Die Mörder kommen leise: Drei Krimis - Horst Bieber - kostenlos E-Book

Die Mörder kommen leise: Drei Krimis E-Book

Horst Bieber

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  • Herausgeber: Alfredbooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Die Mörder kommen leise: Drei Krimis von Horst Bieber Der Umfang dieses Buchs entspricht 746 Taschenbuchseiten. Marlene Schelm, genannt Lene, ist eine tüchtige aber auch eigenwillige Erste Kriminalhauptkommissarin in der Mordkommission. Ist es wirklich nur ein Zufall, dass die letzten drei Fälle auf ihrem Schreibtisch, sie an die Umstände erinnern, wie vor 14 Jahre ihre Tochter Tanja verschwunden ist? Selbst heute sitzt der Schmerz noch tief. Die Wunde will einfach nicht heilen. Ihre Kollegen vermuten, dass die Kommissarin sich deshalb hinter ihre Arbeit versteckt, damit man ihr nicht vorwerfen kann, die Suche nach ihrer Tochter vorschnell aufgegeben zu haben. Als man ihr aus heiterem Himmel und ohne stichhaltige Begründung einen Fall wegnehmen will, setzt sie dickköpfig alles auf eine Karte und ermittelt auf eigene Faust und nur mit Hilfe weniger Freunde hartnäckig weiter. Unversehens stolpert sie damit aber auch in die große Politik und gerät damit in einen Sumpf aus Intrigen und Gewalt, doch Lene will sich davon nicht einschüchtern lassen, selbst wenn sie dafür den Polizeidienst quittieren müsste. Dieses Buch enthält folgende drei Krimis: Die Kommissarin gibt auf Mord beginnt im Herzen Erben nicht erwünscht

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Seitenzahl: 880

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Die Mörder kommen leise: Drei Krimis

Horst Bieber

Published by BEKKERpublishing, 2016.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Die Mörder kommen leise: Drei Krimis

Copyright

DIE KOMMISSARIN GIBT AUF

Personenverzeichnis

Teil I

Teil II

Teil III

MORD BEGINNT IM HERZEN

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

Erben nicht erwünscht

Personen:

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Sechster Tag

Siebter Tag

Achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Elfter Tag

Zwölfter Tag

Dreizehnter Tag

Vierzehnter Tag

Fünfzehnter Tag

Sechzehnter Tag

Siebzehnter Tag

Achtzehnter Tag

Neunzehnter Tag

Zwanzigster Tag

Epilog

Die Mörder kommen leise: Drei Krimis

von Horst Bieber

Der Umfang dieses Buchs entspricht 746 Taschenbuchseiten.

Marlene Schelm, genannt Lene, ist eine tüchtige aber auch eigenwillige Erste Kriminalhauptkommissarin in der Mordkommission.

Ist es wirklich nur ein Zufall, dass die letzten drei Fälle auf ihrem Schreibtisch, sie an die Umstände erinnern, wie vor 14 Jahre ihre Tochter Tanja verschwunden ist?

Selbst heute sitzt der Schmerz noch tief. Die Wunde will einfach nicht heilen.

Ihre Kollegen vermuten, dass die Kommissarin sich deshalb hinter ihre Arbeit versteckt, damit man ihr nicht vorwerfen kann, die Suche nach ihrer Tochter vorschnell aufgegeben zu haben.

Als man ihr aus heiterem Himmel und ohne stichhaltige Begründung einen Fall wegnehmen will, setzt sie dickköpfig alles auf eine Karte und ermittelt auf eigene Faust und nur mit Hilfe weniger Freunde hartnäckig weiter.

Unversehens stolpert sie damit aber auch in die große Politik und gerät damit in einen Sumpf aus Intrigen und Gewalt, doch Lene will sich davon nicht einschüchtern lassen, selbst wenn sie dafür den Polizeidienst quittieren müsste.

Dieses Buch enthält folgende drei Krimis:

Die Kommissarin gibt auf

Mord beginnt im Herzen

Erben nicht erwünscht

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: ALFREDBOOKS, CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]  

DIE KOMMISSARIN GIBT AUF

von Horst Bieber

Marlene Schelm, genannt Lene, ist eine tüchtige aber auch eigenwillige Erste Kriminalhauptkommissarin in der Mordkommission.

Ist es wirklich nur ein Zufall, dass die letzten drei Fälle auf ihrem Schreibtisch, sie an die Umstände erinnern, wie vor 14 Jahre ihre Tochter Tanja verschwunden ist?

Selbst heute sitzt der Schmerz noch tief. Die Wunde will einfach nicht heilen.

Ihre Kollegen vermuten, dass die Kommissarin sich deshalb hinter ihre Arbeit versteckt, damit man ihr nicht vorwerfen kann, die Suche nach ihrer Tochter vorschnell aufgegeben zu haben.

Als man ihr aus heiterem Himmel und ohne stichhaltige Begründung einen Fall wegnehmen will, setzt sie dickköpfig alles auf eine Karte und ermittelt auf eigene Faust und nur mit Hilfe weniger Freunde hartnäckig weiter.

Unversehens stolpert sie damit aber auch in die große Politik und gerät damit in einen Sumpf aus Intrigen und Gewalt, doch Lene will sich davon nicht einschüchtern lassen, selbst wenn sie dafür den Polizeidienst quittieren müsste.

