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Was wir vom Untergang Roms für die Zukunft des Westens lernen können Der Westen befindet sich in einer Krise: Unsere Demokratie ist angeschlagen, die Deindustrialisierung bedroht den Wohlstand und Flüchtende machen sich auf in westliche Länder und stehen vor den Toren.In diesem außergewöhnlichen historischen Vergleich erkunden die Autoren die unheimlichen Parallelen – und produktiven Unterschiede – zwischen dem Untergang Roms und dem Fall des Westens, um aus der antiken Geschichte neue Lehren zu ziehen. Die Ära der westlichen globalen Dominanz hat ihr Ende erreicht – doch was kommt als Nächstes? In den letzten drei Jahrhunderten stieg der Westen auf, um den Planeten zu dominieren. Doch plötzlich, um die Jahrtausendwende, kehrte sich die Geschichte um. Angesichts wirtschaftlicher Stagnation und innerer politischer Spaltung befindet sich der Westen in einem rapiden Niedergang. Es ist nicht das erste Mal, dass die globale Ordnung einen solch dramatischen Aufstieg und Fall erlebt. Das Römische Reich folgte einer ähnlichen Entwicklung von überwältigender Macht bis zum Zerfall – eine Tatsache, die mehr ist als ein seltsamer historischer Zufall. In diesem fesselnden Buch nutzen der Historiker Peter Heather und der politische Ökonom John Rapley diese römische Vergangenheit, um über den zeitgenössischen Westen, seinen Zustand der Krise und mögliche Wege heraus neu nachzudenken.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2024
Peter Heather und John Rapley
Stürzende Imperien
Rom, Amerika und die Zukunft des Westens
Aus dem Englischen von Thomas Andresen
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Why Empires Fall. Rome, America and the Future of the West« im Verlag Allen Lane, Penguin Books Ltd., London
© 2023 by Peter Heather and John Rapley
Für die deutsche Ausgabe
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: © Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverillustration KI-generiert mit Midjourney aus Einzelbildern von Akg, Bildnummer: AKG8254852, und Mauritius Images, Bildnummer: 03620757
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98236-7
E-Book ISBN 978-3-608-12317-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einführung: Folge dem Geld
Teil Eins
1. Feiern wie im Jahr 399
2. Imperium und Bereicherung
3. Östlich des Rheins,nördlich der Donau
4. Die Macht des Geldes
Teil Zwei
5. Alles fällt auseinander
6. Barbareneinfälle
7. Macht und Peripherie
8. Tod der Nation?
Schluss: Tod des Imperiums?
ANHANG
Anmerkungen
Karten
Literaturhinweise
Register
Kann der Westen(1) jemals wieder zu alter Größe gelangen? Und sollte er es überhaupt versuchen?
Zwischen dem Jahr 1800 und der Jahrtausendwende entwickelte sich der Westen(2) zur vorherrschenden Macht auf dem Planeten. Zunächst nur einer von mehreren gleichrangigen Akteuren war er schließlich für 80 Prozent der Weltwirtschaftsleistung verantwortlich. Gleichzeitig stiegen die Durchschnittseinkommen in den westlichen Industriestaaten auf das Fünfzigfache der übrigen Welt.
Diese überwältigende wirtschaftliche Dominanz führte zu einer politischen, kulturellen, sprachlichen und sozialen Neuordnung des Planeten nach westlichem Vorbild. Fast überall auf der Welt wurde der Nationalstaat(1), ein Produkt innereuropäischer Entwicklungen, zur politischen Norm und ersetzte die enorme Vielfalt aus Stadtstaaten, Königreichen, Kalifaten, Bistümern, Scheichtümern, Stammesfürstentümern, Imperien und Feudalregimen, die den Globus zuvor geprägt hatten. Englisch wurde die Sprache des Welthandels, Französisch (und später wiederum Englisch) die Sprache der Diplomatie. Die Welt deponierte ihre Überschüsse auf westlichen Banken, wobei das Pfund(1) und später der Dollar(1) Gold als Schmiermittel des internationalen Handels ersetzten. Aufstrebende Intellektuelle aus aller Welt studierten an westlichen Universitäten, und Ende des 20. Jahrhunderts vergnügte sich die Menschheit mit Hollywoodfilmen und europäischem Fußball.
Doch dann legte die Geschichte plötzlich den Rückwärtsgang ein.
Durch die Große Stagnation(1) nach der Großen Rezession(1) infolge der globalen Finanzkrise von 2008 sank der Anteil des Westens(3) an der Weltwirtschaftsleistung von 80 Prozent auf 60 Prozent, und seitdem nimmt er langsam, aber stetig weiter ab. Die Reallöhne gingen zurück und die Jugendarbeitslosigkeit stieg sprunghaft an, während es gleichzeitig bei den öffentlichen Dienstleistungen zu Kürzungen kam und die öffentliche und private Verschuldung(1) dramatisch zunahm. Das in den 1990er Jahren noch so unerschütterliche Selbstbewusstsein des Westens war dahin, Selbstzweifel und innere Spaltung prägten von nun an den liberal-demokratischen politischen Diskurs. Gleichzeitig gewannen andere Wirtschaftsmodelle an Bedeutung, allen voran die autoritäre, zentral gelenkte Planung des chinesischen Staates, die in den letzten vier Jahrzehnten mit einem erstaunlichen Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich über 8 Prozent pro Jahr aufwarten kann. Mit anderen Worten, das tatsächliche chinesische Einkommen(1) verdoppelt sich alle zehn Jahre. Wie konnte sich das Gleichgewicht der Weltwirtschaft so sehr zuungunsten des Westens verschieben? Und handelt es sich dabei um etwas, das rückgängig gemacht werden kann, oder ist es schlicht der natürliche Lauf der Dinge, an den sich der Westen eben besser anpassen sollte?
