Die Moorsiedler Buch 2: Aufbruch - Jürgen Hoops von Scheeßel - E-Book

Die Moorsiedler Buch 2: Aufbruch E-Book

Jürgen Hoops von Scheeßel

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Beschreibung

Der junge schwedische Leutnant, der mit seiner Reiterschwadron in Höperhöfen lag, gab seinen Männern laute und nicht gerade freundlich klingende Befehle, mit denen er sie auch zur Eile mahnte. Reiter kamen, brachten Nachrichten und ritten gleich wieder, wie vom Teufel gejagt, fort. Claus Bostelmann ging auf den Leutnant zu und fragte, was geschehen sei. Der Offizier legte seine Hand auf dessen linke Schulter, zog ihn sanft beiseite und sprach: „Die Dänen kommen. Sie haben unsere Flotte in der Ostsee versenkt und wir müssen zum Schutz der Heimat sofort nach Norden. Wir können hier keine Schlacht riskieren, weil wir jeden Mann brauchen, um Schweden zu verteidigen.“ Dann ließ er abrupt von Bostelmann ab. Inzwischen saß seine Schwadron aufgesessen und zum Abmarsch bereit. Ein entschuldigendes Nicken, Claus zugewandt, war sein ganzer Abschied. „Des Ersten Tod, des Zweiten Not und des Dritten Brot“ – dieser Ausspruch beschreibt das schwere Los der Moorsiedler in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Moorsiedler, das waren meist zweite Söhne und ihre Familien, die sich auf den Weg ins Ungewisse machten, um im unerschlossenen, feindseligen Moor ihre Chance auf eine eigene Scholle zu nutzen. Denn den elterlichen Hof erben konnten sie nicht. Nicht wenige haben ihren Mut mit dem Leben bezahlt. In der Moorsiedler-Saga lässt Jürgen Hoops von Scheeßel ihre Geschichten wieder lebendig werden. Das zweite Buch führt Hoops von Scheeßels Familiensaga, anschließend an seinen letzten historischen Roman „Das verdächtige Gesicht“ über Mette Meinken, geb. Hoops aus Höperhöfen, fort. Er erzählt die Familiengeschichte der Nachfahren ihres Bruders Cordt Hoops. Leserinnen und Leser werden in längst vergangene Zeiten entführt, in die Anfänge vieler Dörfer und Gemeinden Niedersachsens – eine spannende, aufschlussreiche Reise in die Vergangenheit.

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Seitenzahl: 292

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhalt

Epilog

Karten

Hauptpersonenregister

Glossar

Zeichnungen

Kapitel 1

1693 Die nächste Generation

Kapitel 2 *** 1712

Das Ende der Schwedenzeit

Kapitel 3

1726 „Übergang in Hesedorf“

Kapitel 4

1758 Der Weg zur Moorkate

Epilog

 

Auf der Suche nach

der eigenen Scholle

„Aufbruch“

Eine historische Romanreihe über eine Familiengeschichte

 

Das Buch

 

In meinen vier vorangegangenen, historischen Romanen habe ich das vor über 350 Jahren erduldete Schicksal von Verfolgung, Ächtung, Anklage, Verurteilung und Hinrich­tung unschuldiger Frauen einiger weniger Familien über vier Generationen geschildert.

Deren schwere Lebens- und Leidensgeschichte sowie deren Martyrium stehen dabei exemplarisch für die vielen Schicksale der im Hexenwahn und Aberglauben seinerzeit verfolgten und gequälten Menschen, überwiegend waren es Frauen. Im Fokus dieser Hexenprozesse, einstmals aus­gelöst durch die Inquisition, ertrugen nicht nur die Opfer, sondern auch deren Familien unsägliches Leid, selbst noch zu Zeiten und im Gebiet der Lutheraner.

 

In dieser Romanreihe, die einer Familiensaga entspricht, schildere ich die erfolgreiche, aber auch entbehrungsreiche und leidvolle Geschichte der „zweiten Söhne“.

Diese waren im Gebiet, in dem das Majoratsgesetz galt, nicht erbberechtigt. Ihnen blieb nur die Hoffnung, in einen anderen Hof einheiraten zu können, Knecht des hoferben­den Bruders zu sein, oder aber der Weggang.

 

Jürgen Christian Findorff wurde am 20. September 1771 von Georg III. offiziell zum Moorkommissar ernannt. Seit 1752 arbeitete Findorff bei der Moorkolonisation, was ein Projekt des Kurfürsten von Hannover war, in bisher ungenutzten Moorgebieten Neugründungen, sogenannte Moorsied­lungen, entstehen zu lassen. Dies hatte die Trockenlegung der Moore zwischen Hamme und Wümme zum Ziel, um sie besiedeln zu können.

Damit wurde vielen Landeskindern die Möglichkeit eröffnet, in nicht allzu weiter Entfernung der bekannten Heimat, die Chance zu nutzen, sich über Generationen hinweg bis zum stolzen Besitzer einer ehemaligen Moor­kate, nach hartem Kampf mit der Natur, hochzuarbeiten.

Es war quasi eine Auswanderung im eigenen Land, die viele hoffnungsvoll ergriffen, die jedoch unzähligen auch einen frühen Tod oder das Scheitern bescherte.

 

Um der Auswanderung oder Abwanderung entgegenzu­wirken, ein Ausbluten des eigenen Volkes zu verhindern, aber auch um noch genügend wehrfähige Männer für zu­künftige Kriege sowie für die Produktion von Nahrungs­mitteln zur Verfügung zu haben, erließ der König in Hannover im Jahr 1832 eine Verordnung die ermöglichte.

Diese Maßnahme sollte die Hoffnung auf eigenes, neues Land für die bisher ohne Zukunft hier lebenden Menschen wecken, um sie zum Bleiben zu bewegen, indem sie die Stellen als Eigentum erwerben konnten.

 

Es handelt sich hierbei um eine belegte und überlieferte Familiengeschichte, wie sie viele andere, ja, fast alle „Auswanderer in die eigene alte, aber für sie neue Welt“ an anderer Stelle, nicht nur im Königreich Hannover, erlebten. Die Gründung vieler Fehndörfer in Ostfriesland fußte auf einer ähnlichen Zielsetzung seitens der preußischen Krone.

 

In schwerer Not, mit harter Arbeit, vielen Entbehrungen und, manchmal auch ausweglos erscheinenden Erlebnissen als Moorkolonist, über Generationen hinweg eine Existenz für die Enkel zu schaffen ist mehr als eine anerkennenswerte Leistung. Oftmals gelang es dabei nur die eigene Familie mit viel Mühe und Not zu ernähren.

 

Darüber werde ich im Folgenden schreiben.

 

Die Romane sind wie eine Zeitreise durch die Geschichte unserer Heimat im Elbe-Weserraum am Beispiel einer Familie, wie sie viele andere Familien auch erlebt haben.

 

Noch heute, mehr als 250 Jahre später, leben viele stolze Nachfahren auf dieser Scholle, noch immer mit Familien­namen Hoops.

Eigentlich haben sich die Dialoge damals überwiegend nicht in Hochdeutsch, sondern im landesüblichen „Plattdeutsch“ zugetragen. Die Geschichte nicht in Hochdeutsch niederzuschreiben, würde viele geneigte Leser und Leserinnen ausschließen, was keinesfalls gewollt ist. Dennoch war es mir ein besonderes Anliegen hier und da bestimmte Worte wie Aussagen in meiner Muttersprache Plattdeutsch zu halten, die nicht zwingend übersetzt werden mussten.

 

 

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

 

Jürgen Hoops von Scheeßel

 

Karte der Vogtei Sottrum 1

„Die Heimat der Väter“

1 Abb. 1 Karte der Vogtei Sottrum, HStA Hannover, Hannover Nr. 140, I 4, 1753;

siehe auch Dörfler, Seite 27

Hauptpersonenregister

 

2. Generation – Die Familien in Hesedorf und Ostendorf

 

Cordt Hoops Urenkel von Warnke

[1613-1700] Anerbe Hoopshof in Höperhöfen

Tibke, geb. Mahnken [1630 -1720] Cordts 2. Ehefrau

 

 

Joachim Hoops Cordts 1. Sohn

[1659-1731] Anerbe Hoopshof in Höperhöfen

Margretha geb. Schlobohm Joachims Ehefrau

 

 

Cordt Hoops Joachims 1. Sohn

[1693-1774] Anerbe Hoopshof in Höperhöfen

Margretha geb. Papen Cordts Ehefrau

 

 

Johann Hoops “der Hesedorfer“ Joachims 2. Sohn

[1696-1781]

Beeke geb. Fahjen [1687-1759] Johanns Ehefrau

 

 

Joachim Hinrich Hoops Joachims 3. Sohn

[1706-1784] Halbhöfner in Hatzte

Catharina geb. Kolckmann Hinrichs Ehefrau

 

 

Tibcke Hoops Joachims 1. Tochter

[1688-1762] verheiratet mit Claus Hastede, Halbhöfner in Bötersen

 

 

Engel Hoops Joachims 2.Tochter

[1690-1741] verheiratet mit Hans Westermann, Bürger in Rotenburg

 

 

Margaretha Hoops Joachims 3. Tochter

[1699-1752] verheiratet mit Cord Hinrich Sesemann, Halbhöfner in Abbendorf

 

Jochen (Joachim I.) Hoops Johanns Sohn

[1727-1811] 1. Moorkolonist in Ostendorf

 

Anna Catharina geb. Hoops Johanns Ehefrau

Tochter von Christian Hoops, einem Nachfahren der Hoops aus Stemmen im Kirchspiel Scheeßel (gehört zur Familie des Autoren)

 

Anna Hoops Johanns Tochter

[1730-1808] verheiratet mit Friedrich Dormann, Gastwirt in Oldendorf (heute Gasthaus Adebar, Dittmers Hof) bei Zeven

 

 

Johann Hoops Joachim I. 1. Sohn

[1758-1831] Halbhöfner in Kranenburg

Becke geb. Meyer Johanns Ehefrau

 

 

Joachim II. Hoops Joachim I. 2. Sohn

[1760-1820] 2. Moorkolonist in Ostendorf

Margarethe geb. Meyer

 

 

Cord Hinrich Hoops Joachim I. 3. Sohn

[1762- ] Kohlenhändler in Bremervörde

 

Claus Hoops Joachim I. 4. Sohn

[1765- 1838] Gastwirt in Oldendorf (Gasthaus Adebar)

Marie geb. Könken Cords Ehefrau

 

 

Harm Hoops Joachim I. 5. Sohn

[1767- 1834] Kötner in Forst bei Stade

Lucia geb. Tiedemann Harms 1. Ehefrau

Engel geb. Matthees Harms 2. Ehefrau

 

 

Friedrich Hoops Joachim I. 6. Sohn

[1778- 1841] Häusling in Forst bei Stade

Margret geb. Kahrs Friedrichs Ehefrau

 

 

Anna Hoops Joachim I. 1. Tochter

[1770- ] verheiratet mit Johann Wintjen, Neubauer in Ostendorf

 

 

Margaretha Hoops [1773-1778] Joachim I. 2. Tochter

 

 

Engel Hoops [1776-1776] Joachim I. 3. Tochter

 

 

Claus Meinken Mette Hoops Ehemann

 

 

Der Familienname wurde einstmals bereits vor 1500 „Hopes“ geschrieben, wobei das „e“ nur die ausgesprochene Verlängerung des „o“ ist, und als Hoops ausgesprochen wurde. In Sottrum wird noch heute eine als Hops geschriebene Familie, wie Hoops mit einem weichen langen O ausgesprochen. Die Schreib­weisen, wie die Aussprachen haben sich allerdings bei Abwanderungen regional auch in Hops, Hobst, Hoop und Hoeps verändert, wobei es in einem Stamm unterschiedliche Schreibweisen gibt.1

 

1 siehe: Stammtafeln Hobst-Hoop-Hoops-Hops im Elbe-Weserraum Geiger, Horb am Neckar 2013, ISBN 978-3-86595-53o-2, Autor Jürgen Hoops von Scheeßel [vergriffen]

Glossar

 

Das Flett1

 

Das Zweiständerhaus in Niedersachsen2

 

1 Abb. 3 Grundriss eines Niedersachsenhauses mit Flett und Diele aus: Gerhard

Eitzen, Bauernhausforschung in Deutschland, Seite 240 Abb. 15.2 Maßstab 1:200

2

Abb. 4 Fachwerkhaus aus Wilhelm Bomann, Bäuerliches Hauswesen und

Tagewerk im alten Niedersachsen, Seite 6.

 

 

Kapitel 1

***1693 Die nächste Generation

 

Inzwischen war Joachim endlich der ersehnte Hoferbe geboren worden. Sein Gretchen hatte 1693 eine komplika­tionsfreie Geburt erlebt und einem starken Knaben das Leben geschenkt.

Selbstverständlich wurde der Junge, wie sein Großvater, Cordt, getauft. Der alte Cordt strahlte von einem Ohr zum anderen. Dabei sah sein linkes Ohr eher wie ein Bauchnabel aus, seit ihm eine Horde von Tillys Söldnern, die für eine Nacht bei seinem Vater auf dem Hof einquartiert waren, eines seiner Ohren mit einem rostigen Messer abgeschnitten hatte, weil der damals 17-jährige Cordt den besoffenen Schändern nicht das katholische Glaubensbekenntnis, sondern nur das lutherische vorgetragen hatte. Sie beschimpften Cordt als „ein verdammter Lutheraner“. Er hatte damals fürchterlich geblutet und heftige Schmerzen erlitten. Niemand konnte ihm helfen, denn die Bande war schwer bewaffnet und völlig skrupellos. Sein Vater hatte seinerzeit vorsorglich die jungen Frauen im Moor versteckt, aber nicht mit solchen Auswüchsen gerechnet.

 

Auch dem Kindsvater Joachim fiel ein Stein vom Herzen, als ihm die Hebamme die frohe Nachricht überbrachte.

„Damit ist unser Name auf dem Hof für eine weitere Generation gesichert“, sagte Joachim stolz seinem Vater, der noch in seiner Glückseligkeit schwelgte und sich zufrieden über sein schulterlanges Haar strich, welches sein fehlendes Ohr seit damals verbarg.

 

 

Dass dieser Hof noch im 20. Jahrhundert durch einen direkten Nachfahren mit Familiennamen Hoops bewirt­schaftet wurde, konnte damals weder Joachim noch Cordt ahnen, wenn sie es sich auch wohl sehnlichst gewünscht hatten.

Die beiden Schwestern des Neugeborenen beäugten das in den Armen der Hebamme liegende neue Familienmitglied reserviert zurückhaltend.

Die ältere der Beiden sah ihre Schwester ein wenig mürrisch an und sprach ihr leise, recht vorwurfsvoll, aber auch ein wenig mit Hähme ins Ohr „So verschrumpelt hast du damals auch ausgesehen, hast Tag und Nacht geschrien, in die Leinen gepinkelt, Mutters und Großmutters ganze Aufmerksamkeit gehabt, warst ein Esser mehr, wolltest später immer mein Spielzeugpferd haben, das Großvater für mich geschnitzt hatte, und ….“

Ihr Vater unterbrach ihren bösen Redeschwall, indem er seine Hand über ihren kleinen Mund legte und sie strafend ansah. Sie schluckte und schaute verschämt zu Boden. Ihre Schwester grinste und wollte etwas sagen, doch der strafende Blick des Vaters hielt sie davon ab.

Als hätte der kleine Zwist nie stattgefunden, schauten beide ihren Vater lächelnd an, während die Hebamme das Geschehene gar nicht recht mitbekam, weil sie sich um den Säugling mühte.

„Cordt soll er heißen, so wie Großvater“, meinte die inzwi­schen fast fünfjährige Tibcke zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Engel.

Bevor Engel darauf antworten konnte, wurden beide durch die Mutter in die Kammer ans Wochenbett gerufen.

Freudestrahlend, aber ein wenig ermattet, ließ die junge Mutter ihre Töchter dicht an die Bettkannte kommen und nahm sie überglücklich vor Freude die Arme.

„Habt ihr euer Brüderchen schon gesehen? Die Bademutter wäscht ihn gerade und zieht ihm erst einmal etwas Frisches an“, klärte sie die beiden mehr rhetorisch, als ernst gemeint auf.

„Ihr könntet euch freuen, denn nun seid ihr zu dritt“, ergänzte die stolze Mutter.

„Darf ich nachher mit ihm spielen“, fragte die kleine Engel daraufhin die Mutter.

„Nein, mein Engel. Mit dem Spielen musst du noch ein paar Monate warten. Zum Spielen ist Cordt noch viel zu klein“, bekam sie zur Antwort.

Enttäuscht zog Engel, gefolgt von Tibcke, von Dannen.

„Was sollen wir denn mit dem, wenn wir nicht mit ihm spielen dürfen“, maulte Engel vor sich hin.

„Stimmt“, pflichtete ihr die Schwester bei.

Als sie aus dem Haus kamen scheuchten sie erst einmal die Hofhühner durcheinander, um ihrer Enttäuschung ein wenig Luft zu verschaffen.

„Alles dreht sich nur noch um den Neuen. Jeder redet von ihm und betütert ihn“, schimpfte Tibcke.

Ein wenig eifersüchtig waren die beiden Schwestern doch, denn sie fühlten sich nicht mehr als Mittelpunkt.

Tibcke hatte das Gefühl schon einmal bei Engels Geburt erlebt, was ihr nun wieder deutlich aufs kindliche Gemüt schlug.

 

Aus der Zweisamkeit des Ehepaares war inzwischen eine richtige Familie, eine mit drei Kindern geworden, worauf beide Elternteile sehr stolz waren. Cordt sollte nicht das letzte Kind der Beiden gewesen sein.

Besonders glücklich war Gretchen darüber, dass alle ihre Kinder gesund waren und lebten. Sie hatte bisher weder Totgeburten noch schwächliche, oder gar ungesunde Kinder zur Welt gebracht. Sie hatte am meisten Angst davor, dass eines ihrer Kinder kränklich war, tot geboren wurde, oder gar sechs Finger an jeder Hand hatte, wie bei einer anderen Nachbarsfamilie in dem Jahr, als sie konfirmiert wurde. Die Leute im Dorf sprachen damals hinter vorgehaltener Hand darüber, auch dass die Hebamme dem Kinde gleich nachder Geburt jeweils einen der kleinen Finger abschnitt, damit es wohl geraten aussah.

Sie drückte ihre beiden kleinen, streitsüchtigen Töchter ganz fest und war froh, dass der Junge gesund war.

Joachim feierte abends im Kreise der Familie und Anver­wandten die Geburt seines Stammhalters, selbstverständlich nicht, ohne auch eine der Geschichten aus alten Zeiten zum Besten zu geben. Inzwischen hatte er seinen eigenen Stil gefunden, um die Erzählungen vorzutragen. Dabei half ihm nicht nur sein Talent, sondern auch, dass er inzwischen dreifacher Vater war, was er mit Stolz jedem erzählte.

 

Mit zunehmender Stunde wurde die Gesellschaft lockerer, was daran lag, dass die Männer um das Flettfeuer einen Pegel erreicht hatten, bei dem der Alkohol seine volle Wirkung zur Geltung brachte. Der alte Cordt wurde mit jedem Schluck ruhiger, er musste aufpassen nicht vom Stuhl zu rutschen. Die Frauen hingegen saßen am großen Tisch und redeten in einer Tour ohne Unterlass, ja scheinbar auch ohne Luft holen zu müssen, überwiegend über ihre besseren Hälften, aber auch über bestimmte „Frauen­zimmer“. Auch bei ihnen wirkte der Genuss des Alkohols auf ihre Redseligkeit.

Dem neutralen Betrachter bot sich hier der Anblick von zwei vollkommen unterschiedlichen Welten, ja Wesen, in einem Raum.

Das Ende eines solchen Abends verlief in der Regel immer gleich ab.

 

Irgendwann beschlossen die Eheliebsten heimgehen zu wollen, dabei lösten sie bei ihren Männern zwar Unmut aus, der sich allerdings in einem erträglichen Maß hielt. Entweder wurde lautstark protestiert, oder aber voll­kommen wortlos, der eben ergangenen Weisung Folge geleistet.

Dieses Vermeidungsverhalten hatten sie bereits bei den Eltern kennengelernt, dann später selbst in ihr Verhaltens­muster übernommen.

 

Die Folgen bei Zuwiderhandlungen umfassten häufig das Ausbleiben von Zuwendungen, wie freundlicher Worte, Schweigen, Liebesentzug, sozialer Ausschluss, atmosphä­rische Störungen oder das Vorenthalten von Lieblings­speisen.

Eine Woche nur Wasser- oder Kohlsuppe bewirkte rasch den gewünschten Effekt bei den „Hausherren“.

Die erlebten Sanktionierungen führten bei den meisten Männern rasch zum gehorsamen Einlenken und zukünftig zur Vermeidung der Herbeiführung solcher Reaktionen.

 

Was der Auslöser dieser ständig wiederkehrenden - „Wir gehen jetzt nach Hause“ – Rituale war, blieb den Männern verschlossen, war hin und wieder aber Thema am abend­lichen Feuer, wenn die Frauen nicht dabei waren. Besonders das betonte „Wir“ rieb an ihnen. Zwar meinte einer: „Dann lass die Weiber doch gehen“, das aber traute sich dann doch niemand zu tun.

Während sie so sprachen, fühlten sie sich wie Verschwörer, die einen Weg zu einer schmerzfreien Revolution suchten, sich dabei aber keinesfalls ertappen lassen durften.

Eigentlich wollten viele lediglich einen ruhigen Feierabend verbringen, ihr Pfeifchen genießen, ein wenig klönen und vor allem faulenzen und mal so richtig saufen, denn das Leben und Überleben sicher zu stellen war schwer genug.

 

Gegen das zügellose Saufen aber hatten ihre Frauen sehr handfeste Argumente.

Sie waren es nämlich, die die üblen Ausdünstungen, das laute, schlafraubende Schnarchen, das dann vermehrt auf­tretende unkontrollierte Entweichen von Gasen die ganze Nacht über ertragen mussten. Das aber, wollte keiner wirklich hören und gelten lassen. So änderte sich nichts und alle machten weiter wie bisher.

 

Dennoch mussten sich alle häufig in der Predigt des Sonntags vom hiesigen Pastor das Wettern anhören, dass das eine Sünde sei. Meist hatte er wieder einmal von solch einem Gelage in einer Beichte gehört, oder es wurde ihm von einer sehr frommen Seele zugetragen.

 

Joachim war an diesem Tag froh, als der letzte Gast sein Anwesen verlassen hatte.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Endlich Ruhe“, sagte er zu seinem Knecht, während die junge Magd noch um Ordnung bemüht war.

„Ich gehe nun auch zu Bett. Wir sehen uns morgen früh vorm ersten Hahnenschrei und werden dann die Arbeit auf dem Hohenacker zu Ende bringen.“

Dann erhob er sich, ging die wenigen Schritte mit Bedacht, aber ein wenig schwankend und mit schmerzenden Knien in seine Kammer. Er stand vor seinem Bette und sah seine schlafende Frau eine Weile an. Dann legte er sich so rücksichtsvoll, wie es ihm eben gelang, mit voller Montour auf seine Bettdecke und schlief umgehend ein.

 

So endete diese kleine Feier auf dem Hoopshof.

 

***

1694

 

1694 wurde nach langer Zeit wieder eine große Hochzeit in der Familie gefeiert.

Der inzwischen 25-jährige Johann, Sohn des seligen Johann und seiner Ehefrau Rebecca, Vetter von Joachim, hatte sich vor einem halben Jahr mit der Gastwirtstochter Elisabeth de la Granza aus Rotenburg verlobt. Er hatte sie in Rotenburg kennengelernt, als er dort als Knecht beim Gastwirt Gustav de la Granza arbeitete. In den Augen seiner Mutter war ihre Schwiegertochter eine gute Partie.

„Ach, hätte das mein seliger Johann noch erlebt“, sagte sie zu ihrem Sohn, als er ihr vor Monaten die frohe Kunde überbrachte.

An dem Abend hatte die alte Rebecca noch sehr lange auf der hölzernen Bank vor dem alten Rauchhaus gesessen und der untergehenden Sonne noch sehr lange nachgeblickt, bis es sie fröstelte.

Mit einem sehr tiefen Seufzer, in Erinnerung an ihren geliebten Johann, war sie aufgestanden und ins Haus gegangen. Er fehlte ihr sehr, seit er von ihr gegangen war.

 

Und so wurde die Hochzeitsfeier in der Gaststube in Rotenburg abgehalten, da stets der Brautvater diese auszurichten und zu bezahlen hatte. Ein wenig wollte der Bräutigam wohl auch damit angeben, nunmehr Gast- und Schankwirt werden zu sollen. Von einigen seiner Bekannten und Verwandten vernahm er unterschwellig die Hoffnung, nun auf seine Kosten saufen zu können, was ihm ernsthaft ein wenig Sorgen bereitete. Doch den bedrückenden Gedanken ließ er rasch fallen und dachte daran, dass sein Vater und sein Großvater bereits Johann gerufen wurden. Und das machte ihn schon sehr stolz, bedeutete für andere eine gewisse Kontinuität und Tradition in der Familie.

 

Er hatte eine sehr bestimmende und mit Gästen erfahrene Gastwirtstochter kennengelernt, die er nunmehr ehelichen würde. Was er am Hochzeitstag noch nicht ahnte war, dass er bei der Auswahl der Vornamen der Kinder anfangs wenig mitzureden hatte. Sie war die Erbin und Wirtin und er ihr Ehemann. Doch bei den letzten beiden Söhnen ihrer acht Kinder kam er zum Zuge, auch wenn Samuel Johann, Samuel gerufen wurde.

So fuhren die Familien Hoops aus Höperhöfen mit zwei Fuhrwerken nach Rotenburg, um an der Hochzeit des Vetters in der Friedenskirche von 1648 und der anschließenden Feier im dortigen Gasthaus teilzunehmen.

Gretchen hatte ihren Kindern dazu das beste Sonntags­gewand, und sich ihre prachtvolle Tracht angezogen.

 

„Tibcke, du passt auf deine kleine Schwester auf und du Engel, hörst auf deine ältere Schwester“, mahnte sie die beiden Töchter liebevoll, aber sehr eindringlich.

„Und wer passt auf den kleinen Cordt auf“, wollte Tibcke ein wenig schnippisch wissen.

„Das mache ich schon“, beruhigte die Mutter ihre Große.

Inzwischen hatte Tibcke sich nicht nur mit dem Brüderchen abgefunden, ihn mit ihrer Schwesterliebe auch umsorgt und in ihr Spiel - Mutter-Kind - mit einbezogen. Engel bekam dann die Rolle der Hausmagd, was ihr gar nicht gefiel. Während die „große Spielmutter“ sie nur rumkommandierte, durfte Engel nichts alleine entscheiden.

Einmal fragte sie ihre Mutter: „Modder, wann bekommst du das nächste Brüderchen?“

„Warum fragst du Engel?“, wollte sie wissen.

Dabei neigte sie ein wenig den Kopf nach unten auf das fragende Kind.

 

 

„Na ja, dann habe ich auch ein eigenes Brüderchen zum Spielen, so wie Tibcke“, kam prompt die für Gretchen überraschende Antwort. Die Frage selbst blieb unbeantwortet.

Auf der langen Fahrt nach Rotenburg sprachen Joachim und sein Vater Cordt, die vorne auf dem Bock saßen, miteinander. Joachim dachte einen Moment nach, was er dem Vater wie erzählen sollte, denn es gab sehr viele namensgleiche Neffen und Vettern, die Johann oder Harm gerufen wurden, dass selbst der Kundige durcheinander kommen konnte, und Joachims Vater Cordt war immerhin Jahrgang 1613.

„Vadder, mein Bruder Hermann ist nun schon 23 Sommer alt. Er will ab dem nächsten Frühjahr zu mir als Knecht auf den Hof kommen. Bis dahin bleibt er noch bei meiner Schwester Grete in Worschen in Stellung.“

Der alte Cordt nickte nur, ohne ein Wort zu sagen. Das Zuhören strengte ihn schon ein wenig an, noch mehr aber, die holprige Fahrt, die seine 81 Jahre alten Knochen derart rüttelten, dass er seine Gicht recht arg zu spüren hatte.

Da Joachim keine Antwort bekam, schaute er im Augen­winkel auf seinem Vater und sah dessen schmerzgeplagtes Gesicht von der Seite. Deswegen hörte er auch sogleich mit der Unterhaltung auf.

 

„Bestimmt bekommen wir bald das Bier zum Vorzugspreis von Johann, wenn wir unsere Feiern abhalten“, war die einzige Antwort, die der alte Cordt während der langen Fahrt nach einer Weile, ohne Anlass, herausbrachte. Bier trinken, ein Pfeifchen rauchen und in der warmen Sonne vorm Haus auf der Bank sitzen, oder am wärmenden Flettfeuer in seinem gepolsterten Stuhl, das waren seine einzigen Vergnügungen. Selbst das Essen fiel ihm zunehmend schwerer, denn die drei verbliebenen, ungesunden Zähne taugten nicht einmal mehr zum kauen weicher Speisen.

Aus diesem Grund bekam er meist Hirsebrei, Buchweizen­schleim oder Suppe vorgesetzt. Für einen Mann aber war das eher erniedrigend, nicht einmal mehr kauen und richtig essen zu können. Keinen Schinken, keine Wurst, kein saftiges Brot oder andere schöne, knusprig gebratene Sachen. Selbst der Stuhlgang war für ihn beschämend breiig und stank abstoßend, wie seine Fürze.

Die Gicht plagte ihn in allen Gliedern, besonders auch in den Fingern, wenn er seinen hölzernen Löffel beim Essen halten musste.

 

Da die Familie darum wusste, hatte der Bräutigam seinen Onkel gefragt, was er sich zum Essen wünschen würde.

„Lieber Neffe, wenn du mich so fragst, dann hätte ich gerne eine Fischsuppe von einem Zander oder Hecht ohne Gräten und mit ganz weichgekochtem und klein geschnittenem Gemüse, aber ohne viel Wasser, damit ich alles auf dem Löffel halten kann.“

Die Wahl erinnerte ihn an die Zeiten, wo er noch heimlich fischen ging. Er hatte sich niemals erwischen lassen, und diese beiden Raubfische hatten ihm immer am besten geschmeckt.

„Dazu möchte ich ein Brot vom Weißbäcker, das ich stippen kann. Die Suppe soll in einem richtigen Teller aus Porzellan sein und der Löffel nicht aus Holz. Dazu reiche mir einen großen Krug frisches, kühles Bier, und ich bin der glücklichste Mensch auf Erden“, antworte der Alte mit einem verschmitzten Lächeln und wachen Sinnen, was seine drei dunklen Zahnstumpen erst so richtig zur Geltung brachte.

„Möchtest du nach dem Essen nicht noch ein Pfeifchen rauchen? Ich hätte da rein zufällig einen kleinen Beutel richtigen Tabaks aus Übersee vom Krämer anzubieten“, lockte ihn sein glücklicher Neffe.

Die Heirat mit der Gastwirtstochter war nicht nur ein finanziell lohnender, sondern zugleich auch ein deutlicher, gesellschaftlicher Aufstieg, vom Anerben eines Hofes zum Bürger und Gastwirt eines Fleckens.

Als Höfner war er nur Erbpächter, während das Haus, indem sich das Gast- und Schankgewerbe befand, Eigentum der Bürgerfamilie de la Granza war.

Selbstverständlich erteilte das Amt nur gegen Zahlung einer beachtlichen Gebühr, die Schankerlaubnis.

Für die de la Granzas war sie zugleich mit der Geneh­migung zum Betrieb eines Wirtshauses verbunden. Damit durften sie Reisende beherbergen und mit Speisen bewirten.

Den Großvater de la Granza hatte es während des Großen Krieges hierher, aus Frankreich kommend, verschlagen. In der Familie wurde stets erzählt, dass seine Vorfahren aus Kastilien, im Süden von Spanien gebürtig herstammten.

Die Aussprache des Familiennamens war für die hiesigen ungewohnt. Es begann mit einem melodisch ausgesprochen, ja fast gesungenen „de la“ und setzte dann mit einem gebrochenen „Gran – za“ fort, wobei das „za“ wie ein Peitschenschlag betont wurde.

Der 51-jährige Brautvater Gustav de la Granza hatte seine Frau Gertruth, die Tochter eines Krügers, in Rotenburg gefunden, geheiratet und aus dem kleinen Krug ein Gasthaus gemacht. Darauf war er sehr stolz. Doch machte ihm eine Krankheit schwer zu schaffen, weswegen die Eheleute froh waren, mit Johann einen Nachfolger und einen Ehemann für ihre älteste Tochter gefunden zu haben.

Ihre jüngeren Kinder, die 16-jährige Catharina und der 7-jährige Sohn, Carel Hinrich, machten ihnen viel Freude, zudem war Carel noch viel zu jung dem Vater nachzufolgen.

So wandte sich der alte Gastwirt an seinen Schwiegersohn.

 

„Richtig geführt ist der Krug eine Goldgrube, mein Junge. Zugleich bekommst du ja auch mit meiner Tochter noch eine erfahrene, fleißige Köchin und Wirtin“, sagte de la Granza zu seinem Schwiegersohn, von dem er überzeugt war, dass er der richtige Mann für seine Tochter, aber auch für das Geschäft war.

Bei Johanns Schwiegervater kehrten die Honoratioren der angehenden Stadt, aber auch die Beamten des Amtes ein. Selbst der gefürchtete und zugleich für seine Arbeit geach­tete Henker zählte zu seinen Stammkunden, auch wenn er stets einen kleinen Tisch für sich alleine in der Ecke hatte, weil niemand bei ihm sitzen wollte. Alle fürchteten ihn.

 

Inzwischen waren die Hochzeitsvorbereitungen in Roten­burg abgeschlossen und die Hochzeitsgesellschaft war in der Rotenburger Friedenskirche von 1648 versammelt, während sich an diesem noch mäßigen Septembertag das Wetter, außerhalb des gut gefüllten Gotteshauses, in unterschiedlichen Facetten zeigte.

Im Inneren des Mauerbaus hingegen schmückte der Pastor die Trauung mit vielen schönen Worten aus. Dabei flocht er auch die Mahnung gegen übermäßigen Alkoholgenuss unterschwellig in seine Predigt mit ein.

De la Granza hörte die geschäftsschädigenden Worte und raunte leise vor sich hin: „Schwattkittel.“

 

Die unterschiedlichen Trachten waren schon ein besonderer Anblick, wobei sich die Tracht der Braut von allen deutlich abhob. Die Brautkrone war schwer, aber Elisabeth trug sie mit Würde.

Diese, seit vielen Generationen in der Familie befindliche Tracht, hatte schon Johanns selige Mutter Rebecca zu ihrer Hochzeit getragen und ihr zu Ehren trug Elisabeth sie nun auch.

„Schaut sie nicht wunderschön aus“, schwärmte der bis über beide Ohren verliebte Bräutigam und stand mit seiner Einschätzung keinesfalls alleine da.

Nach der Zeremonie verließ der Hochzeitszug, bei strahlen­dem Sonnenschein, das Gotteshaus und schritt durch die Gassen direkt zum naheliegenden Wirtshaus.

 

Als der Brautvater das Haus verließ, hörte ihn seine Frau nur mit erleichterter Stimme sagen: „Endlich!“

Die ganze Zeit hatte er sich über die Worte des Kirchen­manns geärgert, sich aber mit Äußerungen zurück­gehalten.

 

Viele Rotenburger, die nicht mit in dieser Kirche waren, blieben am Gassenrand stehen und schauten sich das frisch vermählte Ehepaar auf ihrem Weg zur Feier an.

De la Granza hatte auf seinem großflächigen Hinterhof für alle seine geladenen Gäste Bänke und Tische aufstellen lassen.

Selbst für ausreichend Geschirr aus Blech war gesorgt und als Ehrengast war der Amtmann mit seiner Frau erschienen. Das inzwischen warme, sonnige Wetter verlieh dem Tag einen entsprechend glanzvollen Rahmen, was morgens noch nicht abzusehen war. „Lorenz ist dem Brautpaar wohl gesonnen“, sagte einer der Anwesenden.

 

Erst wurden die üblichen Reden gehalten, dann gegessen und getrunken, zum Ende hin, nur noch getrunken.

Johanns Schwiegervater hatte eine Vielzahl Fässer Bier im Brauhaus von Rotenburg füllen lassen, auch sein eigener Kühlkeller war hinreichend gefüllt.

Schnaps hatte er mit Absicht nicht auf die Tische gestellt. „Für meine Tochter wünsche ich mir eine feine und gelungene Feier. Bei dem herrlichen Sonnenschein schmeckt nur ein kühles Bier. Die Leute sollen sich mit euch freuen, feiern, klönen und essen, sich aber nicht sinnlos besaufen, Johann. Ihr habt ja den Herrn Pastor gehört“, hatte er seine Entscheidung begründet.

Schnaps war ja auch wesentlich teurer als Bier, lachte er in sich hinein und dachte daran, dass er ja Geld sparte und dem Pastoren die Schuld geben konnte, wenn es jemandem nicht gefiel.

„Außerdem kann ich es auf den Tod nicht leiden, wenn es Morgen hier nach Erbrochenem nur so stinkt und die heutige Feier, von sich auskotzenden Schnapsleichen gestört wird. Du wirst noch deine eigenen Erfahrungen mit Bier und Brandweintrinkern machen“, prophezeite ihm der Alte.

Anfangs war die Nachfrage nach Schnaps zu hören.

 

Die Antwort des alten Gastwirts war stets: „Du verträgst wohl kein gutes Bier? Trink Bier, soviel du willst. Schnaps kannst du zu Hause saufen.“

Durch den weiteren Bierkonsum verebbte irgendwann der Wunsch, etwas anderes trinken zu wollen. Außerdem entfaltete der Alkohol im Bier nach wenigen Krügen, unterstützt vom warmen Wetter, alsbald seine bekannte und erwartete Wirkung.

 

Der alte Cordt Hoops war mit sich und der Welt zufrieden. Die gewünschte Fischsuppe war voll mit zartem Fleisch von Neunaugen und feinem, kleingeschnittenem Gemüse. Er musste nicht kauen, konnte alles mit der Zunge im Mund zerdrücken und genießen. Zudem kleckerte er nicht ständig, weil es keine Suppe, sondern eine Fisch- und Gemüsepfanne war. Das schmackhafte Weißbrot war auch mit seinen drei Zahnstümpfen gut zu bewältigen, und das kühle Bier brachte ihn allmählich in einen Zustand der Glückseligkeit. Die Krönung seines Gefühls aber, war der kleine Beutel mit Tabak aus Übersee, den ihm der Brautvater geschenkt hatte. Er verbreitete ein ganz anderes, sehr angenehmes und nie gekanntes Aroma in seinem abgenutzten Pfeifchen.

„Danke mein Lieber“, kam es dankbar aus seinem Munde.

 

Der Neffe hatte dem Bruder seines seligen Vaters den Platz am Brauttisch zugewiesen, der seinem Vater, würde er noch leben, zugestanden hätte. Cordt war überglücklich.

Lange nach Mitternacht machten sich die Höperhöfener auf den Heimweg. Sie gehörten mit zu den letzten Gästen. Der alte Cordt lag auf der Rückfahrt, selig schlafend und auf Strohsäcken gebettet, auf den Planken des Fuhrwerks und schnarchte, als hätte er einen ganzen Wald umzusägen.

 

Daheim angekommen trugen die Männer den Alten in seine Kammer, legten ihn, angezogen wie er war, auf das Lager und deckten ihn liebevoll zu. Anschließend trollten sich alle anderen in ihre Kammern und Koven. Dann kehrte Stille auf dem Hof ein. Nur das übliche Schnarchen und die Geräusche, die der Wind und das Vieh verursachten, war zu hören.

 

***

 

Gretchen hatte den Wunsch der kleinen, nunmehr 6-jährigen Engel offensichtlich erhört und war erneut schwanger.

„Wird es ein Brüderchen?“, fragte die Kleine immer wieder aufgeregt nach. Sie erhielt stets die gleichlautende Antwort: „Warte es ab, Kind!“

 

1696 war es endlich soweit. Joachim ließ die Bademutter holen. Als sie eingetroffen war, überfiel Engel sie sofort mit der bekannten Frage: „Sag schon, wird es ein Brüderchen?“

Es dauerte noch einige Stunden, bis Engel die Antwort erhielt. Tibcke war das Treiben zwar nicht gleichgültig, aber bisher war mit jedem Geschwisterchen ein neuer Konkurrent in die Familie gekommen. Das Privileg, die Älteste zu sein, nutzte sie hingegen schamlos aus, und Gretchen ließ sie gewähren.

In der Kammer tat sich etwas, das bemerkte Engel, die mit den anderen in der Diele wartete, bis die Hebamme verkündete, was es geworden ist.

Ein Stöhnen, dann ein Klaps, gefolgt von einem kurzen Schrei unterbrach die Spannung, aber nur für einen Moment. Es dauerte noch eine Weile, bis die Bademutter ihren Kopf durch die Tür steckte.

„Es ist ein gesunder Knabe. Geduldet euch noch ein wenig. Der Mutter geht es auch gut.“ Dann schloss sich die Kammertür wieder und die davorstehenden schauten sich freudig, aber auch verdutzt vom Verhalten der Hebamme an.

„Ein Brüderchen, endlich habe ich ein eigenes Brüderchen“, freute sich Engel. Dabei strahlte sie über alle vier Backen und streckte ihrer älteren Schwester heimlich die Zunge entgegen.

Die Eltern beschlossen den Knaben Johann taufen zu lassen, nach dem seligen Onkel.

 

Dass dieser Knabe, über 300 Jahre später als Stammvater eines sehr umfangreichen Familienzweiges gelten würde, konnte damals keiner seiner Eltern ahnen.

 

Drei Jahre später brachte Gretchen erneut eine Tochter zur Welt, die sie Margaretha taufen ließ. Es war ihr fünftes, gesund geborenes Kind. Bei jeder Geburt hatte sie Angst, dass sie im Kindbett, oder in der Geburt selbst sterben könnte, wie zwei ihrer jungen Nachbarinnen im letzten Jahr.

Nach jeder geglückten Geburt danke sie dem Herrgott in leisen Gebeten daheim, wenn die anderen nicht im Haus, oder im Gottesdienst in Sottrum waren. „Das ist ungerecht, Herr“, hatte sie immer und immer wieder ihrem Gott vorgeworfen, weil sie als Wöchnerin 6 Wochen als unrein galt, somit nicht am Kirchgang, oder der Kindstaufe ihrer Kinder teilnehmen durfte. Doch sie fügte sich ihrem Schicksal, wie viele andere Frauen ihrer Zeit.

 

***

1698

Die Burg Rotenburg

 

Der Abgesandte der schwedischen Regierung aus Stade besuchte die große Baustelle in Rotenburg und stand mit dem Amtmann vor dem fast fertigen Festungswerk. „Wann meint ihr, ist der Drost wieder wohlauf und kann mich empfangen?“, fragte der Abgesandte mit einer ausladenden Handbewegung und hochgezogenen Augenbrauen, der sich nicht Ebenen gerecht aufgenommen fühlte, weil ihn der zweite Beamte und nicht der Drost persönlich empfing.

„Herr, das kann ich bedauerlicherweise nicht sagen, bin mir aber sicher, dass er es mit Freude tun wird, sobald es sein Zustand zulässt“, war seine höfliche Antwort.

Sie schauten sich gemeinsam den Fortschritt des Bauwerks an, dass den schwedischen Anspruch auf dieses Land nur noch mehr festigen sollte. Schließlich waren für diese dickfälligen Kerle eine Menge schwedischen Bluts in vielen Schlachten geflossen, es war sogar ihr König gefallen, dachte er herablassend auf sein Gegenüber.

 

Währenddessen huschten die aus Stade mitgebrachten Beamten und Fachleute eifrig zwischen den Gerüsten und Mauern umher, das Werk zu begutachten und um dem Abgesandten später Bericht erstatten zu können.

Dem Drost war diese Visitation, diese Überwachung so sehr zuwider, dass er mit voller Absicht seinen Beamten vorgeschickt hatte, diesen überheblich auftretenden „schwedischen Beamtentölpel“, wie er ihn in Gedanken bezeichnete, zu begleiten.

„Erfindet eine Ausrede, ich will diesen bürgerlichen nicht empfangen, geschweige denn, ihn bewirten“, ordnete der Drost an, der zwar von niederem Adel war, aber immerhin adelig.

So kam es, dass in der Nähe der Baugerüste ein Tisch zur Bewirtung des feinen Herrn aus Stade aufgestellt und mit allerlei üppig wirkender Verpflegung gedeckt war, an dem die beiden Beamten Platz nahmen.

Die wirklich guten Sachen waren selbstverständlich im Arsenal und im Keller geblieben. Die Anordnungen des Drosten waren eindeutig.

 

„Von hier aus hat man einen guten Blick auf die Anlage und die Baustelle. Erfrischt Euch, trinkt und esst“, forderte der Amtmann den Stader Besucher mit ein wenig übertriebener Freundlichkeit auf.

Der Angesprochene ließ sich trotz der ihm entgegengebrachten Unfreundlichkeit nicht lange bitten. Für die hageren und mit Mauerstaub bedeckten Gestalten, die auf der Baustelle ihrer körperlich schweren Arbeit nachgingen, wirkte diese Szene eher bizarr.

„Was sind das für Arbeiter?“, wollte der Auswärtige wissen.

„Es sind die hiesigen Maurer und Handwerker, aber auch die Bauern die hier ihre Hand- und Spanndienste ableisten.

Wenn ihr mögt, erzähle ich euch ein wenig von der Geschichte dieser Feste und des Fleckens?“, bot der sehr erfahrene Amtmann an.

Unweit von diesem Tisch waren Höperhöfener Bauern unter der Leitung von Claus Bostelmann dabei, einen Graben auszuheben und zu befestigen. Durch die Nähe zu den beiden Hohen Herren, und der gerade stattfindenden Mittagspause, konnten sie jedes Wort hören.

„Oh, ja, berichtet mir davon. Bis meine Berater fertig sind, die übrigens keine Pause machen, fließt noch viel Sand durch die Sanduhr“, war die unterschwellig mit einem Vorwurf versehene Antwort.

Die Verärgerung darüber, dass er hier und nicht an der Tafel des Drosten sitzen musste, merkte man ihm sichtbar, aber auch hörbar an.

„Ich zahle es diesem Pack zurück“, sagte er in Gedanken zu sich. Schließlich hatte er ja noch einen Bericht im Namen der Krone anzufertigen, und den wusste er schon recht strafend für dieses Verhalten zu formulieren.