Beziehung zur christlichen Priesterschaft so kompliziert – Kaiser und Bischöfe brauchten eine gewisse Zeit, allein um auszuhandeln, ob und wie der Kaiser an einer öffentlichen Messe teilnehmen konnte, ohne dass seine religiöse Autorität von den Priestern kompromittiert wurde, die ganz offensichtlich Dinge tun konnten, die dem Kaiser nicht möglich waren.10 Es gab auch immer wieder christliche Führungspersönlichkeiten, die die religiöse Autorität des Kaisers in bestimmten Situationen hinterfragten. So sind mehrere Darstellungen von Heiligen und Bischöfen überliefert, die den Inhaber des kaiserlichen Throns zurechtwiesen. Ende des 5. Jahrhunderts verwendete Papst Gelasius in einem Brief an Kaiser Anastasios I. in Konstantinopel eine Metapher von zwei Schwertern, die suggerierte, dass sich die kaiserliche Autorität nicht auf das Heilige erstrecke.11

Zu diesem Zeitpunkt musste sich Gelasius zumindest vor Ort in Rom schon nicht mehr mit einem Kaiser auseinandersetzen, denn die westliche Hälfte des Römischen Reiches war eine Generation zuvor bereits Geschichte. Spätrömische Kirchenmänner, so prominent sie auch sein mochten, hätten aber ohnehin nicht gewagt, dem Kaiser offen ablehnend zu begegnen. In privaten Briefwechseln mit ihren Anhängern ließen sie sich manchmal zu unverschämten Bemerkungen über einzelne Kaiser hinreißen, mit denen sie unterschiedlicher Meinung waren, aber insgesamt übten die Kaiser von Konstantin bis Justinian de facto und de jure Macht über die Kirche aus.

Tatsächlich setzte die Bekehrung Konstantins, was das Wesen und Wirken der christlichen Religion betrifft, eine Revolution in Gang, die mindestens ebenso umfassend war wie die Veränderungen, die die Strukturen und Ideologien des Imperiums durch das Zutun der Religion erfuhren. Man definierte wichtige Dogmen wie die Dreifaltigkeit, richtete neue Herrschaftsstrukturen ein, die die Rechte und Pflichten von Bischöfen, Erzbischöfen und Priestern definierten, und legte neue Regeln für religiöses und moralisches Verhalten fest.

Die Kaiser spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie beriefen große Konzilien ein, an denen theoretisch die Gesamtheit aller christlichen Kirchen teilnahm (daher der Begriff »ökumenisches Konzil«), führten dort den Vorsitz und legten sogar die Tagesordnung fest. Bei diesen Konzilien wurden viele der erwähnten Punkte beschlossen – die erste solche Zusammenkunft fand 325 in Nicäa statt.

Die ranghöchsten Kirchenmänner der spätrömischen Zeit waren die fünf Patriarchen: die Bischöfe von Rom, Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel. Vier dieser fünf Bischofssitze waren jeweils von einem der Apostel Christi gegründet worden (Konstantinopel war Bischofssitz, weil es als »neues Rom« dem alten Rom in nichts nachstehen sollte). Rom sah sich selbst als prestigeträchtigste dieser fünf Städte, aber die anderen vier teilten diese Ansicht nicht, und eine päpstliche Autorität, wie sie im Hochmittelalter entstand, existierte noch nicht. Dass nur der Kaiser ein ökumenisches Konzil einberufen konnte und die Patriarchen lediglich für regionale Konzile zuständig waren, zeigt noch einmal deutlich, welche religiöse Autorität der Kaiser besaß. In der Praxis erzwangen Kaiser auf den Konzilien Entscheidungen, ernannten hochrangige Kirchenmänner, und die Gesetze, die sie erließen, enthielten viele wichtige formelle Anordnungen für die Kirche. Der ambitionierteste formale Anspruch auf Autorität über die westliche Kirche aus spätrömischer Zeit unterstreicht diesen Punkt; es handelt sich um einen im Jahr 445 verfassten Text, der erklärt: »Nichts darf gegen oder ohne die Autorität der römischen Kirche getan werden.« Dass dies in der Praxis aber völlig ignoriert wurde, ist ein ganz wesentlicher Punkt – es sollte noch einmal siebenhundert Jahre dauern, bis diese Anordnung Wirkung zeigte; ein anderer ist, dass sie aus der Gesetzgebung des weströmischen Kaisers Valentinian III. stammt. In der Realität fungierte der spätrömische Kaiser als Oberhaupt der sich rasch entwickelnden christlichen Kirche (wie es die Auffassung des Kaisers vom göttlichen Ursprung seiner Autorität ja bereits nahelegt), und die Kirche selbst war im Großen und Ganzen eine Unterabteilung des römischen Staates. Mit anderen Worten: Die meisten Reichsbewohner, nicht nur kirchliche Amtsträger, akzeptierten nach wie vor, dass der Kaiser das Recht hatte, eine allumfassende religiöse Autorität auszuüben.12

Gegenüber dieser Neudefinition seiner religiösen Autorität blieben die meisten anderen Elemente des kaiserlichen Amtes im Wesentlichen unverändert. Was die Zivilgesellschaft betraf, so galt es als Pflicht des Kaisers, die wichtigsten Institutionen der civilitas zu schützen, indem er Vorgaben machte, wie der Verwaltungsapparat und die Beamten, aus denen dieser Apparat bestand, das Reich zu regieren hatten. Laut Themistios, einem politischen Berater des Kaisers im 4. Jahrhundert, war die wichtigste kaiserliche Tugend in diesem Zusammenhang die Philanthropie: die Liebe zu den Menschen (und zwar zu allen Menschen, nicht zu ein paar Auserwählten oder Gruppen). In den ideologischen Konstrukten der Griechen und Römer war dies die göttliche Tugend schlechthin; sie ermöglichte es dem Kaiser, für alle seine Untertanen zu sorgen, indem er die wichtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen förderte, die die civilitas stützten. In der Praxis bedeutete es, dass der Kaiser in einer ganzen Reihe wichtiger Bereiche angemessen handeln musste (oder zumindest so tun musste, als handelte er so). Was das Rechtssystem betraf, so musste er die juristischen Strukturen aufrechterhalten, die die Römer immer häufiger als zentrales Merkmal wahrnahmen, durch das sich ihre zivilisierte Gesellschaft von all den barbarischen Nachbarvölkern unterschied. Ab dem ausgehenden 3. Jahrhundert waren in der römischen Welt größtenteils die Kaiser für die Gesetzgebung zuständig; sie galten für gewöhnlich als »lebendiges Recht« – auf Griechisch nomos empsychos.13 Sie konnten Gesetze erlassen (und manchmal auch brechen), wie es ihnen beliebte, doch da das Recht in ideologischer Hinsicht eine so wichtige Rolle spielte, mussten sie stets in der Lage sein zu demonstrieren, dass das, was sie taten, die Ideale der vernünftigen civilitas unterstützte, auch wenn es sich in Wirklichkeit – wie nicht selten der Fall – ganz anders verhielt.

Eine zweite wichtige zivile Funktion des Kaisers bestand darin, alle hohen Beamten zu ernennen, die in ihrer Gesamtheit den Herrschaftsapparat bildeten. Der Kaiser war der oberste Autokrat, aber wie jeder Autokrat, der über riesige Gebiete mit eingeschränktem Bürokratieapparat herrscht, erledigten de facto seine Beamten die Regierungsgeschäfte; diese besaßen ein hohes Maß an Autonomie. Die ersten Phasen seiner Regierungszeit war ein Kaiser folglich mit der Ernennung neuer Beamter beschäftigt und damit, Beziehungen zu einer ganzen Reihe lokaler Lobbyisten herzustellen, um sich so ein funktionierendes Regime aufzubauen. Wiederum wurde viel von dem, was da geschah, von der Realpolitik diktiert, doch wie Themistios es ausdrückte, formte ein Kaiser den Charakter seines Regimes durch die persönlichen Qualitäten seiner »Freunde«, mit denen er die Machtpositionen besetzte. Der Prozess, wenn der Kaiser seinen Herrschaftsapparat einrichtete, musste zumindest nach außen hin so wirken, als stärke er die civilitas, und dazu brauchte er Repräsentanten, die über passende persönliche Eigenschaften verfügten.14

Aus ähnlichen Gründen suchten die Kaiser immer wieder nach Situationen, in denen sie demonstrieren konnten, wie sie lokale Bildungs- und Regierungseinrichtungen unterstützten, die als Grundbedingung der civilitas galten (auch wenn ihr Handeln dann in Wirklichkeit wenig mehr als Fassade war). Lehrstühle zu vergeben, war immer ein guter Schachzug, genau wie alles, das als Unterstützung der lokalen Selbstverwaltung der städtischen Eliten durchging. Auch wenn die ständige Einmischung durch die zentrale Reichsregierung die lokale Autonomie der Bürger in der Realität immer weiter ausgehöhlt hatte, übten diese kulturellen ideologischen Imperative auch im christlichen Reich des 6. Jahrhunderts noch eine gewisse Kraft aus. Und obwohl Prokop in den Bauten die größte Emphase auf das Christentum und die Verteidigung legt, kam der Stadt als einzig möglichem Kontext für ein wirklich zivilisiertes Leben immer noch eine gewisse Bedeutung zu. So beschreibt Prokop in den 550er-Jahren, wie sich Caput Vada (im heutigen Tunesien) verändert hat, seit dort zwanzig Jahre zuvor Belisars Invasionsstreitmacht landete:

Die Bauern haben den Pflug beiseitegelegt und sind nun eine Gemeinschaft, die sich nicht mehr landwirtschaftlichen Aufgaben widmet, sondern ein städtisches Leben führt. Tagsüber sind sie auf dem Forum und halten Versammlungen ab, um die Fragen zu erörtern, die sie beschäftigen; und sie treiben Tauschhandel miteinander und widmen sich all jenen Dingen, die die Würde des Städters ausmachen.15

Die alte zivilisatorische Kraft, die der lokalen Selbstverwaltung innewohnte, war – zumindest theoretisch – immer noch quicklebendig.

Der vom christlichen Gott persönlich für seine Aufgabe ausgewählte Kaiser hatte auch wichtige militärische Pflichten. Bis weit ins 4. Jahrhundert hinein nahmen die Kaiser als Militärkommandanten aktiv an Feldzügen teil, und manche wurden vor allem deshalb in dynastische Interregna berufen, weil sie bereits bekannte Feldherren waren, so zum Beispiel Valentinian I. und Theodosius I. Doch das Amt des Kaisers behielt seine allgemeine militärische Funktion – oder besser: Verantwortung – auch dann noch bei, als die Kaiser Ende des 4. Jahrhunderts damit aufhörten, persönlich mit in den Krieg zu ziehen. Im Jahr 402 wertete der Dichter Claudian den Sieg der weströmischen Armeen über die gotischen Streitkräfte Alarichs als persönliche Leistung von Kaiser Honorius.16 Dabei hatte Honorius in Wirklichkeit keinen Fuß auf das Schlachtfeld gesetzt, denn er war damals erst zwölf Jahre alt. Und die Schlacht endete auch gar nicht mit einem Sieg der Römer, sondern ging unentschieden aus. Der springende Punkt hier ist jedoch nicht, dass Claudian es mit der historischen Wahrheit nicht so genau nimmt: Entscheidend sind seine Gründe dafür, Honorius’ Beitrag zu dem fiktiven Triumph zu verklären.

In der gesamten Geschichte der römischen Kaiserzeit galt eine Tugend als wichtigstes Charaktermerkmal eines Herrschers: die Fähigkeit, auf dem Schlachtfeld den Sieg davonzutragen. Dass sich daran auch mit dem Aufkommen des Christentums nichts änderte, hatte einen ganz einfachen Grund: Ein militärischer Sieg zeitigte eine weitaus größere ideologische und politische Wirkung als jeder religiöse oder zivile Akt. Letztere beiden Dimensionen des kaiserlichen Amtes – darunter die Beilegung theologischer Streitfragen, Gesetze, die die civilitas sicherstellten usw. – konnte als mögliches Zeichen göttlicher Begünstigung gesehen werden (und wurde es auch regelmäßig), aber die Taten eines Kaisers an diesen »Fronten« waren anfechtbar und wurden immer wieder infrage gestellt. Wurde eine theologische Streitfrage entschieden, gab es dabei immer auch Verlierer in den eigenen Reihen – und sie leugneten oft jahrzehntelang die Legitimität der Entscheidung. Der Streit um die Person Christi innerhalb der Dreifaltigkeit, der eigentlich im Jahr 325 in Nicäa »beigelegt« wurde, ging de facto noch drei Politikergenerationen lang weiter. Wie die folgenden Kapitel zeigen, beschäftigte Justinian Mitte des 6. Jahrhunderts ein weiterer kirchlicher Disput, der theoretisch bereits 451 auf dem Konzil von Chalkedon entschieden worden war. Bei der Gesetzgebung war es ähnlich: Es gab kein Gesetz, das allen Menschen auf die gleiche Weise von Nutzen gewesen wäre (auch wenn die kaiserliche Propaganda dies gerne behauptete).17

Kurz: Ein militärischer Sieg besaß eine größere legitimierende Macht als jede andere kaiserliche Aktivität. Der allmächtige Gott konnte kein deutlicheres Zeichen seiner Gunst senden als einen kolossalen militärischen Sieg über die den Römern innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung per definitionem untergeordneten Barbaren. Während der gesamten römischen Kaiserzeit waren die Kaiser bei allem, was sie taten, darauf bedacht klarzustellen, dass sie im Einklang mit dem göttlichen Plan für die Menschheit handelten. Und in ideologischer Hinsicht gab es dabei nichts, das einem militärischen Sieg gleichgekommen wäre. Selbst wenn ein Kaiser wie der junge Honorius die Truppen nicht persönlich ins Feld führte, konnte eine siegreiche Schlacht seine gottgegebene Legitimität beweisen: Die Feldherren hatten ja in seinem Namen gekämpft. Damit schloss sich der ideologische Kreis. Ein legitimer Kaiser hatte göttliche Kräfte hinter sich, die sich in einem Sieg auf dem Schlachtfeld manifestierten. Und andersherum brachte ein militärischer Erfolg eben mehr politische Legitimität mit sich, als es jede andere Tat eines Kaisers vermocht hätte.18

Dementsprechend nahmen militärische Siege als ultimatives Zeichen göttlicher Unterstützung in der Propaganda aller römischen Herrscher einen zentralen Platz ein. Seit Konstantins unmittelbaren Vorgängern, den Tetrarchen, gaben sich die Kaiser Siegertitel aus den Adjektiven der Namen der besiegten Feinde und fügten sie der Liste ihrer bisherigen Titel hinzu. Zu »Caesar«, »Augustus« oder »Pontifex Maximus« gesellten sich so »Parthicus«, »Alamannicus«, »Gothicus« und viele andere Titel mehr. Diokletian und die anderen Tetrarchen fügten jedem dieser Titel sogar noch eine Zahl hinzu, die anzeigte, wie oft sie (oder einer ihrer Kollegen) einen bestimmten Gegner besiegt hatten: »VII Carpicus« hieß also »siebenmal Sieger über die Karpen«. Nach Konstantin waren die Kaiser nicht mehr so sehr auf Zahlen fixiert, auf Siege aber schon. Jedes Mal, wenn der offizielle Name eines Kaisers erwähnt wurde, wurden seine Untertanen nolens volens mit einer Liste von Siegen konfrontiert, die unterstrich, dass Gott sein Regime unterstützte.19

Anlässe dafür gab es reichlich. Die kaiserliche Titulatur tauchte in allen offiziellen kaiserlichen Verlautbarungen auf, von kurzen Briefen bis zu formellen Gesetzestexten. Und sie fand sich auch auf vielen Inschriften wieder, die meistens mithilfe der Namen der Konsuln datiert wurden – das Konsulamt übten die Kaiser in spätrömischer Zeit regelmäßig selbst aus. Die meisten öffentlichen Anlässe im Römischen Reich, sei es auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene, beinhalteten eine formelle Akklamation, bei der auch sämtliche Titel des amtierenden Kaisers ausgerufen werden mussten. So begann jede Sitzung eines der vielen Hundert Stadträte des Römischen Reichs der Spätantike mit einer solchen Akklamation (auch wenn nur von einer einzigen derartigen Sitzung das Protokoll überliefert ist), genau wie jede formelle Zeremonie im Reich, nicht zuletzt die sorgfältig orchestrierte Ankunft – adventus – des Kaisers in einer seiner Städte. Bei solchen Anlässen wurden die militärischen Leistungen des Kaisers nicht nur in Form der Titulatur erwähnt, sondern in der Regel auch noch ausführlich besprochen. Bei den meisten kaiserlichen Zeremonien brachte jemand einen Panegyricus zu Gehör, eine formelle Lobrede zu Ehren des Kaisers, und wer das Glück hatte, eine solche Lobrede halten zu dürfen, konnte damit seine eigene Karriere vorantreiben. Ein Panegyricus konnte individuell gestaltet werden, doch eine der am häufigsten verwendeten Formen beinhaltete einen Abschnitt, der die Heldentaten des Kaisers im Krieg aufzählte. Und auch wenn sich der Redner für eine andere Form entschied: Er verzichtete niemals darauf, die kaiserlichen Erfolge auf dem Schlachtfeld zu erwähnen.20

Was bei einer Aufzählung dieser Taten indes nie fehlen durfte, war der Hinweis auf den göttlichen Beistand, mithilfe dessen der Kaiser seine Siege errungen hatte. Die Darstellung des Barbaren, der sich den Römern unterwift, spielte in der spätrömischen Ikonografie eine wichtige Rolle. Auf diversen Münzen war – oft begleitet von einer passenden Inschrift wie debellator gentium (»Eroberer von Völkern«) – auf dem Revers ein am Boden liegender Barbar abgebildet, der daran erinnern sollte, dass es für den Kaiser quasi zum Tagesgeschäft gehörte, solche Feinde zu besiegen. Besiegte Barbaren in verschiedenen Posen wurden auch regelmäßig auf den Reliefs abgebildet, mit denen die Kaiser die größeren Städte ihres Reiches zu schmücken pflegten, nicht zuletzt an den gewaltigen Triumphbögen.21 Der kapitulierende Barbar war der ideale Begleiter des siegreichen römischen Kaisers, der göttliche Kräfte hinter sich wusste. In ideologischer Hinsicht dienten Darstellungen wie diese dazu, die Botschaft zu verbreiten, dass das derzeitige Regime alles richtig machte.

Die Ideologien des Römischen Reiches, die sich mit dem aufkommenden Christentum kaum veränderten, legten fest, was der Kaiser zu tun hatte – weniger im Sinne bestimmter Tätigkeiten, sondern indem sie (was nicht weniger wichtig war) eine Reihe von Zielvorgaben definierten, die der Kaiser irgendwie erreichen musste. Ein legitimer römischer Kaiser war kein weltlicher Herrscher im modernen Sinne des Wortes, sondern einer, der direkt vom allerhöchsten Schöpfergott des gesamten Kosmos dazu ausgewählt worden war, dafür zu sorgen, dass die zentralen Säulen intakt blieben, auf denen die vernünftige römische Zivilisation ruhte – Bildung, urbanes Leben, niedergeschriebenes Recht und das Wohlergehen der christlichen Kirche; denn diese Säulen sorgten dafür, dass der Mensch dem göttlichen Plan ein Stück weit näherkam, und im Gegenzug sorgte Gott dafür, dass der Herrscher alle, die ihm im Weg standen, auch tatsächlich aus dem Weg räumen konnte. Dieses Konstrukt war bereits mehrere Jahrhunderte alt, als Justinian 527 den Thron bestieg, doch es war wirkmächtig wie eh und je.

Was auch immer ein Regime sonst noch anstellen mochte: Gemessen wurde es daran, ob es in allen Bereichen dem entsprach, wie man sich eine legitime römische Regierung vorstellte, und der weitaus wichtigste Faktor dabei war einer, der sich (scheinbar) ganz leicht messen ließ: der militärische Erfolg. Man sollte stets bedenken, dass hiermit nicht etwa abstrakte Strategien zur Selbstdarstellung des Regimes gemeint sind. Der überwältigende ideologische Imperativ, der der göttlichen Legitimitierung von Macht und dadurch vor allem dem militärischen Sieg anhaftete, hatte für die politischen Prozesse der römischen Spätantike einen regelrechten Dominoeffekt.

Die Politik des Siege(r)s

Dass ein Kaiser behauptete, von Gott persönlich berufen worden zu sein, bedeutete nicht, dass alle politischen Fraktionen jeweils sofort in Jubel ausbrachen und diese Behauptung akzeptierten – im Gegenteil. Die naiv-optimistische Ideologie des Römischen Reiches, es sei der bestmögliche Staat und seine handverlesenen Herrscher seien von göttlichen Mächten eingesetzt, machte es natürlich schwierig, in der Öffentlichkeit eine abweichende Meinung zu äußern. Das kaiserliche Zeremoniell war darauf ausgelegt, dass die einflussreicheren Bürger in der Reihenfolge ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ihre uneingeschränkte Zustimmung zu der Grundidee zur Schau stellten, dass sie Teil einer perfekten, gottgewollten politischen Struktur waren. Und wer wollte einer perfekten Struktur widersprechen?

Der bizarre orchestrierte Lobgesang, mit dem die Senatoren an Weihnachten 438 die Vorlage eines neuen Gesetzestextes des Kaisers – des Codex Theodosianus – begrüßten, ist nur ein Beispiel für die formelle Einstimmigkeit, die diese politische Kultur einforderte.22 Einer derart perfektionierten Gesellschaftsordnung konnte wohl nur ein Barbar die Unterstützung versagen. Wer es wagte, in aller Öffentlichkeit Zweifel am Regime zu äußern, lebte gefährlich. Wie John Matthews gezeigt hat, konnte Symmachus, ein Senator des ausgehenden 4. Jahrhunderts, nur mit sehr indirekten Worten signalisieren, wenn er jemanden nicht mochte, insbesondere wenn dieser Jemand ein »Freund« des Kaisers war, dem jener ein einflussreiches Amt zugeschustert hatte.23 Doch auch der Umstand, dass das öffentliche Leben im Römischen Reich ein gewaltiges Maß an formeller öffentlicher Zustimmung erforderte, konnte nicht verhindern, dass Intrigen und Verschwörungen eine Grundkonstante des politischen Lebens darstellten.

Forscher, die sich mit der römischen Spätantike befassen, beschäftigen sich noch immer zu wenig mit dem Phänomen der Thronfolge, obwohl sogar die Abläufe in der modernen Politik bestätigen, wie wichtig das Thema Nachfolge ist. Innerhalb einer höfischen Struktur wirkte sich die Thronfolge auf alle einflussreichen Akteure ganz unmittelbar aus. Für jeden kaiserlichen Günstling war die Vorstellung, dass der aktuelle Herrscher abgelöst wurde, äußerst bedrohlich. Würde ihm das nächste Regime die gleiche Gunst erweisen? Umgekehrt konnten all jene, die beim Kaiser in Ungnade gefallen waren, darauf hoffen, dass sich die Dinge unter seinem Nachfolger zum Besseren wenden würden, und alle, die irgendwo dazwischen »unterwegs« waren, durften auf einen Aufstieg hoffen. Mit anderen Worten: Sobald sich abzeichnete, dass das Reich einen neuen Kaiser bekommen würde, wurden alle bestehenden politischen Bündnisse und Beziehungen neu verhandelt, und allerorten traten lange Zeit unterdrückte Hoffnungen zutage. Und wie man unlängst in Großbritannien beobachten konnte, als Michael Gove, der Boris Johnson eben noch hofiert hatte, auf einmal umschwenkte und versuchte, ihn politisch kaltzustellen, können scheinbar solide Bündnisse von einem Tag auf den anderen zu Bruch gehen, wenn bei gewissen Politikern der Ehrgeiz erwacht.

In der römischen Spätantike gab es ein gewaltiges Spektrum an Gruppen und Fraktionen, für die alles rund um die Thronfolge von höchstem Interesse war. Zuerst war da natürlich die aktuelle Kaiserfamilie, der die naheliegendsten Anwärter auf den Thron angehörten, doch schon dieses Netzwerk dehnte sich mitunter recht weit aus, bis hin zu den Seitenlinien früherer Dynastien. Nach dem Tod von Leo I. gab es in den 470er- und 480er-Jahren in Konstantinopel ein ganzes Jahrzehnt lang Machtkämpfe bei Hofe, in die diverse Cousins, Schwager und sogar Ehefrauen ehemaliger Kaiser verwickelt waren.24 Aber nicht nur mehr oder weniger bedeutende Mitglieder der Herrscherfamilien machten sich Gedanken über die kaiserliche Nachfolge. Mitunter traten auch Außenseiter als Thronanwärter auf den Plan, vor allem wenn es keinen »offensichtlichen« männlichen Erben gab.

Abb. 3 Justinians Onkel und Vorgänger, Kaiser Justin.

Traditionell kommt man an diesem Punkt auf die Armee als politischen Faktor zu sprechen, doch damit ist in der Regel nur der Offizierskader eines ganz bestimmten Segments des römischen Militärs gemeint: derjenige der elitären Feldarmeen nämlich. Hochrangige Offiziere dieser Streitkräfte hatten unter den richtigen Umständen immer gute Chancen auf den Thron. Valentinian I. war ein prominenter Militär, bevor er Kaiser wurde, genau wie Theodosius I. und auch die späteren Kaiser Markian und Justin, Justinians Onkel.25 Ganz gelegentlich kamen auch Bürokraten und Beamte des kaiserlichen Hofs für die Thronfolge infrage. Nach Julians Tod wurde dessen wichtigstem Finanz- und Justizbeamten, dem Prätorianerpräfekten Salutius Secundus, die Kaiserwürde angeboten, die weströmischen Usurpatoren Eugenius (392–394) und Johannes (423–425) waren beide leitende Bürokraten, und Anastasios I., der zweite Kaiser vor Justinian, war zuvor ein ranghoher Würdenträger bei Hofe gewesen.26 Selbst wenn die Umstände eine dynastische Erbfolge diktierten, waren eben jene militärischen und zivilen Würdenträger dennoch stets eng involviert, und viele überlegten sich bereits, während sie noch unter dem aktuellen Herrscher ihre Position zu sichern oder zu verbessern suchten, welches Mitglied der Dynastie sie später einmal unterstützen würden (falls überhaupt mehrere zur Wahl standen).

Aber auch weiter unten in der Hackordnung hatten manche Akteure einen großen Anteil am Prozess der Thronfolge. Viele mittlere Bürokraten gehörten zum Bekanntenkreis einflussreicher Mäzene, deren Erfolg oder Misserfolg ernsthafte Auswirkungen auf ihre eigene Karriere hatte. Mitte der 350er-Jahre versorgten mittlere Finanzbeamte Caesar Julian mit wichtigen Informationen, die es jenem ermöglichten, sich der Kontrolle des Finanzministers und Prätorianerpräfekten Florentius zu entziehen, der ihm von Constantius II. vor die Nase gesetzt worden war, und sich politisch zu emanzipieren. Bereits vorher hatten Funktionäre in der östlichen Reichshälfte Julians Halbbruder, Caesar Gallus, zu einem ähnlichen Manöver ermutigt, aber dort war der Versuch fehlgeschlagen – und am Ende war Gallus tot. In beiden Fällen hatten die Beamten geglaubt, ihr jeweiliger Caesar sei der kommende Mann, und sie hatten sich Vorteile für die Zeit erhofft, wenn er später einmal Kaiser wäre.

Diese Dynamik gab es durchaus auch noch im 6. Jahrhundert. Johannes Lydos’ Wohlstand war eng mit dem Erfolg seines viel einflussreicheren Gönners Zoticus verbunden, des Prätorianerpräfekten des Ostens. Ende der 540er-Jahre versuchte eine Gruppe mäßig gut vernetzter Militärs, Justins Neffen Germanus, der zwar nicht offizieller Erbe, aber ein durchaus plausibler Kandidat für die Thronfolge war, dazu zu bringen, sich an einer Verschwörung zu beteiligen, die den Tod des Kaisers herbeiführen und den Neffen als seinen Nachfolger installieren sollte.27

Noch weiter vom Zentrum der Macht entfernt, auf lokaler Ebene, hatte der Kaiser loyale Erfüllungsgehilfen, die dafür sorgten, dass Steuern ins Staatssäckel flossen. Im Gegenzug nutzten solche Männer – ein klassisches Beispiel ist Synesios von Kyrene zu Beginn des 5. Jahrhunderts – ihre Verbindungen in die Hauptstadt dazu, die politische Agenda ihrer Heimat zu bestimmen; über diesen Umweg hatten auch jene Männer einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der kaiserlichen Politik in ihren Feinheiten.28 Auch wenn stets der Kaiserhof im Zentrum der politischen Prozesse der römischen Spätantike stand, hatte dennoch auch ein beträchtlicher Querschnitt seiner landbesitzenden Elite Anteil an diesen Prozessen. Bedenkt man, für wie viele unterschiedliche Interessengruppen der römischen Spätantike die Thronfolge ein heißes Eisen war, ist es wenig verwunderlich, dass die Machtübergabe von einem zum anderen Kaiser nur selten ruhig und gesittet vor sich ging.

Zum einen wusste man nie, wann der derzeitige Kaiser ableben würde. Selbst wenn man verlässliche Daten über die durchschnittliche Lebenserwartung gehabt hätte, so gab es doch immer wieder jemanden, der in dieser Hinsicht alle Erwartungen übertraf. Konstantin wurde 65 Jahre alt und Anastasios sogar erstaunliche 87, doch die meisten Männer segneten zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig das Zeitliche, wie Constantius II., der einzige von Konstantins Söhnen, der eines natürlichen Todes starb, oder Theodosius II., der 49 Jahre alt war, als er im Jahr 450 starb.

Und manchmal kam der Tod ganz unerwartet. Valentinian I. erfreute sich bester Gesundheit – und dann raffte ihn binnen weniger Stunden ein Schlaganfall dahin; immerhin war er schon Mitte fünfzig und wurde somit von seiner unmittelbaren Umgebung ohnehin bereits mit Argusaugen beobachtet. 45 bis 55 ist nur ein Durchschnittswert, viele Amtsinhaber lebten weit früher ab: Arcadius und Honorius, die Söhne von Theodosius I., starben beide in ihren Dreißigern.29

Die Tatsache, dass es vor ca. 400 nicht üblich war, Minderjährige auf den Thron zu setzen, brachte weitere Komplikationen mit sich, da es immer wieder Nachkommen gab, die für das Kaiseramt qua jugendlichem Alter noch gar nicht infrage kamen. Der Sohn von Kaiser Jovian zum Beispiel verschwand unmittelbar nach dem plötzlichen Tod seines Vaters im Frühjahr 364 komplett aus dem öffentlichen Leben (und vielleicht auch aus dem privaten …).

Plötzliche Todesfälle waren indes nur ein Teil des Problems. Selbst wenn der Kaiser einen erwachsenen männlichen Erben hatte, der bereits die Zügel der Macht in Händen hielt, kam es vor, dass er seine Meinung änderte. Konstantin verstieß etwa nach der Hälfte seiner Regierungszeit Crispus, seinen erwachsenen Sohn aus einer früheren Liaison, zugunsten seiner Söhne mit seiner jüngeren Frau und ließ ihn sogar hinrichten.30 Dieser Schachzug wird das politische Kalkül vieler Beteiligter gehörig durcheinandergebracht haben.

Selbst wenn es einen plausiblen dynastischen Erben gab, brachten es die Struktur und die Dynamiken des politischen Lebens der Spätantike also mit sich, dass ein Regimewechsel selten reibungslos über die Bühne ging. Jedes der spätrömischen Regime war für sich genommen ein Balanceakt, mit diversen Hintermännern unmittelbar unterhalb des Kaisers, die ihre eigene Einflusssphäre kontrollierten und für gewöhnlich miteinander wetteiferten, wer innerhalb des Regimes den größeren Einfluss ausübte. Sosehr man auch den öffentlichen und zeremoniellen Konsens betonen mag: Es wird damals kaum weniger Rivalitäten und Spannungen gegeben haben, als sie für die höfischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit dokumentiert sind, zum Beispiel für den Hofstaat Heinrichs VIII. von England. Vor diesem Hintergrund geriet selbst die reguläre dynastische Thronfolge meistens zum Hahnenkampf.

Valentinian I. hinterließ zwei Söhne: den sechzehnjährigen Gratian und den vierjährigen Valentinian II. Als er ganz unerwartet einem Schlaganfall erlag, rief eine Gruppe von Funktionären in Trier, wo Valentinians Hof residierte, umgehend Gratian zum Kaiser aus. Zugleich jedoch machte eine andere Fraktion in Aquincum an der Mittleren Donau dasselbe mit dem kleinen Valentinian II., der seinen Vater auf dessen Feldzug begleitet hatte. Diese Aktion war nichts weniger als ein Staatsstreich. Es folgte ein langwieriger Prozess mit vielen Verhandlungen und mehreren Hinrichtungen: Diverse Hintermänner von Valentinian I. fielen der eigenen Machtgier zum Opfer, darunter der Vater des späteren Kaisers Theodosius I., bevor aus dem Wirrwarr eine neue Koalition hervorging.31

Dass Valentinian II. das Gemetzel überlebte und zurückgezogen ins Privatleben weiterleben konnte, darf über zwei ganz grundlegende Wahrheiten nicht hinwegtäuschen: Erstens war ein Regimewechsel in der römischen Spätantike selbst innerhalb der herrschenden Dynastie in aller Regel schon deshalb eine äußerst unerfreuliche Angelegenheit, da viele Menschen in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers alte Rechnungen zu begleichen hatten und sich selbst einen Teil der Macht sichern wollten. Dazu mussten sie mögliche Rivalen isolieren und eliminieren. Und da man zweitens nie wusste, wann der Kaiser sterben würde, mussten alle, die ein substanzielles Interesse am politischen System hatten, stets einen Plan B parat haben, um ihre eigene Position zu konsolidieren, damit sie beim Ableben des Kaisers also nicht mit leeren Händen dastünden und sich, im Gegenteil, ihre Position unter dem künftigen Regime möglichst weiter verbessern würde.

Dieses dynamische Wechselspiel zwischen Tod des Kaisers, Thronfolge und politischem Ehrgeiz brachte es mit sich, dass die politischen Akteure der römischen Spätantike ständig hinter den Kulissen ihre eigenen Pläne schmieden mussten, um für alle möglichen Zukunftsszenarien gerüstet zu sein. Und von der legitimen Sorge um die Zukunft war es da oft nur ein kleiner Schritt hin zu Verrat und Verschwörung. Anfang der 370er-Jahre gerieten mehrere ranghohe Beamte in Antiochia in ernsthafte Schwierigkeiten, als sie einen Dreifuß für eine Séance missbrauchten, bei der sie den Namen des nächsten Kaisers herausfinden wollten. Der damalige Kaiser Valens war außer sich, zumal die Inschrift auf dem Dreifuß den Namen eines der Teilnehmer der Séance nannte und dieser sich deswegen veranlasst sah, politisch aktiv zu werden. In der Inschrift stand gerade einmal »THEOD« – einer der Anwesenden war ein leitender Bürokrat namens Theodoros. Doch er hatte das Nachsehen: Der nächste Kaiser hieß Theodosius32 – was einmal mehr die Bedeutung der praktischen Implikationen der vorherrschenden Ideologien im Römischen Reich unterstreicht.

Denn auch wenn die Ideologien, die die Basis des öffentlichen Lebens bildeten, einen kompromisslosen politischen Konsens zugunsten des gegenwärtigen, von Gott zum Herrscher über die beste aller möglichen Welten eingesetzten Kaisers forderten, so implizierten sie dennoch, dass ein Kaiser auch ohne Unterstützung Gottes an die Macht kommen konnte – oder doch zumindest, dass Gott seine Unterstützung erst dem einen und dann auf einmal einem anderen Thronanwärter zukommen ließ. Ein schönes Beispiel dafür sind zwei Reden, die der Redner Themistios im Jahr 364 für zwei verschiedene kaiserliche Regime hielt: am 1. Januar für Jovian und im Herbst desselben Jahres für Valentinian und Valens. In der ersten Rede, in der er Jovians Konsulat preist, nennt Themistios, wie es sich gehört, jene Details des Aufstiegs des Kaisers zur Macht, die zeigten, dass er von Gott auserwählt worden war. Leider starb Jovian wenige Monate später unter mysteriösen Umständen – offenbar war er doch nicht Gottes erste Wahl gewesen, denn sonst hätte dieser ja nicht zugelassen, dass er so früh verstarb. Genau diesen Umstand greift Themistios dann in seiner zweiten Rede zumindest implizit auf, wenn er betont, was bei der Machtübernahme durch das neue Regime anders gemacht wurde, um sicherzustellen, dass die fehlbaren Menschen dieses Mal bei der Wahl der neuen Kaiser den Willen Gottes richtig verstanden hatten.33

In diesem Fall räumte Themistios im Nachhinein die Illegitimität von Jovians Machtübernahme ein, sodass seine Rede niemandem mehr Anlass geben konnte, irgendwelche Intrigen zu spinnen. Aber dieser Umstand unterstreicht noch einmal, dass es selbst bei einem Posten, der in einem solchen Maße dem öffentlichen Konsens unterlag wie der des Kaisers, niemandem verwehrt war, sich nach anderen Optionen umzuschauen. War der derzeitige Herrscher wirklich Gottes Favorit? Die Unwägbarkeiten der Thronfolge verlangten ohnehin ein hohes Maß an politischem Kalkül, und die schiere Zahl erfolgreicher