Es ist nicht das erste Mal, dass die Welt einen so dramatischen Aufstieg und Niedergang erlebt. Roms(1) Aufstieg zur Weltmacht der Antike begann im zweiten Jahrhundert v. Chr. und dauerte fast 500 Jahre an, bevor das Reich Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends kollabierte. Obwohl er sich vor 1500 Jahren ereignete, lassen sich aus dem Untergang Roms immer noch wichtige Lehren für die Gegenwart ziehen. Tatsächlich kann uns ein Vergleich mit der Geschichte des Römisches Reiches und seiner Welt dabei helfen, die Geschichte und Gegenwart des modernen Westens(4) neu zu bewerten. Wir sind beileibe nicht die Ersten, die das Schicksal Roms auch heute noch für lehrreich halten, aber bisher wurde es vor allem als Ausgangspunkt für eine vorwiegend westlich geprägte Diagnose der aktuellen Situation genutzt. In seinem viel beachteten Kommentar zum Bataclan-Massaker(1) im Jahr 2015 in Paris, der in führenden Zeitungen auf beiden Seiten des Atlantiks (nicht zuletzt in der Sunday Times und im Boston Globe) veröffentlicht wurde, schrieb der Historiker Niall Ferguson(1), dass Europa »in seinen Einkaufszentren und Sportstadien dekadent geworden ist«, während man gleichzeitig »Fremde hereinließ, die seinen Reichtum begehrten, ohne jedoch ihren angestammten Glauben abzulegen … Wie das Römische Reich im frühen fünften Jahrhundert hat Europa zugelassen (unsere Hervorhebung), dass seine Verteidigungsanlagen verfallen«. Ferguson schließt: »Genau so gehen Zivilisationen unter.« Inspiriert ist er hierin von Edward Gibbons(1) berühmtem Meisterwerk Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Darin argumentiert Gibbon, dass Rom langsam von innen heraus erodierte, nachdem es begonnen hatte, Fremde – eine seltsame Mischung aus Christen und Barbaren(1) wie Goten(1) und Vandalen(1) – innerhalb seiner Grenzen zu dulden. Als hätte es sich einen Virus eingefangen, der seinen Wirt sukzessive aller Kraft beraubt, verfiel das Reich nach seinem Goldenen Zeitalter langsam bis zu dem Punkt, an dem es seinen Lebenswillen verlor. Gibbons Grundannahme, dass Rom sein Schicksal selbst in der Hand gehabt habe, wirkt bis heute nach, und für Ferguson und andere ist die Lektion, die uns der Untergang Roms erteilt, offensichtlich. Die Therapie für den Niedergang eines Imperiums besteht darin, die Grenzen zu kontrollieren, »Fremde« fernzuhalten, Mauern zu bauen und sich auf den eigenen, angestammten Glauben zu besinnen, während man gleichzeitig die nationalistischen Muskeln spielen lässt und internationale Handelsabkommen auf den Prüfstand stellt.[1]
Doch so wirkmächtig die Tropen von einfallenden Barbaren(2) und innerer Dekadenz auch sein mögen – Gibbon(2) hat vor sehr langer Zeit geschrieben. Den ersten Band seines Werkes veröffentlichte er 1776 – im selben Jahr, als Amerika(1) seine Unabhängigkeit erklärte. In den letzten zweieinhalb Jahrhunderten hat sich unser Verständnis von der römischen Geschichte weiterentwickelt, was uns eine grundlegend andere Perspektive auf den gegenwärtigen Zustand des Westens(5) und seine voraussichtliche Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten eröffnet.
Dass eine überarbeitete römische Geschichte zu einem alternativen, dekolonisierten Verständnis der gegenwärtigen Lage des Westens(6) beitragen kann, ist den beiden Autoren bereits in einem Gespräch klar geworden, das sie vor über einem Jahrzehnt führten. Peter Heather ist ein auf die römische und nachrömische Zeit spezialisierter Historiker, der sich besonders für die Frage interessiert, wie das Leben in den Randgebieten eines Weltreichs die betreffenden Gesellschaften verändert. John Rapley ist ein Volkswirtschaftler, der sich schwerpunktmäßig mit der Globalisierung(1) und ihren Folgen für die Entwicklungsländer befasst. Eine Diskussion im Verlauf eines langen Nachmittags machte uns deutlich, dass wir beide uns zwar mit unterschiedlichen Reichen beschäftigen, aber in Bezug auf die Gründe für ihr Vergehen zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen kommen.
Wir waren beide der Ansicht, dass für die Zukunft und das Schicksal »unserer« Reiche nicht ausschließlich Entscheidungen und Ereignisse innerhalb ihres Herrschaftsbereichs bestimmend waren. Für das Ende ihrer Vorherrschaft war vielmehr die Art von Veränderungen verantwortlich, die sie jenseits ihrer Grenzen auslösten. Trotz – und bisweilen auch gerade wegen – der tiefgreifenden Unterschiede zwischen dem alten Rom und dem modernen Westen ist beider Geschichte für den jeweils anderen aufschlussreich. Denn es gibt so etwas wie einen imperialen Lebenszyklus(1), an dessen Anfang wirtschaftliche Entwicklungen stehen. Reiche entstehen, um neue Wohlstandsströme für den dominierenden imperialen Kern zu generieren. Dieser Prozess erzeugt allerdings auch neuen Wohlstand(1) in den eroberten Gebieten und einigen peripheren Regionen, die zwar formell nicht kolonisiert wurden, aber durch untergeordnete Wirtschaftsbeziehungen mit dem imperialen Kern verbunden sind. Solche wirtschaftlichen Veränderungen bleiben nicht ohne politische Folgen. Jede Konzentration oder jeder Fluss von Reichtum ist ein potenzieller Baustein für neue politische Macht, die sich entschlossene Akteure zunutze machen können. In unmittelbarer Folge kurbelt eine großflächige wirtschaftliche Entwicklung in der Peripherie einen politischen Prozess an, der irgendwann die Vorherrschaft der imperialen Macht herausfordert, die den Kreislauf ursprünglich in Gang gesetzt hatte.
Dieses grundlegende ökonomisch-politische Prinzip ist so wirkmächtig, dass es einen gewissen relativen Niedergang des imperialen Kernes unvermeidlich macht(2). Man kann nicht einfach »Amerika(2) wieder großartig machen« (oder das Vereinigte Königreich oder die EU), denn durch die Ausübung seiner Vorherrschaft hat der Westen(7) in den letzten Jahrhunderten die globalen strategischen Machtbausteine, auf denen seine »Großartigkeit« beruhte, neu angeordnet. Das bedeutet auch, dass schlecht informierte Versuche, den relativen Niedergang direkt umzukehren – wie die »MAGA«-Kampagne in den USA oder der Brexit(1) in Großbritannien(1) –, den Prozess nur beschleunigen und vertiefen. Dennoch muss das Endergebnis nicht zwangsläufig ein vollkommener zivilisatorischer Kollaps in Form eines umfassenden, absoluten wirtschaftlichen Niedergangs mitsamt flächendeckender politischer, sozialer und sogar kultureller Verwerfungen sein.
Die römische Geschichte zeigt auch, dass Reiche mit einer ganzen Reihe von zerstörerischen oder kreativen Maßnahmen auf Veränderungen reagieren können. Der moderne Westen(8) steht derzeit am Beginn seines eigenen Anpassungsprozesses. Da das Römische Reich den seinen schon vor langer Zeit durchlaufen hat und wir das Ergebnis kennen, verspricht ein nachhaltiger Vergleich wichtige Erkenntnisse. Die gegenwärtig im Westen erkennbaren Entwicklungen befinden sich zwar noch im Anfangsstadium, aber ihre Tragweite wird sichtbar, wenn man sie den langfristigen Veränderungen gegenüberstellt, die sich in der Entwicklung und beim Verfall des Römischen Reiches in dem halben Jahrtausend nach Christi Geburt beobachten lassen.
Um das Potenzial dieses Vergleichs voll auszuschöpfen, ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil versuchen wir, mit Hilfe der römischen Geschichte den Aufstieg des Westens(9) zu verstehen. Es zeigt, in welch verblüffendem Ausmaß die wirtschaftliche und politische Entwicklung in den letzten Jahrhunderten diejenige des Römischen Reiches widerspiegelt. Außerdem untersuchen wir, warum die wirtschaftliche Vorherrschaft des Westens so eklatant nachgelassen hat und wohl auch weiterhin nachlassen wird. Während der Westen jedoch erst seit kurzem von einer aufstrebenden Peripherie herausgefordert wird, kann deren Rolle bei der Unterminierung des Römischen Reiches und der Entstehung neuer Machtstrukturen nach seinem Zusammenbruch umfassend analysiert werden. Da die beiden imperialen Narrative in diesem Stadium also nicht nebeneinander betrachtet werden können, verfolgen wir im zweiten Teil einen etwas anderen Ansatz. Zunächst ermitteln wir die Schlüsselfaktoren, die den Zusammenbruch des Römischen Reichs bewirkten, um anschließend die Relevanz jedes dieser Faktoren für den modernen Westen zu untersuchen. Dabei werden auf Basis der antiken Zeugnisse die sich bereits jetzt abzeichnenden langfristigen, teils positiven und teils negativen Auswirkungen betrachtet. Der Westen wird zwar niemals wieder zu seiner alten Größe im Sinne einer unangefochtenen globalen Vorherrschaft gelangen, aber der notwendige Anpassungsprozess kann entweder das Beste der westlichen Zivilisation innerhalb einer neuen Weltordnung zum Vorschein bringen oder jede Hoffnung auf einen anhaltenden Wohlstand(2) der westlichen Bevölkerungen zunichtemachen. Wie das Beispiel der römischen Geschichte zeigt, wird die Zukunft des Westens letztlich davon abhängen, welche politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen seine Bürger und Politiker in den nächsten Jahren treffen.
Unsere Zeit ist von gesellschaftlicher Spaltung, wachsender ökonomischer Ungleichheit und stagnierenden Lebensstandards geprägt. Gleichzeitig verschuldet sich der Staat immer mehr, und wir müssen mitansehen, wie unsere einst so starken öffentlichen Dienste dahinsiechen. In diesem aufgeheizten politischen Klima erinnert man sich kaum noch daran, wie rosig die Zukunft des Westens(10) vor gut zwanzig Jahren noch aussah. Als das 20. Jahrhundert auf sein Ende zuging, waren die Vereinigten Staaten(2) das Zentrum der modernen Welt. Die Arbeitslosigkeit hatte einen historischen Tiefstand erreicht, und die US-Wirtschaft – die mit Abstand größte der Welt – erlebte den längsten Wachstumsschub ihrer Geschichte, wobei der Aktienmarkt Jahr für Jahr zweistellig zulegte. Während des Dotcom(1)-Booms wurden Millionen Aktien besitzender Amerikaner von Tag zu Tag immer reicher und gaben ihre Gewinne mit vollen Händen aus, was das Wirtschaftswachstum noch weiter befeuerte. Und nicht nur Amerika(3), der gesamte Westen boomte – also die reichen, industrialisierten, mit den USA befreundeten oder zumindest verbündeten Volkswirtschaften in Westeuropa, Kanada(1) und Asien (Australien(1), Neuseeland(1) und zuletzt Japan(1)). Er umspannte den Planeten wie ein Koloss, sein Wohlstand(3) und seine Werte – individuelle Freiheit(1), Demokratie(1) und freie Märkte – schienen für alle Zeiten unverrückbar.
Zehn Jahre zuvor, in einem gefühlt das 20. Jahrhundert prägenden historischen Moment, hatten osteuropäische Demonstranten ihre kommunistischen Machthaber(1) gestürzt. Zwei Jahre später schaffte sich die Sowjetunion(1) selbst ab, und amerikanische Wirtschaftsexperten bereisten die Welt, um Regierungen bei der Umgestaltung ihrer Wirtschaft und ihrer politischen Institutionen nach westlichem Vorbild zu beraten. Selbst die Kommunistische(1) Partei Chinas(1) entdeckte den Markt für sich. Deutschland(1) wurde wiedervereinigt, Europa überwand die Rezession, Großbritannien(2) war cooler denn je, und die USA erlebten einen Aufschwung. Bis 1999 erreichte der Anteil des Westens(11) an der konsumierten Weltwirtschaftsleistung den höchsten jemals gemessenen Wert: Ein Sechstel der Weltbevölkerung verbrauchte unfassbare vier Fünftel der weltweit erzeugten Waren- und Dienstleistungen.
1999 erklärte US-(4)Präsident Bill Clinton(1) in seiner Rede zur Lage der Nation voller Optimismus, dass die guten Tage niemals enden würden und »die Verheißungen unserer Zukunft grenzenlos sind.« Da Wirtschaftswissenschaftler ihm versicherten, dass eine »Great Moderation(1)« angebrochen sei, eine Ära fortwährender wirtschaftlicher Stabilität mit endlosem Wachstum, kam seine Administration zu dem Schluss, dass die staatlichen Überschüsse bald in die Billionen gehen würden. Während Clinton den Kongress drängte, einen Teil der zu erwartenden Mittel in die Renten- und Gesundheitsversorgung zu investieren, kündigte sein Finanzminister an, dass die USA nach Jahrzehnten steigender Defizite endlich damit beginnen würden, alle Schulden(2) zu tilgen, die amerikanische Regierungen in den vergangenen 200 Jahren angehäuft hatten – was noch mehr Geld in die Taschen der einfachen Amerikaner spülen würde. Auf der anderen Seite des Atlantiks leitete Tony Blairs(1) New-Labour-Regierung derweil, ganz im Geist dieser Zeit, eine äußerst ambitionierte Ausweitung öffentlicher Dienstleistungen ein, während sich die Europäische Union(2) voller Selbstbewusstsein darauf vorbereitete, große Teile des alten Ostblocks in den elitären Club der westlichen Demokratien aufzunehmen.
