Die Moorsiedler. Buch 1: Muttererde - Jürgen Hoops von Scheeßel - E-Book

Die Moorsiedler. Buch 1: Muttererde E-Book

Jürgen Hoops von Scheeßel

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Beschreibung

Jehann schritt eine Zelle nach der anderen ab und blickte in die dunklen Verliese. Er wusste ja, dass sie hier gefangen gehalten wurde, und er musste sie schnell benachrichtigen, um seine Gelegenheit zu nutzen, vielleicht die einzige für lange Zeit. Ganz am Ende des langen Ganges, in einer schmalen Einzelzelle, sah er eine zusammengekauerte Gestalt, die ihn aus großen Augen entgegenblickte. Eine junge Frau, abgemagert und verschmutzt, aber unverkennbar Gretge. Und schon huschte ein Zeichen des Erkennens über ihr Gesicht. „Oheim, bist du es? Was machst du denn hier?“, hauchte sie. „Gretge, ich komme, um dich hier rauszuholen. Wir haben einen Plan, aber du darfst niemandem verraten, dass wir uns kennen. Du musst noch ein wenig Geduld haben, aber sei wachsam – bald werde ich dir ein Zeichen geben und deine Zellentür aufschließen. Dann musst du rasch handeln: Gehe über den Gang die steinerne Treppe hoch, am Wachlokal vorbei, zuletzt hinaus auf dem Burghof. Aber achte darauf, dass du nicht auffällst! Schaffst du das?“ Sie nickte eifrig. „Des Ersten Tod, des Zweiten Not und des Dritten Brot“ – dieser Ausspruch beschreibt das schwere Los der Moorsiedler in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Moorsiedler, das waren meist zweite Söhne und ihre Familien, die sich auf den Weg ins Ungewisse machten, um im unerschlossenen, feindseligen Moor ihre Chance auf eine eigene Scholle zu nutzen. Denn den elterlichen Hof erben konnten sie nicht. Nicht wenige haben ihren Mut mit dem Leben bezahlt. In der Moorsiedler-Saga lässt Jürgen Hoops von Scheeßel ihre Geschichten wieder lebendig werden. Das erste Buch knüpft an Hoops von Scheeßels letzten historischen Roman „Das verdächtige Gesicht“ über Mette Meinken, geb. Hoops aus Höperhöfen, an. Er erzählt die Familiengeschichte der Nachfahren ihres Bruders Cordt Hoops. Leserinnen und Leser werden in längst vergangene Zeiten entführt, in die Anfänge vieler Dörfer und Gemeinden Niedersachsens – eine spannende, aufschlussreiche Reise in die Vergangenheit.

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Seitenzahl: 300

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhalt

Epilog

Karte der Vogtei Sottrum

Hauptpersonenregister

Glossar

Prolog

Kapitel 1 „Das Schicksalsjahr 1664“

Kapitel 2 „Die alte Heimat - Höperhöfen“

Das Niedersachsenhaus

Kapitel 3 „Das Leben im Dorf bis zum Ende der Schwedenzeit“

Ausblick

Epilog

Die Moorsiedler

auf der Suche nach der eigenen Scholle

„Muttererde“

Eine historische Familiensaga

 

Das Buch

 

In meinen vier vorangegangenen, historischen Romanen habe ich das vor über 350 Jahren erduldete Schicksal von Verfolgung, Ächtung, Anklage, Verurteilung und Hinrichtung unschuldiger Frauen einiger weniger Familien über vier Generationen geschildert.

Deren schwere Lebens- und Leidensgeschichte sowie deren Martyrium stehen dabei exemplarisch für die vielen Schicksale der im Hexenwahn und Aberglauben seinerzeit verfolgten und gequälten Menschen, überwiegend waren es Frauen. Im Fokus dieser Hexenprozesse, einstmals ausgelöst durch die Inquisition, ertrugen nicht nur die Opfer, sondern auch deren Familien unsägliches Leid, selbst noch zu Zeiten und im Gebiet der Lutheraner.

 

In dieser Romanreihe, die einer Familiensaga nahe kommt, schildere ich die erfolgreiche, aber auch die entbehrungs- reiche und leidvolle Geschichte der „zweiten Söhne“.

Diese waren im Gebiet, in dem das Majoratsgesetz galt, nicht erbberechtigt. Ihnen blieb nur die Hoffnung, in einen anderen Hof einheiraten zu können, Knecht des hoferbenden Bruders zu sein, oder aber der Weggang.

Um der Auswanderung oder Abwanderung entgegenzuwirken, ein Ausbluten des eigenen Volkes zu verhindern, aber auch um noch genügend wehrfähige Männer für zukünftige Kriege sowie für die Produktion von Nahrungsmitteln zur Verfügung zu haben, erließ der König in Hannover im Jahr 1832 eine Verordnung, die ermöglichte, in bisher ungenutzten Moorgebieten Neugründungen, sogenannte Moorsiedlungen, entstehen zu lassen.

Diese königliche Maßnahme sollte die Hoffnung auf eigenes, neues Land für die bisher ohne Zukunft hier lebenden Menschen wecken, um sie zum Bleiben zu bewegen.

 

Jürgen Christian Findorff wurde am 20. September 1771 von Georg III. offiziell zum Moorkommissar ernannt. Seit 1752 arbeitete Findorff bei der Moorkolonisation, welches ein Projekt des Kurfürsten von Hannover war und die Trockenlegung der Moore zwischen Hamme und Wümme zum Ziel hatte, um sie besiedeln zu können.

 

Damit wurde vielen Landeskindern die Möglichkeit eröffnet, in nicht allzu weiter Entfernung der bekannten Heimat die Chance zu nutzen, sich über Generationen hinweg bis zum stolzen Besitzer einer ehemaligen Moorkate, nach hartem Kampf mit der Natur, hochzuarbeiten.

Es war quasi eine Auswanderung im eigenen Land, die viele hoffnungsvoll ergriffen, die jedoch unzähligen auch einen frühen Tod oder das Scheitern bescherte.

 

Es handelt sich hierbei um eine belegte und überlieferte Familiengeschichte, wie sie viele andere, ja, fast alle „Auswanderer in die eigene alte, aber für sie neue Welt“ an anderer Stelle, nicht nur im Königreich Hannover, erlebten. Die Gründung vieler Fehndörfer in Ostfriesland fußte auf einer ähnlichen Zielsetzung seitens der preußischen Krone.

 

In schwerer Not, mit harter Arbeit, vielen Entbehrungen und manchmal auch ausweglos erscheinenden Erlebnissen als Moorkolonist über Generationen hinweg eine Existenz für die Enkel zu schaffen, ist mehr als eine anerkennens-werte Leistung. Oftmals gelang es dabei nur die eigene Familie mit viel Mühe und Not zu ernähren.

 

Darüber werde ich im Folgenden schreiben.

 

Die Romane sind wie eine Zeitreise durch die Geschichte unserer Heimat im Elbe-Weserraum am Beispiel einer Familie, wie sie viele andere Familien auch erlebt haben.

 

Noch heute, mehr als 250 Jahre später, leben viele stolze Nachfahren auf dieser Scholle und noch immer mit dem Familiennamen Hoops.

Eigentlich haben sich die Dialoge damals überwiegend nicht in Hochdeutsch, sondern im landesüblichen „Plattdeutsch“ zugetragen. Die Geschichte nicht in Hochdeutsch niederzuschreiben, würde viele geneigte Leser und Leserinnen ausschließen, was keinesfalls gewollt ist. Dennoch war es mir ein besonderes Anliegen hier und da bestimmte Worte wie Aussagen in meiner Muttersprache Plattdeutsch zu halten, die nicht zwingend übersetzt werden mussten.

 

An dieser Stelle möchte ich meinem Freund Alfred Rubitschka meinen ganz besonderen Dank für seine Korrekturlesungen meiner Romane seit 2009 aussprechen.

 

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

Jürgen Hoops von Scheeßel

 

 

Karte der Vogtei Sottrum 1

„Die Heimat der Väter“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Abb. 1 Karte der Vogtei Sottrum, HStA Hannover, Hannover Nr. 140, I 4, 1753;

siehe auch Dörfler, Seite 27

Hauptpersonenregister

 

1. Generation – Die Familie in Höperhöfen

 

Joachim Hoops, der Alte Vater

[*um 1584]

Gesche geb. N.N. Mutter

 

Cordt Hoops Joachims 1. Sohn

[*um 1613]

Trina, geb. N.N. Cordts 1. Ehefrau

Tibke, geb. Mahnken Cordts 2. Ehefrau

 

Johann Hoops Joachims 2. Sohn

[*um 1615]

N.N. Johanns 1. Ehefrau

Rebecca, geb. N.N. Johanns 2. Ehefrau

 

Harm Hoops Joachims 3. Sohn

[*um 1619]

Adelheid, geb. N.N. Harms 1. Ehefrau

Tibecke, geb. N.N. Harms 2. Ehefrau

 

Tipke Pape, geb. Hoops Joachims 1. Zwillingstochter

[*um 1624]

Barthold Pape Tipkes Ehemann

 

Mette Meinken, geb. Hoops Joachims 2. Zwillings-[*um 1624]tochter

Claus Meinken Mettes Ehemann

 

 

Der Familienname wurde einstmals bereits vor 1500 „Hopes“ geschrieben, wobei das „e“ nur die ausgesprochene Verlängerung des „o“ ist, und als Hoops ausgesprochen wurde. In Sottrum wird noch heute eine als Hops geschriebene Familie, wie Hoops mit einem weichen langen O ausgesprochen. Die Schreibweisen, wie die Aussprachen haben sich allerdings bei Abwanderungen regional auch in Hops, Hobst, Hoop und Hoeps verändert, wobei es in einem Stamm unterschiedliche Schreibweisen gibt.1

1 siehe: Stammtafeln Hobst-Hoop-Hoops-Hops im Elbe-Weserraum Geiger, Horb am Neckar 2013, ISBN 978-3-86595-53o-2, Autor Jürgen Hoops von Scheeßel [vergriffen]

Glossar

 

 

 

Prolog

 

Sonntag, den 29. Juni 1664

„Peter und Paul“

 

Am späten Nachmittag dieses sehr sonnigen Gottestages hatte sich die aus der Ackerbürgersiedlung Weener stammende Apothekerfamilie Aldendorfer vor ihrem Haus an der schmalen, kopfsteingepflasterten Straße versammelt, um den restlichen Tag zu genießen. Sie wohnten an einem der beiden Fahrwege, die durch die Vorstadt verliefen.

Georg Aldendorfer, das Familienoberhaupt, war in ein angeregtes Gespräch mit dem Rotenburger Küster vertieft, als ihn eine plötzliche Unruhe, die die Menschen auf der Straße ergriff, aufhorchen ließ. Selbst das Greinen eines in der Nähe gehüteten Kindes verstummte. Die beiden unterbrachen ihre intensive Unterredung und blickten gespannt auf.

Der Küster deutete mit zitterndem Zeigefinger seiner rechten Hand auf einen auf sie zukommenden Reiter, den er am anderen Ende der Gasse erblickte. Dabei blendete die Sonne, sodass beide eine Hand vor die Augen halten mussten, um besser sehen zu können.

Die Männer erkannten, dass es Meister Hans war, der hiesige Abdecker und Henkermeister, der auf seinem kräftigen Rappen langsam auf sie zuritt.

Im Rhythmus des Pferdes wippte sein grauer, langer Vollbart mit der Spitze auf und ab, während er fest im Sattel saß, die Zügel vor sich haltend und die in der Gasse stehenden Menschen mit einem furchteinflößenden Blick fixierend, dass dem einen oder anderen das Blut in den Adern gefror.

Er schleifte ein großes, längliches Bündel an einem Seil über das im Sonnenlicht sich spiegelnde Steinpflaster.

Als Zapf, so hieß der Henker, nur noch einen Steinwurf von Aldendorfers Haus entfernt war, schnappte dieser nach Luft. Er war schon einiges gewohnt und hatte auch grausame Situationen erlebt, aber bei dem, was er sich jetzt mit ansehen musste, blieb selbst ihm der Mund offen.

Viele Bürger waren am Straßenrand stehen geblieben. Nun erkannten auch Aldendorfer und sein Gesprächspartner warum.

 

Bislang waren ihre Blicke nur auf die imposante Erscheinung des aus der Sonne auf sie zureitenden Henkers und seines furchterregenden Rappens gerichtet gewesen.

Es war ein Mensch mit einem um den Hals gebundenen Seil, der an diesem Sonntag eine lange, blutige Spur auf dem Pflaster hinterließ. Angewidert sahen die Betrachter einen in zerrissenen Kleidern blutig geschundenen Leib.

Schockiert und gleichsam neugierig versuchte Georg Aldendorfer das Geschehen genauer zu erfassen. Das Bündel war eine ältere Frau, das erkannte er schnell. Ihre Arme und Beine hingen schlaff am Körper. Die Frau war ganz offensichtlich tot.

 

Ein den Geruchssinn reizender Gestank begleitete den Henker durch die ganze Gasse, der auf den Betroffenen ekelerregend wirkte und bei manchem nicht nur hörbar ein Würgen oder ein „Oh, mein Gott“ hervorrief.

 

 

 

 

Aldendorfers Frau schlug die Hände vor ihre Augen und gab ein zerreißendes Wimmern von sich. Sie drehte sich auf dem Absatz zur Seite und erbrach sich heftig. Sie hatte die Tote erkannt. Es war Mette Meinken, geborene Hoops aus Westeresch.

Nachdem der Todesreiter vorbeigezogen war, stotterte der Küster, ergriffen von der Szene, zu Georg:

„Dada, da, das muss die alte Meinken gewesen sein. Sie hat sich heute Morgen in der Zelle umgebracht. Ich habe es von meinem Schwager erfahren.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1„Das Schicksalsjahr 1664“

 

29. Juni 1664

 

Mettes Witwer, Claus Meinken, ritt, als würde er vom Teufel gejagt auf seinem Fuchs vom Hof seines Schwagers in Richtung Norden.

 

Harm Hoops schaute ihm noch sehr lange nachdenklich, zugleich wütend und mit aufeinander gepressten Lippen hinterher. Seine Adern quollen dabei sichtbar hervor, so groß war der Hass auf seinen Schwager.

In seinen Augen hatte Claus seine ganze Familie verraten. Er schnaubte ihm noch „Hundsfot“ hinterher, aber Claus hörte die üble Beschimpfung seines Schwagers nicht mehr.

Harm blieb danach noch eine ganze Weile regungslos und wortlos mit geballten Fäusten vor seinem alten Fachwerkhaus stehen, das im Schein der Sonne in einer Sanftheit der wärmenden Strahlen aufleuchtete, die aber in diesem Moment nicht in ihm wohnte.

 

Harms jüngere Schwester Mette war tot, und Tibecke wusste, wie sehr ihr Ehemann seine „kleine Fee“ geliebt hatte. Sie hatte die Unterhaltung der beiden Männer ungesehen mitgehört, denn sie waren lauter als die Kühe vor dem Melken, bei prallem Euter.

Sie wollte ihn nicht in seiner Trauer stören, traute sich eine Weile auch nicht auf ihn zuzugehen, aber sie fühlte seinen Schmerz.

Dann setzte sie Fuß vor Fuß, zunächst eher zögerlich, dann eiliger, bis sie unmittelbar hinter ihm stand und seinen schnaubenden, tiefen Atem deutlich hören konnte.

Harm war dabei aber so in Gedanken, seiner Wut und seiner Trauer versunken, dass er ihre Annäherung erst bemerkte, als eine Hand sich liebevoll von hinten auf seine Schulter legte. Nun drehte er leicht seinen Kopf und schaute sich mit nunmehr tränenerfüllten Augen nach dem Menschen um, dem diese Hand gehörte, wenngleich er sofort gespürt hatte, dass es die seiner Eheliebsten Tibecke war.

 

Sie blickte ihren Mann liebevoll und zugleich fragend an. Ihr Herz pochte vor Aufregung, denn sie war, ohne dass es einer der Männer bemerkt hatte, Zeugin eines Teils der knappen und harsch geführten Unterhaltung zwischen den sich hassenden Männern geworden.

 

„Mette hat sich das Leben genommen und dieser schäbige Kerl ist schuld daran“, sprach er verächtlich mit bebenden Lippen in einem überaus vorwurfsvollen, ja, scharfem Ton.

 

Er drehte den Kopf und sein Blick verlor sich in der Weite der Felder und Wiesen. Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten und ließ sie laufen. Die Hand auf seiner Schulter und die Nähe seiner Frau taten ihm gut.

Harm schämte sich, weil er ein Mann war und Männer bekanntermaßen nicht weinten, einer mit 45 Wintern schon gar nicht. Er schloss langsam seine geröteten Lieder, senkte den Kopf auf die Brust und ließ seinen Tränen und seiner Trauer weiterhin freien Lauf.

Der Druck der Hand auf seiner Schulter wurde fester und er spürte, wie Tibecke nun ganz nah an ihn heran trat und ihren Kopf, gleich neben ihre Hand, sanft an seine Schulter lehnte.

Harm legte seinen rechten Arm um ihre Hüfte, zog sie sanft an sich und sagte mit fester Stimme: „Ich reite nach Rotenburg, Frau!“

 

Seine um 11 Jahre jüngere zweite Frau antwortete ihm mit leiser Stimme: „Sei aber sehr vorsichtig, Harm. Lasse dich bitte, bitte nicht erwischen und komme um meinet und der Kinder Willen heil zurück.“

Sie ahnte wohl, was er in Rotenburg zu tun beabsichtigte und was ihn umtrieb.

„Mach dir keine Sorgen“, sprach er beruhigend auf sie ein. Dann atmete er einmal tief ein und aus, wandte sich anschließend von ihr ab und ging mit wenigen Schritten in den Stall, wo sein Pferd untergestellt war.

 

Er holte ein in Fett getränktes Leinentuch aus der Ecke, welches er bereits mehrfach als Plane und als Regenschutz verwandt hatte. Schnell wickelte er einen alten, kurzstiligen, eisernen Spaten darin ein, dann schnürte er die Rolle mit kurzen Hanfbändern fest zusammen.

Anschließend griff er sich seinen alten Sattel mit der einen, mit der anderen Hand nahm er eine kleine, löchrige Pferdedecke vom Holznagel am Pfosten, tat einen Schritt hin zu seinem Pferd und hielt einen Moment inne, wirkte nachdenklich, während er in sich gekehrt über die lange, blonde Mähne des Tieres schaute, als erinnere sie ihn an etwas.

Zuerst legte er die Decke auf den Pferderücken, strich sie glatt und sprach wie zu einem Gefährten: „Blitz, mein treuer Freund, wir haben eine schwere Aufgabe vor uns.“

Dann schwang er den Sattel über die Decke und zurrte ihn in gewohnter Weise fest. Anschließend befestigte er die Rolle samt Spaten mit einem Lederriemen am Sattel und führte sein Pferd auf den Hofplatz.

Tibecke stand wartend, mit besorgter Miene in der Öffnung der Groot Dör. Sie hielt ein kleines Bündel in Händen, hob den Arm und reichte es ihm wortlos, aber bestimmt entgegen.

Harm nickte nur, nahm das kleine, stets liebevoll zusammengestellte „Fresspaket“ entgegen und steckte es mit der rechten Hand unter sein Wams.

Dann strich er wortlos mit derselben Hand, denn mit der anderen hielt er sein stehendes Pferd, zärtlich über die Wange seiner Frau, als wollte er noch einmal sagen: „Mach dir keine Sorgen, Weib.“

„Ich kehre erst nach Sonnenuntergang, oder gar erst Morgen, wieder heim. Warte nicht auf mich und wenn jemand nach mir fragt, sag einfach, ich sei bei meiner Schwester in Bülste.“

Er stieg in den Sattel, nahm aufrecht sitzend die Zügel in beide Hände und ritt, nach einem zuzwinkernden Lidschlag, im leichten Trab vom Hof.

Erst nachdem Harm nicht mehr zu sehen war, drehte sich Tibecke auf dem Absatz um und trat durch die Seitentür ins Haus, um nach ihren beiden kleinen Kindern Hermann und Alke zu sehen. Sie waren mit ihren fünf und knapp elf Jahren ihr ganzer Stolz.

 

Indes trabte Harm zielstrebig über Feldwege und durch Forsten, alle Ansiedlungen meidend, in Richtung Rotenburg.

Er ritt bewusst von Südwesten herkommend nicht durch den Flecken selbst hindurch, sondern nahm Umwege in Kauf, weil er ungesehen zum Galgenberg gelangen wollte und dieser selbst nordöstlich der Burg lag.

Dort hatte der Henker aus Rotenburg den Leichnam seiner seligen Schwester Mette, oder was von ihr noch übrig war, wohl wie ein Stück Viehzeug verscharrt, schwirrte es ihm im Kopf herum.

Harm war ja selbst schon bei mancher Hinrichtung persönlich dabei gewesen, weil er als Herrenmeier und Erbpächter des Amtes dazu verpflichtet war. Deswegen wusste er auch, was mit den Knochen der am Galgen verrotteten Sünder geschehen war, nachdem sie abgefallen waren.

„Lass dich nicht ablenken, bleibe ruhig“, zwang er sich zur Wachsamkeit und zur Ruhe.

 

Er erreichte kurz nach Eintritt der Dämmerung den Fuß des 27 Meter hohen Sandhügels, der hierorts als Galgenberg bekannt war, und die einzige, einst weit sichtbare Erhebung Rotenburgs darstellte.

Vom Hügel in Westerholz aus war er noch deutlich zu sehen. Beide Höhen lagen eine gute Stunde Fußmarsch voneinander entfernt. Harm stand selbst einmal in Westerholz, als er nach Westeresch zu seiner Schwester unterwegs war.

Beide Erhebungen waren einst, während der Eiszeit, von den Gletschermassen angehäuft worden.

 

Von dort erkannte er schemenhaft das hölzerne Galgengerüst, welches hier ganzjährig zu stehen pflegte, das aber eher selten ohne gruseligen Behang war.

Selbst der Anblick aus der Ferne verfehlte seine abschreckende Wirkung auf den Betrachter nicht.

Da es zu dieser Jahreszeit nicht vollkommen dunkel wurde, verweilte er zunächst in der Deckung eines mannshohen Gestrüpps, um ja nicht gesehen zu werden.

Er band Blitz mit den Zügeln an einen Zweig, löste die Bänder, mit welchen die Rolle fixiert war, legte sie auf den Boden und setzte sich daneben.

Zuvor hatte er seinem Pferd einen Futtersack umgehängt, damit es ihn nicht verraten konnte.

Harms Blicke suchten fieberhaft eine Bewegung, einen Menschen oder Schatten und zugleich schaute er, ob er im fahlen Mondschein etwas Ungewöhnliches, Auffälliges, oder Verdächtiges sehen konnte. So verstrich eine halbe Stunde wie eine Ewigkeit.

Weil er nichts dergleichen bemerkte, nahm er das kleine „Fresspaket“ aus dem Zwischenraum von Haut und Wams, öffnete es und breitete das Tuch vorsichtig vor sich auf dem trockenen Boden aus.

Der appetitliche Geruch von geräuchertem Speck und frischem Brot war ihm schon während des Ritts in die Nase gedrungen. Er hatte ihn hin und wieder von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. Nun aber genoss er das liebevoll zusammengestellte, kraftspendende Abendmahl, soweit es ihm seine Gemütslage gestattete. Für einen Moment vergaß er, dass er im Schlagschatten des Galgens saß. Die Wasserflasche hatte er daheim gelassen, aber das störte ihn nicht, denn damit blieb auch der Druck auf seine Blase gering. Zum Wasser abschlagen fand Harm keine Zeit, er wollte ja auch nicht entdeckt werden. Zum Glück war Blitz ein Rotbrauner, wenngleich ihn eine schmale Blesse wie eine blonde Mähne zierte. Seine dunkle Fellfarbe machte ihn jetzt fast unsichtbar.

Bei dem, was Harm vorhatte, durfte er sich keinesfalls erwischen lassen. Bereits von weitem konnte er den aus Holzbalken bestehenden Doppelgalgen deutlich sehen. An seinem mächtigen Querholz baumelten, bei sommerlichen Temperaturen ohne Regen, seit mehr als drei Wochen noch immer zwei verurteilte und aufgeknüpfte Diebe.

Vom Nachtwind erfasst schwangen sie ganz sacht im fahlen Schein des Mondes hin und her, wie das hölzerne Glockenspiel bei seinem Nachbarn vor der Scheune.

So wollte er auf keinen Fall enden. Zugleich lief ihm ein Schauer über den Rücken, dass es ihn schüttelte. Hatte sich Mette nicht durch Erhängen das Leben genommen?

Währenddessen saß Tibecke in ihrem Haus allein und eingesunken auf ihrem mit Weidenrinde geflochtenem Stuhl am offenen Feuer, während alle anderen bereits schliefen. Sie konnte vor Angst um ihren Mann nicht schlafen. Sie hatte auch niemandem erzählt, wohin Harm wirklich geritten war. Eine ganze Weile hatte sie nur ins Feuer gestarrt und beobachtet, wie die Flammen die Holzscheite umschlangen und sie nach und nach verzehrten. „So sieht das Fegefeuer aus“, murmelte sie leise vor sich hin.

In Gedanken hingegen stellte sie sich die unendlichen Schmerzen bei der zu befürchtenden Verbrennung ihrer Nichte Gretge auf dem Scheiterhaufen vor, der seligen Mettes Tochter, die ja der Hexerei angeklagt war.

 

Harm wartete in seinem Versteck die Geisterstunde ab, währenddessen er unablässig und sehr aufmerksam seine Umgebung beobachtete. Er war hellwach.

Aus der Ferne drangen die Schläge des Klöppels an die Glocke der Rotenburger Friedenskirche von 1648 an sein Ohr. Nachdem der zwölfte Ton verklungen war, erhob er sich langsam aus seinem Versteck. Er schlich mehr, als dass er ging. Auf leisen Sohlen, sein Pferd zurücklassend, mit der Rolle unter dem Arm, bewegte er sich leicht gebückt in Richtung der erhängten Strolche.

Jeden Meter des ganzen Hügels suchte Harm mit seinen Augen und Händen ab, aber er fand kein frisches Grab und keine Stelle, an der vor kurzem Erde bewegt worden war.

Er suchte verzweifelt ein weiteres Mal das ganze Gelände ab, nicht ohne sich immer wieder umzusehen, dass ihn auch ja niemand beobachtete, aber erfolglos, obwohl ihm das Mondlicht, scheinbar von Gott gesandt, behilflich war.

Einmal scheuchte er unbeabsichtigt Fledermäuse auf, dass ihm vor Schreck fast das Herz stehen blieb.

Nach mehr als vier Stunden vergeblicher Suche kniete er im Sand nieder, um so von seiner Schwester Abschied zu nehmen. Er hatte ihren Leichnam nicht gefunden.

 

Hoops legte seine Rolle neben sich ab, faltete die Hände zum Gebet, schloss die Augen, legte sein Kinn auf die Brust und ließ seine Schultern enttäuscht nach unten sinken. Dann atmete er mit einem Seufzer tief durch.

 

Einen Moment lang war er versucht gewesen, die alten Götter anzuflehen. Er ließ davon ab, denn er hatte sie, seit sein Großvater verstorben war, nicht mehr angebetet.

 

Nun war er vollkommen entspannt, könnte man meinen, dennoch presste er die Lippen aufeinander und ließ den sandigen Hügel sein Gebet hören.

„Herr! Sei der Seele meiner Schwester Mette gnädig. Sie war unschuldig. Sie war keine Hexe. Meine Mette war eine liebevolle Mutter und eine gute Schwester, die leider an den falschen Kerl geraten war. Ihr brachten Neid und Missgunst den unverdienten Ruf einer Zauberin, einer Hexe ein, wie schon unserer lieben, seligen Mutter, und meiner Großmutter.“

Hoops verhielt einen Moment und fuhr dann mit seinem Gebet fort: „Sie hat sich aus Verzweiflung das Leben genommen und das sicherlich nur, um das Leben ihrer Tochter aus den Fängen der Häscher zu retten. Auch wenn es Sünde war, gewähre ihrer Seele Gnade.“

Er wusste nicht mehr zu sagen, war er doch von Natur aus eher wortkarg. Dann öffnete er seine Augen und sah gen Himmel.

Am Ende sprach er ein langes, leises und flehendes: „Amen“!

 

Doch es kamen ihm Zweifel an Gott. Warum hatte er das zugelassen?

Zur Sicherheit wandte er sich doch noch einmal den alten Göttern zu und beschwor Wodan nach altem Brauch, ihm zu helfen und beizustehen, denn er fürchtete auch um seine Familie und seine eigenen Kinder.

 

Nach einer Weile des Verharrens erhob er sich, ging zu seinem Pferd, nahm den Futtersack ab, verschnürte seine Rolle, saß auf und ritt nach Hause, jedenfalls hatte er es vor.

 

Harm Hoops hatte Rotenburg ostwärts liegen lassen, ritt im Morgenrot der aufgehenden Sonne auf dem westlichen Weg zurück. Genau den, auf dem er gekommen war.

Urplötzlich und unerwartet tauchte auf dem Weg vor ihm eine üble Gestalt auf, dass er sich erschrak.

Seine linke Hand am Zügel, griff er mit der rechten zur Rolle, als wollte er prüfen, ob er den Spaten als Waffe freimachen könnte.

 

Doch dann erkannte er den dreisten Burschen. Es war einer der Büttel von Meister Zapf, dem Rotenburger Henker, welcher breitbeinig und grinsend mit verschränkten Armen mitten auf dem Weg stand, als wollte er ihm den Weg verstellen, was er im Grunde genommen ja auch tat.

 

Zwei Pferdelängen vor ihm brachte Harm seinen Blitz zum Stehen und sah in die mit Zahnlücken bestückte Visage.

Er war jederzeit bereit, wenn der Kerl ihm den Anlass dazu bot, ihn mit einem Sprung über den Haufen zu reiten.

„Tritt beiseite und gebe den Weg frei!“, forderte Harm ihn scharf auf.

Das feiste, breite Grinsen des Knechts verbreiterte sich nur noch mehr, als ficht ihn die Drohung und das Geschwätz des um einen Kopf größeren, berittenen Bauern nicht an.

„Ich denke, du suchst etwas, Bauer! Ich weiß was und auch, wo es ist“, entgegnete der Breitbeinige.

 

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas suche?“, fragte er den Kleineren und beugte sich dabei ein wenig vor.

„Ich habe dich schon gestern anreiten sehen. Hat es dir da unten im Gestrüpp geschmeckt, hast du gefunden, was du gesucht hast?“, warf der Gefragte dem Reiter keck entgegen.

Bevor Harm, dem der Mund vor Erstaunen offen stand, etwas erwidern konnte, fuhr der Mann mit seiner forschen Rede fort.

„Ich habe dich auch beten sehen und bin dann hierher gegangen, um auf dich zu warten. Immer wenn mein Meister oder ich dort eine Leiche verscharre, naja, meistens jedenfalls, schleichen sich Angehörige des Nachts dorthin und wollen die Leiche stehlen.“

Nun wurden Harms Augen noch größer und er atmete tief durch, hörte aber weiter zu, was sein Gegenüber ihm wohl noch zu sagen hatte.

„Du weißt genau, dass es bei Strafe verboten ist und dir die Entleibung droht. Aber als guter Christenmensch will ich dir gerne meine Hilfe anbieten. Das wird dich allerdings einiges kosten!“, kam es süffisant aus dem spitzen Mund des Büttels.

„Ich soll ein guter Christenmensch sein?“, fragte sich Harm einen sehr kurzen Moment lang. „Wodan hat ihn zu mir geführt“, schoss es ihm durch den Kopf, wobei er den Dank mit einem unmerklichen Lidschluss quittierte.

„Was verlangst du für die Leiche meiner Schwester?“, wollte Harm unverblümt wissen.

„Nur zehn Taler.“

„Du bist ein Halunke!“, fuhr ihn Hoops an.

„Auch Halunken müssen leben, oder glaubst du, diese Arbeit macht mir Freude? Ich tue dir einen Gefallen, also beschimpfe mich nicht, sonst bekommst du deine Schwester nicht und, ich zeige dich an. Dafür bekomme ich zwar nur einen Taler Belohnung, aber immerhin. Ich habe immer Nachtwache und muss aufpassen, dass die frisch verscharrten Leichen nicht gestohlen werden. Du glaubst ja gar nicht, wer alles so eine Leiche oder auch nur Teile davon gebrauchen kann.“

Dabei sah er den Suchenden herausfordernd, mit einem herabwürdigenden Grinsen, einer Fratze gleich, an.

 

Nach einer kurzen Stille kam die entscheidende Frage.

„Soll ich dich nun anzeigen, oder willst du den Leichnam deiner Schwester haben? Entscheide dich! Ich habe nicht die ganze Nacht Lust mir die Beine in den Bauch zu stehen.“

„Ich habe keine zehn Taler dabei“, entgegnete Harm.

„Kein Problem. Komme morgen um Mitternacht an genau die Stelle, an der du deinen Speck gegessen hast und lass mir deine Plane hier. Dort gibst du mir die zehn Taler, dann führe ich dich zum Kadaver deiner Schwester, die ich in deine Plane einwickeln werde. Wir können uns dort aber nicht lange aufhalten“, endete der Mann abrupt.

Erwartungsvoll und abschätzend schaute er Harm an.

„Ich werde da sein“, knurrte Harm.

Er schnürte, ohne abzusitzen, die Rolle ab und ließ sie samt eingerolltem Spaten auf den Weg fallen, dann gab er dem Pferd die Hacken, Sporen hatte er keine. Und so trabte er an dem Kerl, der mit einem schnellen Sprung zur Seite den Weg freigab, mit einem verächtlichen Blick vorbei.

Unterwegs ärgerte er sich über seine Unachtsamkeit, denn er hatte ihm auch seinen Spaten dagelassen, als er die Plane fallen ließ. Das Grabungsgerät war wie jedes seiner Arbeitsgeräte mit der Hausmarke, dem Hauszeichen versehen. Das war auf allen Hofstellen üblich. Es half den Bauern ihre Schaufeln, Forken und andere Gerätschaften bei gemeinsamer Arbeit ohne Streit auseinanderzuhalten. Die Hausmarken waren beim Amt eingetragen und somit konnte der Amtmann Harms Spaten als den seinen identifizieren. Das könnte ihm sehr gefährlich werden.

Vollkommen erschlagen von den Anstrengungen der langen Suche und der schlaflosen Nacht kehrte Harm nicht nach Höperhöfen zurück, sondern begab sich zum Hof seiner lebenden Schwester Tipke. Sie hatte den gleichen Vornamen wie Harms Frau Tibecke, wenn er sich auch anders aussprach und ihn der Kirchenbuchführer nach Gehör ebenso unterschiedlich ins Buch des Lebens eingetragen hatte.

Harm musste sie jetzt sehen und unbedingt noch sprechen.

 

Bereits aus der Ferne sah er Rauch aus dem Hausdach des Schwagers aufsteigen. Tipke hatte also schon das Feuer im Flett geschürt. Auf dem Hof angekommen, stieg er müde ab, band die Zügel von Blitz an einen kleinen Baum und ging zur Seitentür, die offen stand. Er trat in den niedrigen Türrahmen, dann sah Harm auch seine Schwester am Feuer stehen. Sie bereitete den Frühstücksbrei aus Hirse in einem Eisenkessel über dem offenen Flettfeuer.

„Ich habe dich schon kommen hören und gesehen, musste aber zum Feuer zurück, sonst wäre mir das Essen angebrannt“, begrüßte sie ihn mit herzlicher Stimme und einem Lächeln im Gesicht. Dann erst sah sie die tiefe Trauer in seinem Blick, ließ vom Feuer ab und wischte sich die Hände an der leinenen Schürze ab.

„Was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, dabei schluckte sie schwer, Schlimmes ahnend.

 

Harm antwortete nicht gleich, denn immer, wenn er Tipke ansah, erblickte er Mette und umgekehrt. Sie waren eineiige Zwillingsschwestern gewesen, die nur ein Merkmal unterschied. Mette hatte ein sichtbares Feuermal auf der Stirn, in der Form eines Krötenfußes, und bei Tipke war dieses, durch ihre Haare verdeckt, ein wenig höher, somit für andere nicht sichtbar, wenn sie es geschickt zu verbergen versuchte.

Er atmete tief durch, trat ein und ging auf Tipke zu. Dann nahm Harm sie in den Arm, drückte sie brüderlich an sich und sprach nach einer Weile des Schweigens mit bedrückter Stimme das Unfassbare aus:

„Unsere Mette lebt nicht mehr.“

Er spürte, wie der Körper seiner Schwester steif wurde und dann erfüllte ein lautes Schluchzen und Weinen den Raum. Sie hielt sich an ihm fest und ihr Kopf drückte sich gegen ihn.

Die Tür der kleinen Kammer öffnete sich mit einem leisen Knarren. Barthold, Harms Schwager, trat noch schlaftrunken und halb angezogen aus ihr heraus in die Diele.

Er stand vor Harm, barfuß in Holzklotschen, und sah ihn fragend mit verschlafenden Augen an.

„Mette lebt nicht mehr!“, waren seine Worte. Mehr brachte er nicht heraus. Er war noch immer von der Reaktion seiner Schwester ergriffen, die sich laut weinend an ihm festhielt.

Er fürchtete, sie würde in sich zusammensacken, und hielt sie umso fester.

 

Die beiden Männer sahen sich mit ernster Miene an. Sie mochten sich, standen in dieser Situation aber eher hilflos im Raum.

„Das tut mir unendlich leid“, kam es Barthold ehrlich gemeint aus dem Munde, eher zurückhaltend und schüchtern, als mit gewohnt fester Stimme.

In Gedanken sah er die Zwillingsschwester vor Augen, als er sie während seines ersten Besuchs von Tipke sah. Die Schwestern hatten sich mit ihm einen Spaß gemacht, daran musste er in diesem Moment denken. Während er damals auf den Hof in Höperhöfen ritt, Tipke zu besuchen, traf er auf Harm. Der führte ihn in das Haus und im Flett standen plötzlich zwei „Tipkes“ vor ihm und lächelten ihn schnippisch an.

Harm forderte ihn damals mit einem Lächeln, eher einem Grinsen auf: „Welche von Beiden war es, die du besuchen wolltest?“ Er wurde aus dem Gedanken gerissen, denn nachdem sich Tipke ein wenig gefasst hatte, setzte sie sich auf die harte Bank an den großen Tisch. Die Männer nahmen rechts und links neben ihr Platz.

 

Inzwischen waren auch der Knecht und die Jungmagd in die Diele getreten. Sie blieben ergriffen stehen, als sie die Bäuerin weinen und schluchzen hörten.

Der Bauer sah sie zunächst nur an, winkte beide zu sich an den Tisch und teilte ihnen mit: „Hört zu! Es gab einen Todesfall in der Familie meiner Frau. Wir lassen sie jetzt mit ihrem Bruder alleine und fahren in zehn Minuten aufs Feld am Knick. Der Dienst kann nicht warten. Bereitet alles vor! Ich komme gleich nach draußen.“ Mettes Namen verschwieg er dabei bewusst. Dann wendete sich Barthold wieder liebevoll seiner Frau zu.

 

„Tipke, Liebste. Ich fahre mit den beiden zum Acker meinen Herrendienst ableisten. Du bleibst heute am Besten hier im Haus. Und wenn du Harm eine Bitte, einen Wunsch hast, lasse es mich wissen“, verlautbarte Barthold Pape dem Schwager zugewandt.

Er drehte sich um und wollte gerade gehen, da antwortete ihm Harm.

 

„Auf ein Wort Schwager. Leihe mir zehn Taler. Ich gebe sie dir nächsten Sonntag zurück. Frage mich bitte nicht, wofür“, bat ihn Harm mit flehender, leiser Stimme.

 

 

Pape nickte nur, ging zu seiner hölzernen Truhe mit dem schweren, abgerundeten Deckel, die er vor wenigen Jahren von den Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Er griff in die Tasche seines Beinkleides und entnahm einen rostigen Bartschlüssel, einen, wie ihn jeder kannte. Dann führte er ihn in die Schlossöffnung und drehte ihn mit einem schleifenden Geräuch. Dannach hob er den schweren Deckel an und lehnte ihn sachte an die Hausinnenwand.

Er zählte zehn Geldstücke ab, die er von der Hohen Kante nahm und reichte sie dem Schwager, mit einem Kopfnicken und einem Lächeln zugleich.

Pape ließ den Deckel wieder herab, drehte den Schlüssel in die andere Richtung, zog ihn geschwind heraus und ließ ihn ebenso geschickt in der Tasche seiner Hose verschwinden, wie er ihn herausgefingert hatte.

Nun ging er zu seiner Frau, nahm sie liebevoll in die Arme, drückte sie eine Weile zärtlich, ließ sie wieder los, drehte sich zu Harm, klopfte ihm im Vorbeigehen mit schmalen Lippen kameradschaftlich auf die Schulter, als wollte er sagen: „komm heil zurück“ und verließ wortlos das Haus.

Tipke und Harm hörten noch, wie der Leiterwagen anfuhr. Bald verebbte das Geräusch von Pferd und Wagen in der Ferne, bis es nicht mehr zu hören war.

 

Wären da nicht die Hühner auf dem Hof gewesen, könnte man meinen, sie befänden sich auf einem Gottesacker.

Ihr Gackern und ihr stetiges Treiben war tagsüber ein gewohntes Bild, das dem Betrachter auch eine gewisse Ruhe vermittelte.

 

Tipke und Barthold hatten noch keine Kinder, aber sie war bereits in anderen Umständen, wenngleich es noch fünf Monate dauern sollte, bis der kleine Pape das Licht der Welt erblicken würde.

Tipke hatte sich gefangen. „Harm, sage mir, wie es geschehen ist.“

„Lass uns nach draußen gehen und uns auf die Bank in die Sonne setzen“, meinte Harm. „Ich kann die Enge und Dunkelheit eines Hauses derzeit nicht ertragen.“

Seine Schwester nickte verständnisvoll und hakte sich bei ihm unter. So gingen sie gemeinsam die wenigen Schritte nach draußen vor das Haus. Die hölzerne Bank bestand aus der Hälfte eines in der Mitte gespaltenen und anschließend geglätteten Baumstammes mittlerer Größe mit einer angezapften stabilen Lehne aus gehobelten Bohlen, die Harms Schwager selbst bearbeitet und zusammengebaut hatte. Verzierungen, oder eine Jahreszahl hatte er nicht hineingeschnitzt.

Dort angekommen setzten sich die Geschwister in die langsam aufkommenden, wärmenden Sonnenstrahlen.

Sie blickten beide blinzelnd in die Aura des aufgehenden Lorenz, und Harm begann zu erzählen was er wusste. Dabei ließ er erschreckende Details mit Rücksicht auf Tipke aus, die dem Büttel im Gespräch andeutungsweise herausgerutscht waren.

 

„Claus war gestern bei mir und hatte die Stirn meinen Hof, nach allem, was er Mette angetan hat, zu betreten. Schließlich trägt er die alleinige Schuld am Tod von unserer seligen Schwester und daran, dass unsere Nichte Gretge im Kerker einsitzt und der Zauberei angeklagt wurde. Einzig sein Mut, es mir persönlich ins Gesicht zu sagen halte ich ihm zugute, was aber nichts entschuldigt oder gar besser macht.“

 

Harm pausierte und holte ein wenig Luft. Tipke bemerkte, dass ihm das Sprechen schwer fiel, nahm seine Hand und drückte sie. Es war ihr, als hülfe es ihr, das Ganze leichter zu ertragen, was nun folgen würde.

„Mette wurde wohl gefoltert. Sie hat sich, meiner Meinung nach, aus Angst und Verzweiflung am nächsten Morgen selbst das Leben genommen.“

 

Sie hörte schweigend zu, drückte des Bruders Hand fester, als müsste sie sich irgendwo festhalten, um nicht in einen tiefen Abgrund zu stürzen. Schließlich war Mette ihre Zwillingsschwester gewesen und es war ihr, als sei mit Mette auch ein Teil von ihr gestorben.

„Harm, ich hatte Sonntag während des Kirchgangs ein ganz komisches und bedrückendes Gefühl, wusste aber nicht, was mich umtrieb und wo es herrührte. Nun weiß ich es“, sagte sie kaum hörbar während sich ihr Kopf neigte, und sie das Gesicht mit ihren Händen verbarg.

 

Für Harm bestand die Schwierigkeit nicht darin, Tipke das schlimme Geschehen zu erzählen, sondern darin, dass Mettes Abbild in Tipkes Gestalt neben ihm saß und ihn nun mit feuchten, trauernden Augen ansah.

Früher hatten seine Schwestern sich mit Fremden, aber auch Nachbarn immer wieder mal einen Scherz erlaubt, die nie wussten, wer von den beiden Mädchen gerade vor ihnen stand, zumal sie, wie die meisten Frauen, Kopftücher trugen. Mette trug ihres stets tiefer in die Stirn gezogen, damit ihr Feuermal nicht sichtbar war. Aber das wussten nur die engsten Familienmitglieder.

 

Dies alles huschte Harm in Gedanken an seine tote Schwester, „seiner kleinen Fee“, durch seinen Kopf. Für ihn waren beide immer seine kleinen Feen, von denen er nun eine verloren hatte.