Personenverzeichnis

Marlene (Lene) Schelm (51) Erste Kriminalhauptkommissarin in Tellheim

Josef Kimmig (41) Hauptkommissar im Referat 11

Verena Kimmig, geborene Zopf, Josefs Ehefrau, Laras Mutter

Harald Sturm (35) Oberkommissar im Referat 11.

Jule Springer(26) Kommissarin im Referat 11

Jochen Pauly (52) Lenes Freund, verheirateter Geschäftsführer und Berliner Lobbyist einer industriellen Vereinigung mit guten Beziehungen zur Politik

Jörg Steiner (48) Direktor der Tellheimer Kriminalpolizei

Prof. Nadine Golowski (45) Steiners Freundin und Leiterin der Rechtsmedizin, als "das Blonde Gift" bekannt

Angelica Moretti (19) Mord-Opfer, Azubi in der Firma (Steuerungs- und Regelungstechnik Stureg KG und Amateurtänzerin

Lara Kimmig (17) Josefs Tochter und eine begabte Turnerin

Paul Hase (33) Staatsanwalt

––––––––

Alle Namen und Taten, Firmen und Organisationen, Städte und Kanäle, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären also rein zufällig.

Das Manuskript wurde vor der Wahl Rohanis zum iranischen Präsidenten im Jahr 2013 abgeschlossen. Ob es nicht mehr aktuell ist, muss, so lange Chamenei noch lebt, die Zukunft zeigen.

Teil I

So viele Pilze wie in diesem Jahr hatte es lange nicht mehr gegeben, und seit die Rundschau jeden Tag einen essbaren oder einen giftigen Pilz mit Bildern, Zeichnungen und Beschreibungen ausführlich vorstellte, zogen bei dem anhaltend schönen Wetter ganze Heerscharen, bewaffnet mit Messer, Zeitungsseiten und Körbchen, in die sich allmählich herbstlich bunt verfärbenden Wälder.

Es grenzte deshalb an ein Wunder, dass der in einer Senke des Lantener Forstes versteckte Wagen erst so spät entdeckt wurde. Das junge Paar hatte in erster Linie einen Platz gesucht, an dem es alleine war, und er hätte nie behauptet, dass beide so viel Zeit auf das Sammeln von Pilzen verwendeten wie auf das Knutschen, was seiner Freundin sehr recht war. Sie traute ihren Pilzkenntnissen trotz Rundschau nicht, umarmte lieber ihren Freund als sich nach Pilzen zu bücken, und sie hatten sich vorgenommen, vor der Heimfahrt ihre Körbchen einem der Sachverständigen zu zeigen, die an den Parkplätzen kostenlos alle Pilze begutachteten und die gefährlichen aussortierten.

Dem jungen Mann fiel auf, dass der in die Jahre gekommene Opel noch gültige Kennzeichen besaß und laut Plakette erst vor einem Monat beim TÜV gewesen war. Also verständigte er über Handy die Polizei, und die Streife rief einen Abschleppdienst. Der Methusalem war auf einen Bruno Krawinke zugelassen, und als ein Trupp auf dem Abstellplatz das Auto durchsuchte und auch den Kofferraum öffnete, musste die Polizei ein zweites Mal anrücken. Bruno Krawinke würde seinen Wagen nicht mehr vermissen, er lag mit einem Kopfschuss im Kofferraum und war nach erster Schätzung des Polizeiarztes vor knapp vier Wochen ermordet worden.

Marlene Schelm, Erste Hauptkommissarin im Referat 11, drehte sich schnell zur Seite. "Scheußlich", murmelte sie, und das war milde ausgedrückt.

"Widerlich", verbesserte ihr Kollege Josef Kimmig sofort. Er arbeitete noch nicht so lange im Referat 11, der früher so genannten Mordkommission, und hatte noch nicht so viele Mordopfer besichtigt wie seine Chefin Marlene Schelm.

Dr. Ruff blieb sachlich. "Männlich, um die fünfzig, schwarze Haare, dunkelbraune Augen. Zähne noch sehr ordentlich. Keine auffälligen Merkmale, bis auf" - er drehte den unbekleideten Leichnam zur Seite, so dass der linke Oberarm besser sichtbar wurde - "diese Tätowierung." Ein kleiner Dreimaster unter voller Besegelung. Ungewöhnlich.

Wenn der Mann ein kurzärmeliges Shirt trug, war die Tätowierung nicht zu sehen, aber Männer kamen gelegentlich in die Lage, wie Dr. Ruff spottete, ihre Shirts auszuziehen und das nicht allein im dunklen Schlafzimmer, sondern auch vor Zeugen.

"Sie denken natürlich an weibliche Zeugen", meinte er vorwurfsvoll zu Lene. Dr. Lothar Ruff war, was sich herumgesprochen hatte, ein womanizer, ledig und gut aussehend, der es aber nicht liebte, wenn man darauf anspielte. "Äußerlich deutet nichts darauf hin, dass der Mann schwul war", knurrte er, als Lene mokant lächelte.

"Vielen Dank, verehrter Medizinmann."

"Also ab zum Blonden Gift?"

"Von mir aus."

Das "Blonde Gift" war Professor Nadine Golowski, Leiterin der Tellheimer Rechtsmedizin, eine so tüchtige wie auffällige Blondine und seit gut einem Jahr die Freundin des Direktors der Tellheimer Kriminalpolizei, in dessen Hörweite kein Kollege mehr wagte, einen Blondinenwitz zu erzählen. Die Spurensicherung würde noch Stunden zu tun haben; musste sich vor allem im Lantener Forst die Senke ansehen, in der das Auto gestanden hatte. Josef Kimmig und Lene Schelm würden in die Mittelburgstraße 44 fahren; diese Adresse war auf den Fahrzeugpapieren angegeben, die im Handschuhfach gelegen hatten. Der Zustand der Türschlösser und des Zündschlosses sprach dafür, dass der Wagen mit den regulären Schlüsseln die etwa 50 Kilometer in den Lantener Wald gefahren worden war. Diese Schlüssel hatten sie nicht gefunden, auch keine Haus- oder Wohnungsschlüssel. Und noch stand nicht fest, dass der Tote wirklich Bruno Krawinke war. Staatsanwalt Paul Hase versprach, bis zum bitteren Ende dabei zu bleiben, was, wie Lene Schelm sehr wohl wusste, viel damit zu tun hatte, dass er dann mit Lenes jüngster Kollegin, der Kriminalkommissarin Jule Springer, ohne Aufsicht ihrer Chefin flirten konnte. Die hübsche und flotte Jule hatte dagegen offenkundig nichts Grundsätzliches einzuwenden, und Hase war ein sehr ordentlicher und respektabler Junggeselle.

Die Mittelburgstraße 44 stellte sich als ein zwölfstöckiges Hochhaus mit über 70 Klein- und Kleinstwohnungen heraus. Es gab einen Hausmeister im Souterrain, Emil Sklarek, der sie ungnädig ob der Störung seines Feierabends empfing. "Bruno Krawinke? Ja, der wohnt hier, aber er ist nicht da, der ist weggefahren."

"Wissen Sie zufällig, wohin?"

"Mir hat er gesagt, er wolle nach Papenburg, um sich dort eine Wohnung oder Unterkunft zu suchen."

"Warum denn das?"

"Bruno ist arbeitslos und hat zum 1. Januar auf der Meyerwerft einen neun Job gefunden. Sobald er eine feste Bleibe hat, will er mir schreiben, damit ich ihm seine Sachen nachschicken kann."

Lene kannte die Meyerwerft aus dem Fernsehen. Sie baute große Kreuzfahrt-Schiffe, die nur mit Mühe über enge Kanäle bei auflaufendem Wasser die See erreichten. Lene hasste Kreuzfahrten und fröstelte schon bei dem Gedanken, mit mehreren hundert Menschen auf einem Schiff eingesperrt zu sein. "Schwimmende Gefängnisse" nannte sie die Kreuzfahrtschiffe.

"Was heißt nachschicken?", wollte Kimmig wissen.

"Er ist nur mit dem Nötigsten nach Papenburg gefahren, die meisten Sachen liegen noch hier im Keller."

Lene schaute Sklarek scharf an: "Sie haben sich gut mit Krawinke verstanden?"

"Aber ja. Schließlich ist er Handwerker, der sein Fach versteht und ich habe hier immer gut zu tun. Hilfe wird dankbar angenommen, also hat er mir geholfen, und ich habe dafür gesorgt, dass wir bei der Arbeit nicht verhungerten und nicht verdursteten."

Das kam so trocken und überzeugend heraus, dass Lene lachen musste.

"Hat er denn inzwischen eine feste Bleibe in Papenburg gefunden?"

"Das weiß ich nicht, geschrieben oder angerufen hat er jedenfalls noch nicht."

"Aber er ist doch jetzt über drei Wochen fort."

"Ja. Wundert mich auch. Aber bis heute kein Lebenszeichen, kein Anruf, keine Adresse, an die ich seine Sachen schicken soll."

Kimmig hatte mit seiner Digitalkamera ein Porträtfoto des Toten gemacht und holte die Aufnahme nun auf das Display: "Ist das Bruno Krawinke?"

Sklarek schnappte erschrocken nach Luft und schaute sich die Aufnahme lange an. Dann nickt er vorsichtig: "Sieht so aus, ja, aber was ist ..."

"Wir haben die Leiche heute im Kofferraum eines Autos gefunden, das offenbar mehrere Wochen im Lantener Forst gestanden hat."

"Mehrere Wochen?"

"Ja, sieht so aus. Also, ist das der Mieter Bruno Krawinke?"

"Ich fürchte, ja, aber bei diesem kleinen Bild bin ich nicht sicher und möchte mich nicht festlegen." Das war verständlich.

"Herr Sklarek, ich würde mir gern mal die Sachen anschauen, die Sie für ihn aufheben. Und vorher würden wir gerne einen Blick in Krawinkes Wohnung werfen. Ausgezogen ist er noch nicht?"

"Nein, er hat wie alle Mieter drei Monate Kündigungsfrist zum Quartalsende. Die Hausverwaltung hat mir gemailt, dass seine Kündigung fristgerecht eingegangen ist und er am 31. Dezember die leere Wohnung verlassen haben will."

"Dann können wir uns also darin mal umsehen?"

"Kein Problem, können wir sofort machen. Kommen Sie doch mit!"

Aus der Werkstatt führte eine Tür auf einen schmalen Gang, an dem alle Räume zur Hofseite lagen, eine Werkstatt, ein Lagerraum für Handwerkermaterial, eine Toilette, ein schmales Duschbad und eine "Notunterkunft", wie Sklarek spottete, mit einem Bett und einem Schrank.