Nur wenige Jahre später war aller Optimismus verflogen. Auf die globale Finanzkrise im Jahr 2008 folgten eine Große Rezession(2) und eine Große Stagnation(2). Ein knappes Jahrzehnt nach dem Höchststand von 1999 lag der Anteil des Westens(12) an der Weltwirtschaftsleistung um ein Viertel niedriger, denn aus 80 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts waren 60 Prozent geworden. Und obwohl die schlimmsten Auswirkungen des Zusammenbruchs rasch eingedämmt werden konnten, indem Regierungen und Zentralbanken ihre Volkswirtschaften mit Geld fluteten, ist es den westlichen Ländern seither nicht gelungen, das alte Wachstumsniveau wieder zu erreichen, während die Wachstumsraten(1) bei vielen wichtigen Entwicklungsländern hoch blieben. Also sinkt der Anteil des Westens am weltweiten Bruttosozialprodukt weiter. Und nicht nur auf wirtschaftlichem Sektor hat der Westen an Boden verloren. Die einst so strahlende »Marke« Westen hat einen Großteil ihres Glanzes eingebüßt. Von außen betrachtet wirken seine Gesellschaften oftmals tief gespalten und unentschlossen, während ihre demokratische Ordnung immer weniger Bürgern Vorteile zu bringen scheint. Das verschafft autoritären Regimen und Ein-Parteien-Modellen wirtschaftlicher und politischer Führung neue Glaubwürdigkeit.
Für einige westliche Kommentatoren bietet Gibbons(3) Diagnose vom Ende des Römischen Reiches die offensichtliche Lösung. Der Westen(13), so meinen sie, verliere seine Identität durch eine Flut fremder, vor allem muslimischer Einwanderer. Er müsse dem Einhalt gebieten und sich seiner grundlegenden kulturellen Werte besinnen – oder er sei ebenfalls zum Untergang verurteilt. So wie man sie im 21. Jahrhundert versteht, hält die römische Geschichte allerdings überraschend andersartige Lektionen für den modernen Westen bereit.
Fast auf den Tag genau 1600 Jahre bevor Bill Clinton(2) seine verheißungsvolle Zukunft beschwor, stand ein Sprecher des Kaiserhauses vor dem Senat von Rom(2) und hielt eine Rede zur Lage der westlichen Hälfte der römischen Nation. Man schrieb den 1. Januar 399, an dem die jüngsten in einer tausendjährigen Reihe von Konsuln ihr Amt antreten sollten. Es war das prestigeträchtigste Amt der römischen Welt, denn es garantierte den Inhabern ewiges Leben, wurde das betreffende Jahr doch nach ihnen benannt. Der glückliche Anwärter auf die Unsterblichkeit hieß in diesem Jahr Flavius Mallius Theodorus(1), ein Jurist und Philosoph, der seine administrativen Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hatte. Die Rede war triumphal und kündigte den Anbruch eines neuen Goldenen Zeitalters an. Nach einer kurzen, schmeichlerischen Bemerkung an das Publikum – »An diesem Rat kann ich den versammelten Erdkreis ermessen; an dieser Versammlung sehe ich alles, was überall Glanz hat« (ein Kompliment, zu dem sich heutzutage wohl nicht einmal der kühnste Spindoctor versteigen würde) – kam der Sprecher, ein Dichter namens Claudian(1), zur Sache.
Seine Rede drehte sich um zwei Themen: erstens die Genialität der Regierung, die einen Mann wie Theodorus(2) ins Amt berufen hatte. »Wer aber wollte ein renommiertes Ressort unter einem so bedeutenden Kaiser ablehnen? Wann wird je für Verdienste größerer Gewinn in Aussicht sein? … Welche Epoche hat einen Mann hervorgebracht, der in Ratschluss und Kriegskunst vergleichbar wäre? Heutzutage würde sogar ein Brutus [der Caesar-Mörder] gern unter der Königsherrschaft leben.« Zweitens den fest im Reich implementierten Wohlstand(4). »Das Feld hat sich [den geistigen Leistungen] geöffnet, und dem verdienten Mann ist die Gunst gewiss. Rastloser Einsatz wird mit gebührenden Gaben ausgezeichnet.«
Auf den ersten Blick sieht die Rede nach selbstgefälligem Bockmist der übelsten Sorte aus, wie er bei scheiternden Regimen schon zu allen Zeiten hoch im Kurs stand. Der damalige Westkaiser Honorius(1) war ein fünfzehnjähriger Knabe, während die wahre Macht in den Händen eines Generals namens Stilicho(1) lag, einem Militärdiktator barbarischer Herkunft. Er war umgeben von einer Funktionärsclique, die es kaum erwarten konnte, ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – den Dolch in den Rücken zu stoßen.[2] Nur ein gutes Jahrzehnt nach Claudians(2) Rede sollte Rom(3) von einer erst kurz zuvor ins Römische Reich eingewanderten Gruppe barbarischer Krieger geplündert werden, die von einem eigenen gotischen König namens Alarich(1) angeführt wurden. Der endgültige Zusammenbruch des Reiches des Honorius erfolgte innerhalb weniger Generationen: Der römische Westen wurde unter einer Reihe von barbarischen Herrschern aufgeteilt. Dabei fiel den gotischen Nachfahren Alarichs ein Großteil Spaniens(1) und Südgalliens(1) zu, den burgundischen Königen das südöstliche Gallien, fränkischen(1) Königen der Norden, den Vandalen(2) Nordafrika(1), und angelsächsische(1) Kriegerbanden trieben ihr Unwesen jenseits des Ärmelkanals. Aber gaben sich Konsul, Kaiser, Redner und Senat wirklich sehenden Auges einer kollektiven Selbsttäuschung hin? Gibbon(4) scheint davon überzeugt gewesen zu sein. Seiner Ansicht nach war Rom im Jahr 399 in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht nur mehr ein Schatten des goldenen antoninischen Zeitalters im zweiten Jahrhundert n. Chr., und sein Untergang stand direkt vor der Tür.
Nachfolgende Historikergenerationen entwickelten Gibbons(5) Modell weiter, bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Faktorenkatalog des Niedergangs zusammengestellt war, an dem sich scheinbar nicht rütteln ließ. Zunächst waren da die agri deserti(1), die »brachliegenden Felder«, von denen in kaiserlichen Edikten des vierten Jahrhunderts die Rede ist. Die Bevölkerung des Reiches bestand zu 85–90 Prozent aus Bauern. In einer so stark landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft schienen unbewirtschaftete Felder klar auf eine wirtschaftliche Katastrophe hinzuweisen, die man auf das restriktive Steuersystem zurückführte, das in zeitgenössischen Quellen immer wieder beklagt wird. Zweitens hatte die innere Fäule längst alle Gesellschaftsschichten durchdrungen. In Gibbons Goldenem Zeitalter war es üblich gewesen, dass Angehörige der römischen Mittel- und Oberschicht ihre Lebensleistungen in datierten Steininschriften(1) verewigten. Darin werden ihre Ehrungen, Ämter und Stiftungen aufgezählt – in der Regel Bauten und andere Annehmlichkeiten, die ihren örtlichen städtischen Gemeinwesen zugutekamen, denn bürgerliche Tugenden wurden in der römischen Welt hochgeschätzt. Doch dank zweier Großprojekte des 19. Jahrhunderts, die alle bekannten lateinischen und griechischen Inschriften sammelten, wurde schnell ein markanter, übergreifender Punkt deutlich: In der Mitte des dritten Jahrhunderts n. Chr. ging die jährliche Häufigkeit dieser Inschriften(2) auf etwa ein Fünftel zurück. Dieser dramatische Einbruch bei den Selbstdarstellungsbemühungen der wohlhabenden Schichten der römischen Welt wirkte wie brachliegende Felder, wie ein klares Indiz für eine wirtschaftliche Implosion. Und zum dritten unterstützte die Untersuchung ägyptischer Papyri und kaiserlicher Münzprägungen aus derselben Zeit diese These. Danach sah sich die Bevölkerung des Reiches in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts mit einer Hyperinflation(1) nicht unähnlich derjenigen in Deutschland(2) nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert, die durch die fortschreitende Entwertung des Silberdenars angeheizt wurde. Angesichts von Geldentwertung, Hyperinflation, Vertrauensverlust in der Oberschicht und nicht bestellten Feldern konnte es nur eine Schlussfolgerung geben. Bereits ein Jahrhundert bevor Theodorus(3) sein Konsulat antrat, lag das Reich wirtschaftlich in Trümmern und der Aufstieg des Christentums(1) fügte diesem Chaos nur noch ein viertes Element hinzu.
Auf Gibbon(6) geht auch die Auffassung zurück, dass die neue Religion des Reiches(2) eine äußerst negative Entwicklung darstellte. Die christlichen Kleriker und Asketen wuchsen seiner Ansicht nach zu einer Heerschar von »untätigen Mäulern« an, deren Versorgungsabhängigkeit die wirtschaftliche Vitalität des Reiches schwächte. Außerdem habe, so Gibbon weiter, die christliche Botschaft der Liebe – mit ihrer Aufforderung, »die andere Wange hinzuhalten« – die kriegerischen Bürgertugenden untergraben, die das Römische Reich groß gemacht hatten. Und er verabscheute die Neigung christlicher Führer, sich – ganz entgegen der Lehren ihres Gründers – untereinander zu zerstreiten, womit sie die alte Einheit des Reiches aushöhlten. Im Ergebnis war der allgemeine historische Konsens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass das römische Reichskonstrukt um 399 n. Chr. nur noch von einer totalitären, aufgeblähten Bürokratie an der Spitze einer zentralisierten Kommandowirtschaft zusammengehalten wurde, der es gerade so noch gelang, die verbliebenen Soldaten zu ernähren. Die nach dem Ersten Weltkrieg herangereifte Historikergeneration hatte nicht nur das Chaos der Hyperinflation(2) der Weimarer Republik(1) aus erster Hand verfolgt, sondern war auch mit den totalitären Regimen Sowjetrusslands und Nazideutschlands konfrontiert gewesen. Da auch im späten Römischen Reich so viel schiefgelaufen war, bedurfte es laut dieser weitverbreiteten Vorstellung von der römischen Vergangenheit letztlich nur noch einer Handvoll Barbaren(3), um das bereits wankende Imperium endgültig zum Einsturz zu bringen. Was dann ja auch nur wenige Jahrzehnte nach dem Anbruch des vermeintlichen, von Claudian(3) postulierten Goldenen Zeitalters geschah.
Dieses Narrativ von der wirtschaftlichen und moralischen Fäule im imperialen Zentrum, das die Verantwortung für den Untergang des Römischen Reiches seinen Führern in die Schuhe schiebt, wirkt auf kaum zu überschätzende Weise bis in die Gegenwart fort. Es erfreut sich nicht nur bei führenden konservativen westlichen Kommentatoren großer Beliebtheit, sondern findet auch in den Sozialwissenschaften Gehör, wo es auf einflussreiche Denkschulen im Gebiet der Internationalen Beziehungen maßgeblich einwirkt. Sogar ins Weiße Haus hat sich diese Sichtweise gelegentlich eingeschlichen. So zitierte Steve Bannon(1) in seiner Zeit als Donald Trumps(1) Berater regelmäßig Gibbon(7), wenn er darüber schwadronierte, wie die Abkehr Amerikas(4) von seinem religiösen Erbe das Land in die Dekadenz geführt habe. In seiner Antrittsrede nahm Trump ausdrücklich auf diese Weltsicht Bezug, indem er den gegenwärtigen Zustand des Landes als »American carnage« (amerikanisches Gemetzel) bezeichnete. Auch der Schriftsteller und Publizist Robert Kaplan(1), der die Außenpolitik Bill Clintons(3) maßgeblich mitprägte, zeigte sich begeistert von der Lektüre Gibbons, auf den er sich insbesondere bei seiner Vorhersage einer »kommenden Anarchie« in der globalen Peripherie berief. Auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie vertreten Daron Acemoglu(1) und James Robinson(1) in Warum Nationen scheitern die Ansicht, dass erst liberale Institutionen den triumphalen wirtschaftlichen Aufstieg des Westens(14) ermöglichten, während autokratische Institutionen unweigerlich in den Niedergang führen. Als Beleg für ihre Theorie zitieren sie Gibbon, für den Roms(4) Schicksal besiegelt war, sobald es aufhörte, eine Republik zu sein, denn an diesem Tag begann der lange Weg des Abstiegs, an dessen Ende zwangsläufig der Zusammenbruch stand.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Gibbons(8)Verfall und Untergang ausgerechnet in den Vereinigten Staaten(5) so großen Anklang gefunden hat. Seit der Gründung des Landes haben sich amerikanische Intellektuelle immer wieder als Erben Roms(5) gesehen und dessen Geschichte als Leitfaden für die eigene Zukunft gelesen. Mittlerweile gründet eine ganze Industrie auf den unterschiedlichen Elementen von Gibbons Verfallsmodell. Je nach ihrer politischen Agenda fokussieren sich manche Kommentatoren auf den wirtschaftlichen Niedergang, während andere das moralische Scheitern in den Vordergrund stellen, aber stets werden innere Faktoren für den imperialen Zusammenbruch verantwortlich gemacht. Es ist eine tolle und vor allem wunderschön erzählte Geschichte: Gibbon wird bis heute nicht zuletzt wegen seiner literarischen Qualität geschätzt. Die nachhaltige Wirkung seiner Darstellung hat natürlich auch viel damit zu tun, dass sie schon so alt ist. Wie jeder Lehrer weiß, lässt sich ein Gedanke, wenn er sich erst einmal in den Gehirnen der Schüler festsetzt hat, nur schwer wieder korrigieren. Aber genau das muss passieren. In den letzten fünfzig Jahren ist eine ganz andersartige römische Vergangenheit ins Blickfeld gerückt.
In den 1950er Jahren machte dann ein französischer Archäologe in Nordsyrien eine verblüffende Entdeckung. Was er fand, waren die Überreste einer offenkundig wohlhabenden Landbevölkerung aus dem vierten bis sechsten Jahrhundert n. Chr. Das natürliche Baumaterial in dieser Region war der dort vorkommende Kalkstein, was dazu führte, dass die teils mit datierten Inschriften versehenen Häuser noch weitgehend erhalten waren. Das war eine einzigartige Entdeckung, da überall sonst im Reich Bauern ihre Häuser mit Holz oder Lehmziegeln bauten, was keine Spuren an der Oberfläche hinterlässt. Nach Gibbons(9) Standardmodell hätte es eine solche wohlhabende spätrömische Landbevölkerung nicht geben dürfen. Denn wurden die Bauern nicht durch Überbesteuerung ruiniert und lagen ihre Felder nicht brach, so dass kein Raum für diese Art bäuerlichen Wohlstands(5) blieb?
Im selben Jahrzehnt begannen auch Kulturhistoriker, einen Großteil von Gibbons(10) Anklageschrift gegen die christliche Religion(3) zu entkräften. Ein Teil der Kritik war ohnehin nicht wirklich ernstzunehmen. Hält man sich die Geschichte des Christentums als organisierte Religion seit Kaiser Konstantin(1) – mit Kreuzzügen, Inquisition und Zwangskonvertierungen – vor Augen, dann ist die Vorstellung, es habe die Strukturen des Römischen Reiches durch ein Zuviel an Pazifismus untergraben, ein Produkt von Gibbons schrägem Sinn für Humor. Die detailliertere und ausgewogenere Forschung seit den 1950er Jahren zeigt auch, dass das Christentum nicht etwa der kulturellen Einheit der Antike geschadet, sondern ihr vielmehr eine aufregende neue Richtung gegeben hat. Das Christentum, wie es sich im vierten und fünften Jahrhundert entwickelte, war eine kraftvolle, innovative Synthese aus biblischen und klassischen Kulturelementen, und die aus religiöser Spaltung erwachsenden Probleme sind massiv überbewertet worden. Sowohl nach der Theorie als auch in der Praxis fungierten die Kaiser bald als Oberhäupter einer Kirchenstruktur, die erfolgreich eine neue Art von kultureller Einheit in den Weiten des imperialen Herrschaftsraums förderte. Auch die Charakterisierung des christlichen Klerus als »untätige Mäuler« ist wenig überzeugend. Schon bald wurden hochrangige christliche Ämter von Angehörigen des provinzialen Landadels übernommen, die nicht nur Gottesdienste leiteten, sondern auch die bestehende soziale und politische Ordnung aufrechterhielten. Damit waren sie im weiteren Sinne nicht mehr oder weniger »untätig«, als es die römische Grundbesitzerelite seit jeher gewesen war. In der Praxis agierten Kleriker aller Art im Wesentlichen als Staatsfunktionäre und nicht als subversive Vertreter einer feindlichen Kultur(4).
Auch das Bild eines scheiternden autoritären spätrömischen Staates ist durch neuere Forschungen untergraben worden. Im Jahr 1964 veröffentlichte der Althistoriker und ehemalige britische Verwaltungsbeamte A. H. M. Jones(1) eine umfassende Studie über die Betriebsabläufe im Römischen Reich und legte darin zahlreiche Unstimmigkeiten in der vorherrschenden Lehrmeinung offen. Der kaiserliche Bürokratieapparat dehnte sich im vierten Jahrhundert zwar aus, erreichte aber niemals auch nur annähernd ein Ausmaß, das es ihm erlaubt hätte, eine straffe Kontrolle über die riesige von Schottland(1) bis in den Irak(1) reichende römische Welt auszuüben. Hinzu kommt, dass dieser Prozess nicht vom imperialen Zentrum gesteuert wurde. Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, trieben vielmehr die provinzialen römischen Eliten die Bürokratisierung voran, indem sie für sich neue Posten innerhalb der Verwaltungsstrukturen forderten. Was auf den ersten Blick wie autoritäres Regierungshandeln anmutet, ist in Wahrheit also nichts anderes als das traditionelle Ringen der herrschenden Klassen des Reiches um Gunst und Einfluss, das sich in einen neuen soziopolitischen Kontext verlagerte. Und so bedeutend diese Entwicklung auch gewesen sein mag, den Untergang des Reiches hat sie wohl kaum eingeläutet. All diese Erkenntnisse boten zwar wesentliche Korrekturen am Paradigma des Niedergangs von Rom(6), doch sie blieben isolierte Eindrücke von einem möglichen alternativen Bild der römischen Geschichte. In den 1970er Jahren bündelte dann eine revolutionäre Neuentdeckung diese Einzelbeobachtungen zu einem fundamentalen Paradigmenwechsel – der ein prägnantes Zeugnis für die Allgegenwart menschlicher Ungeschicklichkeit ist.
Zerbrochene Töpferwaren besitzen zwei grundlegende Merkmale. Einmal dahin, sind sie weitgehend unbrauchbar. Aber die einzelnen Scherben sind praktisch unvergänglich. Deshalb bleibt zerbrochenes Geschirr häufig dort liegen, wo es fallen gelassen wurde. Dadurch liefert es uns Hinweise auf die Lage von Dörfern und Häusern, auch lange, nachdem das Holz verrottet und die Lehmziegel zu Staub verfallen sind. Es bedurfte jedoch zweier technischer Durchbrüche, damit die menschliche Tollpatschigkeit maßgeblich zur Entschlüsselung der Makrohistorie der römischen Wirtschaftsentwicklung beitragen konnte. Zunächst einmal mussten die Scherben datiert werden. Es war seit langem bekannt, dass sich die Formgebung von Tafelgeschirr (von den Archäologen »Feinkeramik« genannt) und Vorratsgefäßen (amphorae) im Laufe der Zeit verändert hatte, aber die Archäologen mussten genug davon an datierbaren Orten finden, um sich ein chronologisch zuverlässiges Bild von der Formentwicklung machen zu können. Außerdem galt es die Frage zu beantworten, welche Dichte an Oberflächenkeramik auf das unterirdische Vorhandensein einer antiken Siedlung hindeutet. In den 1970er Jahren waren beide Probleme gelöst, da moderne Pflügtechniken tief genug in den Untergrund eindringen, um darin verborgene Materialien wieder an die Oberfläche zu holen.
Was dann geschah, verdeutlicht, wie wenig echte archäologische Arbeit mit Abenteuern à la Indiana Jones(2) zu tun hat. In den folgenden zwanzig Jahren stellten sich kleine Armeen von Studenten unter Führung ihrer Dozenten in der ehemals römischen Landschaft in Reihen auf, um Quadratmeter für Quadratmeter alle Keramikfragmente einzusammeln, die sie nur finden konnten. Alle Funde wanderten in beschriftete Plastiktüten. Dann trat die Reihe einen Meter vor und wiederholte den Vorgang – so lange, bis das gesamte Zielgebiet abgesucht oder die Zeit für die Kampagne abgelaufen war. Die Winter verbrachten die Teams damit, den Inhalt der Tüten zu analysieren. Es überrascht nicht, dass groß angelegte Umlandsurveys über ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen konnten. Aber Archäologen sind eine beharrliche Spezies, und so schritten sie in den 1970er und 1980er Jahren mit Plastiktüten in der Hand weite Gebiete der alten römischen Welt ab.
Das alles klingt nicht gerade spannend, aber die Ergebnisse waren spektakulär. Das Römische Reich umfasste ein enormes Gebiet. Es sieht schon auf einer Karte riesig aus, aber man muss zusätzlich bedenken, dass sich die Menschen der Antike – zumindest auf dem Landweg – etwa zwanzigmal langsamer bewegten als heutzutage. Man ging zu Fuß, fuhr in Karren oder ritt auf Pferden. Der eigentliche Maßstab für Entfernungen ist die Zeitspanne, die man benötigt, um von A nach B zu gelangen, und nicht ein willkürliches Längenmaß. Daher lagen Orte im Römischen Reich in der Praxis zwanzigmal weiter voneinander entfernt, als sie uns heute erscheinen, und das Reich war entsprechend zwanzigmal größer. Aber ungeachtet dieser enormen Ausdehnung zeigten die Resultate, dass die ländliche Besiedlung so gut wie überall im Römischen Reich im vierten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, und nicht nur in den Kalksteinhügeln Nordsyriens. Ob das südliche Britannien(1), Nord- und Südgallien(2), Spanien(2), Nordafrika(2), Griechenland(1), die Türkei(1) oder der Nahe Osten(1): Unerwarteterweise zeigten alle Regionen ähnliche Ergebnisse. Die ländliche Besiedelungsdichte, und damit die landwirtschaftliche Gesamtproduktion, erreichte ihren Höchststand in der späten Kaiserzeit. Und da die römische Wirtschaft vor allem landwirtschaftsbasiert war, muss auch das Bruttoinlandsprodukt – also die Gesamtwirtschaftsleistung der römischen Welt – im vierten Jahrhundert einen Spitzenwert erreicht haben, der höher lag als zu jedem anderen Zeitpunkt der römischen Geschichte.
Das ist eine verblüffende Entdeckung. Ein riesiger und ständig wachsender Datensatz – die Zahl der im Boden verborgenen Keramikscherben ist unzählbar – hat bewiesen, dass die Kurve der makroökonomischen Entwicklungen des Römischen Reiches dem traditionellen Narrativ des Niedergangs diametral entgegengesetzt war. Daher machte diese angehäufte Masse an neuem Beweismaterial es zwingend erforderlich, die wesentlich eingeschränktere Checkliste, auf der die alte Orthodoxie beruhte, einer Revision zu unterziehen.
Die agri deserti(2) entpuppten sich bei näherer Betrachtung als Terminus technicus für Land, das nicht produktiv genug war, um besteuert zu werden. Insbesondere sagt der Begriff nichts darüber aus, ob die betreffenden Felder überhaupt jemals bewirtschaftet worden waren. Das Ende der Steininschriften(3) ist ein bedeutenderes historisches Phänomen, aber bei genauerer Betrachtung kein zwingendes Indiz für einen wirtschaftlichen Niedergang. Bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts verbrachten die lokalen Oberschichten des Reiches ihre Zeit vor allem damit, miteinander um die Vorrangstellung in ihren Heimatstädten zu konkurrieren, wo sie über beträchtliche Haushaltsmittel verfügen konnten. Stiftungen, derer man sich in öffentlich aufgestellten Inschriften rühmen konnte, waren eine wichtige Waffe in diesem politischen Wettbewerb. Doch in der Mitte des Jahrhunderts beschlagnahmte die kaiserliche Zentralverwaltung diese Haushaltsmittel (aus Gründen, auf die wir noch zurückkommen werden), so dass der wesentliche Grund für den politischen Wettbewerb auf lokaler Ebene wegfiel. Um ihren politischen Ehrgeiz zu befriedigen, brauchten die landbesitzenden Provinzeliten ein neues Betätigungsfeld, das sie in der rasch expandierenden Reichsbürokratie fanden, in der nun die finanziellen Fäden zusammenliefen. Die Grundbesitzer richteten ihre Lebensplanung darauf aus, und eine kostspielige juristische Ausbildung, nicht mehr die lokale Freigebigkeit, war jetzt der Schlüssel zum Erfolg – unser Anwalt Theodorus(4), der Konsul des Jahres 399, ist ein Beispiel dafür. In diesem neuen Umfeld war der Anreiz längst nicht mehr so groß, die eigene Großzügigkeit in Form einer kostspieligen Inschrift(4) zu dokumentieren. Was die Steuerlast betrifft, muss man sich zunächst vor Augen halten, dass die Geschichtsforschung – trotz intensiver Suche – noch keine Gesellschaft ausmachen konnte, die sich über eine zu niedrige Besteuerung(1) beschwert hätte. Die Klagen spätrömischer Steuerzahler sind nicht sonderlich gut begründet, und die neuen archäologischen Belege für ländlichen Wohlstand(6) verdeutlichen, dass man dort nicht unter einem allzu restriktiven Steuersystem gelitten haben kann. Die Hyperinflation(3) war fraglos real, aber ihre Auswirkungen waren nicht so gravierend, wie lange Zeit angenommen. Der allgemeine Preisanstieg angesichts des immer schlechter bewerteten Silbergelds war zwar enorm, doch der größte Teil des Reichtums römischer Grundbesitzer beruhte auf Reserven an reinem Edelmetall und vor allem auf ihrem Land und den daraus gewonnenen Erzeugnissen. Nichts davon wurde von der fortschreitenden Silbergeldentwertung berührt, so dass, anders als in der Weimarer Republik,(2) die römische Hyperinflation den realen Reichtum der landbesitzenden Reichseliten nicht schmälerte.
Was einmal als eindeutiger Beweis für den wirtschaftlichen Niedergang galt, ist also gar keiner. Gibbon(11) hat sich geirrt. Das Römische Reich siechte nach seinem Goldenen Zeitalter im zweiten Jahrhundert nicht langsam dahin, bis schließlich im fünften Jahrhundert der unvermeidliche Zusammenbruch kam.[3] Tatsächlich stand es unmittelbar vor seinem Ende noch in voller Blüte. Natürlich äußerte sich der Lobredner des Jahres 399 schon aus Eigeninteresse im Sinne des Regimes, das ihn beauftragt hatte, aber er war weder dumm noch verlogen, als er ein neues Goldenes Zeitalter ankündigte. Ende des vierten Jahrhunderts währte die Pax Romana(1) – jene Ära der politischen und rechtlichen Stabilität, die durch die Eroberungen der Legionen errungen worden war – bereits fast ein halbes Jahrtausend und hatte die makroökonomischen Voraussetzungen für den über Jahrhunderte wachsenden Wohlstand(7) der Provinzen(1) geschaffen.
Diese Revolution im Verständnis der spätrömischen Geschichte hat potenziell bedeutsame Auswirkungen, wenn wir den krassen Gegensatz zwischen dem westlichen Triumphalismus der 1990er Jahre und der aktuellen Untergangsstimmung ins Auge fassen. Die erste Lehre aus der römischen Geschichte ist klar: Dem Zusammenbruch eines Imperiums muss nicht zwingend ein schleichender wirtschaftlicher Niedergang vorausgehen. Kein Staatsgebilde im westlichen Eurasien war jemals größer oder hat länger existiert als das Römische Reich. Und doch ging seine westliche Hälfte nur wenige Jahrzehnte nach einem wirtschaftlichen Allzeithoch unter. Isoliert betrachtet erscheint es wie Zufall, doch eine tiefer gehende Untersuchung der langfristigen historischen Entwicklung Roms und des modernen Westens offenbart erstaunliche Muster.
Im Jahr 371 pries ein christlicher Dichter namens Decimius Magnus Ausonius(1) aus dem heutigen Bordeaux(1) in 483 lateinischen Hexametern die Schönheiten des Moseltals(1) in der Nordwestecke des Römischen Reiches. Ihm fielen die gepflegten Landschaften mit ihren Reichtümern und kulturellen Errungenschaften ins Auge:
Die Giebel der Landhäuser, erbaut hoch über ragenden Ufern, rebengrüne Hügel, die lieblichen Fluten der Mosel, die murmelnd unten dahinströmt.
Ausonius(2) äußert sich ausführlich über den Fischreichtum des Flusses (die Fischnamen nutzt er, um seine meisterhafte Beherrschung des lateinischen Metrums zu demonstrieren), die einfachen Freuden des Landlebens und die Pracht der Herrenhäuser, an denen er vorüberkommt:
Wer vermag es, die unendliche Fülle prächtiger Formen zu beschreiben und die architektonische Schönheit eines jeden der Güter zu schildern?
Die Mosella(1) gehört zu einer alten lateinischen Literaturgattung – der Ekphrasis, der ausführlichen Beschreibung – und hat einen radikalen Subtext. Ausonius(3) bringt damit zum Ausdruck, dass sich das Leben an den Ufern der Mosel(2) selbst mit dem in der Hauptstadt messen kann. »Und selbst der Tiber(1) wagte es nicht, seinen Ruhm über den deinen zu stellen«, sagt er, rudert allerdings am Ende spielerisch zurück, um sich nicht der Hybris verdächtig zu machen. Aber das Gedicht lässt keinen Zweifel an den wirklichen Überzeugungen seines Verfassers. Man ist versucht, Ausonius’ Anspruch als wildgewordene dichterische Freiheit abzutun, doch tatsächlich harmoniert er mit einer bemerkenswerten Anomalie, die sich aus zerbrochenen Keramikscherben ergibt.
Obwohl das Reich insgesamt ein goldenes viertes Jahrhundert erlebte – einschließlich des von Ausonius(4) gepriesenen Moseltals, in dem es tatsächlich viele prächtige spätrömische Villen gab –, haben Keramiksurveys einige spezifische Regionen des Niedergangs identifiziert. Im Fall des nördlichen Britannien(2) und des heutigen Belgien(1) ist das leicht zu erklären, denn dort hatte sich die ländliche Besiedlung nie von den schweren Barbarenüberfällen im dritten Jahrhundert erholt (dazu später mehr). Sehr viel rätselhafter ist das Geschehen in den italischen Kerngebieten des Reiches. Italien(1) war von den Wirren des dritten Jahrhunderts längst nicht so stark betroffen wie die Grenzregionen. Dennoch hatten dort Besiedlungsdichte und landwirtschaftliche Produktion ihren Höhepunkt in den beiden Jahrhunderten diesseits und jenseits von Christi Geburt erreicht, bevor sie im dritten und vierten Jahrhundert auf ein deutlich niedrigeres Niveau zurückgingen. Warum schrumpfte das ursprüngliche imperiale Zentrum, während die entferntesten Regionen seines Reiches einen Aufschwung erlebten? Die Antwort schält sich heraus, wenn wir tausend Jahre nach vorn spulen und den Aufstieg jener Gebiete analysieren, aus denen schließlich der moderne Westen(15) werden sollte.
Zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrtausends war der spätere moderne Westen(16) alles andere als ein wirtschaftliches Kraftzentrum. Ein paar Wikinger(1) hatten es über den Atlantik geschafft, aber zu diesem Zeitpunkt spielte Nordamerika keine Rolle in den größeren wirtschaftlichen und politischen Netzwerken. Muslimische Armeen aus Nordafrika(3) und dem Nahen Osten(2) beherrschten Südspanien(3) und hatten das Byzantinische Reich(1) mit seiner Hauptstadt Konstantinopel(1) zu einem kleinen Nachfolgestaat degradiert, der einen Großteil seiner Gebiete im südlichen und östlichen Mittelmeerraum verloren hatte. Dazwischen gequetscht lag eine verarmte, technologisch rückständige, politisch zersplitterte und von Seuchen heimgesuchte Ecke der Welt. Doch im Laufe des nächsten Jahrtausends sollte diese rustikale kleine Region zur Vormacht des Planeten aufsteigen.
Was diese dramatische Kehrtwende einleitete, ist bis heute heiß umstritten. Politische Faktoren spielten sicher eine Rolle. Die europäischen Staaten waren weder zu mächtig noch zu schwach, so dass Unternehmer sowohl die Freiheit als auch die Stabilität hatten, die sie für riskante Vorhaben brauchten. Hinzu kamen die natürlichen Ressourcen. Europa verfügte über ein breites Spektrum an domestizierbaren Tierarten (eine frühe Form von Kapital), zahlreiche Wasserwege für den kostengünstigen Verkehr und eine abwechslungsreiche Landschaft mit einer breiten Palette an Nutzpflanzen. Das alles förderte und erleichterte den Austausch. Auch kulturelle Aspekte dürften eine Rolle gespielt haben. Die Propagierung der einvernehmlichen Ehe durch das westliche Christentum(5) etwa brachte Kernfamilien hervor, die Anreize zum Sparen boten, während gleichzeitig seine universalistische Moral und auf Vertrauen basierende Wirtschaft Vertragsabschlüsse mit Fremden erleichterten, was wesentlich dem Fernhandel zugutekam. Andere sehen als zentrales Element dieses Prozesses die Entstehung einer voll entwickelten Rechtsauffassung von Privateigentum, die (auf der Grundlage römischer Präzedenzfälle) ein Produkt der mittelalterlichen Universitäten Europas war.