Invasion der Barbaren - Peter Heather - E-Book

Invasion der Barbaren E-Book

Peter Heather

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Beschreibung

Spätrömische Dekadenz und plündernde Vandalen: so lauten die Klischees über die sogenannte Völkerwanderungszeit. Doch wie entstand im ersten Jahrtausend aus dem hochentwickelten römischen Süden und dem barbarischen Norden die neue kulturelle Einheit Europa? Um Christi Geburt war Europa zweigeteilt in den hochentwickelten Süden der Mittelmeerkulturen und den unentwickelten Norden germanischund slawisch sprechender Stammeskulturen. Diese kannten weder die Schrift noch den steinernen Siedlungsbau, ein stehendes Heer oder die Geldwirtschaft, geschweige denn Städte mit Feuerwehr und Müllabfuhr. Wie konnte der "Ansturm der Barbaren" dem römischen Imperium den Todesstoß versetzen? Peter Heather stellt diese alte Frage im Licht der Erkenntnisse zur Ethnogenese und der modernen Migrationsforschung neu. Vom Hunnensturm bis zu den Wikingern untersucht er die Dynamik der europäischen Wanderungsbewegungen. Die sozialen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen zwischen beiden Kulturräumen veränderten diese von Grund auf und ließen sie langfristig zu einer neuen kulturellen Einheit werden: dem Europa, das wir in weiterentwickelter Form noch heute kennen.

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PETER HEATHER

INVASIONDER BARBAREN

DIE ENTSTEHUNG EUROPAS IMERSTEN JAHRTAUSEND NACH CHRISTUS

Aus dem Englischen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Empires and Barbarians“ im Verlag Macmillan, London © 2009 by Peter Heather Für die deutsche Ausgabe © 2011, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Cover: Rothfos und Gabler, Hamburg Abbildung: „Der Kampf auf der Brücke“ von Arnold Böcklin/ akg-images / Erich Lessing Printausgabe: ISBN 978-3-608-96426-4

Inhalt

Vorwort

Prolog

1 Migranten und Barbaren

Die Besiedlung Europas

Die große Migrationsdebatte

Migration und Invasion

2 Die Germanen und die Globalisierung

Der Wandel im germanischen Europa

Krieger, Könige und soziale Ungleichheit

Die Rom-Connection

Globalisierung

3 Nicht alle Wege führen nach Rom

Von der Ostsee bis ans Schwarze Meer

Migration und die Germanen

Räuber unterwegs

4 Migration und Grenzkollaps

»Der ehemalige Soldat«

Völker in Bewegung

Kampf ums Überleben

5 Die Hunnen kommen

»Die Saat des ganzen Verderbens«

Kommen und Gehen an der Donau

Identität im Hunnenreich

Migration und Hunnenreich

6 Franken und Angelsachsen: Elitetransfer oder »Völkerwanderung«?

Eliten und Massen

Die Franken und das römische Gallien

Massenmigration und Statusdemonstration

7 Ein neues Europa

Das Imperium fällt

Die neue Ordnung

Systemkollaps und die Geburt Europas

8 Die Entstehung des slawischen Europa

Auf der Suche nach den Slawen

Die Slawisierung Europas

Die Migration und die Slawen

Migration und das slawische Europa

9 Die Wikinger in der Diaspora

Die Wikinger und der Westen

Russlands Wikinger

Migrationsströme

Die skandinavische Expansion

Migration und Entwicklung

10 Die erste Europäische Union

Politik und Entwicklung

Der Aufstieg des Staates

Zentrum und Peripherie

11 Das Ende der Migration und die Geburt Europas

Migration

Migration und Entwicklung

Das dritte Newtonsche Gesetz der imperialen Herrschaft

Karten

Anmerkungen

Bibliographie

Primärquellen

Sekundärliteratur

Abbildungsnachweis

Bildteil

Über den Autor

VORWORT

An diesem Buch habe ich sehr lange gearbeitet. Bei Unterzeichnung des Verlagsvertrags war mein Sohn William noch nicht geboren. Wenn das Buch erscheint, wird er die Mittlere Reife ablegen, also sechzehn Jahre alt sein. Es hat auch deshalb so lange gedauert, weil ich gleichzeitig mit anderen Dingen beschäftigt war. Aber dieses Projekt nahm allein vier Freisemester und damit mehr Zeit in Anspruch, als ich je zuvor auf irgendetwas verwendet habe. Vielleicht kann man daran ermessen, wie schwierig die Aufgabe war, die ich mir gestellt hatte. Zeitlich und räumlich ist mein Thema weit gespannt und umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Ich erhebe keineswegs den Anspruch, sie alle bis ins Letzte zu beherrschen. Daher bin ich dankbar, dass die Forschungsergebnisse führender Wissenschaftler insbesondere im Bereich der slawischen Geschichte und Archäologie auch in westeuropäischen Sprachen vorliegen. Auf diese und viele andere Fachgebiete habe ich mich gestürzt, obwohl jeder vernünftige Mensch die Finger davon gelassen hätte. Das ist der zweite Grund, warum ich so lange gebraucht habe.

Die vergleichende Auseinandersetzung mit so vielen unterschiedlichen Disziplinen ist jedoch grundlegend für die Konzeption dieses Buches. Ursprünglich wollte ich die Transformationsprozesse des barbarischen Europa im 1. Jahrtausend aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Zum einen sah ich zwischen den Entwicklungsmustern germanischer Gesellschaften am Rand des römischen Weltreichs in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends und denen slawischer Gesellschaften am Rand des Fränkischen und des Byzantinischen Reiches in dessen zweiter Hälfte große Ähnlichkeiten. Das konnte kein Zufall sein. Zum anderen fand ich, dass bestimmte neuere Forschungsansätze die in der Vergangenheit stark überbetonte barbarische Migration viel zu entschieden ablehnten und damit die Bedeutung dieses Phänomens allzu sehr in den Hintergrund drängten. Mir schien es sinnvoll, die Migration des 1. Jahrtausends im Licht neuerer, sehr viel besser dokumentierter Migrationen zu betrachten. Daraus entstand schließlich das Konzept des vorliegenden Buches. Die vergleichende Migrationsforschung öffnete mir die Augen dafür, dass erstens die Migrationsmuster und -formen in der Regel eng an die gängigen Grundmuster der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung gekoppelt und zweitens oft entscheidend durch den politischen Kontext geprägt sind. Anders gesagt: Die beiden Stränge meines ursprünglichen Ansatzes zum barbarischen Europa des 1. Jahrtausends waren keineswegs getrennte, sondern eng aufeinander bezogene Aspekte eines umfassenderen Transformationsprozesses. Form und Verlauf der Migration der Barbaren im 1. Jahrtausend wurden maßgeblich durch die sozioökonomischen und politischen Transformationen der Gesellschaften des barbarischen Europa und ihrer Interaktion mit den imperialen Mächten ihrer Zeit bestimmt. So lautet die Kernthese meines Buches. Es bleibt freilich dem Urteil des Lesers überlassen, ob die Vorzüge einer solchen Methode die zwangsläufigen Defizite im Detail aufwiegen.

Im Übrigen möchte ich all jenen danken, die mir bei diesem Projekt über die langen Jahre hinweg zur Seite gestanden haben. Meinem Aufenthalt an der Universität Yale, Fachbereich Altphilologie und Geschichte, von 1999 bis 2000 verdanke ich meine Kenntnisse über die Grundmuster der modernen Migration. Im Herbst 2004 gewährte mir der britische Arts and Humanities Research Council (AHRC) ein weiteres Forschungssemester und somit insgesamt acht Monate, in denen ich die meisten späteren Kapitel dieses Buches schrieb. Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich in der äußerst angenehmen Atmosphäre von Dumbarton Oaks in Washington, wo man, umgeben von zahllosen Büchern und in anregender Gesellschaft, so wunderbar arbeiten kann. Mein aufrichtiger Dank gilt dem Direktor und den Kuratoren für die Zuerkennung eines Forschungsstipendiums im Wintersemester 2004. Ein kleineres Stipendium im Rahmen des Projekts »Migration und Diaspora« des AHRC erlaubte mir im Frühjahr und Sommer 2005 die Durchführung eines Seminars zur Migration im 1. Jahrtausend, das für mich – und hoffentlich auch für die anderen Teilnehmer – sehr fruchtbar war.

Die speziellere akademische Schuld, die ich in den vergangenen sechzehn Jahren angehäuft habe, ist gewaltig, aber ich kann nicht jedem Einzelnen danken. Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Thema hatte ich das Glück, zur Teilnahme an einer Untergruppe des Projekts »Transformation der römischen Welt« eingeladen zu werden, das die European Science Foundation finanzierte. Hier habe ich viel gelernt, und ich vermag nicht einmal ansatzweise darzulegen, wie viel ich dem regen Gedanken- und Informationsaustausch verdanke, der mir auch in der Folgezeit zugute kam. Besonders danken möchte ich Przemysław Urbańczyk, der mich nach Polen einlud, wo ich meine Kenntnisse der frühmittelalterlichen Slawen über mein damals doch sehr oberflächliches Niveau hinaus vertiefen konnte. Ich danke allen, die dazu beitrugen, dass das vom AHRC finanzierte Seminar zum Thema Migration zu einer solch anregenden und angenehmen Erfahrung wurde. Von den zahlreichen Kollegen, die mir auf die eine oder andere Weise ihre Gedanken und Publikationen zuteil werden ließen, danke ich insbesondere Paul Barford, Andrzej Buko, James Campbell, David Dumville, Guy Halsall, Wolfgang Haubrichs, Lotte Hedeager, Agnar Helgason, Christian Lübke, Walter Pohl, Mark Shchukin, Mark Thomas, Bryan Ward-Perkins, Mike Whitby, Mark Whittow, Chris Wickham, Ian Wood und Alex Woolf. Diese Aufzählung ist alles andere als vollständig, sie soll nur symbolisch die große intellektuelle Schuld verdeutlichen, in der ich stehe.

Schließlich danke ich meiner Lektorin Georgina Morley, meinen Korrektoren Sue Phillpott und Nick de Somogyi sowie meiner Projektmanagerin Tania Adams. Ich habe ihnen das Leben wahrlich nicht leicht gemacht. Sie alle haben einen großen Beitrag zu diesem Buch geleistet, und ich bin dankbar für alles, was sie an Unstimmigkeiten, Fehlern und unglücklichen Formulierungen entdeckt und verbessert haben. Alle noch vorhandenen Fehler gehen natürlich allein auf mein Konto. Mein Dank gilt auch Neil McLynn und anderen Freunden und Kollegen, die meine verschiedenen Entwürfe gelesen haben. Ich danke ihnen für ihre Geduld, ihre ermunternden Worte und ihre Hilfe. Und wie stets schulde ich meiner Familie unendlichen Dank für ihre Geduld in den vergangenen Monaten. Bongo und Tookey nahmen klaglos hin, dass ich nicht mit ihnen gespielt habe, und William und Nathaniel haben mir meine Zerstreutheit und schlechte Laune großherzig vergeben. Vor allem jedoch danke ich Gail, die neben ihrer logistischen und emotionalen Unterstützung gleichfalls lange und unermüdlich an der Fertigstellung dieses Buches mitwirkte. Ich stehe unermesslich in ihrer Schuld, doch unermesslich ist auch meine Dankbarkeit und die Liebe, die ich zu ihr empfinde.

PROLOG

Im Sommer des Jahres 882 nahmen Zwentibald, Herzog der Mähren, und seine Männer nahe der Großen Ungarischen Tiefebene, wo zwischen Alpen und Karpaten die Donau fließt, Werinher, »den mittleren der drei Söhne des Engischalk, und ihren Verwandten Graf Wezilo gefangen und schnitten ihnen die rechte Hand ab, die Zunge und – schrecklich, dies zu berichten – die Geschlechtsteile, so dass keine Spur mehr von [den Geschlechtsteilen] übrig blieb«. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte des 1.Jahrtausends n.Chr. sind zwei Aspekte dieses Vorfalls bemerkenswert.

Erstens sprachen die Mähren Slawisch. Mähren lag nördlich der Donau etwa im Gebiet der heutigen Slowakei. Aus unserer Sicht scheint nichts Besonderes daran zu sein, dass dieser Teil Mitteleuropas von Slawisch sprechenden Menschen beherrscht wurde. Das ist schließlich heute noch so. Zu Beginn des 1. Jahrtausends und in den folgenden 500 Jahren jedoch wurden die Slowakei und weite Teile der benachbarten Gebiete von Germanisch sprechenden Menschen dominiert. Woher also waren die slawischsprachigen Mähren gekommen?

Zweitens ist der Vorfall an sich schon erstaunlich. Trotz der Tatsache, dass ein nichtmährischer, fränkischer Geschichtsschreiber davon erzählt und trotz der entsetzlichen Verstümmelungen äußert sich unsere Quelle nicht unfreundlich über die Slawen. Für die Mähren, so wird berichtet, war diese drastische Maßnahme Präventivschlag und Racheakt zugleich. Sie rächten sich für die ungerechte Behandlung, die ihnen durch Werinhers Vater Engischalk und seinen Onkel Willihelm widerfahren war, als die beiden auf der fränkischen Seite der Grenze das Kommando führten. Es war aber auch ein Präventivschlag, da die Mähren verhindern wollten, dass Engischalks Söhne das Amt, das ihr Vater innegehabt hatte, einem neuen Bevollmächtigten entrissen. Die Mähren waren grausam, zweifellos, aber sie waren keine blindwütig losschlagenden Barbaren, so dass selbst ein fränkischer Kommentator hinter ihrer Brutalität eine klar umrissene und schlüssige Absicht erkennen konnte. Sie wollten ihren Teil der Grenze ihren Vorstellungen entsprechend verwaltet wissen. Archäologische Funde verdeutlichen, was damit gemeint sein könnte. Ende des 1. Jahrtausends war Mähren das erste slawische Reich von ansehnlicher Größe und Stabilität, und seine materiellen Hinterlassenschaften sind beeindruckend. In der einstigen Hauptstadt Mikulcˇice entdeckte man bei Ausgrabungen massive steinerne Umfassungsmauern und die Überreste einer eindrucksvollen Kathedrale. Mit ihrer Grundfläche von 400 Quadratmetern übertraf sie alles, was zu dieser Zeit anderswo gebaut wurde, selbst in den Regionen Europas, die vermutlich damals technisch fortschrittlicher waren.1 Betrachtet man das 1. Jahrtausend als Ganzes, ist all dies ungeheuer faszinierend. Denn noch zur Zeitenwende dominierten in Mähren germanischsprachige Gruppen, die meist in kleinen Stammesfürstentümern organisiert waren und nie etwas Bedeutenderes errichteten als Holzhütten mittlerer Größe.

Der Vorfall an der mährischen Grenze Ende des 9. Jahrhunderts illustriert somit das Problem, um das es in diesem Buch geht: die grundlegende Transformation des barbarischen Europa im 1. nachchristlichen Jahrtausend. »Barbarisch« wird hier und im Folgenden in einem sehr spezifischen Sinne verwendet, der nur einen Teil der Bedeutung des griechischen barbaros umfasst. Denn für die Griechen und später auch für die Römer war »barbarisch« meist gleichbedeutend mit »minderwertig«, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen, von der Moral bis zu den Tischsitten. »Barbarisch« bedeutete das Entgegengesetzte, das »Andere«, das Gegenbild zum zivilisierten, im Römischen Reich geeinten Mittelmeerraum. Ich verwende den Begriff jedoch nur in einem engeren, von moralischen Konnotationen freien Sinn: das barbarische Europa als die nichtrömische Welt des Ostens und des Nordens. Denn trotz der erstaunlichen Kultiviertheit, die der Mittelmeerraum in allen Bereichen von der Philosophie bis zur Technik entwickelt hatte, war dies auch eine Welt, die nichts dabei fand, rein zur Unterhaltung Menschen von wilden Tieren zerfleischen zu lassen. Daher fiele es mir ohnehin schwer, das römische Europa mit dem nichtrömischen anhand moralischer Kriterien auch nur ansatzweise zu vergleichen.

Die europäische Landschaft bot zur Zeit von Christi Geburt ein Bild extremer Gegensätze. Im Mittelmeerraum, unter der Herrschaft des Römischen Reiches erst kurz zuvor geeint, war eine politisch, wirtschaftlich und kulturell hochentwickelte Zivilisation entstanden – mit Philosophie, Bankenwesen, Berufsarmeen, Literatur, eindrucksvollen Bauwerken und einem System der Müllentsorgung. Abgesehen von kleineren Gebieten westlich des Rheins und südlich der Donau, wo man allmählich anfing, einen mediterranen Lebensstil zu entwickeln, war das übrige Europa von bäuerlichen Bevölkerungen bewohnt, die Subsistenzwirtschaft betrieben und kleine politische Einheiten bildeten. Ein Großteil dieses Europa wurde von germanischsprachigen Gruppen beherrscht, die zwar auch Werkzeuge und Waffen aus Eisen besaßen, das meiste aber aus Holz fertigten, über so gut wie keine Schriftkultur verfügten und nicht in Stein bauten. Je weiter man nach Osten kam, desto primitiver wurde alles: noch weniger Eisenwerkzeuge, eine noch geringere landwirtschaftliche Produktivität und eine noch geringere Bevölkerungsdichte. Die Römer im Mittelmeerraum waren die beherrschende Macht des westlichen Eurasien, die das unentwickelte Hinterland im Norden unter ihrer Kontrolle hatten.

Tausend Jahre später hatte sich diese Welt grundlegend verändert. In einem Großteil des barbarischen Europa dominierten jetzt Slawisch sprechende anstelle von Germanisch sprechenden Menschen, und in anderen Gebieten hatten germanischsprachige Gruppen die Römer und Kelten verdrängt. Aber auch die mediterrane Vorherrschaft war gebrochen. Im einstigen nördlichen Hinterland waren größere und stabilere politische Gemeinwesen entstanden, wie das Beispiel der Mähren zeigt. Doch nicht nur politisch, auch kulturell hatte der Mittelmeerraum seine Vorherrschaft eingebüßt. Bis zum Jahr 1000 hatte sich viel von der mediterranen Kultur – nicht zuletzt das Christentum, die Schriftkultur und die Steinarchitektur – nach Norden und Osten ausgebreitet, was zu einer größeren Homogenität der politischen und kulturellen Strukturen in ganz Europa führte. Das barbarische Europa war nicht mehr barbarisch.

Die überragende Bedeutung dieser massiven Machtverlagerung manifestiert sich schon darin, dass viele Länder des modernen Europa ihre historischen Wurzeln auf politische Gemeinwesen zurückführen, die irgendwann zwischen Mitte und Ende des 1. Jahrtausends entstanden. Diese Herleitung erscheint manchmal allzu gezwungen, doch kaum eine europäische Nation könnte ihren Gründungsmythos in die Zeit von Christi Geburt oder noch weiter zurück datieren. In einem sehr grundsätzlichen Sinn sind die politischen und kulturellen Transformationen des 1. Jahrtausends tatsächlich die Geburtswehen des modernen Europa, denn dieses Europa ist weniger ein geographisches als vielmehr ein kulturelles, wirtschaftliches und politisches Gebilde. Geographisch gesehen ist es bloß der westliche Teil der großen eurasischen Landmasse. Seine eigentliche historische Identität jedoch verdankt Europa der Entstehung von Gesellschaften, die auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene so intensiv miteinander kommunizierten, dass sich signifikante Gemeinsamkeiten entwickeln konnten. Und dass solche Gemeinsamkeiten überhaupt entstehen konnten, war eine unmittelbare Folge der Transformation des barbarischen Europa im 1. Jahrtausend.

Aufgrund seiner überragenden Bedeutung für die Entstehung von Nationen und Regionen hat das 1. Jahrtausend Wissenschaftler seit jeher in seinen Bann gezogen. Es kursieren allerlei Versionen über den Ursprung der verschiedenen Nationen, und seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht gibt es wohl nur wenige Europäer, die nicht zumindest mit den Grundzügen der Sage vom Entstehen ihrer Nation einigermaßen vertraut sind. Doch genau an diesem Punkt wird es problematisch.

Bis vor kurzem neigten Forschung und Öffentlichkeit dazu, den Einwanderern unterschiedlicher Art, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten des 1. Jahrtausends auftauchten, eine Hauptrolle zuzuschreiben. Mitte des 1. Jahrtausends zerstörten germanischsprachige Einwanderer das Römische Reich und gründeten eine Reihe von Nachfolgereichen. Ihnen folgten weitere Germanen und vor allem Slawen, deren Aktivitäten dem Nationenpuzzle Europas weitere Teile hinzufügten. Gegen Ende des Jahrtausends traten dann auch noch Einwanderer aus Skandinavien und der osteuropäischen Steppe auf den Plan. Auch wenn zuweilen erbittert über manche Details gestritten wurde, bezweifelte niemand auch nur ansatzweise, dass die Massenmigration von Männern und Frauen, Alten und Jungen bei der Entstehung Europas eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Seit einer Generation jedoch besteht unter Forschern in diesen Fragen kein Konsens mehr, denn es hat sich gezeigt, dass diese Ansätze allzu vereinfachend sind. Bisher gibt es noch keine neue Überblicksdarstellung, aber in einer Vielzahl von Arbeiten wurde die Bedeutung der Migration für die Herausbildung zumindest einiger Vorläufer der heutigen Nationen Europas entscheidend relativiert. So gehen inzwischen viele Historiker davon aus, dass es überhaupt keine massenhafte Migration gab, sondern dass sich immer nur wenige Menschen auf Wanderung begaben. Während man früher von großen sozialen Gruppen ausging, die zielstrebig durch Europa zogen, sind heute viele Experten überzeugt, dass sich hinter dem kulturellen Banner der Wenigen, die tatsächlich auf Wanderung waren, viele andere sammelten und sich dadurch eine neue Gruppenidentität herausbildete. Wichtiger als jede Migration waren für die Neuordnung des barbarischen Europa in den 1000 Jahren seit Christi Geburt jedoch die inneren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandlungsprozesse. Das versuche ich in diesem Buch zu zeigen.

Invasion der Barbaren möchte die fehlende Überblicksdarstellung zur Entstehung Europas liefern, indem es die positiven Aspekte der revisionistischen Geschichtsschreibung aufnimmt und gleichzeitig deren Fallstricken ausweicht. Wie uns der oben geschilderte Vorfall aus Mähren eindringlich vor Augen führt, spielt die Staatenbildung im bis dahin unentwickelten barbarischen Europa – das Entstehen größerer und kohärenterer politischer Gebilde – in der Geschichte des 1. Jahrtausends n. Chr. eine mindestens ebenso große Rolle wie die Migration. Als in der politischen Landschaft Mittel- und Nordeuropas politische Gebilde wie Mähren entstanden und sich behaupteten, war es dem zum Mittelmeerraum orientierten Römischen Reich nicht mehr möglich, die überregionale Hegemonie auszuüben, die es 1000 Jahre lang praktiziert hatte. Dennoch ist es wichtig, nicht alles über den Haufen zu werfen und von ständig sich wandelnden Identitäten und einer geringen Zahl von Migranten auszugehen. Es geht mir nicht darum, die Bedeutung der Migration von mitunter sogar recht großen Gruppen zu bestreiten, sondern ihre verschiedenen Grundmuster im Zuge der Transformation des barbarischen Europa zu erörtern.

Mein Anliegen erschöpft sich nicht darin, die Bedeutung von Massenmigrationen im Kontext der anderen Phänomene des 1. Jahrtausends hervorzuheben. Vielmehr möchte ich zeigen, dass dem breiten Bild der Transformation des barbarischen Europa so etwas wie eine einheitliche Feldtheorie zugrunde liegt. Beim Prozess der Staatenbildung wie der Migration in all ihren Formen handelt es sich nicht um zwei verschiedene Arten der Transformation, sondern um verschiedene Reaktionen auf ein und dieselben Impulse: die massive Ungleichheit zwischen den mehr und den weniger entwickelten Gebieten Europas zu Beginn des 1. Jahrtausends. Meiner Ansicht nach haben Staatenbildung und Migration zur Beseitigung dieser Ungleichheit entscheidend beigetragen. Es sind eng miteinander verwandte Phänomene, die der Dominanz des Mittelmeerraums ein Ende setzten und den Grundstein für die Entstehung des modernen Europa legten.