Lene knurrte: "Die sollen arbeiten, nicht schlafen."

"Wir benutzen es als Sanitätsraum, wenn sich ein Handwerker mal so verletzt, dass wir den Krankenwagen rufen müssen." Nach einer Pause fügte er griesgrämig hinzu: "Außerdem penne ich hier ganz gerne mal über Mittag oder so, wo mich keiner stören kann." Das war deutlich.

"Sie sind nicht verheiratet?"

"Nein", sagte er bissig, "ich muss meine Bettwäsche selber waschen."

Lene grinste und hielt den Mund, um den aufgebrachten Emil nicht weiter zu reizen.

Alle Fenster dieser Souterrainräume saßen zwar hoch unter der Decke, aber alle Räume bekamen Tageslicht. Hinter der "Notunterkunft" gab es eine Tür nach draußen, sieben Stufen führten in den Hof hoch. Eine Stahltür am Ende des schmalen Ganges öffnete sich in die Tiefgarage, und neben den beiden Fahrstühlen gab es noch eine weitere Tür, die zum Keller auf der anderen Seite der Tiefgarage führte. Sklarek schaltete die helle Neon-Deckenbeleuchtung an und brachte Lene und Kimmig zu einem Raum, der mit Holz-Verschlägen aufgeteilt war. Dort lagen hinter Lattentüren auf dem Boden mehrere große weiße Plastiktüten oder -säcke, aus festem undurchsichtigem Material, die alle aussahen, als wären sie staub- und feuchtigkeitsdicht verschweißt.

"Stimmt!", nickte der Hausmeister auf Lenes Frage, "hier verdreckt alles im Handumdrehen, und deswegen stecke ich alle Sachen, die hier unten lagern sollen, in feste Plastiksäcke, die ich verschweiße." In der Tat lagen rundherum Säcke mit allen möglichen Dingen, vielleicht wertvolle Gegenstände, aber wahrscheinlich auch eindeutig wertlose, und bei einigen Säcken hatte Lene sofort den Verdacht, dass der Eigentümer sie dem Hausmeister zur "Aufbewahrung" anvertraut hatte, damit der später das Gerümpel entsorgte. Höchstwahrscheinlich kam ein fettes Trinkgeld für Hausmeister Emil immer noch billiger als die Sperrmüll-Abfuhr, die man in Tellheim eigens bestellen und bezahlen musste. Aber auf allen Säcken klebten feste Schildchen mit dem Namen des Eigentümers und der Nummer der Wohnung, aus der die Reste stammten. Bruno Krawinke hatte in 505 gewohnt.

"Wenn ich das so sehe, dann hat Krawinke fast alle seine Sachen hiergelassen", meinte Kimmig, und Sklarek nickte: "Stimmt! Außerdem hatte er nicht viel, arbeitslos - verstehen Sie? Die lassen einem nicht viel, wenn man mal auf Hartz Vier gelandet ist. Deswegen hat Bruno verscherbelt, was sich zu Geld machen ließ, und das lieber bar mitgenommen, als es auf einer Bank liegen zu lassen, wo jedes Amt sich sofort bedienen kann."

Kimmig hakte sofort ein: "Soll das heißen, Krawinke hatte eine Menge Bargeld bei sich, als er Richtung Nordsee losfuhr?"

"Sicher. Mehrere tausend Euro, würde ich mal denken."

Geld hatten sie bei der Leiche und im Auto nicht gefunden. Kimmig fragte deshalb gleich: "Wie war der Bruno denn so? Hätte er angehalten und Anhalter mitgenommen?"

"Doch, sicher, klar. Und je hübscher die Anhalterin und je kürzer das Röckchen, desto eifriger hätte Bruno angehalten."

"Angst hatte er also nicht?"

"Nicht der Bruno. Wenn Sie mich fragen: In manchen Dingen war er ausgesprochen leichtsinnig."

Lene bedankte sich bei Sklarek und fuhr mit ihm in den fünften Stock. Warum sie nachschaute, ob es auf der Tafel mit den Knöpfen für die einzelnen Etagen auch einen Schlüssel für eine D-Zug-Fahrt ohne Zwischenstopp gab, wusste sie nicht. Immerhin war denkbar, dass Krawinke in seiner Wohnung erschossen und dann mit seinem Auto im Lantener Forst "entsorgt" worden war. Doch bis jetzt stand ja noch nicht fest, wo der Mann im Kofferraum ermordet worden war. Hier im Haus, und dann mit einer D-Zug-Fahrt in die Tiefgarage gebracht?

Nummer 505 stellte sich als eine etwas vergrößerte Einraumwohnung heraus. Ein Wohnzimmer mit einer Schlafnische, in der ein Bett stand, eine Miniküche, eine schlauchartige Diele und ein Bad.

"Was hat Krawinke eigentlich gemacht, bevor er arbeitslos wurde?"

"Er ist gelernter Schlosser und hat bei Ellerding & Fels in der Egerländer Straße gearbeitet."

Lene hatte das Gefühl, als ohrfeige man sie zuerst und boxe ihr dann in den Magen. "Wo?", keuchte sie. Kimmig war die Panik in ihrer Stimme nicht entgangen, er sah sie unruhig und aufmerksam von der Seite an.

Sklarek hatte nichts bemerkt: "Ellerding & Fels in der Egerländer Straße", wiederholte er ungerührt. Lene zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch. "Das Geschäft kenne ich." Kimmig musterte sie ungläubig, er hatte den gepressten Ton genau registriert, aber sie tat im Moment so, als sei alles in Ordnung, und deshalb verschob er seine Fragen.

Die Wohnung war noch nicht verlassen, aber offenbar waren viele Teile schon in den Keller geschafft oder verkauft worden, das Wohnzimmer wirkte kahl und ungemütlich. Auch in der Küche fehlten alle üblichen Geräte, von der Kaffeemaschine bis zum Kochtopf. Das Bett in der Wohnzimmernische war abgezogen und Krawinke hatte die Bezüge entweder zum Waschen gegeben oder ebenfalls in einen der weißen Kunststoffsäcke im Keller gepackt. Teppiche und Bilder gab es nicht und hatte es wohl auch nie gegeben. Vor dem Bett hatte sich ein scheußlicher Fleck im abgetretenen Teppichboden ausgebreitet. Sklarek seufzte: "Hier muss gründlich renoviert werden."

Der Meinung war Lene auch.

Kimmig nickt ihr zu und verzog sich Richtung Bad, das ebenfalls bessere Tage gesehen hatte. Neben dem Waschbecken hing ein dünnes Handtuch über einer Stange; das Seifenstück hätte in einen Kinderkaufladen gepasst und erst als Kimmig sich die Hände mit seinem Taschentuch trocknete, warf er einen Blick in die Badewanne. Jetzt bekam er seinen Schlag in den Magen, der ihm auch die Luft nahm. Das war doch ... er ging ungläubig näher, nein, er hatte sich nicht getäuscht, der weiße, offensichtlich zugeschweißte Kunststoffsack enthielt einen menschlichen Körper. Er riss die Tür auf und brüllte: "Lene!"

Sie kam sofort, gefolgt von Sklarek, der sich auch ins Bad drängen wollte, bis sie ihn energisch zurückwies.

"Was ist denn das, Josef?"

"Ich habe keine Ahnung, eine Frau, ganz sicher tot." Die weiße Plastik lang wie eine zweite Haut eng am nackten Körper, auch vor Nase und Mund.

Sklarek ließ sich nicht länger fernhalten und drängte ins Bad, bis er einen Blick auf den Sack in der Wanne werfen konnte. Das Gesicht der Toten war nicht klar, aber einigermaßen deutlich zu erkennen, und der Hausmeister schrie leise auf: "Das ist doch ... das ist doch ... verdammt, das ist doch Carmen."

"Wer ist Carmen?", fragten Lene und Kimmig fast gleichzeitig.

"Brunos neue Freundin."

"Carmen und wie weiter?"

"Tut mir leid, das weiß ich nicht. Er hat sie mir nur als Carmen vorgestellt."

Weil sich Tote selten in einen Sack stecken und den anschließend evakuieren und luftdicht verschweißen, musste Lene die Truppe noch einmal aufscheuchen. "Mittelburgstraße 44, Wohnung 505. Tut mir leid, Kollegen, aber es lässt sich nicht ändern. Jule und ihr Staatsanwalt sollen mitkommen."

Als die Mannschaft eintraf, von Sklarek unten in Empfang genommen und dann zur Wohnung 505 gebracht, hatte Lene und Josef bei einer flüchtigen Durchsuchung der Wohnung nichts gefunden, was zur Identifizierung der Leiche beitragen konnte. Ihre Oberbekleidung und die Wäsche waren verschwunden.

Staatsanwalt Paul Hase bewährte sich trotz seiner Proteste über die Menge an Arbeit als ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Lene, die erst seit kurzem mit ihm zu tun hatte, schätzte ihn auf erste Hälfte Dreißig, recht groß, sportlich, etwas schlaksig, beweglich und wissbegierig. Er gab unumwunden zu, dass er bislang nur eine Gattung von Tatorten kannte, Büros und Banken, ab und zu auch einmal einen klimatisierten Raum mit Servern. Bisher hatte er nur in einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft - Aktien- und Anlagebetrug - gearbeitet. Blut kannte er nur aus Fernseh-Krimis, dafür konnte er sehr amüsant aus seiner Referendarzeit erzählen, während der er auch in einer Staatsanwaltschaft gearbeitet hatte, zu der ein großes ländliches Einzugsgebiet gehört hatte. Bei Pferdediebstahl von der Weide, Wäschediebstahl von der Leine, Entführung von Zuchtbullen aus Ställen, Diebstahl von tiefgekühltem Bullensamen, Wochenendschlägereien, "Ringeln" von Obstbäumen durch feindliche Nachbarn und Ehevermittlungsbetrug sei er recht gut zu gebrauchen, sogar bei Fällen von Sodomie, was er nur anbieten wolle, damit er sich nicht ganz so überflüssig vorkomme. Lene betrachtete ihn amüsiert und registrierte erstaunt, dass die forsche, gelegentlich schnippische Jule fasziniert an seinen Lippen hing, was Paul Hoppelhase durchaus bemerkte und gern erwiderte. Seidel, der den Trupp der Spurensicherer leitete, erteilte ihm geduldig eine erste Lektion in Tatortauswertung nach Augenschein, von Jule ließ sich der Hase viele Dinge sehr geduldig erklären. Lene sagte nichts. Wenn aus der Bekanntschaft Paul Hase - Jule Springer mehr werden sollte, war es gut, wenn beide die Arbeitsbedingungen des andern kannten. Hase konnte sich sehr ernsthaft mit den Spusileuten unterhalten, die ihn hinterher einstimmig als "okay" bezeichneten, und Lene weihte ihn in die Gemeinheiten der Gerichtsmedizin ein.

"Trauen Sie sich zu, eine Leichenöffnung als Zeuge durchzustehen?"

"Nein", sagte er offen. "Wenn Sie mir das ersparen könnten ..."

"Auch, wenn ich Ihnen verrate, dass die sehr beachtliche Pathologin den zutreffenden Spitznamen das 'Blonde Gift' trägt?"

"Auch dann nicht." Wahrscheinlich bevorzugte er brünett, so wie Jules Haarfarbe. Lene hatte kastanienbraun-rötliche Haare, auf die sie sehr stolz war.

Seidel und seine Leute packten zusammen, die Kollegen aus dem Keller riefen an, dass sie alle Säcke von B. Krawinke/505 aufgeladen hatten, Lene versiegelte die Wohnungstür von 505 und nahm Hase danach mit zu Sklarek, der es sich mit Bier und einem großen Ring kalter Fleischwurst und trockenen Brötchen in seinem Souterrain-Aufenthalts-Büroraum bequem gemacht hatte. Er blieb dabei, dass er nicht genau wisse, wer die Tote in 505 sei. Brunos neue Freundin Carmen. Lene insistierte, weil sie das unbestimmte Gefühl hatte, dass Emil etwas verschweigen wollte: Wenn er so gut mit Krawinke bekannt war, muss der dem Hausmeister doch mal eine Andeutung gemacht haben. Endlich geruhte Sklarek, sich an etwas zu erinnern, was Lene weiterhelfen mochte.

Krawinke kannte von früher aus seiner alten Autowerkstatt eine Kollegin, mit der er ab und zu gebumst hatte. "Aber fragen Sie mich nicht, wo." - "Der Name? Er hat sie immer nur Gerda genannt." - "Wann ich zum letzten Mal in der Wohnung gewesen bin? Das Datum weiß ich nicht mehr, wir haben ein paar Bierchen geschluckt, er hatte eingeladen, weil er auf einen Bewerbungsbrief eine positive Antwort bekommen hatte. Wir haben dann im Autoatlas erst mal nach Papenburg gesucht, so ganz hat ihm das nicht gefallen, das wäre ja doch verdammt weit weg. Ob er da hingehen solle. Na ja, ich habe ihm gut zugeredet, ALG 2 war vorbei und Hartz vier ist auf Dauer auch nicht das Paradies, trotz der generösen letzten Erhöhung um sage und schreibe zehn Euro. Und sein angespartes und vor dem Amt verborgenes Geld würde auch nicht ewig reichen. Dann haben wir besprochen, dass er seine Sachen vorerst mal hier einlagern kann, er hat sich Säcke besorgt und das Schweißgerät von mir geliehen und sich Mitte September verabschiedet."

"Dann kann man also nicht sagen, dass er Hals über Kopf seine Wohnung verlassen hat?"

"Nein, kann man nicht. Ich hätte ihm sogar beim Packen und Wegräumen geholfen, aber er wollte nicht, und deswegen bin ich auch nicht mehr zu ihm in die Wohnung gegangen. Soviel ich weiß, hat er auch ganz ordentlich per Brief bei der Verwaltung gekündigt, die hat mich angemailt und entschieden, nach so langer Zeit müsste 505 mal wieder renoviert werden. Sie würden Anfang Januar die Vertragsfirma schicken."

Hase wollte noch wissen, ob Emil nicht geholfen habe, die verschweißten Sachen aus 505 in den Abstellkeller zu schaffen. Nein, das hatte Bruno alleine erledigt, die Säcke mit dem Fahrstuhl heruntergebracht und alleine durch die Garage getragen oder auf einem Einkaufswagen aus dem Supermarkt an der Ecke transportiert. Emil grinste wissend: "Ich glaube, einige Sachen möchte er gar nicht wiederhaben. Bruno hat Anzüge getragen, die schon Abraham in den Müll gegeben hatte."

Lene fuhr nicht mehr ins Präsidium, sondern überließ es Jule, die Leiche im Plastiksack in der Gerichtsmedizin anzukündigen. Sie brauchten vor allem Fingerabdrücke und DNA-Material der beiden Toten. Sklarek hatte darauf beharrt, außer dem Vornamen Carmen nichts weiter von Brunos Freundin zu wissen. Mit Josef Kimmig verabredete Lene, sich morgen um 8 Uhr 30 bei Ellerding & Fels in der Egerländer Straße zu treffen.

Dann konnte sie endlich losfahren und sich zu Hause verkriechen. Sie hatte ihrem Freund Jochen Pauly versprochen, nicht mehr alleine Rotwein zu trinken, aber heute war eine Ausnahme, und als sie den Korken zog, war sie erleichtert, endlich allein zu sein. Es blieb nicht bei einer Flasche, und am nächsten Morgen musste Lene zwei Tabletten einwerfen, um auf die Beine zu kommen und pünktlich vor dem Autohaus einzutreffen. Kimmig wartete schon auf sie.

In der Personalabteilung zeigte man sich nur mäßig erschüttert, als sie berichteten, eine im Lantener Wald gefundene Leiche sei wahrscheinlich Bruno Krawinke. Die junge Frau am Schreibtisch empfand nur wenig Trauer.

"Krawinke scheint nicht sehr beliebt gewesen zu sein", tastete sich Lene vor und die junge Frau zuckte die Achseln. "Ganz richtig. Er war sogar ausgesprochen unbeliebt, ein Großmaul, ungeschützt gesagt, dabei unzuverlässig, unpünktlich und immer bereit, sich vor jeder Arbeit zu drücken. Als wir überlegen mussten, aus Kostengründen Personal abzubauen, stand Bruno von Anfang an ganz weit oben auf der Liste."

"Haben Sie ihm was vorwerfen können? Diebstahl, Betrug, unterschlagenes Material?"

"Nein. Nie. In keiner Form. Und dass er mit den Kunden höflicher umgehen solle, stand ja nicht in seinem Arbeitsvertrag."

"Man hat uns gesteckt, dass er mit einer Kollegin hier aus dem Haus eine Beziehung gehabt habe. Angeblich hat sie mit Vornamen Gerda geheißen."

Die junge Frau lachte laut auf. "Da hat man Sie richtig informiert, Gerda Hallberg."

"Können wir sie sprechen?"

"Gerda ist seit einiger Zeit auch schon nicht mehr bei uns."

"Aber Sie haben doch eine Anschrift und eine Telefonnummer?"

"Aber ja."

"Wenn Sie schon nachschauen - wir hätten gerne auch alles, was Sie über Bruno Krawinke wissen. Lebenslauf, Bild, Zeugnisse. Vor allem sind wir an Verwandten, an seiner Familie interessiert."

"Dann muss ich Sie um einige Minuten Geduld bitten."

Ihr Computer lief schon, sie schaltet einen Drucker ein und eine Minute später summte der los. Zwischendurch diktierte sie Lene die Anschrift und die Telefonnummer der Gerda Hallberg in den Block.

Auf dem Flur vor dem Zimmer der Personal-Sachbearbeiterin begegnete ihnen ein älter, schon etwas gebückt laufender, grauhaariger Mann, der mit einem Gruß an ihnen vorbeiging, dann plötzlich stehen blieb und sich umdrehte. "Frau Schelm. Guten Tag. Haben Sie was von Ihrer Tochter gehört?"

Lene blieb ebenfalls stehen und drehte sich um. Sie brauchte etwas länger, um den Mann wiederzuerkennen und ihre Fassung zurückzugewinnen.

"Herr Lamprecht. Guten Tag, wie geht es Ihnen? Tut mir leid, ich habe Sie nicht gleich erkannt."

"Macht doch nichts, ist ja auch schon einige Zeit her. Vielen Dank, mir geht's ganz ordentlich. Und Ihnen?"

"Danke, ich kann nicht klagen. Nein, von meiner Tochter habe ich nichts gehört."

"Von Arno Grimme also auch nichts?"

"Nein. Wir sind wegen eines früheren Mitarbeiters hier, dessen Leiche wir im Lantener Forst gefunden haben, wegen Bruno Krawinke."

"Ach nee, der schöne Bruno hat den Löffel weggeworfen."

"Sie erinnern sich noch an ihn?"

"Aber ja. Bruno, das Großmaul. Wenn er halb soviel gearbeitet wie gequatscht hätte, wäre er bestimmt schon stinkreich."

"Zuletzt war er arbeitslos und hatte einen neuen Job auf einer Werft im Norddeutschen gefunden."

"Hat er bestimmt erzählt, was? Bruno hat immer viel erzählt, aber es war immer besser, seine Behauptungen mal nachzuprüfen und nicht blind zu glauben. Na, ich muss weiter. Unsere alte Vereinbarung gilt immer noch? Wer zuerst was von Tanja oder Arno hört, meldet sich sofort?"

"Aber natürlich, Herr Lamprecht. Tschüss."

"Tschüss, Frau Schelm. Und alles Gute für Sie."

Auf der Treppe stieß Kimmig sie an: "Du hast mir nie erzählt, dass du eine Tochter hast."

"Bitte, Josef, nicht jetzt und nicht hier. Wir gehen abends mal in die Klause, dann beichte ich alles - okay?"

"Okay. Und jetzt?"

"Ich würde mich gern um Gerda Hallberg kümmern und anschließend mit Nadine sprechen. Es wäre schön, wenn du dich auf der Werft mal nach Brunos Job und seiner neuen Anschrift in Papenburg erkundigen würdest."

Gerda Hallberg, Anfang vierzig, groß und stämmig, musterte Lene ausgesprochen ungnädig. "Kripo? Habe ich was ausgefressen?"

"Wenn ja, dann weiß ich noch nichts davon. Ich suche nach Bruno Krawinke."

"Himmel! Verschonen Sie mich mit dem Arschloch!"

"Was ist passiert?" Man sah Gerda an, dass ihr ein "Das geht Sie gar nichts an" auf der Zunge schwebte, aber Lene schaute sie so fest an, dass Gerda begriff: Um eine Antwort kam sie nicht herum, wobei sie kaum die Zähne auseinanderkriegte.

"Er hat sich eine neue Flamme zugelegt. So mal eben. Mittags hüpfe ich noch zu ihm in die Kiste und am Nachmittag werde ich kalt abserviert und fortgeschickt. Seitdem ist Bruno für mich gestorben."

"Wissen Sie, wer die neue Flamme war, wie sie hieß und wo sie wohnte?"

"Nein, so sehr hat mich das Dämchen nun doch nicht interessiert. Fragen Sie doch mal den Arsch von Emil."

"Wer ist dieser Arsch von Emil?"

An sich war Gerda Hallberg ganz ansehnlich, die Jeans und das weiße Shirt saßen stramm und wer junonische Figuren liebte, kam bei ihr auf seine Kosten, aber die verbindliche Höflichkeit war an ihr ziemlich spurlos vorbeigegangen.

"Na, wer schon. Brunos Freund, dieser Hausmeister."

"Emil Sklarek?"

"Wie der mit Nachnamen heißt, weiß ich nicht. Emil hat die Puppe angeschleppt oder irgendwo aufgegabelt. Und nach allem, was Bruno so erzählt hatte, bevor ich wegen ihr in die Wüste geschickt wurde, war ich eigentlich davon überzeugt, dass Emil an dieser ... Dame mächtig interessiert war. Warum sie von Emil zu Bruno gewechselt ist, also von der Pest zur Cholera, weiß ich nicht. Aber auch Wanzen tauschen ja mal die Personen, von denen sie leben." Lene fand den Vergleich weder passend noch liebenswürdig, aber Gerda blieb dabei, erst recht, als Lene ihr ankündigte, sie würde, weil sie ihn so lange gekannt hatte, einen Toten in der Gerichtsmedizin identifizieren müssen. Die Nachricht, dass Bruno tot sei, erschütterte sie nicht, aber es ärgerte sie, dass sie seinetwegen etwas von ihrer kostbaren Zeit opfern solle. Ihr großer Busen wogte, aber der BH bestand den Belastungstest. Ungeziefer war so lästig wie gewisse Männer.

"Emil hat uns erzählt, Bruno habe einen festen Job gefunden, in Papenburg auf einer Werft."

"Was? Ach du meine Güte, Bruno ist unverbesserlicher Optimist. Er hat den Mindesteinsatz im Lotto gewettet und will dir die Quittung als Sicherheit für einen größeren Bar-Kredit geben." Auch Lene musste grinsen, solche Typen gab es überall, sogar im Polizei-Präsidium. Zu ihrem Erstaunen grinste Gerda zurück, und als Lene, die immer noch auf der Fußmatte stand, einen Schritt vortrat, rückte Walküre Gerda, unwillig zwar, aber sofort zur Seite und ließ Lene eintreten.

"Hat Bruno mal erwähnt, was diese neue Dame beruflich macht?"

"Vielleicht, ich hab's vergessen. Aber wie sie wirklich an ihr Geld kam, musste sie mir nicht erst erklären."

"Wie meinen Sie das?"

"Also, eine Hure, ob Professionelle oder Amateurin, erkenne ich immer und überall, ganz gleich, wie sie sich verkleidet hat." Ob Gerda sich irrte und die Nachfolgerin nur anschwärzen wollte?

"Hatten Sie den Eindruck, dass Bruno seine neue Flamme mit nach Papenburg nehmen wollte?"

"Auch das weiß ich nicht. Als er mir sagte, die Neue sei so viel besser und erfahrener im Bett und unter der Dusche, von der könnte ich noch was lernen, habe ich ihm einen Tritt in die Eier verpasst und bin gegangen, solange er noch ächzte."

"Und wann war dieser heftige Abschied?"

"Woher soll ich das noch wissen. Irgendwann in diesem Jahr."

"Frühling? Sommer, Herbst?"

"Na ja, vielleicht im August oder so." Gerda besaß das bei Zeugen nicht seltene selektive Gedächtnis, sie behielt nur, was für sie nützlich war oder zu sein schien, und Bruno war eindeutig nicht mehr von Nutzen.

"Kennen Sie Emil Sklarek näher?"

"Wenn Sie mit 'näher' meinen, dass ich ihm mal in die Hose gefasst habe, lautet die Antwort: Nein."

Gerda arbeitete inzwischen als Bedienung im Augustiner am Hauptbahnhof und regte sich nicht mehr auf, wenn ihr Gäste unter den Rock fassen oder auf die Pobacken klopften wollten; Hauptsache, das Trinkgeld hinterher stimmte. "Aber Emil? Nein, nie. Diesem Schmierlappen bin ich sofort aus dem Weg gegangen. Instinktiv sozusagen."

Lene staunte über Gerdas entschiedene Ablehnung, wollte sich aber nicht nach dem Grund erkundigen. Wenn er etwas auf dem Kerbholz hatte, sollten sie es - bei diesem nicht so häufigen Familiennamen - in den Akten finden.

"Und wohin Bruno fahren wollte, wenn nicht nach Papenburg, wissen Sie auch nicht?"

"Er war geschieden, seine Ex lebt irgendwo im Ruhrgebiet. Fragen Sie da mal nach. Sie scheint immer noch was für Bruno übrig zu haben."

"Okay, das wär's, Frau Hallberg, vielen Dank. Wie fahren gleich in die Gerichtsmedizin."

Auf der Treppe überlegte Lene. Gerda Hallberg benahm sich so ungeschickt nicht, und wenn sie die Frau aus 505 eine Hure nannte, dann war Lene sogar bereit, das nachzuprüfen. Aber warum musste sich Bruno Krawinke mit einer Prostituierten einlassen, wenn er kostenlos eine Gerda zur Verfügung hatte, die zwar nicht vom Stamme der zarten Elfen geschnitten war, aber doch über die nötigen und wichtigen Reize in größerem Ausmaße verfügte. