Die Wiedergeburt Roms - Peter Heather - E-Book

Die Wiedergeburt Roms E-Book

Peter Heather

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Beschreibung

Mit großer Erzählkunst und analytischer Schärfe schildert Peter Heather das Nachleben des Römischen Reiches von seinem Untergang im Westen bis ins Mittelalter. Eine neue und aufsehenerregende Geschichtserzählung, wie die mittelalterliche Welt entstand. In seinem fulminant geschriebenen Buch bietet Peter Heather eine neue Gesamtdarstellung Roms, die von 476 n. Chr. bis zum Jahr 1000 reicht. Er zeigt, wie sich neue Reiche auf dem Territorium des ehemaligen Römischen Reiches bildeten und neue Kriegergesellschaften entstanden. Auch wenn die Einheit des alten »Imperiums« zerstört war, so war der Traum seiner Wiederherstellung nach wie vor lebendig. Und doch mussten alle Versuche von so unterschiedlichen Herrschern wie Theoderich, Justinian und Karl dem Großen, das Römische Reich zu erneuern, scheitern. Erst im 11. Jahrhundert gelang es den Barbaren, durch die Stärkung des Papsttums eine neue Ordnung zu begründen, die zum Ausgangspunkt unserer westlichen Geschichte wurde.

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Seitenzahl: 946

Veröffentlichungsjahr: 2014

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PETER HEATHER

DIE WIEDERGEBURTROMS

Päpste, Herrscher und die Welt des Mittelalters

Aus dem Englischen übersetzt von Hans Freundl und Heike Schlatterer

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»The Restoration of Rome.

Barbarian Popes and Imperial Pretenders«

im Verlag Macmillan, London 2013

© 2013 by Peter Heather

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags

Redaktion: Eckard Schuster, München

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Bildes von © akg-images/De Agostini Picture Libr./A. De Gregorio

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94856-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10742-5

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Anita Holm Sawyer

INHALT

PROLOG

TEIL I »EINE KOPIE DER EINZIGARTIGEN KAISERMACHT«

GENS PURPURA

Getica

Konstantinopel

Singidunum

Epidamnus

Ravenna

EIN PHILOSOPH IM PURPUR

Cassiodor

Die Bedeutung, ein Römer zu sein

Das 2000. Jahr der Gotengeschichte

Semper Augustus

Tod in Ravenna

Das gotische Römerreich

TEIL II »DER EROBERER VIELER NATIONEN«

»DURCH DIE AUTORITÄT GOTTES«

Anekdota

Der gesamte Gesetzesbestand

Nika

Ad Decimum und darüber hinaus

AUF DEM SEEWEG NACH BYZANZ

Gotendämmerung

Um jeden Preis?

Von Elefanten und Ruhebetten

Die sieben Städte Asiens

Vermächtnis

TEIL III DER VATER EUROPAS

DER WEIHNACHTSTAG DES JAHRES 800

Löwen (nicht Tiger) und Bären

Der Hammer der Franken

Die Schenkung Karls des Großen

Die Risiken Papst Leos

»DIE MITTE HÄLT ES NICHT«

Der Pate (Teil 1)

»Noch nie gab es eine grauenhaftere Schlächterei«

Das Ende der Besteuerung

Das erste deutsche Reich

Die Schaffung Europas und das Ende des Imperiums

TEIL IV DAS ZWEITE KOMMEN

KARL DER GROSSE UND PAPST LEO

Kaiser und Patriarchen

Könige und Bischöfe

Der Pate (Teil 2)

Das Christentum in der heutigen Zeit

HABEMUS PAPAM: DAS PAPSTTUM STARTET DURCH

Die Entstehung der päpstlichen Autorität

Pornokratie

Barbarische Päpste

Die Harmonie widersprüchlicher Canones

EPILOG

Der Pate (Teil 3)

ANHANG

Karte

Bildteil

Abkürzungen

Bibliographie

Anmerkungen

Personen- und Ortsregister

Bildnachweis

PROLOG

Am oder um den 4. September 476 ließ Odoaker, ein ranghoher Offizier der römischen Armee in Italien, den Onkel des Romulus verhaften und hinrichten. Romulus war der amtierende Kaiser des Weströmischen Reiches, auch als »Augustulus« (der kleine Augustus) bekannt. Sieben Tage zuvor war Odoaker auf dieselbe Weise bereits mit Romulus’ Vater verfahren. Der Kaiser war noch ein Kind; sein Vater und sein Onkel hatten für ihn die Regierungsgeschäfte geführt. Nachdem Odoaker die Herrschaft übernommen hatte, zeigte er sich barmherzig. Romulus selbst wurde verbannt und sollte den Rest seiner Tage auf einem Landgut in Kampanien verbringen. Bedeutsamer für den Gang der europäischen Geschichte aber war Odoakers Entschluss, im Zusammenwirken mit dem römischen Senat eine Gesandtschaft zum oströmischen Kaiser Zenon in Konstantinopel auf den Weg zu bringen. Diese stellte Zenon anheim,

es gebe keine Notwendigkeit für eine geteilte Herrschaft und ein gemeinsamer Kaiser reiche für beide Territorien [das östliche und das westliche] vollkommen aus.

Dieser Gesandtschaft folgte bald eine weitere, die den kaiserlichen Ornat Westroms, darunter das Diadem und den Umhang, den nur der Kaiser tragen durfte, nach Konstantinopel brachte. Odoaker stützte dadurch zwar die Fiktion von Zenons imperialer Souveränität, aber er war keineswegs gewillt, Konstantinopel zu erlauben, sich in die Angelegenheiten des neuen Staates auf der Apenninischen Halbinsel einzumischen, den nun er regierte. Durch die beiden Gesandtschaften Odoakers fand die imperiale Tradition Roms, die fast 750 Jahre zurückreichte, ihr Ende.1

Doch die Absetzung des letzten Westkaisers durch Odoaker war letztlich nur der Gnadenstoß. Die westliche Hälfte des Römischen Reiches war im Verlauf der drei vorangegangenen politischen Generationen allmählich zerfallen, als sich auf der gesamten europäischen Landmasse eine durchgreifende Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse vollzog. Abgesehen von einigen frühen Erfolgen wie der Eroberung Siziliens im 3. Jahrhundert v. Chr., war der Großteil des römischen Imperiums in den beiden Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt erworben worden. In dieser Zeit war das nicht zum Mittelmeerraum gehörende Europa in drei große geographische Regionen unterteilt – den Westen und Süden, den nördlich-zentralen Bereich und den Norden sowie Osten (Karte S. 84) –, deren Gesellschaften sich auf völlig unterschiedlichen Entwicklungsstufen befanden. Das Niveau der Nahrungsmittelerzeugung, die Bevölkerungsdichte, die wirtschaftliche Komplexität, die Größe der Siedlungen und das Ausmaß der politischen Organisation: All dies war in der Latènezeit in West- und Südeuropa wesentlich höher entwickelt als in den beiden anderen Regionen und nahm ab, je weiter man nach Osten und nach Norden kam. Während dieser entscheidenden zwei Jahrhunderte des Reichsaufbaus stellte Roms mediterranes Kernland die wirtschaftlichen und demographischen Ressourcen bereit – verbunden mit einer respekteinflößenden militärischen Organisation –, die erforderlich waren, um alle europäischen Gebiete zu erobern, die es zu erobern lohnte. Nur im Westen und Süden war so viel Kriegsbeute zu holen, dass groß angelegte Feldzüge gerechtfertigt waren, und erst an seinen entlegenen Grenzen kamen die Legionärsstiefel schließlich zum Stehen.

Doch das menschliche Streben führte dazu, dass auch Versuche unternommen wurden, Teile des mittleren Bereichs zu unterwerfen, die größtenteils von germanischsprachigen Völkern bewohnt waren. Vielfach wird angenommen, dass der große Sieg des Arminius über eine römische Armee im Jahr 9 n. Chr. irgendwo im Osnabrücker Land diesen Versuchen ein Ende setzte. Doch die Wirklichkeit ist schlichter. Durch weitere Feldzüge der Römer wurde Arminius am Ende vernichtet: Es entsprang letztlich nur einer Kosten-Nutzen-Abwägung, die den Römern nahelegte, ihre Grenze entlang des Rheins verlaufen zu lassen und nicht weiter nach Osten vorzustoßen. Zu Beginn des 1. Jahrtausends erschien eine Eroberung des nördlich-zentralen Raums nicht lohnend, während das äußere Europa, die dritte Zone im Norden und Osten, nie ins Visier des Imperiums geriet.

In den folgenden 400 Jahren setzte in der mittleren Großregion im Zuge der Umwälzungen, die der Austausch mit den Römern auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet nach sich zog, ein beschleunigter Transformationsprozess ein, der alle Lebensformen veränderte. Bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts stiegen die Produktivität der Landwirtschaft und die Bevölkerungsdichte an, die Wirtschaftsbeziehungen erreichten ein bislang nicht gekanntes Maß an Komplexität. Auch die militärischen Fähigkeiten der Region verbesserten sich beträchtlich – nicht zuletzt durch die Übernahme der römischen Waffen – und ihre politischen Strukturen festigten sich. Aber nach wie vor war es nicht möglich, in dieser Region große, dauerhafte Staatsgebilde zu errichten, weil das wirtschaftliche und administrative Fundament noch keinen komplexen politischen Überbau tragen konnte. Deshalb behielt Rom, ganz allgemein gesagt, die übergeordnete strategische Kontrolle.

Doch im 4. Jahrhundert musste sich das Imperium zur Sicherung seiner Grenzen einer ausgeklügelten Mischung von Zuckerbrot und Peitsche bedienen, um mehrere einigermaßen dauerhafte mittelgroße Klientelstaaten aufrechtzuerhalten, die nun den Raum jenseits der Grenze einnahmen. Die alte Ordnung in der zentralen Zone – die aus kleinen, weitverstreuten Stammesgesellschaften hervorgegangen war – gab es schon lange nicht mehr. Diese Klientelstaaten konnten die Existenz des Reiches wohl nicht gefährden, aber sie verfügten über ausreichende politische und militärische Fähigkeiten, um ihre eigenen mittel- bis langfristigen politischen Ziele zu verfolgen. Und wenn die Bedingungen günstig waren – vor allem wenn sich Rom im Krieg mit Persien befand –, konnten sie die lästigsten Einmischungsversuche des Imperiums abwehren, die in Form ständiger Forderungen nach Soldaten, Lebensmitteln, Rohstoffen und manchmal auch nach ungehinderter Betätigung der christlichen Missionare erfolgten. Wenngleich die transformierte nördlich-zentrale Zone politisch zu zersplittert war, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen, waren die ursprünglichen demographischen und wirtschaftlichen Vorteile – die ein halbes Jahrhundert vorher die Entstehung des europäischen Teils des Römischen Reiches ermöglicht hatten – durch diese revolutionären Entwicklungen, die sich mittlerweile vollzogen hatten, zum Großteil unterminiert worden.2

Mein Vater war Sprengstoffexperte und hatte einen großen Teil seines Lebens mit gefährlichen Stoffen zu tun. Eine grundlegende Sicherheitsmaxime, die er sich sehr früh in seiner Ausbildung zu eigen machte, lautete, dass überall dort, wo durch Aktivitäten des Menschen eine entflammbare Atmosphäre geschaffen wurde, »Gott – das heißt irgendein Zufall oder etwas anderes – den nötigen Funken liefert«. Mit anderen Worten: Die Sicherheitsvorkehrungen mussten darauf ausgerichtet sein zu verhindern, dass sich etwas überhaupt entzünden konnte, denn Vorkehrungen gegen Funken waren sinnlos.

Im Fall der europäischen Geschichte entstand durch die Transformation der alten nördlich-zentralen Zone eine potentiell hochgefährliche, leicht entflammbare politische Situation – zumindest was die langfristigen Aussichten des römischen Imperialismus betraf –, und der Funke kam schließlich in Gestalt der Hunnen. Sie stießen im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts in zwei Schüben zu den Rändern Europas vor und schoben zwei große Blöcke alter römischer Klientelstaaten aus der transformierten nördlich-zentralen Zone (zusammen mit einigen anderen Gruppen, die weiter entfernt lebten) in zwei deutlich unterschiedenen Zusammenballungen auf das Territorium des Reiches: Der erste Vorstoß geschah im Zeitraum 375–380 n. Chr., der zweite ein Vierteljahrhundert später, zwischen 405 und 410. Der erste dieser historischen Momente war mit der Besetzung des Gebiets nördlich des Schwarzen Meers durch die Hunnen verbunden, der zweite mit ihrem weiteren Vordringen nach Westen in die große ungarische Tiefebene.

Angesichts der (natürlicherweise) feindseligen Haltung der Römer, die dazu führte, dass ein großer Teil der Eindringlinge entweder getötet oder in die Sklaverei gezwungen wurde, sammelten sich die Überlebenden der beiden Wanderungszüge (viele der ursprünglichen Teilnehmer waren unterwegs gefallen) noch vor 420 in zwei neuen Völkergruppen auf weströmischem Boden, die größer waren und sich durch einen stärkeren Zusammenhalt auszeichneten als alle früheren Machtblöcke, die im 4. Jahrhundert auf der anderen Seite der Grenze lebten: die Westgoten und die Koalition aus Vandalen und Alanen. Beide Zusammenschlüsse bestanden aus mindestens drei großen, zuvor unabhängigen Kriegergruppen, und beide hatten entsprechende zentralisierte Strukturen ausgebildet. Sie hatten sich vergrößert, um den Gegenangriffen der Römer gewachsen zu sein, und dank des größeren Wohlstands der römischen Welt im Vergleich zu den Regionen jenseits der Grenze konnten neue Herrscherdynastien die erforderlichen Mittel aufbringen, um sich an der Macht zu halten.

Ursprünglich wollten sich die Einwanderer vor den Raubzügen der Hunnen in Sicherheit bringen, aber bald strebten sie auch danach, am römischen Wohlstand teilzuhaben, und ihr Vordringen auf römisches Territorium ließ die Überlebenskraft des Reiches schwinden. Sie beruhte auf der Besteuerung der landwirtschaftlichen Produktion, aus der es die Mittel zur Finanzierung der Berufsarmee und der Verwaltungseinrichtungen bezog. Als die eindringenden Völkerschaften das Weströmische Reich zwangen, sich mit der Besetzung von Teilen seines Territoriums abzufinden, gingen die Einnahmen des Reiches deutlich zurück, und entsprechend verkleinerte sich auch die Armee, die es damit finanzieren konnte.

Andere außenstehende Gruppen, die nicht unmittelbar von den Hunnen bedroht wurden, wie die Angelsachsen in Britannien, machten sich rasch diese militärische und politische Schwächung des Imperiums zunutze. Insbesondere nachdem die vandalisch-alanische Koalition im Jahr 439 die reichsten nordafrikanischen Provinzen eingenommen hatte, geriet das Weströmische Reich in einen Teufelskreis. Eine Reduzierung der Truppenstärken bedeutete, dass noch mehr Gebiete an die ursprünglichen Einwanderer (Westgoten und Vandalen-Alanen) und an neue Eindringlinge (wie die Franken) verloren gingen, die durch die schwindende militärische Kraft des Imperiums zu weiteren Vorstößen ermutigt wurden.

Odoakers Staatsstreich setzte den Schlusspunkt unter diese Geschichte des imperialen Niedergangs. Odokar gehörte zur letzten Gruppe von Flüchtlingen aus der alten nördlich-zentralen Zone, die im Gefolge der Machtkämpfe nach dem Zusammenbruch von Attilas Hunnenreich in Europa gegen Ende der 450er- und in den 460er-Jahren ihren Weg auf römisches Territorium fanden. Der Fürst aus dem Stamm der Skiren und Sohn eines der wichtigsten Vertrauten des Hunnenkönigs musste nach Italien ausweichen, als seine Gruppe ihre unabhängige Stellung einbüßte.

Die Unzufriedenheit der Soldaten, die sich Odoaker für seinen Putsch zunutze machte, wurde durch den Geldmangel in Italien geschürt, der sich auch auf die Bezahlung der Hilfstruppen auswirkte. Dieser Geldmangel war eine unmittelbare Folge der rückläufigen Steuereinnahmen aus den Provinzen, als diese nacheinander unter die Herrschaft der Eindringlinge gerieten. Diese Abwärtsspirale kennzeichnete die gesamte weströmische Geschichte im 5. Jahrhundert. Der Geldfluss, der zum Unterhalt der römischen Armee in Italien erforderlich war, versickerte zusehends, und Odoaker nutzte die Gunst der Stunde und stellte sich an die Spitze der Unzufriedenen. Den Funken hatten die Hunnen geschlagen, und dieser löste einen strategischen Flächenbrand aus: Viele kriegerische Verbände aus der transformierten nord- und mitteleuropäischen Region drangen auf römischen Boden vor und untergruben dadurch die Kontrolle des Weströmischen Reiches über seine territoriale Basis.3

Neue Herrscher über politisch einigermaßen gefestigte Kriegergruppen, die seit Menschengedenken aus den Gebieten jenseits der Reichsgrenzen kamen, waren nun die Herren in einem Großteil des alten römischen Westens. Angelsächsische Könige beherrschten den größten Teil Mittel- und Südbritanniens, fränkische Stammesführer kontrollierten das nördliche und östliche Gallien, Westgotenkönige hatten die Oberhand im südwestlichen Gallien und in Spanien, Burgundenherrscher saßen im Rhône-Tal, und die reichsten Ländereien im römischen Nordafrika befanden sich in den Händen der vandalischen Hasding-Dynastie (Karte S. 84). Gruppen aus der nord- und mitteleuropäischen Großregion, wie sie in der Zeit um Christi Geburt bestanden hatte, riefen dadurch eine gewaltige Umwälzung auf römischem Boden hervor und ersetzten das alte monolithische Imperium durch mehrere Nachfolgestaaten.

Eine ähnlich tiefgreifende – wenngleich wesentlich schlechter dokumentierte – Revolution vollzog sich in der mittleren Zone im Jahrhundert nach 476 und führte dazu, dass slawischsprachige Völker aus der alten dritten Region im Norden und Osten großen Einfluss in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas erlangten. Diese Geschichte kann nicht im Detail rekonstruiert werden, aber es sind genügend Hinweise und Belege dafür erhalten geblieben, dass die Etablierung der Slawen in diesem Teil Europas das Ergebnis mehrerer komplexer und langwieriger Prozesse war und nicht die Folge einer plötzlichen Revolution. Aber es wird auch deutlich, dass der Zerfall des Weströmischen Reiches als Teil einer umfassenden Neujustierung der europäischen Kräfteverhältnisse zu verstehen ist, vergleichbar den Entwicklungen in der heutigen Zeit, in der die regionalen und globalen politischen Auswirkungen der enormen Expansion einiger Volkswirtschaften im Nahen Osten, in Asien und auf der Südhalbkugel allmählich sichtbar werden.4

Doch inmitten dieser Umstrukturierungen lebte das römische Konzept des Imperiums nicht nur weiter, sondern erwies sich als bemerkenswert beständig. Nachdem das Römische Reich schon 500 Jahre existiert hatte (das britische Empire hatte – zum Vergleich – in seiner größten Ausdehnung nur ein knappes Jahrhundert Bestand), ist das vielleicht auch gar nicht verwunderlich. Der weströmische imperiale Großstaat mochte verschwunden sein, doch in vielen seiner ehemaligen Territorien (wenn auch nicht in allen) überdauerten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Strukturen der römischen Provinzen den Zerfall des Reiches. Bei den Bewohnern der ehemaligen Provinzen blieben römische Ideen und sogar manche Verwaltungsstrukturen lebendig. Zudem waren die außenstehenden Gruppen, die das Imperium zerstört hatten, keineswegs von unversöhnlichem Hass gegen alles Römische beseelt. Viele von ihnen waren frühere römische Vasallen, und ihre Übernahme von Teilen des römischen Territoriums hatte sich nicht unter dem Banner eines ideologischen Kreuzzugs gegen den römischen Imperialismus vollzogen. Sie waren es seit langem gewohnt, innerhalb eines übergeordneten römischen Bezugssystems zu agieren; die Führungen der neuen Nachfolgestaaten machten in den Strukturen der römischen Verwaltung, in Gesellschaft und Kultur vieles aus, was für sie nützlich war, und sie begannen daher aus dem Chaos des Zusammenbruchs eine neue Ordnung aufzubauen.

Anknüpfend an die Episode von Odoakers symbolträchtiger Gesandtschaft, die den kaiserlichen Ornat Westroms an Konstantinopel aushändigte, erzähle ich in diesem Folgeband meines Buches Der Untergang des Römischen Weltreichs von drei kaiserlichen Thronprätendenten, die das römische Erbe in Westeuropa wiederzubeleben versuchten: Theoderich, Justinian und Karl der Große. Alle drei waren auf erstaunliche Weise erfolgreich. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Ethnien und Weltgegenden, und jeder stützte sich auf eine ganz andere Machtbasis, die unter ganz anderen Umständen geschaffen worden war. Aber jedem von ihnen gelang es, einen beträchtlichen Teil des alten weströmischen Territoriums zurückzugewinnen und wiederzubeleben, sodass sie alle berechtigten Anspruch auf den Titel »Kaiser des Westreichs« erheben konnten.

Doch während diese Männer ihre außergewöhnlichen Karrieren verfolgten, entfernte sich das allgemeine Muster des Lebens auf dem europäischen Kontinent immer mehr von dem Muster der drei Geschwindigkeiten, von dem es in der Zeit um Christi Geburt noch geprägt war. So erfolgreich jeder dieser Kaiseraspiranten auf seine Weise auch war, so beschränkten doch die herrschenden Umstände in der zweiten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrtausends zunehmend die Möglichkeiten, dauerhafte imperiale Strukturen in den Dimensionen wiederzuerrichten, wie sie das Weströmische Reich über den Großteil der zurückliegenden 500 Jahre aufrechterhalten hatte. Am Ende zeigte sich, dass eine Restauration stabiler imperialer Macht in wahrhaft römischem Maße nur möglich war, wenn frisches Blut aus dem Teil Europas, den die Römer als »barbarisch« bezeichnet hatten, einige der imperialen Werkzeuge Roms nutzte, um ein völlig neuartiges Imperium zu schaffen. Durch die Neuerfindung des Papsttums im 11. Jahrhundert verschafften sich die Barbaren die Mittel, ein neues Römisches Reich zu errichten, das 1000 Jahre bestehen sollte.

TEIL I»EINE KOPIE DER EINZIGARTIGEN KAISERMACHT«

GENS PURPURA

Vermutlich im Jahr 507 schrieb Theoderich der Große, der Herrscher über Italien, an den oströmischen Kaiser Anastasios:

Ihr nämlich seid aller Königreiche schönster Schmuck, Ihr der heilbringende Schutz des ganzen Erdkreises. Euch respektieren mit Recht die übrigen Herrscher, weil sie erkennen, dass in Euch Einzigartiges wohnt, wir aber, weil wir mit Gottes Hilfe in Euerem Staat [Konstantinopel – Theoderich hatte zehn Jahre seiner Kindheit in der Stadt verbracht] gelernt haben, wie wir harmonisch über die Römer herrschen können.

Unsere Regentschaft ist die Nachahmung der Euren, ein Abguss der guten Vorlage, eine Kopie der einzigartigen Kaisermacht. Wir gehen um so vieles den anderen Stämmen voraus, inwieweit wir Euch folgen.

Das ist ein außergewöhnlicher Brief. Den Römern konnte ein Mann wie Theoderich immer nur als Barbar erscheinen. Doch hier ist ein Gotenkönig, der behauptet, den römischen Idealen nachzueifern. Dieses Schreiben ist so berühmt wie außergewöhnlich und wurde häufig als Beleg für die fortdauernde psychologische Dominanz Roms angeführt, eine Generation nachdem zum letzten Mal ein Kaiser des Westreichs in Purpur inthronisiert worden war.

Doch bei näherer Betrachtung zeigt dieser Brief noch mehr. Wie viele diplomatische Schreiben, die zu allen Zeiten der menschlichen Geschichte verfasst wurden, ist er in einer Art Code formuliert, und die volle Bedeutung der Worte erschließt sich nur über einige Konventionen, die beiden Briefpartnern wohlvertraut waren. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in den tiefverwurzelten ideologischen Ansprüchen, die das Selbstverständnis des imperialen römischen Staates bestimmten. Nach Auffassung der Römer war die Existenz des Reiches so eng verwoben mit dem göttlichen Plan, der Menschheit zu ihrer vollen Entfaltung zu verhelfen, dass es göttlicher Wille war, der seine Entstehung ermöglicht hatte und dem es seine Selbstbehauptung verdankte. Es war die Erweiterung eines geistigen Konzepts, das erstmals für die selbstherrlichen und völlig unchristlichen Nachfolger Alexanders des Großen formuliert worden war (und daher häufig als charakteristisch für das hellenistische Königtum bezeichnet wird) und sich kaum veränderte, nachdem Konstantin sich zum Christentum bekannt hatte. An der Behauptung göttlicher Unterstützung für einen von Gott erteilten Auftrag wurde unbeirrt festgehalten: Die Gottheit, auf die man sich stützen konnte, wurde einfach zum christlichen Gott umgedeutet, und Sinn und Zweck des Auftrags wurden neu definiert als die Verbreitung des christlichen Glaubens.

Vor dem Hintergrund dieser Ideologie erscheinen Theoderichs Bemerkungen wesentlich weniger ehrerbietig. Der entscheidende Ausdruck lautet »mit Gottes Hilfe« (auxilio divino). Durch die Verwendung dieser Formulierung machte der Gote Theoderich Anastasios seine Überzeugung deutlich (niemand weiß, was der oströmische Kaiser dachte, als ihm der Brief vorgelesen wurde, aber ich glaube, es ist leicht zu erraten), dass seine Fähigkeit, als anerkannter römischer Herrscher Italien zu regieren, weder das Ergebnis eines Zufalls noch das seiner persönlichen Fertigkeiten war, die er im Lauf seiner zehnjährigen Beobachtung des Römertums in Konstantinopel erworben hatte (wenngleich dies auch eine Rolle spielte), sondern auf unmittelbarem göttlichen Wirken beruhte.

Der Kern der römischen Staatsideologie bestand in dem Glauben, dass dem Imperium eine entscheidende Funktion im göttlichen Plan für die Menschheit zukam und dies die Grundlage seiner Existenz war. Theoderichs gleichzeitige Behauptung, dass göttlicher Wille seiner Fähigkeit zugrunde lag, auf wahrhaft römische Weise zu herrschen, bedeutete, dass er selbst und das von ihm regierte Reich auf ebenso legitime Weise »römisch« – also gottgegeben – seien wie das Oströmische Reich. Wie Theoderich in diesem Brief herausstellte, war sein Römertum nicht indirekt vom Oströmischen Reich abgeleitet, sondern kam unmittelbar von Gott. Wer war dieser gotische Emporkömmling, der diese außergewöhnlichen Behauptungen aufstellte, und wie viel Substanz enthielt sein Anspruch, ein wahrer Römer zu sein?1

Getica

Das erste Bild, das vom jungen Theoderich überliefert ist, zeigt einen sieben- oder achtjährigen Jungen, der als Geisel nach Konstantinopel gebracht wird, in die große Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Das war vermutlich im Jahr 461, und so klein er damals noch war, hatte Theoderich doch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Sein Onkel hatte gerade ein neues Abkommen mit Leo I., dem damaligen oströmischen Kaiser, geschlossen, durch das er ausländische Hilfe – man kann es auch eine Unterstützungszahlung nennen – in Höhe von jährlich 300 Pfund in Gold erhielt. Der kleine Theoderich wurde als physische Verkörperung einer der Absicherungsklauseln des Vertrags nach Konstantinopel geschickt. Derartiges war damals gang und gäbe. Seit ewigen Zeiten hatte Rom ranghohe Geiseln als Sicherheit dafür verlangt, dass Verträge auch eingehalten wurden.2

Dieses Bild stammt aus der Getica (Gotengeschichte) des römisch-gotischen Gelehrten Jordanes, die er um 550 in Konstantinopel verfasste. Dieser Text beeinflusste maßgeblich unser Wissen über den jungen Theoderich. Später, als er in Italien auf dem Thron saß, brüstete er sich gern (vor allem gegenüber ausländischen Potentaten), dass er einer einzigartigen Purpur- (d.h. kaiserlichen) Dynastie entstamme, einer gens purpura. Seine Legitimation leitete er daraus ab, dass seine Familie schon seit 17 Generationen unangefochten über die Goten geherrscht hatte, als sein Enkel und Nachfolger Athalarich nach 520 an die Macht kam. Jordanes’ Gotengeschichte wurde lange Zeit als eine sehr wichtige narrative Quelle für diese Behauptung betrachtet, denn sie enthält nicht nur die vollständige Ahnentafel von Theoderichs Geschlecht, den Amalern (Stammbaum, S. 23), sondern auch einen bunten Strauß von Geschichten über seine bekanntesten Mitglieder.3

Doch bevor man diese Darstellung übernimmt, sollte man einen genaueren Blick auf ihre Quellen werfen. Eine seiner wichtigsten Quellen – worauf Jordanes im Vorwort hinweist und was auch durch einen Vergleich mit seinen übrigen Schriften bestätigt wird – war eine heute verschollene Geschichte der Goten des römischen Senators Cassiodor, dem wir im nächsten Kapitel noch einmal begegnen werden. Jordanes berichtet, dass er Cassiodors Werk nur drei Tage lang einsehen konnte; wichtiger aber ist, dass Cassiodor am Hof Theoderichs einen wichtigen Posten bekleidete und sein Werk verfasste, als er noch im Dienst des Königs stand. Dadurch wird natürlich die Behauptung erschüttert, Jordanes habe eine unabhängige Bestätigung für den herausgehobenen königlichen Status des Amaler-Geschlechts geliefert, weil sowohl der Anspruch Theoderichs als auch die historische Darstellung in der Getica aus demselben Kontext hervorgingen: Theoderichs Königshof.4 Gräbt man unter Berücksichtigung dieses Befundes etwas tiefer in den Quellen, lässt sich rasch etwas mehr Licht in die wirkliche Familiengeschichte des jungen Theoderich bringen, der nach 460 in die Stadt Konstantinopel einritt. Er entstammte zweifellos einer großen, angesehenen Familie, sonst wäre er nicht als Geisel nach Konstantinopel geschickt worden. Doch diese Größe war eher jüngeren Datums und von etwas begrenzterem Ausmaß, als Theoderich später glauben machen wollte.

Sein Vater war der mittlere von drei Brüdern – Valamir, Thiudimir und Vithimir in der Reihenfolge ihrer Geburt –, die in einigermaßen verlässlichen Quellen als Führer größerer Gotenverbände in den späteren 450er-Jahren genannt werden. Diese hatten vorher mehrere Jahrzehnte lang zum Reich des Hunnenkönigs Attila gehört, dessen Schreckensherrschaft sich in den 440er-Jahren von den Mauern Konstantinopels bis zu den Randbezirken von Paris erstreckte. Von jeher nimmt man an, dass die Familie der Amaler – was auf der Art von Informationen beruht, die Theoderich gern in Italien verbreitete – mindestens seit Mitte des 3. Jahrhunderts über die eine Hälfte des Volkes der Goten, nämlich die Ostgoten, geherrscht habe. Die Geschichte der anderen Hälfte, die als Westgoten bezeichnet wird, sei dagegen ab dem 3. Jahrhundert wesentlich anders verlaufen als jene ihrer Vettern unter der Amaler-Herrschaft.

Doch all das ist ein Mythos, der von Theoderichs Propaganda geschaffen wurde. Der Ruhm der Amaler-Dynastie, der schon vor Theoderichs eigenen überragenden Erfolgen bestanden haben soll, war wesentlich begrenzter, als es in den Visionen moderner Beobachter erscheint, nur weil diese die späteren Aussagen und Behauptungen des Königs für bare Münze nehmen.

Die Goten, die um 463 noch in Mittel- und Osteuropa lebten, waren alles andere als ein einheitliches Volk. Neben den Goten, die von Theoderichs Vater und zweien seiner Onkel angeführt wurden und sich in der alten römischen Provinz Pannonien im Gebiet um den heutigen Plattensee (Balaton) in Westungarn angesiedelt hatten, gab es einen weiteren großen Gotenverband, der durch ein Abkommen die Erlaubnis erhalten hatte, sich in Thrakien auf oströmischem Territorium niederzulassen, sowie eine dritte, zahlenmäßig starke Gruppe, die noch bis 467 unter hunnischer Herrschaft lebte. Dazu kamen zwei weitere getrennte, wenn auch kleinere gotische Gruppen auf der Krim und an der Ostküste des Asowschen Meeres. Es existieren natürlich keine genauen Zahlen, aber die Amaler-Sippe dürfte nicht mehr als höchstens ein Viertel aller bekannten Goten in Mittel- und Osteuropa unter ihrer Führung vereinigt haben, nachdem die Hunnenherrschaft zusammengebrochen war. Und darüber hinaus ist es durchaus möglich, dass noch weitere gotische Gruppen oder Stämme existierten, von denen wir nichts wissen.5

Stammbaum der Amaler ostgotisches Herrschergeschlecht

Zudem setzte sich die unangefochtene Herrschaft der Amaler-Brüder über die pannonischen Goten erst relativ spät durch. Ein missverstandener Absatz in der Getica belegt, dass die behauptete Größe des Amaler-Clans einer gewissen Verdrehung historischer Tatsachen geschuldet ist. In dieser Passage werden nicht, wie es den Anschein hat, einige der Erfolge eines hunnischen Bezwingers der Goten (der Valamvar genannt wird) beschrieben, sondern vielmehr die ersten Taten von Theoderichs Onkel Valamir. Und dieses Bild ist sehr aufschlussreich. Es zeigt Valamir, der beileibe nicht der letzte einer langen Reihe von Königen war, die unangefochten über die Hälfte der Goten herrschten, wie er sich gewaltsam an die Spitze einer Gruppe gotischer Kriegerverbände vorkämpfte. Zuerst brachte er einen gewissen Vinitharius um, dann heiratete er Vademerca, die Enkelin des Ermordeten. Gleichzeitig wurde eine konkurrierende Sippe, die aus einem Vater (Hunimund), zwei Brüdern (Thorismund und Gensimund) und einem Enkel (Thorismunds Sohn Beremund) bestand, nach und nach ausgelöscht. Nachdem die ältere Generation weitgehend verschwunden war, schickte sich Gensimund in das Unvermeidliche und beugte sich Valamirs Autorität, während sich Beremund entschloss, mit seinen Gefolgsleuten nach Westen zu wandern und sich dem Konkurrenzkampf zu entziehen. Dass Valamir und seine Brüder unter den pannonischen Goten Ende der 450er-Jahre großen Einfluss erlangten, war die Folge erbitterter Machtkämpfe mit mehreren Rivalen, die allesamt vermutlich nach Attilas Tod 453 ausgefochten wurden. Dieser hatte ja gewöhnlich keine übermächtigen Herrscher in seinen unterworfenen Völkerschaften geduldet.6

Diese Quellenbefunde machten die Entwicklung der Amaler-Dynastie zu einer wohlbekannten Geschichte aus dem 5. Jahrhundert. Um zum unangefochtenen Führer einer großen Gruppe von Kriegern aufzusteigen, bedurfte es starker Machtmittel. Dafür gab es verschiedene Wege, doch stets bedeutete dies eine Verbindung aus Zuckerbrot und Peitsche: Es war entsprechend rohe Gewalt erforderlich, um potentielle Rivalen davon abzuhalten, zu den Waffen zu greifen, verbunden mit einem steten, großzügigen Geldfluss, um eine ausreichende Zahl von Fußsoldaten und Kommandeuren auf der mittleren Ebene bei Laune zu halten, wodurch es erst möglich wurde, jene rohe Gewalt anzuwenden. Doch beides, insbesondere das Geld, war nur in knappem Umfang verfügbar in jenen wenig komplexen Gesellschaften, die bis zum Vorrücken der Hunnen die Welt jenseits der europäischen Grenzen des Römischen Reiches prägten. Aus der Zeit vor 400 v. Chr. findet man in nichtrömischen archäologischen Ausgrabungsstätten nur kleine Mengen Silber und fast überhaupt kein Gold. Es gab damals durchaus schon Gold, aber es war schlicht zu wertvoll, um es zusammen mit den Toten zu bestatten oder es wegzugeben.

Die nichtrömischen agrarischen Gesellschaften erwirtschafteten nur geringe jährliche Überschüsse, durch die nur eine relativ kleine Zahl von nichtspezialisierten Bauern ernährt werden konnte. Daher war die Zahl der Berufskrieger genauso beschränkt wie die Menge des Geldes, mit dem man sich ihre Dienste erkaufen konnte, und nur unter sehr ungewöhnlichen Umständen vermochten Könige jenseits der Grenze (wenn sie auf legitime oder unrechtmäßige Weise Zugriff auf römisches Geld hatten) genügend militärische Macht aufzubieten, um größere geographische Räume zu beherrschen. Kleine Königtümer, die von den Führern von Kriegergruppen beherrscht wurden, gab es in großer Zahl, nicht aber machtvolle imperiale Dynastien; eine Vorherrschaft über größere Gebiete hielt sich nicht lange und blieb auf die Lebenszeit besonders durchsetzungsfähiger Führer beschränkt.

Aufstieg und Fall von Attilas Hunnenreich veränderten diese Situation in zweierlei Hinsicht: Zum einen vermehrte sich die Menge des Goldes in der nichtrömischen Welt jenseits der Grenze schlagartig, vor allem im mittleren Kernland der Hunnen an der Donau. Bewegliche römische Wertgegenstände zu erlangen war das Hauptziel der Feldzüge der Hunnen, entweder als Beutestücke oder in Form von jährlichen Subsidien, die sich nach jedem Hunnensieg steigerten und sich schließlich auf eine Summe von 2000 Pfund pro Jahr beliefen. Dies alles geht nicht nur eindeutig aus den Texten hervor, es spiegelt sich auch in den archäologischen Funden, die den neuen Reichtum der Hunnen anhand reicher Goldbeigaben bei einer großen Zahl von Beisetzungen belegen konnten (Tafelteil I, Abb. 2, ab S. 160). Als die Vorherrschaft der Hunnen Mitte der 450er-Jahre zu schwinden begann, war genügend Reichtum vorhanden, um erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Führern der Kriegergruppen – wie beispielsweise zwischen Theoderichs Onkel und dessen Konkurrenten – auszulösen, die zuvor die zweite Garde in der Führung des Reiches gebildet hatten; dadurch wurden für kurze Zeit die politischen Strukturen gestützt, die durch Konflikte entstanden waren.

Zum anderen führten die dauerhaften Auswirkungen der hunnischen Phase – die Verbindung aus Attilas Siegen und der verstärkten Konzentration militärischer Macht, die erforderlich war, um diese Siege zu ermöglichen – zu einer Verschiebung des strategischen Kräftegleichgewichts an der Donaugrenze vom Römischen Reich weg. Die Regierenden im Osten und im Westen des Reiches bekamen es nun mit größeren und militärisch kampfkräftigeren Truppen in den benachbarten Gebieten zu tun. Neue Mächte, die in den 450er-Jahren im Umfeld von Persönlichkeiten wie Valamir aufstiegen, konnten sich nun aus eigenem Recht (oder auch Unrecht) Zugriff auf den Reichtum Roms verschaffen, indem sie in Gebiete auf einstmals römischem Territorium vorstießen, in denen die Wirtschaft noch immer auf wesentlich höherem Entwicklungsstand war als auf der anderen Seite der Grenze, und indem sie politische Beziehungen zum römischen Staat aufbauten, die auch die Zahlung von Subsidien einschloss. Als die Macht der Hunnen schwand – und das geschah erstaunlich schnell im Jahrzehnt nach Attilas Tod – und diese sich politischen Zentralisierungstendenzen bei den unterworfenen Völkern wie den Goten nicht mehr widersetzten, entstanden unter den einstigen Untertanen der Hunnen rasch neue und militärisch schlagkräftige Gruppen. Anstatt sich untereinander zu bekämpfen, begannen sie, begehrliche Blicke auf das früher weströmische Territorium zu werfen sowie auf mögliche oströmische Subsidien.

Valamir setzte beide Elemente dieses Erfolgsrezepts buchstabengetreu um. Kurz nachdem er seine unmittelbaren gotischen Rivalen ausgeschaltet hatte, gelangte er in den Besitz von Teilen der ehemals weströmischen Provinz Pannonien und bemühte sich intensiv um ausländische Hilfe aus Konstantinopel. Der junge Theoderich wurde als Sicherheit für jenen Vertrag nach Konstantinopel geschickt, der Valamir jährlich 300 Pfund Gold einbringen sollte – eine Geldsumme, die sich als ausgesprochen nützlich erwies, wenn man sich die Loyalität von Kriegern erhalten musste. Archäologische Funde belegen eindeutig, wie Valamir und seinesgleichen diesen Reichtum nutzten, um politische Unterstützung zu gewinnen. In Funden aus dem nachhunnischen Mitteleuropa wurde eine Vielzahl von römischen Importen zutage gefördert, nicht zuletzt Weinamphoren sowie außergewöhnlich prunkvolle persönliche Schmuckgegenstände für Männer und Frauen. Feste und Schmuck waren ein ausgezeichnetes Mittel, um einem potentiellen Gefolge Macht zu demonstrieren und sie luxuriös auszustatten. Der Zusammenhang zwischen nichtrömischen Herrschern, die in römisches Gebiet (oder zumindest in dessen Nähe) zogen, und ihrer Fähigkeit, sich den römischen Reichtum für den Aufbau einer wesentlich stärkeren militärischen Machtbasis zunutze zu machen, als es bisher möglich war, blieb bis zum Zusammenbruch des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert signifikant.7

Dieser Zusammenhang zeigte sich zum Beispiel auch bei den Vandalen und den Westgoten, die in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts Nachfolgestaaten Roms in Nordafrika oder auch im südlichen Gallien und auf der Iberischen Halbinsel gründeten. Beide waren am Anfang nur lose Bündnisse eigenständiger Verbände mit unabhängigen Führern und zentralisierten sich auf römischem Territorium unter einer einzigen Führungspersönlichkeit. Bei diesen Gruppen wurde die Zentralisierung der Macht nicht nur durch die Möglichkeiten erleichtert, die sich durch den römischen Reichtum ergaben, sondern auch dadurch, dass sich ihre Einheit zu einer Zeit herauszubilden begann, als der weströmische Staat noch stark genug war, um sie mit Vernichtung zu bedrohen. Die den Quellen zu entnehmenden historischen Einzelheiten zeigen deutlich, dass maßgeblich der negative Impuls, der von dem noch immer sehr vitalen Rom gesetzt wurde, bei den ursprünglich unabhängigen Gruppen die Bereitschaft reifen ließ, ihre lange Tradition der Eigenständigkeit aufzugeben und politische Beziehungen einzugehen, auf deren Grundlage schließlich die neuen Gruppen aufgebaut wurden.

Eine sehr ähnliche Entwicklung wie im Amaler-Clan erkennen wir bei der fränkischen Merowinger-Dynastie, deren Machtstellung genauso wie bei Theoderichs Familie im Kern ein nachrömisches Phänomen war und nicht aus einer echten Bedrohung durch das Römische Reich hervorging. Den Nachweis liefert der Geschichtsschreiber Gregor von Tours aus den 590er-Jahren. In der Zeit, als das Westreich zusammenbrach, errichtete der Merowinger Childerich im Gebiet des heutigen Belgien eine eigene Herrschaft und hinterließ seinem Sohn Chlodwig im Jahr 480 ein stattliches Königreich mit der Hauptstadt Tournai. Chlodwig dehnte den Machtbereich der Merowinger über nahezu das gesamte heutige Frankreich und große Teile des nichtrömischen Gebiets jenseits des Rheins aus und ließ sich zum katholischen Glauben bekehren.

Diese beiden Schritte trugen ihm einen prominenten Platz als »Begründer der Nation« in der politischen Mythologie des modernen Frankreich ein. Mindestens genauso bedeutend wie die Eroberung neuer Gebiete – und nach meiner Ansicht der Schlüssel dazu – war, dass Chlodwig mehrere rivalisierende Führer anderer Kriegergruppen ausschaltete und deren überlebende Anhänger auf seine Seite zog. Gregor berichtet, Chlodwig habe nicht weniger als sieben Konkurrenten beseitigt. Zumindest einige von ihnen waren weitläufige Verwandte von ihm (was auch für einige Personen galt, die Valamir aus dem Weg räumte). Gregor beendet dieses Kapitel mit einer Rede, die Chlodwig angeblich vor einer fränkischen Versammlung hielt:

Weh mir, dass ich nun wie ein Fremdling unter Fremden stehe und keine Verwandten mehr habe, die mir, wenn das Unglück über mich kommen sollte, Hilfe gewähren können!

Gregors Kommentar dazu ist bezeichnend für seinen hintergründigen Humor:

Aber er sprach dies nicht aus Schmerz um den Tod derselben, sondern aus List, ob sich vielleicht noch einer fände, den er töten könnte.

Wäre Valamir mit einem Historiker von vergleichbarer Statur wie Gregor von Tours gesegnet gewesen, hätte dieser wohl eine ähnliche Aussage gefunden, die er dem großen Begründer der Amaler-Herrschaft in den Mund hätte legen können. Zweifellos wiesen die Karrieren der beiden Herrscher viele Parallelen auf. Doch all dies wirft erneut und mit größerer Dringlichkeit unsere Anfangsfrage auf: Wie konnte es dem Neffen eines undurchsichtigen Führers einer Kriegergruppe gelingen, mitzubestimmen, welchen Anforderungen ein gotterwählter römischer Kaiser zu genügen hatte?8

Konstantinopel

Was der junge Gote, der als Geisel in Konstantinopel lebte, über seine neue Umgebung dachte und welche Ängste ihn plagten, ist nicht überliefert. Doch mittlerweile, im Jahr 463, war die kleine und relativ unscheinbare – wenngleich durchaus antike – griechische Stadt Byzanz am Bosporus in eine eindrucksvolle kaiserliche Metropole verwandelt worden. Diese Entwicklung war noch keine 150 Jahre alt und in den 320er-Jahren – nach einigen Irrungen und Wirrungen – von jenem Konstantin in Gang gesetzt worden, der das Christentum zur Staatsreligion des Imperiums erhoben hatte. Einmal hatte der Kaiser, aus Bewunderung für die Klassik und wohl auch beeinflusst durch den alten Anspruch der Römer, dass ihre Stadt von den Überlebenden der Zerstörung Trojas gegründet worden sei, erwogen, die dachlosen Türme von Ilium nachzubauen. Die Quellen berichten auch, Konstantin habe zu einem anderen Zeitpunkt einmal forsch erklärt, dass »Serdica [heute Sofia] mein Rom ist«. Doch das erwies sich als ein weiterer Fehlstart, und seine Wahl fiel schließlich auf Byzantion, das auf einer Halbinsel gelegen ist, die es aufgrund ihrer Lage ermöglicht, den Hellespont zu kontrollieren, die Meerenge zwischen Europa und Asien. Sie verfügt reichlich über geschützte Häfen, in denen große Flotten vor Anker liegen können, sowohl im Bosporus selbst als auch insbesondere im Goldenen Horn, das sich an der östlichen Küste der Halbinsel ins Hinterland erstreckt.

In der ersten Generation hatte es den Anschein, als habe Konstantins Entscheidung keine große Tragweite. Viele Strukturen waren beim Tod des Kaisers im Jahr 337 erst ansatzweise entwickelt. Es hatte ihn große Mühe gekostet, die reichen Landeigentümer des Oströmischen Reiches dafür zu gewinnen, in seine neue Hauptstadt umzuziehen, und zudem erwies sich die Wasserversorgung als großes Problem. Wie auf vielen Halbinseln rund um das Mittelmeer bereitete es Schwierigkeiten, genügend Wasser zu gewinnen, um den Bedarf auch nur der wenigen tausend Einwohner Byzantions in den 320er-Jahren zu befriedigen, ganz zu schweigen von der großen Zahl von Menschen aus allen sozialen Schichten, die in eine Reichshauptstadt strömten, mit all den Arbeitsplätzen, Lebensmittelverteilungsstellen und Vergnügungsstätten, die man dort erwarten konnte. Und im Lauf der Jahrhunderte hatten viele römische Kaiser ihre Lieblingsstädte in neue Hauptstädte verwandelt, die vielleicht eine Generation oder zwei Bestand hatten, bevor die Launen des Herrschers oder veränderte Verhältnisse zur Etablierung einer neuen politischen und administrativen Metropole führten.

Konstantinopel dagegen erwies sich als Ausnahme. Zwei wichtige politische Entwicklungen, die sich unter Konstantins Sohn Constantinus II. vollzogen, führten dazu, dass die politische Macht innerhalb der Mauern der Stadt dauerhaft Wurzeln schlug. Zum einen richtete der neue Kaiser hier einen Senat für die Osthälfte des Römischen Reiches ein, der seinem Vorbild in Rom in nichts nachstehen sollte. Diesmal gab es genügend Anreize, sodass ein ansehnlicher Querschnitt der reichen Landbesitzer des östlichen Mittelmeerraums pflichtschuldig am Bosporus neue Häuser bezog und dort neue Aufgaben und Ehrenämter übernahm. In der Folge wurde der Senat von Konstantinopel zum wichtigsten politischen Gremium für die Debatten über die Reichspolitik. Hier saßen die Männer, denen die Politik des Reiches vermittelt und vor denen sie gerechtfertigt werden musste. Ihre Unterstützung wurde aufgrund ihrer Bedeutung in ihren Heimatprovinzen unumgänglich, wenn der Kaiser seine Initiativen erfolgreich umsetzen wollte.

Zum anderen dehnte sich der bürokratische Apparat des Reiches im 4. Jahrhundert ständig aus, im Westen wie im Osten gleichermaßen. Aber in der östlichen Reichshälfte wurden alle neuen Ämter in Konstantinopel angesiedelt und damit weitere wichtige Personengruppen und Funktionen in die Stadt gezogen. Durch diese beiden Entwicklungen wurde es unmöglich, auch noch in anderen Städten des östlichen Mittelmeerraums eine effektive Zentralverwaltung aufzubauen. Und sobald die Zentralgewalt an diesem Ort fest verankert war, bestand ganz von selbst auch die Bereitschaft, sowohl alle logistischen Probleme der Stadt zu lösen als auch die neue Metropole mit Annehmlichkeiten aller Art angemessen auszustatten. Als Theoderich nach Konstantinopel kam, hatte sich eine ehedem normale griechische Stadt, klein oder von mittlerer Größe, bereits aus ihrem Kokon gelöst und in einen ansehnlichen metropolitanen Schmetterling verwandelt.9

Der junge Gote, der aus Nordwesten über die wichtigste Heerstraße durch den Balkan anreiste, gelangte durch das Charisios-Tor in die Stadt. Das war das nördlichste der Haupttore in der Theodosianischen Mauer, die von Land her die Stadt schützte. Selten hatte es eine Stadt gegeben, die so gut befestigt war. Das erste Hindernis, das ein Angreifer überwinden musste, war ein 20 Meter breiter und 10 Meter tiefer Wassergraben. Darauf folgte – hinter einer 20 Meter breiten freien Fläche – die äußere Mauer, die an ihrer Basis zwei Meter dick, 8,5 Meter hoch und mit insgesamt 96 Türmen im Abstand von jeweils 55 Metern versehen war. Danach kam eine weitere, 20 Meter breite Terrasse, bevor man schließlich auf die gewaltige Masse der Hauptmauer traf: Sie war fünf Meter dick, zwölf Meter hoch und ebenfalls mit 96 Türmen bewehrt, die versetzt zu den Türmen der Außenmauer aufragten und vom Fuß bis zu den Zinnen volle 20 Meter maßen. Diese massiven Mauern, die um 410 errichtet wurden und von denen Teile noch heute im modernen Istanbul zu sehen sind, sicherten die Stadt gegenüber der Landseite vollkommen ab, bis schließlich die schweren Geschütze der Osmanen Breschen hineinschlugen. Einigen Berichten zufolge fiel dort der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XI. am 23. Mai 1453 im Kampf.10

Theoderich hatte noch keine Geschütze, und auch sonst noch niemand im 5. Jahrhundert, und so dürften die Befestigungen der Stadt diesem achtjährigen Jungen einen gehörigen Eindruck von überwältigender Macht vermittelt haben. Er wusste wahrscheinlich, dass sie 20 Jahre zuvor stark genug waren, um Attilas Hunnen abzuwehren. Die Mauern waren aus militärischen Überlegungen auf höher gelegenem Boden errichtet, der im Norden seine größte Höhe erreichte, eben an der Stelle, wo Theoderich in die Stadt geritten kam. Nachdem er Tor und Torbogen passiert hatte, überblickte er die ganze kaiserliche Metropolis.

Die unmittelbare Reaktion des Jungen war möglicherweise ein Schock. Theoderich kam aus der mittleren Donauebene westlich der Karpaten im heutigen Ungarn, wo er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. In der Blütezeit des römischen Imperiums war dies eine stark befestigte Grenzregion, in die das Reich in den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten viel Geld investiert hatte, was zu beträchtlichem Wohlstand der Bewohner führte. Stützpunkte der Legionäre säumten das Flussufer, und um die zahlungskräftigen Soldaten herum hatten sich echte römische Städte entwickelt, während das landwirtschaftliche Potential des Hinterlandes von pensionierten Legionären, neuen Siedlern aus Italien und Teilen der einheimischen Bevölkerung erschlossen wurde, die sich zu vollwertigen Römern entwickelten.

Mehrere Ausgrabungen haben ergeben, dass es in dieser Region in ihrer Hochphase befestigte Städte gab, Tempel und später Kathedralen, nachdem das Christentum Fuß gefasst hatte, sowie Theater und Amphitheater, Aquädukte, Straßensysteme, Statuen, Stadtversammlungen, Inschriften und eine Vielzahl prächtiger Villen. Doch das war vor den Krisenjahren des Zusammenbruchs des Weströmischen Reiches, und abgesehen von einigen stark befestigten – vielleicht ursprünglich kaiserlichen – Villen, die von den neuen Herren der Region für ihre eigenen Zwecke genutzt wurden, verfiel der Großteil davon bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts. Es lebte dort zwar noch eine größere Zahl von Bewohnern – ein Teil von ihnen an den alten Stätten –, doch niemand hütete die kulturellen Hinterlassenschaften. Daher zerfielen die Mauern und Standbilder bald zu Schutt, die römischen Gewänder waren für immer verschwunden und die meisten Villen schon lange zerstört.11

Der Gegensatz zwischen dem Schmutz und Staub einer alten römischen Provinzstadt und dem imperialen Glanz der Metropole, den Konstantinopel Mitte des 5. Jahrhunderts ausstrahlte, hätte kaum größer sein können. Was den jungen Theoderich zu allererst überwältigte, war die schiere Größe der Stadt. Die Theodosianische Mauer war in der zeitlichen Abfolge die dritte Stadtmauer. Die alte griechische Stadt Byzantion hatte eine erste Mauer besessen; diese umschloss eine etwa zwei Kilometer lange und 1,5 Kilometer breite Fläche am Ende der Halbinsel, die ein ungefähres Rechteck bildete (Karte S. 31). Die Mauern, die Konstantin in den 320er-Jahren hinzufügen ließ, umfassten ein etwa dreimal so großes Gebiet, und die Mauern des Kaisers Theodosius II. verdoppelten es abermals. Nicht die gesamte umschlossene Fläche war bebaut – es gab ausgedehnte Marktplätze und Parks, vor allem zwischen der Theodosianischen und der Konstantinischen Mauer –, doch aus einer typisch spätrömischen Stadt mit ungefähr 10000 Einwohnern war um 463 bereits die größte Stadt im Mittelmeerraum geworden mit einer Bevölkerung von mehr als einer halben Million.

Im Lauf der Zeit waren große logistische Probleme bewältigt worden. Wie eines der drängendsten Probleme behoben worden war, konnte Theoderich gleich zu seiner Linken sehen, als er vom Tor in die Stadt hineinritt. Auf dem Areal zwischen der Theodosianischen und der Konstantinischen Mauer befanden sich die drei großen Wasserspeicher der Stadt, von denen einer – die Zisterne des Aëtius – direkt neben der Straße lag, auf der Theoderich ritt. Ihre Überreste sind noch heute zu sehen (zumindest zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches) und beherbergen behelfsmäßig wirkende Häuser und Fußballplätze. Diese künstlich angelegten Seen wurden durch über 100 unterirdische Zisternen gespeist und besaßen eine Speicherkapazität von insgesamt mehr als einer Million Kubikmetern. Doch das war nur ein Teil der Geschichte vom Wasser. Zur Befüllung dieser Speicher waren Aquädukte von mehr als 250 Kilometer Länge angelegt worden, die sich durch die Stadt zogen und sich nach Norden und nach Westen fortsetzten, um das Regenwasser der thrakischen Berge aufzunehmen. Auch die technischen Vorrichtungen, die man zur Lösung des Nahrungsproblems gefunden hatte, boten sich Theoderichs Augen dar: Links vor ihm lagen die beiden kleinen Häfen der alten griechischen Stadt, aber weiter vorn konnte er die zwei großen neuen Häfen sehen, die unter den Kaisern Julian und Theodosius entstanden waren. Dort gingen die Getreideschiffe vor Anker, die mit ihren regelmäßigen Lieferungen, vor allem aus Ägypten, die Versorgung der Stadt sicherstellten. Alle Häfen waren von riesigen Getreidespeichern zur Lagerung der Vorräte gesäumt.

Ob sich ein acht Jahre alter Gote aus der verfallenen Provinz Pannonien für die logistischen Probleme interessierte, die die Versorgung einer halben Million Menschen mit Wasser und Nahrung aufwarf, darf man freilich bezweifeln. Viel eher wurden seine Augen wohl von den vielen makellosen Bauwerken angezogen, die alles in den Schatten stellten, was er unterwegs an Gebäuden gesehen hatte. Als Erstes bekam er Konstantins Apostelkirche zu Gesicht, Grabstätte der Kaiser; sie barg auch die Reliquien der Heiligen Andreas, Lukas und Timotheus. Für Theoderich als Christ war diese konzentrierte Heiligmächtigkeit von unmittelbarer Bedeutung, aber auch das Gebäude an sich war sehr beeindruckend. Dann führte der Weg an der Siegessäule vorbei, die auf der Spitze eine Statue des Kaisers Markian trug, des Bezwingers von Attila (ein Teil der Säule ist heute noch zu sehen), und anschließend gelangte er zum Kapitol. Dort führte eine Abzweigung den jungen Theoderich ins zeremonielle Zentrum der Stadt, wo sich vielfältige marmorne Bauwerke in verwirrender Weise aneinanderreihten: das Theodosiusforum (heute der Beyazit-Platz), ebenfalls mit einer Triumphsäule und einer Herrscherstatue ausgestattet (diesmal Theodosius I., Großvater des Erbauers der Landmauern), der wuchtige Triumphbogenkomplex des Tetrapylon, das runde Forum mit dem Haus des Senats und schließlich das große kaiserliche Zentrum mit Hippodrom, Palästen und den Kirchen der heiligen Weisheit und des göttlichen Friedens: Hagia Sophia und Hagia Irene. Das waren damals, im Jahr 476, noch nicht die berühmten überkuppelten Kirchen gleichen Namens, die man im heutigen Istanbul bewundern kann, sondern deren Vorgänger: rechteckige, klassische Basiliken mit adretten Satteldächern.

Wie diese Kirchen umgebaut wurden, wird im Kapitel »Durch die Autorität Gottes« eine wichtige Rolle spielen, doch fürs Erste genügt es zu begreifen, wie überwältigend dieser Anblick gewesen sein muss. Als Theoderich durch das Charisios-Tor ritt, empfing ihn eine prunkvolle Stadt, mit strahlenden Marmorfassaden, Bronzedächern und vergoldeten Standbildern. Der schroffe Gegensatz zu allem, was er bisher gekannt hatte, muss in hohem Maße verwirrend auf den Jungen gewirkt haben.12

Wer selbst Kinder hat, kann sich den jungen Theoderich vielleicht besser vorstellen. Ein kurzer Blick in die Aufzeichnungen über meinen eigenen Sohn ergibt, dass ein achtjähriger Junge in Großbritannien heute, zu Anfang des neuen Jahrtausends, durchschnittlich 1,28 Meter groß ist und etwa 28 Kilogramm wiegt. Die meisten Achtjährigen können sich nur für kurze Zeit auf etwas konzentrieren, sprühen vor Energie und verlangen naturgemäß stetig (in kleinen Mengen) nach Anregung, Nahrung und Zuwendung. Doch Theoderich war ein Prinz (vermutlich) königlichen Geblüts und hatte daher eine Erziehung genossen, die ihn wohl besser als die meisten anderen Kinder auf die emotionalen Entbehrungen und die öffentliche Zurschaustellung vorbereitet hatte, die sein neues Leben in Konstantinopel mit sich bringen sollte.

Er war der älteste Sohn der drei Brüder, und wahrscheinlich wurde er deshalb als Pfand für den Vertrag ausgewählt. Valamir hatte anscheinend keinen Sohn (ein Amateurpsychologe mag sich die Frage stellen, ob es vielleicht daran lag, dass er den Großvater seiner Ehefrau ermorden ließ), doch selbst wenn er einen Jungen gehabt hätte, wäre es Theoderich wohl nicht erspart geblieben, zum Stammesführer erzogen zu werden. Zu dieser Zeit war die Führung der pannonischen Goten noch auf mehrere Personen aufgeteilt, wie etwa zwischen Valamir und seinen Brüdern. Es gab kein Erstgeburtsrecht, und jeder männliche Nachkomme galt als potentieller künftiger Stammesführer. Doch dieser Posten war so spezifisch und auch so gefährlich, dass man genügend Alternativen zur Hand haben musste, falls einer der Söhne frühzeitig starb oder sich als charakterlich ungeeignet für diese Aufgabe erwies. Er musste nicht nur in entscheidenden Phasen einer Schlacht an vorderster Front reiten, er musste auch imstande sein, einer größeren Zahl von männlichen Alphatieren genügend Zuversicht zu vermitteln, damit sie ihm begeistert in die Schlacht folgten. Das erforderte nicht nur physische Kraft, sondern auch jenes ansteckende Charisma, das aus Selbstvertrauen erwächst und mit genügend Intelligenz verbunden sein muss, damit man entscheiden kann, welche Schlachten man schlagen muss – und welche nicht – und wie man sie zu führen hat.

In einem solchen Umfeld folgt gewöhnlich der Sohn dem Vater als Stammesführer nach. Manche Historiker haben kritisch angemerkt, dass die Merowinger zu dieser Zeit noch nicht das Erstgeburtsrecht etabliert hatten und die Nachfolge in der Dynastie wiederholt mit internen Machtkämpfen verbunden war. Aber das geht an der Sache vorbei. Das Erstgeburtsrecht kann nur funktionieren, wenn die persönlichen Eigenschaften des Sohnes keine große Rolle spielen, das heißt, wenn es bei der Wahrnehmung der Führungsaufgaben weniger auf persönliche Merkmale oder charismatische Fähigkeiten ankommt. Soldaten jedoch lassen sich weder von einem Poeten noch – was es auch nicht selten gab – von einem tumben Draufgänger in die Schlacht führen, der vielleicht kräftig und charismatisch sein mag, sie aber in sinnlosen Kämpfen für lächerliche Ziele aufreibt. Die treffendste Analogie zur mittelalterlichen Erbfolgeregelung, die ich kenne, findet sich in dem Roman Der Pate, wo die wichtigsten Gehilfen des Mafia-Bosses und eigenständigen Führungsfiguren der zweiten Garde wie Tom Hagen, Luca Brasi und Peter Clemenza sorgfältig die Qualitäten der verschiedenen Söhne von Vito Corleone gegeneinander abwägen. Besonders eingehende Beschäftigung verdienen die besseren und schlechteren Seiten des Ältesten der drei:

Sonny Corleone hatte Kraft, er hatte Mut. Er war freigebig, und es hieß, sein Herz sei nicht weniger groß als sein Glied. Aber ihm fehlte die Demut seines Vaters, und er besaß ein jähzorniges, hitziges Temperament, das ihn zu häufigen Fehlurteilen verleitete. Obwohl er seinem Vater eine große Hilfe war, zweifelten viele daran, dass er das Familienunternehmen einmal erben würde.13

Am Ende erweist sich der wesentlich ruhigere, aber klügere und genauso mutige dritte Sohn seinem charismatischen, aber unbedachten älteren Bruder als überlegen, während dem mittleren Sohn jegliche Herausfordererqualitäten abgehen. Eine Kriegergruppe zu führen, ob sie klein war oder größer, war mit großer Verantwortung verbunden, und daher standen potentielle Erben unter ständiger Beobachtung.

Das Leben, das Theoderich zu Hause führte, war wohl kaum dazu angetan, Empfindsamkeit besonders zu fördern, auch nicht bei einem Achtjährigen. Wir wissen, dass er Brüder und Schwestern hatte, es ist allerdings unklar, ob diese vor 463 geboren waren. Höchstwahrscheinlich entstammten sie verschiedenen Verbindungen. Auch halbkönigliche Führer von Kriegergruppen ließen sich bei der Wahl ihrer privaten Verbindungen genauso stark von politischen Notwendigkeiten wie von Zuneigung oder Begierde leiten und pflegten häufig mehrere Verbindungen gleichzeitig – in Form von Ehe und Konkubinat –, wie es die Umstände erforderten. Manchmal allerdings liefen die Dinge nicht wie geplant. Angeblich ermordete die Gepidenprinzessin Rosamunde ihren Ehemann, den Langobardenkönig Alboin, weil dieser sich lauthals gerühmt hatte, dass er den Schädel ihres besiegten Vaters als Trinkgefäß verwendet habe. Ob Vadamerca Rachegelüste gegen Valamir hegte, ist nicht überliefert. Aber auch wo das Leben der königlichen Familien etwas unbelasteter war, gehörten Spannungen zwischen Ehefrauen und Mätressen und deren natürliches Bestreben, ihren zahlreichen Kindern Vorteile zu verschaffen, zu den alltäglichen Erfahrungen von Heranwachsenden im 5. Jahrhundert, auch wenn diese Königsfamilien unendlich weit von den Normen und Hoffnungen einer heutigen Kleinfamilie entfernt waren.

Valamir, Thiudimir und Vithimir verständigten sich möglicherweise darauf, die Macht zu ihren Lebzeiten untereinander aufzuteilen, aber das bedeutete keineswegs, dass sie sich darüber einig waren, was danach geschehen sollte (wer ein gemeinschaftliches Erbe von den Eltern erhalten hat und dieses dann an die nachfolgende Generation übertragen soll, dürfte wohl diese Erfahrung auch kennen). Jordanes berichtet, dass Theoderichs Vater nicht wollte, dass Valamir diesen Jungen als Geisel einsetzte, und das erscheint durchaus glaubhaft. Der ältere Bruder wollte wahrscheinlich seinen Neffen nach Konstantinopel abschieben, damit dieser nicht die Möglichkeit hatte, seine Bande zur zweiten Führungsgarnitur zu stärken, wodurch er zum natürlichen Erben in der nächsten Generation geworden wäre, und vielleicht auch, weil er hoffte, in der Zwischenzeit eigene Söhne zu bekommen.14

Einige dieser Gedanken mögen abwegig erscheinen, aber sie gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Es war kein gewöhnlicher Achtjähriger, der hier durch das Charisios-Tor ritt. Er hatte wahrscheinlich Angst oder war aufgeregt, aber durch seine Erziehung war er ungewöhnlich abgehärtet. Was er in den folgenden zehn Jahren in Konstantinopel im Einzelnen tat, ist nicht bekannt, aber anhand vieler anderer Beispiele von Geiseln an römischen Kaiserhöfen in den vorhergehenden Jahrhunderten können wir uns gut vorstellen, welches Programm er absolvierte. Da Theoderich in erster Linie hier war, damit sichergestellt war, dass Valamirs Goten den Vertrag einhielten, und durchaus die Gefahr bestand, dass er hingerichtet wurde, wenn sie dies nicht taten, verfolgten die Römer mit ihren Geiseln wohl ehrgeizigere Ziele. Kurz gesagt, den Römern ging es um die Köpfe ihrer königlichen Geiseln, sie wollten sie zu gefügigen und nützlichen Werkzeugen machen, die ihnen auf lange Sicht dienlich sein konnten. Sie hofften, ihnen eine Mischung aus echter Bewunderung für die Errungenschaften der römischen Kultur und tiefsitzendem Respekt für die imperiale Größe Roms einzupflanzen, damit die ehemaligen Geiseln, wenn sie nach Hause zurückgekehrt waren, die Außenpolitik ihrer Völker im Interesse Roms beeinflussten.

Theoderich stand wohl zweifellos unter Beobachtung, wenngleich er von einigen eigenen Gefolgsleuten umgeben war, und absolvierte zumindest einen Teil des üblichen Erziehungsprogramms für Römerkinder aus der Oberschicht (darauf spielt er auch in dem Brief an Anastasios an). Man wollte ja sein Denken dauerhaft beeinflussen, und wie konnte man ihm römische Werte besser vermitteln als durch eine römische Erziehung! Er durfte sich am Hof und in der Stadt frei bewegen, durfte Zirkusveranstaltungen, Theater und auch Kirchen besuchen, denn in Konstantinopel gab es zu dieser Zeit noch eine eindeutig nichtnizänische Kirchengemeinde. Vielleicht nahm er auch an einigen Aktionen der römischen Armee teil, als er älter wurde. Obwohl stets dieser dunkle Schatten über ihm hing – er war schließlich eine Geisel –, bot man ihm jede Möglichkeit, alles über die Römer zu lernen, in der Hoffnung, dass er dadurch ein verlässlicher Partner werden würde, sollte er später einmal bei seinem Volk auf den Thron gelangen.15 Doch unabhängig davon, wie Theoderichs Erziehung im Einzelnen aussah – sie schlug auf spektakuläre Weise fehl. Fünf Jahre nach seiner Heimkehr nach Pannonien, als er immer noch erst Anfang dreißig war, erschien er abermals vor den Mauern Konstantinopels, diesmal an der Spitze eines 10000 Mann starken Heeres. Wie konnte dies geschehen, und was war bei seiner Erziehung schiefgelaufen?

Singidunum

Keine Strategie erreicht immer ihr Ziel. Menschen können auf die eine oder andere Weise auf einen Stimulus reagieren – mit völliger Zustimmung oder völliger Zurückweisung –, und die meisten bewegen sich wahrscheinlich irgendwo in der Mitte, greifen einige Ideen auf, die ihnen angeboten werden, lehnen andere ab. Im Fall Theoderichs, des Amalers, spricht einiges dafür, dass wir es mit einer höchst komplexen Reaktion zu tun haben: mit einem Menschen, der die ganze Tragweite der imperialen Macht erkannte und die vielen Vorzüge der römischen Ideen und Verwaltungsstrukturen schätzen lernte. Zugleich ließ er sich nicht im Entferntesten einschüchtern durch das, was er beobachtete, sondern überlegte stattdessen, wie er ausgewählte Elemente der Romanitas zu seinem Vorteil nutzen konnte. All dies kann man nur nachträglich ableiten – es gibt keine privaten Tagebücher von Theoderich –, aber sein späteres Leben und seine Taten sprechen hier eine deutliche Sprache.

Warum Theoderich im Alter von 18 Jahren nach Hause zurückkehrte, ist unklar. Er war mittlerweile offensichtlich voll erwachsen, doch nach Römischem Recht erlangte man erst mit 25 Jahren die Volljährigkeit, und wir wissen nicht, wie dies bei den Goten gehandhabt wurde. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder war der Rückkehrzeitpunkt im ursprünglichen Vertrag festgelegt worden, oder er kam durch bestimmte Umstände zustande. Wenn Letzteres der Fall war, bieten sich zwei Überlegungen an: Zum einen lebte Valamir Anfang der 470er-Jahre nicht mehr; er wurde im Lauf eines der zahlreichen Machtkämpfe in der Zeit nach Attila in der Region der mittleren Donau getötet. Dadurch stieg nicht nur Theoderichs Vater Thiudimir zum tonangebenden Führer der pannonischen Goten auf, auch Theoderich selbst rückte als ältester Sohn zum potentiellen Erben auf, weil Valamir anscheinend keinen männlichen Nachkommen hinterließ. Dass der Junge unter diesen Umständen nach Hause zurückgeholt werden musste, ist offenkundig.

Doch Valamir war vermutlich schon Mitte der 460er-Jahre gestorben; deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sein Tod der Anlass für Theoderichs Rückkehr war. Anfang der 470er-Jahre gab es auch in Konstantinopel bedeutende Veränderungen. In den vorangegangenen 20 Jahren war der General und Patricius Aspar der große Königsmacher gewesen. Aufgrund seiner nichtrömischen, alanischen Herkunft konnte er nicht selbst den Thron besteigen – was er anscheinend auch akzeptierte –, aber die Kaiser Markian (vermutlich 450–457) und Leo I. (ab 457) waren Kandidaten von seinen Gnaden, und seine Vorrangstellung in Konstantinopel war unangefochten. Zudem unterhielt er sehr enge Beziehungen zu einer großen Gruppe thrakischer Goten, die den Großteil des Offizierskorps auf dem oströmischen Balkan bildeten und ihm eine militärische Hausmacht verschafften, vor allem in Form von Garnisonen in der Hauptstadt, die er einsetzen konnte, um sämtliche potentiellen Rivalen niederzuhalten.

Dann jedoch versuchte Leo, sich von Aspar unabhängiger zu machen, und bediente sich der Anführer der erst kurz zuvor rekrutierten isaurischen Truppen aus dem Taurus-Gebirge (in der heutigen Türkei) als Gegengewicht zu Aspars Verbänden. In den 440er-Jahren hatten in dieser Region größere Rekrutierungsaktivitäten begonnen, als das Imperium neue Truppen brauchte, um Attilas Vorstöße abzuwehren. Im Lauf der 460er-Jahre wurden die politischen Auswirkungen dieser Maßnahmen allmählich sichtbar. Einer der fähigsten isaurischen Kämpfer mit Namen Zenon tat sich erstmals 466 hervor, als er Aspars Sohn Ardaburius des Hochverrats überführte. Er stieg anschließend schnell auf der militärischen Karriereleiter empor und knüpfte dabei wichtige Kontakte, die er für sein weiteres Fortkommen nutzen konnte. Im Jahr 471 waren der Kaiser und die Isaurier schließlich bereit für den entscheidenden Schlag. Angeblich auf Drängen Zenons ließ Leo Aspar in seinem Palast umbringen, was ihm den Beinamen Macelles (»Schlächter«) eintrug. Dieses Vorgehen provozierte einen Aufstand der thrakischen Goten, der nicht überraschend kam. Wie viele Herrscher vor und nach ihm, die sich in einer ähnlichen Lage befanden, musste auch Leo feststellen, dass es keine sonderlich kluge Strategie ist, sich darauf zu verlassen, dass man von einem Dritten aus einer unerwünschten Abhängigkeit befreit wird. Zenon hatte Leos Tochter Ariadne geheiratet, und der Sohn der beiden, Leo II., wurde Thronfolger, sodass eine graue Eminenz an die Stelle einer anderen trat. Ob der Schlächter danach nachts ruhiger schlief, ist nicht überliefert.16

Während dieser Wirren verließ Theoderich Konstantinopel, vielleicht gerade deswegen. Aber auch wenn dies nicht der Grund war, so verflochten sich zwei vorher getrennte Entwicklungen ineinander als Ergebnis dessen, was der junge Gote daraufhin unternahm. Nach seiner Rückkehr nach Pannonien musste sich Theoderich als Erstes darum bemühen, sich als Sohn seines Vaters und damit als potentieller künftiger Stammesführer Legitimität zu verschaffen. Es überrascht daher nicht, dass er kurze Zeit später einen Raubzug gegen die Sarmaten anführte, die ein Gebiet in der Nähe der alten römischen Stadt Singidunum (des heutigen Belgrad) besetzt hatten. Die Sarmaten waren einst gefürchtete Krieger gewesen, am Ende der Antike aber zu beliebten Prügelknaben für jedermann geworden. Unter ähnlichen Umständen hatte sich bereits im Jahr 378 der nachmalige Kaiser Theodosius I. im Herbst nach der vernichtenden Niederlage der Römer bei Hadrianopel (Edirne) die Sarmaten vorgeknöpft, um zu demonstrieren, dass Gott auf seiner Seite stand.

Fast 100 Jahre später wählte sich Theoderich das gleiche Opfer. Laut Jordanes, der hier wahrscheinlich abermals Cassiodor folgt, unternahm er diese Expedition ohne Wissen seines Vaters, aber das erscheint mir höchst unglaubhaft. Nach einer so langen Zeit und angesichts der ungeklärten Nachfolge nach dem Tod Valamirs, der keinen männlichen Nachkommen hinterlassen hatte, stand zu viel auf dem Spiel, als dass Vater und Sohn nicht das gemeinsame Interesse gehabt hätten, Theoderichs Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Dies wurde erreicht durch seinen Sieg über die Sarmaten, und »mit Sklaven und Schätzen« kehrte er zum Vater zurück.17

Mit den Sarmaten hatte er nicht nur vergleichsweise leichtes Spiel, Singidunum war auch eine bezeichnende Wahl. Theoderich hatte seinen Vater überzeugt, dass die politischen Unruhen im Gefolge der Ermordung Aspars eine günstige Gelegenheit boten, die die pannonischen Goten mit beiden Händen ergreifen mussten. Wie bei den meisten »großen« Entscheidungen gibt es Hinweise darauf, dass auch hier mehrere Motive eine Rolle spielten. Der Aufenthalt in Konstantinopel dürfte Theoderich deutlich vor Augen geführt haben, wie schwierig die gegenwärtige Lage der Goten in Pannonien war. Sie waren in der Region in Rivalitäten um die Vorherrschaft mit mehreren anderen kampfkräftigen Gruppen verstrickt, die aus Attilas Kriegsmaschinerie hervorgegangen waren: die Rugier, die Sueben, die Skiren, die Gepiden, die Alanen und nicht zu vergessen die Sarmaten sowie verschiedene Trupps von Hunnen unter Führung der Söhne Attilas. Die Kunst des Hunnenkönigs hatte darin bestanden, alle diese Gruppen zu vereinen und gegen die Römer ins Feld zu schicken, wodurch er große Mengen von Goldmünzen und andere Reichtümer erlangte, die so reichhaltig in den archäologischen Zeugnissen dieser Region aus der Hunnenperiode zutage treten. Doch sobald diese verschiedenen Gruppen nicht mehr zusammenarbeiteten, ging der Zufluss von Wertgegenständen in die Region rasch zurück oder kam gar zum Stillstand. Die neuen regionalen Konflikte, die an die Stelle weit ausgreifender Raubzüge auf römisches Territorium traten, entwickelten sich rasch zu Auseinandersetzungen um immer unwichtigere Dinge (nicht zuletzt deshalb, weil der verbliebene Reichtum zusammen mit den Toten bestattet wurde (Tafelteil I, Abb. 2, ab S. 160), büßten aber nichts von ihrer Grausamkeit ein. In einem dieser Kämpfe hatte auch Valamir den Tod gefunden: