Die metallenen Herrscher - Hanns Kneifel - E-Book

Die metallenen Herrscher E-Book

Hanns Kneifel

0,0

Beschreibung

Sie sind Menschen, die im System der 19 Welten leben, umgeben vom All ohne Sonnen. Sie sind Menschen, die ihren Ursprung nicht kennen, denn ihre Geschichte liegt im Dunkel der zweitausendjährigen Vergangenheit. Sie sind Menschen, die sich nicht dagegen auflehnen, von Maschinen gelenkt und beherrscht zu werden. Sie sind Menschen, die den »Weg ins Licht« zugleich ersehnen – und fürchten. Nur die Geächteten wagen es, gegen die Herrschaft der Roboter zu rebellieren und dem Dunkel zu entfliehen, das die 19 Welten umgibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 201

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DIE

METALLENEN

© Copyright Erben Hanns Kneifel

© Copyright 2016 der eBook-Ausgabe bei Verlag Peter Hopf, Petershagen

www.verlag-peter-hopf.de

Cover: © Andrea Danti – Fotolia.com

ISBN ePub 978-3-86305-233-1

Folgen Sie uns für aktuelle News auf Facebook.

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

HANNS KNEIFEL

Inhaltsverzeichnis
Die metallenen Herrscher
1
2
3
4
5
6
7

1

Er flog durch ein Weltall ohne Sterne. Er stammte aus einem 28-Milliardenvolk ohne Geschichte, und – er war ein zweiunddreißigjähriger Mann ohne Zukunft. Er war so gut wie tot, und er sträubte sich nicht einmal gegen diese Einsicht.

SHENANDOAH, CROOKS – HANDELSKAPITÄN

»Sie werden für schuldig befunden, gegen ...«

REG. NO: 868 050 235 970 / A, Alpha, P:2

»... das DOGMA verstoßen zu haben. Der Fall ist hiermit ...«

32 JAHRE ALT, 1 METER 90 ZENTIMETER GROSS

»... abgeschlossen. Sie verlieren Ihre Stellung als ...«

HAAR: DUNKELBLOND, AUGEN: GRAU, HOCHBEGABT, ERSTKLASSIGER ASTROGATOR

»... Kapitän; die Gilde stößt Sie aus ihren Reihen ...«

UNVERHEIRATET, PRIVILEG: A, Alpha, P:2

»... Ihr Kommando und das Patent für Großschiffe werden ...«

VERDACHT AUF PRAKTIZIERENDE HÄRESIE. BELIEBT BEI MANNSCHAFT

»... Ihnen genommen. Der Juristische Computer errechnete ein Berufsverbot ...«

VIELE FREUNDE, ZUVERLÄSSIG, ABER ZU KRITISCH

»... der Kategorie Eins für fünfzig Jahre. Ihre persönliche Kennziffer ...«

SHENANDOAH, CROOKS – KAPITÄN

»... wird um drei Positionen gekürzt ...«

Jetzt nur noch: SHENANDOAH, CROOKS

»... Sie melden sich mit neuer Beschäftigung in einem Monat ...«

EIN AUSGESTOSSENER!

»... sie hat unter Kategorie Zwei zu liegen. Ende des Urteils.«

Seine Stimmung war hoffnungslos. Jetzt war der Punkt erreicht, an dem Gedanken an Selbstmord nicht ungewöhnlich wurden. Während die Jacht entlang der Handelsroute zwischen Sandjord und Escader durch die Dunkelheit ohne Sterne raste, überlegte Shenandoah unablässig. Er kam stets zum gleichen Schluss:

Er war ausgestoßen, erledigt und ohne Zukunft.

Das Planetensystem der »Sundyborg«, deren achtundzwanzig Milliarden die neun Welten und deren zehn Trabanten bevölkerten, besaß eine Geschichte, die nur zweitausend Jahre (gemessen am siderischen Umlauf des sechsten Planeten, also 478 T. 9 St. 34 Min. 19 Sek.) weit zurückverfolgt werden konnte. Dann endete sie wie abgeschnitten. Crooks Shenandoah glaubte nicht daran, dass ein Wunder der Evolution Menschen, Computer und Raumschiffe plötzlich an einem wolkenlosen Morgen über neunzehn Weltenkörper geworfen hatte. Bereits dieser Gedanke war praktizierte Häresie.

Shenandoahs kleine Raumjacht in der Farbe schimmernden Stahls raste fast lichtschnell durch ein All, in dem die stechenden Punkte der Sterne völlig fehlten. Nur das Licht der Sonne erwärmte eine Zone, in der sich neun nahezu vollkommene Kreisbahnen von Planeten befanden. Mesyr war der sonnennächste Planet, und von dem sonnenfernsten, Sandjord, kam Shenandoah, der Ausgestoßene. Seit der Urteilsverkündung waren neun Tage vergangen: Crooks war jetzt erschöpft und ohne Hoffnung. Erschöpft von schlaflosen Nächten, von Tagen voller Trunkenheit und von Gedanken der Selbstqual.

Dunkelheit war in ihm, und Dunkel herrschte vor dem Panoramafenster der Jacht.

Interstellares Gas, angefüllt mit Zyan, Kohlenwasserstoff, neutralem Natrium und ionisiertem Titan, hüllte das System der neunzehn Welten ein und kapselte es ab gegen den Rest des Alls. Man hatte trotz zwei Jahrtausenden intensiver Forschungsarbeit noch keinen Antrieb entwickelt, der aus dem Dunkel hinausführte. Der Weg ins Licht war zum Trauma eines Riesenvolkes geworden.

Dies und – das DOGMA.

Und: unzählige Rechenmaschinen. Zehntausende von Computern. Eine Parallelgesellschaft aus KIs, Künstlichen Intelligenzen.

Sehnsucht und Unmöglichkeit waren die geheimen Schlagworte dieses Jahrhunderts. Ein Weg ins Licht und die computergläubigen Entscheidungen widersprachen einander. Es war nicht der Mann am Programmpult, der entschied, sondern die Maschine dahinter. Und das war das Dilemma der Sundyborg.

Shenandoahs Hände lagen unruhig auf den Lehnen des Kontursessels; breit und muskulös.

»Der Computer hat mir alles genommen«, knurrte der Mann. »Fast alles. Was mir jetzt noch gehört, werde ich in Kürze verkaufen müssen: Eine große Wohnung, sämtliche Attribute der Computerzivilisation, meinen schweren Gleiter und diese feine Jacht.«

Er schwieg verzweifelt. Wieder einmal erkannte er, dass er am Ende war.

»Was mir bleibt, ist die Arbeit eines dritten Programmierers oder eines Infochips-Archivators. Ich bin ein Ausgestoßener.«

Saey Bayard hörte ihm zu, ohne sich zu rühren. Sie kannte diese Ausbrüche bereits.

»Warum?«, schrie Shenandoah fast. »Warum? Ich habe klaren Verstandes und vorsätzlich gegen eine Entscheidung des Kurscomputers verstoßen. Das hat mich erledigt.«

Seine Bitterkeit war nicht mehr zu übertreffen.

»Erledigt hat dich die siebzehnte Wiederholung dieses Verstoßes!«, warf Saey ruhig ein.

Shenandoah schien sie nicht gehört zu haben.

»Ein All ohne Sterne!«, sagte er tonlos. »Ein Volk ohne Geschichte! Und ausgerechnet ich muss es mir leisten, eigene Gedanken zu diesen Themen zu entwickeln.«

In der Routine langer Jahre glitt sein Blick über Skalen, Displays und Zifferblätter. Das Steuerpult war aus einzelnen Bausteinen zusammengesetzt und wie ein halbierter Kreisring geformt.

Die Jacht, etwas langsamer als die Geschwindigkeit des Lichts, schnitt jetzt die Kreisbahn des mondlosen Rysvaerd, des achten Planeten. Der Mann in dem hochlehnigen schwarzen Kontursessel war gesellschaftlich bereits gestorben und unbeweint verbrannt worden. Was hier neben der jungen braunhaarigen Frau saß, war nicht mehr als Asche. Die Jacht war eine vollrobotische Urne, ausgestattet mit einem Netz von Computern, kleinen summenden und tickenden Rechenmaschinen.

Computer ...!

»Sie sind überall!«, flüsterte Shenandoah gehetzt, »sie greifen ununterbrochen in die Lebensäußerungen der Sundyborg ein. Sie bestimmen das Leben der ganzen Rasse. Sie sind die verfluchten Hausgötter der neunzehn Welten!«

»Alles ist verworren«, sagte Saey leise, »du hast versucht, Klarheit in ein starres System zu bringen. Du und vier andere Männer – es ist misslungen. Vielleicht tröstet dich der Gedanke, dass ihr weit besser als jeder Computer seid?«

Müde drehte Shenandoah den Kopf und sah sie aus geröteten Augen an.

Saey Bayard wirkte wie das siebenundzwanzigjährige Endprodukt einer langen Zuchtreihe, deren Ziel körperliche Schönheit war. Braunes Haar und grüne Augen; Crooks wusste, dass illegale Kosmetika und handgearbeitete Kleidung, abweichend von den uniformen Computerschnitten, wesentliche Bestandteile dieses Eindrucks waren. Er war ein Rebell, der hoffnungslos gescheitert war – Saey rebellierte, ohne sich vom modischen Diktat der Rechenmaschinen zu lösen.

»Vielleicht tröstet mich der Gedanke«, erwiderte Crooks kalt, »aber er kann nichts ändern.«

Links vom Schiff hing wie ein ausgerichteter Scheinwerfer die Sonne.

»Was wirst du in den nächsten einunddreißig Tagen anfangen?«, fragte Saey und tippte mit dem Fingernagel auf den viereckigen Schirm des Ortungsgerätes. Weit vor ihnen, rechts von der Geraden ihrer Flugbahn, erschien ein zitterndes Echo auf dem schwarzen Glas.

»Ich muss versuchen, eine neue Aufgabe zu finden.«

»Ein neuer Beruf?«

»Ein Versuch, von einer anderen Position aus zu rebellieren. Und mit anderen Mitteln. Ich kann den Maschinen nicht glauben, ich greife das DOGMA an, und ich kann nur noch gewinnen.«

Ihr Lachen klang aufmunternd und um eine Spur zu laut.

»Da du alles verloren hast. Außer mir, Crooks!«

Sein schmales Gesicht wirkte unproportioniert gegenüber dem muskulösen Hals und dem wirren Haarschopf. Crooks blickte in ihre grünen Augen und sagte heiser:

»Ich weiß, Saey. Wir werden behutsam vorgehen müssen.«

Der winzige Punkt auf dem Schirm begann rhythmisch aufzuleuchten. Gleichzeitig empfingen die Detektoren Funkimpulse; die Lautsprecher erwachten zu heulendem, knisterndem Leben.

»Sind wir nicht schon immer vorsichtig vorgegangen?«, fragte sich Crooks.

Die junge Frau richtete sich in dem wuchtigen Sessel auf und blinzelte ihn an. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengezogen.

»Nein!«, sagte Saey laut. »Keiner von euch Narren war je vorsichtig. Ihr habt ein bestehendes, unbewegliches System herausgefordert und euch nicht überlegt, dass jede Revolution an der Trägheit der Massen scheitern muss. Fünf Mann gegen achtundzwanzig Milliarden und eine Phalanx von Rechenmaschinen!«

Shenandoah knurrte wie ein gereiztes Tier.

»Der Weg ins Licht, wie wir ihn verstehen, geht nur über diese Revolution, Saey!«

Das Pulsieren des Lichtpunktes, der größer geworden war, verstärkte sich, je mehr sich die Jacht näherte. Shenandoah tippte die Daten einer Kursänderung von zwei Grad auf der Beta-Achse in die Steuerung und schaltete die Triebwerke aus. Der stählerne Tropfen raste im freien Fall auf die Position des Echos zu. Noch immer kreischten und wimmerten die Lautsprecher. Der fremde Schiffspilot sendete eine Störfrequenz, die auf sämtlichen Bändern gehört wurde.

»Du kannst keine Revolution führen, wenn man dich verurteilt, auf einem Planeten zu bleiben«, fuhr Saey auf. »Dein Medium ist der Raum. Ohne ihn bist du völlig hilflos.«

Er nickte.

»Du hast recht«, erwiderte er, »aber es gibt immer noch einen Weg.«

Saey legte ihre Hand an seine Wange und antwortete leise:

»Genau diese Einsicht wollte ich in den vergangenen sieben Tagen in dich hineinhämmern.«

Shenandoah spürte, wie ein Teil der düsteren Beklemmung von ihm wich.

»Was bedeutet dieses Echo«, sagte Saey und deutete auf den Schirm. Vor einer stumpfen schwarzen Fläche, der Projektion des interstellaren Gases von sechzehnfacher Dichte des Normalwertes, blinkte das Ortungsecho. Es schien einer größeren Jacht zu entsprechen.

»Ein Schiff, das Notimpulse abgibt.«

»Ein Havarist?«

»Das ist gut möglich«, gab der ehemalige Kapitän zurück.

»Was willst du tun?«, sagte die Kopilotin und betätigte einen Schalter. Die Lehne des Kontursitzes richtete sich in einem Winkel von neunzig Grad auf.

»Auf alle Fälle näher herangehen«, erklärte Shenandoah leise.

Einige Minuten vergingen. Die Schiffe schwebten in der diffusen Helligkeit eines Universums, dessen einziges Licht von einer Sonne kam. Der Begriff »Sterne« war bekannt, aber keiner der Raumfahrer, die seit zweitausend Jahren zwischen den neunzehn Welten geflogen waren, hatte je einen Stern gesehen. Die Dunkelwolke verhinderte den Ausblick, und ihre Ausdehnung von neun Parsek war zu groß, als dass sich ein Schiff mit dem einfachen Lichtantrieb hindurchgewagt hätte.

»Eine Jacht in Raumnot.«

Es war ein Schiff in der Farbe der Privilegierten des Systems, also weiß mit einem orangefarbenen Seitenstreifen. Es driftete träge am Rand einer wenig benutzten Route zwischen Dyrkan und Escader. Die Strahlen der Sonne, die mehr als 203 544 000 Kilometer entfernt war, leuchteten das Boot aus. Shenandoah vergrößerte einen Bildausschnitt des holografischen Schirms und las: 10100 00100 Lamie, Beta Escader.

»Eine Jacht, die den zweiten Mond unseres Planeten als Heimathafen ausweist«, brummte Shenandoah und kippte einen Schalter ... die Lautsprecher begannen leise zu rauschen. Das Kugelmikrophon fuhr aus dem Armaturenbrett.

»Hier Empuse – Avedon Escader!«, sagte er scharf.

Ein erleichterter Seufzer war zu hören.

»Ich sehe Ihr Schiff«, sagte eine Männerstimme. »Haben Sie meine Notsignale empfangen?«

»Nein«, gab Crooks zurück. »Wir wohnen hier.«

Ein amüsiertes Lachen war zu hören.

»Hier Lamie, Beta Escader. Ich bin bewegungsunfähig.«

Crooks Jacht trieb immer näher. Jetzt erkannte er die ausgeglühten Träger um den Maschinenraum und die aufgerissenen Bleche der Außenhülle. Der Lichtantrieb war ausgefallen.

»Das sehe ich. Havarie?«, fragte Shenandoah.

»Nein. Totalschaden im Maschinenraum. Können Sie mich abschleppen?«

Ein tollkühner Gedanke durchzuckte Shenandoahs Überlegungen. Er wartete drei Sekunden, dann lachte er hart und sarkastisch.

»Hören Sie zu: Ich bin Crooks Shenandoah, vor Tagen aus der Handelsflotte gefeuert worden. Wenn Sie sich von mir helfen lassen, riskieren Sie eine Rüge des Computers. Ich bin ein Geächteter.«

Die Stimme des unsichtbaren Gesprächspartners klang wie die eines alten Mannes.

»Notwendigerweise führt der Weg ins Licht durch Dunkelheiten, Shenandoah. Sagt Ihnen der Name ›van Gossen‹ etwas?«

Crooks riss den Kopf hoch, betätigte die Bugdüsen und schwieg verblüfft.

»Der Historiker? Thorson van Gossen! Wollen Sie mich offiziell darum bitten, Sie aus Raumnot zu retten?«

Der Historiker schien das Zusammentreffen mit einem Ausgestoßenen für einen vorzüglichen Scherz zu halten. Er lachte wieder.

»Ich bitte Sie darum, Exkapitän. Führen Sie die notwendigen Außenarbeiten durch? Ich bin ein Greis und nicht mehr dazu in der Lage.«

»In Ordnung, van Gossen«, erwiderte Shenandoah. »Wir verwenden, solange ich außerhalb des Schiffes bin, die Welle zweihundertdreizehn Ångström.«

»Einverstanden. Ich schalte um.«

Saey und Crooks wechselten schweigend einen überraschten Blick. Dass der Historiker Shenandoah als Exkapitän bezeichnete, war ungewöhnlich. Es konnte sein, dass die Revolutionäre in den letzten Monaten wichtige Fakten übersehen hatten.

»Ich steuere beide Schiffe in nebeneinander liegende Positionen«, sagte Crooks ins Mikrophon.

»Verstanden. Schlepptrossen?«

»Ja.«

Shenandoah schaltete das Funkgerät auf den anderen Kanal und sagte zu Saey:

»Du brauchst nur die Schleusen zu betätigen. Und zu handeln, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.«

»Ich verstehe, Exkapitän!«, sagte die Frau und lächelte ihn an.

Er brachte mit vorsichtigen, genau abgeschätzten Stößen aus den Flüssigkeitstriebwerken seine Jacht neben das andere Boot und neutralisierte die kinetische Energie durch gleichzeitiges Feuern gegenüberliegender Korrektursysteme. Seine Jacht schlich hinüber und blieb unbeweglich neben dem deformierten Rumpf stehen. Shenandoah stand auf und klappte die Tür des Wandschrankes auf. Er nahm seinen Raumanzug heraus. Auf dem dunkelbraun gebrannten Gesicht des Mannes erschien ein fernes Lächeln; er erinnerte sich an eine zurückliegende Zeit. Dann zuckte er mit den Schultern und zwängte sich in den Anzug. Nacheinander schaltete er die Kontrollen ein.

»Funkgeräte?«, fragte er knapp.

»Gerät Empuse arbeitet«, erwiderte Saey ruhig.

»Ich empfange Sie klar!«, sagte van Gossen.

Shenandoah schwebte aus der Schleuse hinaus in die stumpfschwarze Dunkelheit. Von rechts kamen die Strahlen der Sonne, genau ihm gegenüber war die Hülle des anderen Schiffes. Shenandoah hangelte sich entlang einer Reihe von Griffen und öffnete die Klappen, hinter denen die Anschlussstücke für die Belegleinen steckten. Er zog eines der Spezialseile heraus, stieß sich ab und prallte gegen das Metall der Schiffsflanke. Hier im All bewegte er sich wie ein Fisch im Wasser. Er klinkte den schweren Haken an einem Bügel in der Außenhaut fest. Insgesamt acht Trossen, mit Kunststoff ummantelt, verbanden binnen Minuten beide Schiffe.

»Ich bin fertig. Äußere Schleusentür auf!«, sagte Crooks und griff nach den weißen Spezialtrossen. Er bewegte sich mit einer Serie präziser Bewegungen auf die Schleuse zu. Als er, beide Hände an dem langen, verchromten Griff, sich herumschwang, sah er es.

Neben ihm schob sich die Stahlplatte zurück. Licht fiel aus dem offenen Viereck.

Hundert Sekunden später klebte Shenandoah noch immer an den langen Griffen und starrte über die Positionslichter des anderen Bootes hinweg.

Einen Kilometer oder hundert Meter entfernt, schwebte etwas, das er nicht kannte.

Eine Kugel. Wie groß sie war, konnte er nicht schätzen, solange er die genaue Entfernung nicht anmessen konnte. Sie trieb mit geringem Impuls auf die Sonne zu. Eine hochglänzende Kugel mit hundert Stacheln oder stabförmigen Fortsätzen, wie ein metallener Kugelfisch; Antennen oder Rezeptoren schienen es zu sein. Vor fünfzehn Tagen war Shenandoah noch Kapitän eines Handelsschiffes gewesen, und er wusste mit Sicherheit, dass jener Gegenstand nicht der Technologie der Sundyborg entstammen konnte.

Er hing an den Griffen, keuchte und war unfähig, sich zu bewegen und sowohl die Größe als auch die Entfernung des fremden Objekts abzuschätzen.

»Crooks – bist du in Gefahr?«, fragte Saey über die Funkanlage.

Er riss sich von dem Anblick los und wandte den Kopf.

»Nein«, antwortete er zögernd. »Ich schätze nur die Tragkraft der Verbindungen ab.«

Er warf einen letzten Blick auf den rätselhaften Fund und begann zu grinsen. Dann enterte er die Schleuse und schloss die äußere Luke. Während er sich durch den warmen, hellen Korridor der Jacht bewegte, klappte er den Helm zurück und zog ihn aus dem Scharnier. Er stellte die Glaskugel auf das Steuerpult und griff in die Kontrollen. Zuerst schaltete er die Beheizung der Kabel an, damit sie in der Weltraumkälte nicht brachen, dann sagte er ins Mikrophon:

»Van Gossen?«

»Ja? Ich höre Sie, Shenandoah.«

»Ich beschleunige vorsichtig. Eine Landung in einer Lufthülle möchte ich nicht riskieren, darum werde ich Sie auf Beta Escader absetzen, im Dockhafen. Sind Sie einverstanden?«

»Selbstverständlich«, antwortete der Historiker, dessen Name auf allen neun Planeten bekannt war; seine Arbeiten über die Zweitausend-Jahres-Grenze sowie die Korrektur der Ein-Jahrtausend-Hypothese waren aufsehenerregend. »Brauchen Sie Auskünfte oder Hilfe von mir?«

»Nein. Später, bei der Landung, werden Sie mit den Flüssigkeitstriebwerken mithelfen müssen. Ich melde mich dann.«

»Gut. Vielen Dank fürs Erste!«

Der Exkapitän lächelte und spürte, dass ihn Saey genau beobachtete.

»Geht schon in Ordnung«, sagte er und schaltete die Funkverbindung ab.

Shenandoah war ein großer, schwerer Mann von zweihundertzwanzig Pfund Gewicht und hundertneunzig Zentimetern Größe. Er war stark und schnell, und ein vorzüglicher Verstand steuerte diesen Körper und seine Reflexe. Meist schien Crooks beherrscht und zurückhaltend, aber die letzten Wochen hatten ihn in eine Stimmung hineinmanövriert, in der er zu Ausbrüchen neigte. Er glaubte jetzt, als er die Lichttriebwerke einschaltete und sehr vorsichtig hochfuhr, in den vergangenen Minuten einen Weg aus dem Dilemma gefunden zu haben – zwei Ideen begannen klarer zu werden, erhielten Umrisse ... zwei vielversprechende Ideen. Die grauen Augen Shenandoahs beobachteten die Ziffern und Zeiger, die sich bewegten. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff; die Trossen strafften sich.

Crooks schob den Fahrthebel vor. Der Computer errechnete die Werte für einen Anflug nach Olicca, dem »Beta«-Mond von Escader. Beide Schiffe blieben auf der Handelsroute und schwebten hundertdreißig Minuten später über der Nachtseite von Beta Escader. Der Mond hatte einen Durchmesser von elfhundert Kilometern, ein maschinell verstärktes Oberflächenschwerefeld und war ausgehöhlt wie eine madige Frucht. Hier landeten Schiffe, um überholt zu werden. Ein Werkstattmond, der seit mehr als eineinhalb Jahrtausenden diesem Zweck diente.

Shenandoah verhandelte einige Minuten lang mit der Sprechautomatik des Verwaltungscomputers, dann wusste er, was er zu tun hatte. Zuerst setzte er unter Mithilfe van Gossens das Schiff in einer der Reparaturgruben ab, dann löste er die Trossen und landete auf einem Mietplatz. Er schaltete nacheinander die Maschinen und Aggregate ab und schwang den Sessel herum.

Saey blickte ihn erstaunt an.

»Du wirkst plötzlich verändert, Crooks! Ruhiger und gefasster.«

»Schon möglich«, antwortete er halblaut, »ich habe eine Idee!«

»Eine Idee? Worüber? Wovon?«

Er zuckte mit seinen breiten Schultern.

»Ich muss mich noch etwas damit beschäftigen«, sagte er. »Du wirst alles erfahren, wenn es an der Zeit ist.«

»Ich hoffe es.«

Er befestigte die Säume der Handschuhe am Endstück seines Raumanzugs und half Saey, den Helm zu schließen. Automatisch schaltete sich die Funkanlage der beiden Anzüge ein.

»Was jetzt?«, fragte die junge Frau.

»Wir werden uns tun van Gossen kümmern. Dann setze ich dich, oder euch, wenn er mitfliegen will, auf Binary Digit Port ab und starte augenblicklich wieder. Ich habe etwas zu erledigen.«

Nebeneinander verließen sie das Schiff und bewegten sich auf die nahen Lichter der gläsernen Bauten zu.

»Hängt es mit dieser Idee zusammen?«

»Ja. Unmittelbar«, gab Crooks zur Antwort.

»Dann ist es gefährlich«, schloss sie. Crooks lachte leise.

Die magnetischen Sohlen der Schuhe hafteten an dem glattpolierten Stahl, der Spuren von Milliarden Schritten trug. Nach hundert Metern im künstlichen Schwerefeld kamen sie an die pyramidenförmige Schleuse und traten ein. Shenandoah kannte jeden einzelnen Raumhafen dieses Planetensystems und durfte nicht daran denken, dass ihm ein Computerurteil die Chance genommen hatte, sich weiterhin in diesem Rahmen bewegen zu dürfen. Lichtsignale flammten auf, dann öffnete sich die Schleuse. Shenandoah fragte den Auskunftscomputer nach dem Raum, in dem van Gossen auf ihn wartete.

»Das Büro der Reparaturleitung.«

Van Gossen drehte sich um, als sie hereinkamen und streckte die Hand aus. In Kreisen der Raumleute wusste jeder über Shenandoahs Schicksal Bescheid, und unzählige Menschen kannten ihn persönlich. Als Shenandoah den Raum betrat, schien die Luft zu gefrieren; die Unterhaltung brach ab, und die Männer hinter der Barriere schauten in alle Richtungen, um Shenandoah nicht ansehen zu müssen. Er war nicht existent; ein Ausgestoßener.

»Ich danke Ihnen, Exkapitän Shenandoah«, sagte der Historiker laut. »Die Steuerleitungen für meinen Lichtantrieb waren defekt. Fliegen Sie hinunter nach Escader?«

Van Gossens Hand verschwand fast in der Pranke Shenandoahs. Trotz seines Alters hatte er einen überraschend festen Händedruck.

»Ja«, erwiderte Shenandoah laut und scheinbar unbekümmert, »nach Binary Digit Port. Möchten Sie dort abgesetzt werden?«

Der Leiter der Reparaturabteilung sah auf und sagte zu van Gossen:

»Unser Linienboot kann Sie hinunterbringen, Historiker.«

»Ich spreche mit Exkapitän Shenandoah«, erwiderte der Historiker höflich, aber kalt. »Stören Sie mich bitte nicht.«

Er wandte sich wieder an Crooks.

»Gern. Was bekommen Sie für die Bergungsarbeiten?«

Sekundenlang füllte Crooks dröhnendes Lachen den Raum. Er spielte die Rolle, die ihm von der computergesteuerten Gesellschaft aufgezwungen worden war, inzwischen vollkommen: Rebellion um jeden Preis, immer und überall und auf eine Weise, die ihn kein zweites Mal mit dem juristischen Computer in Konflikt bringen konnte.

»Ihren Rat, wenn ich ihn einmal brauchen sollte.«

»Das kann ich nicht annehmen«, sagte van Gossen und lächelte. Er war klein, fast zierlich, mit einem hageren Gesicht und weißem, langem Haar.

»Sie werden es annehmen müssen, van Gossen«, drohte Shenandoah grinsend und stellte Saey vor. Sie sprachen miteinander, als wären sie allein im Raum. Die Männer hinter der Barriere bewegten sich unruhig; die Szene hatte etwas Explosives bekommen.

»Gut. Warten Sie einige Minuten?«

Shenandoah nickte und schob einen Würfel koffeinhaltigen Kaugummis in den Mund. Saey lehnte ab. Eines Tages, dachte Shenandoah bitter, werde ich euch allen etwas zeigen, das ihr nicht sehen wollt. Ich werde euch zeigen, wie sich eine riesige Ethnie von blödsinnigen Maschinen tyrannisieren lässt. Er begann wieder zu grinsen, und sein Gesichtsausdruck erschreckte die Männer, wenn sie Blicke auf ihn warfen.

Van Gossen gehörte zu einer Schicht innerhalb des rationell abgestuften Gesellschaftsgefüges, die integer war: Historiker bildeten einen unersetzlichen Luxus. Ein Riesenvolk, dessen Historie im Dunkel hinter Gaswolken verschwunden war, brauchte solche Leute. Der Historiker erteilte eine Reihe von Anordnungen und siegelte den schriftlichen Auftrag mit seiner Identifikationsplakette.

»Wir sind fertig?«, sagte er kühl in das Holodisplay des Computerterminals hinein.

»Selbstverständlich, Historiker van Gossen«, erwiderte der Leiter-Avatar. »Haben Sie sonst noch Wünsche?«

»Nein.«

Shenandoah hob ironisch grüßend die Hand. In der Schleuse klappten sie die Helme nach vorn und gingen schweigend zum Schiff. Crooks fuhr einen zusätzlichen Sessel aus der Wand und startete die Jacht sehr schnell. Er fegte mit eingeschalteten Lichttriebwerken dicht über dem Mond dahin. Ein lautloses Gewitter aus den Triebwerksöffnungen erhellte kalkigweiß Landegerüste und Startpisten. Dann schoss die Jacht Empuse mitten in das Zentrum der Kugel hinein, die blaugolden vor ihnen schwebte, versehen mit zwei weißen Kalotten und einem surrealen Muster aus Wolkenstrukturen.

Crooks war ein Hoffnungsloser, der den Schimmer einer neuen Chance sah. Er brach das erstickte Schweigen in der Kabine und sagte hart:

»Van Gossen – werden Sie erschrecken, wenn ich rückhaltlos offen mit Ihnen rede?«

Van Gossen hielt den Blick ruhig aus. Der Historiker, siebenundfünfzig Jahre nach der Rechnung des sechsten Planeten alt und demnach ein Mann jenseits der besten Jahre, lächelte. Die Würde seines Gelehrtenkopfes löste sich auf. Die Antwort erstaunte sogar Crooks.

»Ich bin berühmt, alt und unabhängig. Ich bin unersetzlich und, da ich die Geschichte der Sundyborg kenne, kaum mehr zu verblüffen. Wo liegen Ihre Probleme, Commander Shenandoah?«

»Außer dem, das Sie kennen, gibt es ein neues Problem«, antwortete Shenandoah schroff. »Vielmehr zwei, wenn ich mich auf meine Augen verlassen kann. Sind Sie für oder gegen Menschen wie mich?«

Van Gossen zeigte seine Zähne. Sie waren klein und weiß und schienen perfekt. Seine Stimme klang plötzlich sehr hart, als er in kaltem Ton antwortete:

»Weder – noch!«

»Wie können wir das verstehen, Historiker?«, fragte Saey Bayard und musterte den teuren Raumanzug des Mannes. Die Gelenkkugeln waren vergoldet, und die Schalter bestanden aus fossilem Elfenbein.

»Ich weiß, dass eine Rebellion nötig ist. Ich weiß ferner, dass Rebellen heute verlieren müssen. Ich kenne nicht nur Ihr Schicksal, Shenandoah, sondern auch das von Cortedanee, Wilkinson, Menadier und Cethorin. Ich sympathisiere mit Ihnen, aber ich halte die von Ihnen angewendeten Methoden für schwachsinnig, um einen milden Ausdruck zu gebrauchen.«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Crooks mit rotem Gesicht, »dass mir gefällt, was Sie sagen.«

»Wahrheit schmerzt immer«, erwiderte van Gossen. »Widerstand, der sich darin äußert, statt einer Computerbahn eine lineare zu fliegen – und das siebzehnmal! – ist sinnlos. Man gewinnt nicht durch Gewalt, sondern durch Denken. Sie haben einen Verstand; benützen Sie ihn!«

»Ich habe ihn benützt!«, sagte Shenandoah tonlos. »Offensichtlich hoch ineffizient!«

»Die Sundyborg stellen die rechnerische Entscheidung über die freie Wahlmöglichkeit. Sie beten die Computer an. Fünf Revolutionäre können neunzehn Welten nicht binnen einer Generation aufklären, Shenandoah! Was immer Sie in den nächsten Jahren tun, tun Sie es mit eiskalter, kortikal gesteuerter Überlegung. Heißes Blut mag in der Liebe gut sein – « er lächelte Saey an –, »im übrigen ist es eine sinnlose Emotion. Ich werde Ihnen und den anderen Herren, von denen ich annehmen möchte, dass es Ihre Freunde sind, gern helfen. Kommen Sie aber vorher, nicht nachher, wenn es zu spät ist.«

Crooks senkte den Kopf.