Die magische Schwelle - Kai Pannen - E-Book

Die magische Schwelle E-Book

Kai Pannen

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Beschreibung

Eigentlich ist Flo ein ganz normaler Junge. Nur ein bisschen viel Fantasie hat er, findet seine Schwester. Als Flo sich eines Nachmittags mitten in der Modelleisenbahn-Welt seines Vaters wiederfindet, beginnt selbst er an seinem Verstand zu zweifeln. Ist er jetzt völlig übergeschnappt oder hat er etwa eine magische Schwelle zwischen zwei Welten überschritten? Flo stürzt sich in wilde Verfolgungsjagden und Abenteuer, die er sonst nur gespielt hat. Als er einen Jungen trifft, der ihn vage an jemanden erinnert, erfährt er, wie eng Fantasie und Realität miteinander verstrickt sind … Eine rasant−fantastische Reise von Bestsellerautor Kai Pannen!

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KAI PANNEN

INHALT

Untergehende Welten

Streit um die Kleine Freiheit

Der Schritt über die Schwelle

Zu viel Fantasie

Verrückt, eindeutig verrückt!

Der Teddy-Test

Kein Held in seiner Welt

Marktstraße 35

Eine Dampflok außer Kontrolle

Das doppelte Elternhaus

Vaterrollen

Allein in der Burg

Geschwisterliebe

Das Ritterturnier

Alleingänge

Nachtwanderung

Die Johannes-Offenbarung

Und ewig lacht der Narr

Die Fahrt nach Hamburg

Das Laputa-Projekt

Das Spiel ist aus

Vermisst

Der Einbrecher

Johann verschließt die Pforte

Schokolade für Johannes

UNTERGEHENDE WELTEN

»Schroff und majestätisch erheben sich die mächtigen Hänge aus den unergründlichen Tiefen. ›La isla dolce‹, die süße Insel, wie sie von alters her im Volksmund genannt wird, die Heimat unzähliger Generationen von Inselbewohnern.«

Flo saß am Küchentisch und kommentierte gedankenverloren den Lauf der Dinge. »Aber nichts besteht für die Ewigkeit. Auch Felsen brechen mit der Zeit, mächtige Berge werden vom Wind abgetragen, ganze Inseln versinken im Meer. Da, die ersten Hänge lösen sich und rutschen unter lautem Getöse in die Tiefe. Sie reißen alles und jeden mit sich ins Verderben. Ganze Völker und Zivilisationen wurden so schon vom Schicksal verschlungen …«

»Was brabbelst du denn da vor dich hin?«, fragte Heidi abschätzig.

Flo fuhr erschrocken hoch und sah seine Schwester in der Küchentür stehen. »Ich betrachte das Werden und Vergehen einer Insel inmitten eines stürmischen Ozeans«, ließ er sie wissen.

»In einem Kakaobecher, der Herr Professor?« Heidi betrachtete mitleidig lächelnd ihren Bruder.

Flo stöhnte. Konnte seine ignorante Schwester nicht einmal einen kleinen Funken Fantasie aufbringen? »Klar, in einem Kakaobecher«, sagte Flo. »Ich hab gerade drei Löffel Kakaopulver auf die Milch geschüttet. Guck, sieht aus wie eine Felseninsel mit schroffen Vulkanbergen. Stell dir mal vor, wie dort an den steilen Hängen tropische Urwälder wachsen, Dörfer und Straßen entstehen. Für uns innerhalb von Sekunden, die für die winzigen Bewohner Jahrtausende bedeuten. Vielleicht leben wir ja selber auf so einer Kakaoinsel in einem riesigen Becher.«

Heidi schüttelte den Kopf. Das war typisch ihr Bruder. In einem Kakaobecher die Erde untergehen sehen! »Es ist Kakao. Du solltest ihn einfach umrühren.« Dann schnappte sie sich den Becher und nahm einen großen Schluck.

»Hey, das ist meiner!«, empörte sich Flo.

Woraufhin Heidi genüsslich den Rest austrank. Sie wischte sich über den Kakaomund und gab einen lauten Rülpser von sich.

In diesem Moment kam Gianna, Heidis beste Freundin, zur Tür herein. »Ups, stör ich euch beim Streiten?«

»Ich habe gerade eine ganze Welt verschluckt, samt Bewohnern und allem, was sonst noch dazugehört.«

»Hört sich ja lecker an. Aber hat bestimmt ’ne Menge Kalorien.« Gianna sah Heidi fragend an. »Und sonst so? Alles okay? Unser Kurs geht gleich los, bist du so weit?«

»Bist du zum Klettern nicht ein bisschen zu gestylt?«, fragte Heidi.

Gianna fuhr sich durchs Haar. »Wieso? Ist doch wie immer.«

»Ach ja, der Lennart«, hauchte Heidi mit einem übertriebenen Seufzer und fing an zu kichern.

»Lass das! Außerdem geht das deinen kleinen Bruder überhaupt nichts an.« Gianna drehte sich zu Flo um. »Wie wärs, Flo, willst du nicht lieber spielen gehen?«

»Eure Gesprächsthemen sind mir ohnehin zu banal!«, sagte er so herablassend wie möglich. »Ich hab Wichtigeres zu tun.«

»O ja, zum Beispiel in einen Kakaobecher starren«, lästerte Heidi.

»Das sind Studien für meinen Aufsatz zum Thema Erosion. Falls ihr überhaupt wisst, was das ist.«

Wenn Heidi und Gianna zusammen waren, ekelten sie Flo meistens fort. Da zog er es vor, selbst das Feld zu räumen, unter dem Vorwand, sich seinen Hausaufgaben zu widmen.

Er stapfte lautstark die Treppe hinauf, ging aber nicht in sein Zimmer, sondern schlich leise eine Etage höher. Dummerweise knarrte die eine Stufe der alten Holztreppe zum Speicher so laut, dass es bis nach unten zu hören war.

»Wolltest du nicht Hausaufgaben machen?«, rief Heidi aus der Küche.

»Geht dich doch nichts an!«

»Schon klar. Dann pass mal auf, dass du nicht so viel kaputt machst, sonst ist Papa wieder sauer, wenn er deine ›Hausaufgaben‹ sieht.«

»Kann er ruhig, ich mach schon nichts kaputt!«, rief Flo und betrat das große Zimmer im Dachstuhl. Da lag sie schlummernd vor ihm, die zauberhafte, weite Welt im Miniaturformat: Die Eisenbahnanlage, das Heiligtum seines Vaters. Flo liebte diese Welt mit all ihren winzigen bunten Details. Die Kleine Freiheit nannte sein Vater das Eisenbahnzimmer, das Flo eigentlich nicht alleine betreten durfte. Er setzte sich in den schweren Drehsessel in der Kommandozentrale, einer Aussparung inmitten der Anlage, von wo aus er diese Welt steuern konnte. Flo kannte fast jeden der unzähligen Schalter und Schieberegler.

»Hauptschalter auf on«, meldete er und überwachte mit ernster Miene, wie unzählige Kontrolllämpchen auf den Schaltpulten aufleuchteten. »Straßenbeleuchtung Klein- Rendsburg, Hohenfels, Niederdorf und Hintertupfingen aktivieren«, kommandierte er und drückte routiniert verschiedene Schalter. »Alle Systeme positiv.«

Es war immer wieder ein magischer Anblick, wenn ganze Straßen im Schein der kleinen Laternen aufleuchteten, die Fenster der Häuser erstrahlten und sich Autos in Bewegung setzten. Die Kommandozentrale war wie das Cockpit eines Flugzeugs, von dem aus er die Welt unter sich betrachten konnte. Manchmal aber tauchte er ganz nah an die Dinge heran und schaute genau hin. Dann überkam ihn jedes Mal das Gefühl, leibhaftig mitten in den kleinen Szenen zu stehen, die sein Vater über Jahre hinweg gebastelt hatte. Da gab es das Mehrfamilienhaus, das auf Knopfdruck zu brennen begann. Ein paar flackernde Lämpchen darin erzeugten den Eindruck, als loderten echte Flammen in den Zimmern. Sogleich machten sich mehrere Feuerwehrautos mit Blaulicht und Sirenen auf den Weg. An anderer Stelle jaulte die Alarmanlage einer Bank. Die Bankräuber rasten in einem silbernen Porsche davon, verfolgt von drei altersschwachen Polizeiautos. Auf der Kirmes nahe der Hochbrücke drehte sich ein buntes Kinderkarussell, farbige Lämpchen blinkten in Losbuden und aus der Geisterbahn drangen dumpf die Angstschreie der Besucher. Der Bahnhof von Klein-Rendsburg befand sich direkt vor der Kommandozentrale. Auf vier Gleisen warteten dort Züge auf ihre Streckenfreigabe.

»An Gleis 3 bitte zurücktreten. Der Zug fährt sofort los«, verkündete Flo. Er schaltete ein Signal auf Grün und ließ einen prächtigen ICE aus dem Bahnhof rollen. Auf einem zweiten Gleis ratterte ein langer Güterzug mit Containern, Tankwagen und Autowaggons.

»Meine sehr verehrten Fahrgäste, das Team von ICE 0815 begrüßt Sie an Bord unseres Zuges auf der Fahrt nach Nirgendwo. Über Ihre Anschlusszüge werden wir Sie gegebenenfalls informieren.«

Nachdem Flo alle Weichen überprüft und Signale eingestellt hatte, konnte er die beiden Züge getrost alleine ihre Runden fahren lassen. Er rutschte aus dem Sessel und beugte sich über Klein-Rendsburg. Geschickt fingerte er den winzigen roten Sportwagen aus dem Halteverbot in der Marktstraße und schob ihn über die lange Straße hinaus in die Landschaft. Gekonnt nahm er ein paar enge Kurven, gab dem Wagen dann aber etwas zu viel Schwung. Er geriet ins Schleudern und schepperte ausgerechnet in den Vorgarten von Frau Lüdemann, bei dem sich sein Vater so viel Mühe mit den klitzekleinen Gartenzwergen gegeben hatte. Gleichzeitig entgleiste der Güterzug mit viel zu hoher Geschwindigkeit in der Südostkurve und schob einen schweren Kranwagen quer über das Nebengleis, auf dem ausgerechnet der ICE unterwegs war! Flo sah, wie er ganz hinten auf der Eisenbahnanlage aus dem Tunnel schoss und geradewegs auf die Unglücksstelle zuraste. Flo hastete zurück zum Steuerpult, um einen Supercrash abzuwenden. Doch es war zu spät. Der ICE, mit 256 Personen an Bord, krachte ungebremst in den Kranwagen. Wie durch ein Wunder entgleiste er nicht, sondern schob den Kranwagen ein Stück vor sich her und riss ein paar Bäume auf der Pappelallee mit sich. In seiner Hektik setzte Flo versehentlich die alte Dampflok in Gang, anstatt den ICE zu stoppen. Was nicht weiter schlimm gewesen wäre, hätte er die Weichen richtig gestellt. So aber donnerte die alte Lok nach kurzer Fahrt auf einen parkenden Zug. Dessen Waggons schoben sich wie eine Ziehharmonika zusammen und begruben den Badestrand samt der Badegäste unter sich. Zu allem Überfluss hatte Flo jetzt auch noch die Feuerwehr aktiviert, die aber nicht zum Einsatzort gelangte, weil ein Güterwagen quer über der Straße lag. Die Sirenen heulten, Blaulicht blinkte, das Haus brannte und die Feuerwehrautos drückten ihre Kühler mit durchdrehenden Reifen und summenden Elektromotoren gegen den Waggon.

Einige Passanten hatte es böse erwischt. Kreuz und quer über die Straße lagen die kleinen Plastikfigürchen. Sie waren schwer verletzt! Auch wenn sie oberflächlich betrachtet den Anschein machten, ungerührt in ihrer gewohnten Pose zu verharren.

»Wieso steht ihr aber auch so nah an den Gleisen?«, fluchte Flo. »Okay, Ruhe bewahren. Nicht noch mehr falsche Schalter umlegen.«

Der Hauptschalter! Das war die Rettung. Ein Klick und der gesamte Spuk war vorbei. »Puh, gerettet! Gerade noch mal gut gegangen.«

Doch bei genauerer Betrachtung musste er zugeben, dass er ein ziemlich schlimmes Chaos angerichtet hatte. Wenn sein Vater das zu sehen bekäme, konnte er sich auf was gefasst machen. Zum Glück war nicht wirklich etwas kaputt gegangen. Bis auf ein paar abgeknickte Bäume vielleicht. Und dem freundlichen Herrn Müller, der immerfort seinen Hut zum Gruß hob, war der Arm abgebrochen. Das konnte man aber alles leicht reparieren.

»Das Wichtigste zuerst«, kommandierte Flo. »Noteinsatz und Erstversorgung der Opfer. Wir brauchen einen Rettungswagen! Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Bewahren Sie Ruhe und räumen Sie den Unfallort!«

Flo nahm die Polizeiautos und schob sie im Eiltempo über die Straßen. Musste der Bankräuber halt mal ohne seine Verfolger auskommen. Schließlich ging es hier um Menschenleben! Mit Flos Hilfe erreichten auch zwei Krankenwagen den Ort der Verwüstung. Aber sie brauchten dringend Unterstützung.

»Hallo, Flugzentrale, wir haben hier einen Schwerverletzten. Erbitten Rettungshubschrauber.«

»Roger, wir sind startklar.«

Flo ergriff den kleinen Hubschrauber, der auf dem Dach des Krankenhauses stand, und ließ ihn im Tiefflug über die Anlage sausen. Natürlich war er es selbst, der auf dem Pilotensitz des Helikopters saß.

»Frei zur Landung. Achten Sie auf die Hochspannungsleitung!«

»Roger. Kein Problem. Ich bin ja kein Anfänger«, funkte Flo aus dem Cockpit zurück. Waghalsig steuerte er den Hubschrauber unter den Drähten der Leitung hindurch und landete präzise in einer engen Schneise inmitten der Verwüstung.

In diesem Moment schaute Flos Mutter zur Tür herein.

»Es ist gleich vier Uhr. Du musst zum Klavierunterricht.«

Flo brauchte ein paar Sekunden, um zurück in die Wirklichkeit zu finden. Klavierunterricht! Das hätte er beinahe vergessen. Er stürmte aus dem Zimmer, aufräumen würde er später.

STREIT UM DIE KLEINE FREIHEIT

Melissa Blum war wieder mal nur mäßig angetan von Flos Klavierspiel. »Übung macht den Meister, mein lieber Florian«, gab sie ihm als Ratschlag mit auf den Weg.

Sie hatte »mein lieber Florian« gesagt. Diese Anrede bereitete ihm ein schaurig schönes Kribbeln, da er seine Klavierlehrerin ziemlich nett fand. Sehr nett, um genau zu sein. Und hübsch. Das durfte natürlich nie jemand erfahren, so viel war klar. Überhaupt war sie leider fast doppelt so alt wie er.

Gedankenverloren radelte Flo durch die Straßen. Normalerweise fuhr er am Hafen entlang, durch den kleinen Park und dann am Bahnhof vorbei direkt in die »Schleife«. So hieß der Stadtteil, in dem er wohnte. Aber er war nicht scharf darauf, schon wieder von Heidi und Gianna gehänselt zu werden und die hingen wahrscheinlich immer noch an der Kletterwand, die am Eider-Hafen aufgebaut war.

So radelte er lieber durch die Innenstadt, über den großen Paradeplatz und dann auf den Nord-Ostsee-Kanal zu. Über diesen Kanal fuhren riesige Containerschiffe, um von der Ost- in die Nordsee zu gelangen oder umgekehrt. Doch heute war außer einer kleinen Motorjacht nichts Nennenswertes in Sicht.

Auf einer Bank neben dem Weg saß Robbi und stritt sich wie immer mit einem unsichtbaren Begleiter, den wohl nur er sehen konnte. Jeder in der Stadt kannte Robbi, und Flo gruselte sich jedes Mal, wenn er so merkwürdig vor sich hinplapperte und manchmal auch schrie. Dann kam es ihm so vor, als meine Robbi ihn persönlich.

»Lass mich doch endlich in Ruhe! Ihr wollt mir erzählen, dass das alles echt wäre? Illusion! Guck doch, alles Fassade!«

Flo vermied es, Robbi anzusehen, während er an ihm vorbeifuhr. Er blickte starr auf die stählerne Hochbrücke, über die gerade ein Regionalexpress rumpelte. Die alte Brücke ragte mindestens 40 Meter in die Höhe, damit die Containerschiffe darunter herfahren konnten. Trotzdem sah es manchmal so aus, als würden sie sich ihre Antennen an der Brücke abreißen.

Das Rattern der Züge begleitete Flo schon, seit er sich erinnern konnte. Denn ihr Haus stand unmittelbar unter dieser Brücke. Die Fahrgäste konnten direkt in Flos Garten blicken, als wäre er ein Detail einer Modelleisenbahn. Sein Vater erzählte manchmal von der Zeit, als die Toiletten in den Zügen unten noch offen waren und alles direkt auf oder eben auch durch die Gleise fiel. Flo schauderte bei der Vorstellung. Er hätte garantiert keinen Schritt in den Garten gemacht, todsicher nicht. Zum Glück wurde die Sache mit den offenen Kloabflüssen noch vor seiner Geburt geregelt.

Flo bog in die kurze Einfahrt seines Elternhauses und stellte sein Fahrrad unter den Carport, direkt neben den alten Wagen, der dort seit Ewigkeiten vor sich hin rostete. Er mochte den kantigen Blechkoloss, ein Chevrolet Bell Air aus dem Jahr 1972. Wie oft hatte er schon hinter dem großen Lenkrad gesessen und sich wilde Verfolgungsjagden und Autorennen gegen unsichtbare Gegner geliefert? Hin und wieder unternahm er immer noch kleine Spritztouren darin, auch wenn er streng genommen schon ein bisschen zu alt dafür war.

»Wie wars beim Klavierunterricht?«, erkundigte sich Tanja, seine Mutter, beim Abendessen in der Küche.

»Gut.« Was sollte er sonst schon antworten?

»Ganz so ausführlich wollte ich es gar nicht wissen.«

»Übst du eigentlich genug?«, fragte Johann, sein Vater. »Ich hör dich nie spielen.«

Es konnte schon nerven, solche Fragen gestellt zu bekommen. Meistens kam sein Vater dann noch mit dem Vorwurf, wozu er so viel zahle, wenn sein Sohn offensichtlich nichts dazulerne.

»Na klar, jeden Tag eine halbe Stunde. Mindestens. Da bist du noch arbeiten«, flunkerte Flo.

»Kann einem echt auf die Nerven gehen, das ständige Geklimper«, kommentierte Heidi.

Typisch Heidi. Ständig musste sie an ihm herumnörgeln. Doch diesmal war er ihr dankbar, dass sie ihm mit dieser fiesen Bemerkung beistand.

»Immer noch besser als dein blödes Gedudel aus dem Handy«, konterte Flo.

»Dafür bist du wohl noch ein bisschen zu klein.«

»Kinder, verschont mich mit euren Streitereien! Räumt lieber den Tisch ab«, fuhr Johann dazwischen.

›Oh, oh, Schlechte-Laune-Alarm!‹, dachte Flo. Sein Vater hatte wohl mal wieder zu viel um die Ohren.

»Lief es im Laden heute nicht gut?«, fragte Tanja.

»Es lief so gut wie gar nicht. Vielleicht mal ein Kunde, der drei Schrauben wollte oder einen Handtuchhaken. Das wars dann aber auch schon. Die rennen alle in diesen bescheuerten Baumarkt. Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden dicht machen.«

Die Familie Klein besaß mitten in der Innenstadt einen Eisenwarenladen mit dem Namen »Klein und Alt«. Er war tatsächlich nicht sehr groß und ein alteingesessenes Geschäft, in dem es Nägel, Schrauben, Unterlegscheiben, Dübel und alle möglichen anderen Sachen gab. Der Verkaufsraum war so vollgestellt, dass man sich darin kaum noch bewegen konnte. Die meisten Leute fuhren lieber bequem mit dem Auto zu dem neuen, großen Baumarkt. Flo verstand, dass das seinem Vater die Laune verdarb – aber musste er es unbedingt an seiner Familie auslassen?

»Also, wer räumt den Tisch ab?«, fragte Johann.

»Hab ich gestern. Flo ist dran«, sagte Heidi.

»Nö, nö, nö, ich hab heute schon den Müll rausgebracht!«

»Könnt ihr mal aufhören, euch wie Kleinkinder zu benehmen? Ich zähl doch auch nicht auf, was ich alles für euch mache.«

Besonders viel wäre da auch nicht aufzuzählen gewesen. Denn entweder stand sein Vater in seinem Laden oder saß im Arbeitszimmer über irgendwelchem Bürokram.

Johann stand mit säuerlicher Miene vom Tisch auf und öffnete die Spülmaschine. »Ich krieg die Krise!«, raunzte er und hielt den Griff der Spülmaschine in der Hand.

»Der wackelte schon seit ein paar Wochen«, sagte Heidi.

»Und keiner kommt mal auf die Idee, ihn wieder festzuschrauben?«, schnaufte Johann und stampfte in den Keller, um einen Schraubenzieher zu holen. In ihrem alten Haus gab es ständig etwas, das kaputt ging, und das verbesserte nicht unbedingt Johanns Laune. Doch als er kurz darauf wieder hochkam, war sein Blick noch grimmiger als zuvor.

»Wie oft muss ich noch sagen, dass die Sachen dahin zurück gehören, wo ihr sie herhabt?«

Heidi verdrehte die Augen. Das sagte der Richtige. Meist ließ doch Johann alles und überall liegen.

»In der Kleinen Freiheit müsste noch einer sein, falls den nicht auch schon jemand verlegt hat«, grummelte Johann.

Die Kleine Freiheit! Das Chaos auf der Anlage! Das hatte Flo komplett verdrängt. Sein Vater ging so gut wie nie in sein Eisenbahnzimmer, warum ausgerechnet heute?

»Ich hol ihn, dann brauchst du nicht nach oben«, versuchte er seinen Vater abzuhalten. Doch der stampfte bereits die Treppe hinauf und somit war Flo geliefert. Besser, er verschwand erst mal für eine Weile in seinem Zimmer, doch Tanja drückte ihm einen Wischlappen in die Hand, als auch schon Johann mit hochrotem Kopf von oben zurückkehrte.

»Was ist los? Wieder keinen Schraubenzieher gefunden?«, fragte Tanja.

»Wer hat sich an meiner Modelleisenbahn vergriffen?«, schnaubte Johann.

Flo wischte so heftig auf der Tischplatte herum, als wolle er ein Loch hineinreiben.

»Wieso, was ist denn mit deiner Eisenbahn?«, fragte Tanja.

»Die sieht aus, als hätten sich Godzilla und King Kong den ultimativen Kampf darauf geliefert.«

›Gute Idee eigentlich‹, dachte Flo und überlegte, wo er seine Godzillafigur hingetan hatte.

»Warst du das, Flo?«, fragte Johann.

Heidi grinste Flo von der Seite an.

»Die Anlage kaputt machen? Wieso sollte ich so etwas tun? Ich bin doch kein Kleinkind«, krächzte er.

»Na ja, da kann man geteilter Ansicht sein«, stichelte seine Schwester.

»Wer soll denn sonst da oben gewesen sein? Du etwa, Heidi?«

»Ich spiel doch nicht mit einer Eisenbahn!«, rief sie empört.

»Also, Flo, was hast du dir dabei gedacht?«

»Er hat doch gesagt, dass er es nicht war«, verteidigte Tanja ihren Sohn.

Johann grummelte und nahm eine Tafel Schokolade aus dem Küchenschrank. Das tat er öfter, wie man an seinem beachtlichen Körperumfang gut erkennen konnte. Als wolle er all seinen Unmut an ihr auslassen, brach er die Tafel grob in Stücke und steckte sich einen Riegel in den Mund.

»Ich schätze, es war Pietzke. Vorhin hab ich ihn aus dem Zimmer kommen sehen«, behauptete Heidi.

Flo dankte seiner Schwester innerlich dafür, dass sie ihm mit dieser kleinen Notlüge aus der Patsche half.

»Hat bestimmt mal wieder eine Maus über die Anlage gejagt.«

»So geht das nicht weiter. Ich werde die Anlage abbauen und verkaufen. Endgültig! Bevor der Rest auch noch zu Bruch geht«, brummte Johann.

Flos Magen krampfte sich zusammen, als er das hörte. »Papa, wieso das denn?! Ich dachte, ich würde sie einmal erben!«

»Hm«, war Johanns einzige Reaktion.

»Genau, warum überlässt du sie nicht lieber Flo, bevor sie nur sinnlos herumsteht?«, fragte Tanja.

»Weil sie dann am Ende so zerschrottet ist, dass ich sie auch gleich in die Tonne hauen kann. Es ist eine empfindliche Modellbau-Anlage, keine Carrera-Bahn!«

Flo war sauer und vor allem enttäuscht. Es war immer dasselbe mit seinem Vater und ihm. Er traute ihm einfach nichts zu.

»Wollen wir nicht zusammen was spielen?«, schlug Heidi vor, um die Stimmung zu retten. »Wie wärs mit ’ner Runde Mensch ärgere dich nicht?«

DER SCHRITT ÜBER DIE SCHWELLE

Im Deutschunterricht nahmen sie gerade Gullivers Reisen durch und mussten als Hausaufgabe das erste Kapitel daraus lesen. Flo las gerne. Er lag auf seinem Bett und war tief in das Buch versunken. Gedankenverloren kraulte er seinen verschlissenen Teddy, alte Angewohnheit. Coole Jungs taten so was natürlich längst nicht mehr, aber wer sollte es schon erfahren?

Spielten coole Jungs in seinem Alter eigentlich noch Auto-Verfolgungsjagden? Oder mit Modelleisenbahnen? War das noch normal?

Immerhin gab es eine Menge Erwachsener, die sich für Modelleisenbahnen begeisterten. Dann hieß es halt nicht mehr spielen, sondern einem Hobby nachgehen. Sein Vater war auch kein Kind mehr gewesen, als er die Eisenbahnanlage ausgebaut hatte. Aber das war lange vor Flos Geburt gewesen. Wann hatte Flo zum letzten Mal gesehen, dass sich Johann mit seinem Hobby beschäftigt hatte? Er interessierte sich eigentlich schon lange nicht mehr für die Anlage. Das war natürlich keine Freigabe dafür, sie so zu verwüsten.

Flo klappte das Buch zu. Er musste die kleine Welt wieder in Ordnung bringen, alles wieder so herrichten, wie es vor dem großen Zugunglück gewesen war.

›Dann merkt Papa natürlich erst recht, dass jemand in der Kleinen Freiheit war‹, überlegte Flo. ›Aber andererseits freut er sich vielleicht auch, wenn alles wieder heile ist. Und ich kann ihm beweisen, dass ich alt genug für die Modelleisenbahn bin.‹

Als Erstes setzte er die verunglückten Züge zurück auf die Schienen und stellte die umgefallenen Bäume in Reih und Glied an den Straßenrand. Die kleinen Plastikfiguren positionierte er an ihrem angestammten Platz und dem bedauernswerten Herrn Müller setzte er mit einem Tröpfchen Kleber den Arm wieder an. Im Handumdrehen sah die Anlage wie vorher aus, als habe es nie ein großes Zugunglück gegeben.

Flo betrachtete sein Werk und war ein bisschen stolz auf sich. Jetzt, da alles wieder in Ordnung war, konnte er doch noch ein bisschen mit der Anlage spielen?

»Ich bin auch vorsichtig«, murmelte sein Spieltrieb.

»Das gibt nur wieder Ärger. Letztes Mal wollte ich doch auch vorsichtig sein«, mahnte ihn sein schlechtes Gewissen.

»Ach, krieg dich wieder ein, ich schalte auch keinen Strom ein.«

Um auf der Eisenbahnanlage nichts unnötig anzurühren, womöglich gar kaputt zu machen, nahm Flo das kleine Chevrolet-Modellauto aus dem Regal. Es war ein genaues Abbild ihres Oldtimers, der draußen unter dem Carport stand. Sein Vater hatte ihn irgendwann mal in dessen Kofferraum gefunden. Vom Maßstab her war das Modell zwar etwas zu groß für die Eisenbahnanlage, aber das störte Flo nicht weiter. Er schob den Wagen über die dicht bevölkerte Straße zwischen Konzertbühne und Fußballstadion und achtete darauf, kein Figürchen zu überfahren. Auf der breiten Landstraße gab er dem Chevi einen etwas zu kräftigen Schwung, sodass er in der nächsten Kurve auf der Wiese mit dem Bauern landete, der gerade seine Kühe melkte.

»Nichts passiert, alles in Ordnung!«, rief Flo, als säße er selbst im Wagen.

»Es ist doch immer das Gleiche mit dir, du Rowdy. Kannst du dich denn nicht einmal beherrschen?«, schimpfte der Bauer.

»Tut mir leid. Aber ich werde von einem Riesen verfolgt …«, entschuldigte sich Flo.

Das war eigentlich eine gute Idee, sich von einem Menschenberg, so groß wie Gulliver in Liliput, verfolgen zu lassen. »Aber lieber nicht auf der empfindlichen Modelleisenbahn«, mahnte das schlechte Gewissen.

»Hast recht. Ich spiele besser im echten Chevrolet weiter«, sagte der Spieltrieb.

In der Küche versorgte Flo sich mit ein paar Keksen und sah durchs Wohnzimmerfenster Heidi und Gianna in ihre Handys vertieft auf der Terrasse sitzen. Die Verfolgungsjagd musste kurz warten. Erst musste er sie mit einer kleinen Erfrischung in die Wirklichkeit zurückbefördern. Und so füllte er seine Wasserpistole, die er schnell aus seinem Zimmer holte.

Vorfreudig kichernd schlich er zur Haustür hinaus und öffnete sicherheitshalber schon mal die Fahrertür des Chevrolets. Vorsichtig blickte er um die Hausecke auf die Terrasse. Die beiden glotzten immer noch auf ihre Handys und bemerkten ihn nicht. Selbst schuld, wenn sie nichts mitbekamen. Als sie der harte Wasserstrahl traf, war es mit der Ruhe vorbei.

»Flo! Spinnst du jetzt total?«, schrie Heidi und sprang auf.

»Ey, mein Handy. Wenn das nass wird …!« Auch Gianna schoss vom Stuhl hoch und stürzte auf Flo zu.

Flo hatte natürlich mit dieser Reaktion gerechnet, rettete sich blitzschnell in den Chevrolet und verriegelte die Türen von innen.

»Komm da sofort raus und hol dir eine ab!«, brüllte Heidi und hämmerte gegen die Tür.

»Nö, keine Lust«, sagte Flo und zeigte ihnen ein hämisches Grinsen.

»Na warte. Wir haben Zeit. Lassen wir dich halt ein bisschen da drin schmoren! Du bist ja gut versorgt. Wenn du Durst hast, trink einfach deine Wasserpistole leer.«

Flo kicherte über seinen gelungenen Streich. Und als die beiden um die Ecke auf die Terrasse verschwunden waren, fiel ihm der Riese wieder ein, der ihm immer noch auf den Fersen war.

Mit quietschenden Reifen raste er davon. Wie bei einem Erdbeben erschütterten die Schritte seines Verfolgers den Boden. Die Tachonadel kletterte über die 100-Meilen-Marke. Doch der Gigant kam immer näher. Es gab nur noch eine Chance. Flo raste direkt auf den Kanal zu. Kurz hinter dem Strommast riss er entschlossen das Lenkrad herum, der Wagen schleuderte mit qualmenden Reifen bis fast zur Uferböschung. Der Riese aber stolperte in seiner blinden Wut über die Stromkabel. Es zischte und blitzte und vom Stromschlag betäubt, flog er in hohem Bogen in den Kanal. Flo brachte den Wagen sicher zum Stehen und genoss den Applaus der Leute, die aus ihren Verstecken heraus das Geschehen beobachtet hatten.

»Tja, mein lieber Gernegroß«, sagte Flo lässig, »wurde mal Zeit für so ein Bad, du müffelst ein wenig.«

Ein paar Seeleute schnappten sich dicke Schiffstaue und fesselten den bewusstlosen Riesen, bevor er auf ein Containerschiff verladen wurde.

Jetzt, da der Riese besiegt war, tauchte Flo wieder aus seiner Fantasiegeschichte auf. Ob er es wagen konnte, ganz leise die Tür zu öffnen und sich in sein Zimmer zu schleichen? Heidi und Gianna wurden doch bestimmt wieder von ihren Handys hypnotisiert.

Er zog den Türhebel, doch die Tür klemmte und ließ sich nicht öffnen. Normal für so ein altes Auto. Er drückte fester. Nichts. Sie bewegte sich keinen Spalt weit. Er versuchte es mit der Beifahrertür. Das Gleiche. Wie zugeschweißt. Ebenso die hinteren Türen. Aber wie konnte das sein? Unmöglich, dass sie alle gleichzeitig klemmten.

Dumpf drang von draußen ein leises Kichern zu ihm herein und im nächsten Moment erhoben sich Heidi und Gianna und grinsten durch das Seitenfenster. Gianna ließ eine Rolle Klebeband vor seinem Gesicht schaukeln.

»Zentralverriegelung«, kicherte sie.

»Das ist Freiheitsberaubung, lasst mich auf der Stelle raus«, schrie Flo.

»Würden wir ja, aber das Klebeband geht nicht mehr ab, ohne den Lack zu zerstören«, sagte Heidi mit gespieltem Bedauern.

»Wir müssen erst im Internet recherchieren, wie wir dich aus deinem Gefängnis befreien könnten!«, rief Gianna.

»Aber ich weiß nicht, ob du das überhaupt willst. Denn dann gibts ’ne hübsche Abreibung«, sagte Heidi. »Komm, Gianna, lass uns ein Eis essen gehen.« Die beiden verschwanden lachend um die Ecke des Hauses.

Flo saß da und platzte fast vor Wut. Die konnten was erleben, wenn er erst wieder raus war. Aber das Klebeband wirkte wie ein Stahlkorsett. Wenn sein Vater das sehen würde, wie sie seinen Oldtimer verschandelten! Er krabbelte zum Heckfenster und hielt Ausschau nach den beiden. Nichts. Die wollten ihn hier wirklich verhungern lassen. Wütend boxte er gegen die Rückenlehne. Die Rückenlehne, natürlich! Die war doch schon seit Ewigkeiten nicht fest montiert. Ein paarmal hin und her gerüttelt und tatsächlich, sie ließ sich auf die Rückbank klappen. Vor ihm tat sich der riesige Kofferraum des Chevrolets auf, wie eine geheimnisvolle Höhle. Wenn er jetzt von innen die Kofferraumhaube aufdrücken konnte, war er frei. Er krabbelte in den dunklen Hohlraum, drückte gegen die Kofferraumhaube und …

»Ha! Damit habt ihr blöden Gänse nicht gerechnet«, jubelte Flo, als sich die schwere Klappe quietschend einen kleinen Spalt weit öffnete. Um seinen geheimen Notausgang nicht zu verraten, wuchtete er die schwere Rückenlehne von innen wieder hoch. Dann holte er Schwung, um die Kofferraumklappe ganz zu öffnen. Doch als er ins Freie blickte, traute er seinen Augen nicht. Was war das für eine merkwürdige Welt um ihn herum? Auf jeden Fall nicht die Auffahrt zum Carport.

»Wir sollten ihn langsam wieder freilassen«, sagte Heidi.

»Wieso? Er ist doch gerade mal fünf Minuten da drin. Ich finde, er kann ruhig noch ein bisschen schmoren«, meinte Gianna.

»Na gut, aber nur noch ein paar Minuten«, sagte Heidi.

Kurz darauf trieb sie das schlechte Gewissen zurück zum Chevrolet. Leise schlichen sie sich an, um das Klebeband unbemerkt wieder abzuziehen. Dann wollten sie so tun, als wüssten sie von nichts und Flo für verrückt erklären. Sie hatten damit gerechnet, Flo vor Wut toben zu hören. Doch von drinnen kam kein Mucks.

»Mein Brüderchen ist doch nicht etwa eingeschlafen?« Heidi warf einen kurzen Blick ins Innere.

»Und? Was macht er?«, fragte Gianna.

»Ich seh ihn nicht. Er hat sich bestimmt versteckt.« Doch auch bei genauerem Hinsehen war keine Spur von Flo zu entdecken. »Er muss aber da drin sein. Wie sollte er denn rausgekommen sein?«, fragte Heidi.

»Vielleicht durch ein Fenster?«

»Kann nicht sein, die gehen nur elektrisch«, antwortete Heidi. »Flo, genug Verstecken gespielt. Das ist jetzt nicht mehr lustig. Kannst rauskommen, wir tun dir auch nichts!«

»Es ist doch alles noch original zugeklebt«, überlegte Gianna laut. »Steckt er vielleicht im Kofferraum?«

»Wie soll er denn da reingekommen sein?«

»Keine Ahnung, aber Nachschauen kostet ja nichts«, meinte Gianna und ging hinter den Wagen.

»Geht ganz schön schwer auf«, stöhnte sie und stemmte die quietschende Haube hoch. Doch bis auf ein paar Werkzeuge und eine Packung Schrauben entdeckten sie nichts.

Wie versteinert kauerte Flo im Kofferraum. Träumte er? Sein Elternhaus, der Carport und die Einfahrt, einfach alles in der Umgebung war verschwunden. Heidi und Gianna konnten den schweren Wagen unmöglich woanders hingeschoben haben, während er kurz im Dunkeln des Kofferraums verschwunden war. Irgendwie sah die Welt da draußen ein bisschen zu bunt und künstlich aus und dennoch war ihm die Umgebung vertraut.

Zumindest erblickte er die Hochbrücke, nur dass sie um Hunderte Meter weggerückt war. Und wieso ragten in der Ferne Berge auf? Die gab es in Norddeutschland doch gar nicht! Das passte alles nicht richtig zusammen. Ein Hubschrauber landete auf dem Dach eines Krankenhauses. Ein Feuerwehrauto brauste mit Blaulicht seinem Einsatzort entgegen, eine Blaskapelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite spielte unbeirrt weiter. Und direkt vor ihm glotzten ihn ein paar Kühe ausdruckslos an.

All das verwirrte ihn so sehr, dass er erst jetzt den Mann bemerkte, der wild mit den Armen fuchtelte und direkt auf ihn zukam.

»Hey, du da! Ja, du, im Kofferraum. Was machst du hier auf meiner Wiese? Das ist doch kein Parkplatz. Ich stell meinen Trecker ja wohl auch nicht einfach in eurem Vorgarten ab.«

Mit seinem seltsam groben Gesicht sah der Mann, anscheinend ein Bauer, alles andere als freundlich aus. Wie eine Muschel bei Gefahr ihre Schalen zuklappt, zog Flo schnell die Kofferraumklappe zu. Dann stemmte er sich mit aller Kraft gegen die Rückenlehne und plumpste direkt zurück in den Fußraum des Chevrolets.

Heidi und Gianna waren ratlos und mittlerweile auch ziemlich besorgt. Sie hatten sich auf die Terrasse in den Schatten verzogen und rätselten über Flos plötzliches Verschwinden.

»Ich kapier das nicht! Der kann sich doch nicht einfach so in Luft auflösen«, rätselte Heidi.

»Und wenn ein wildes Tier im Wagen war, das ihn einfach aufgefressen hat?«, überlegte Gianna laut.

»Kann nicht sein. Dann wär doch alles voller Blut gewesen.«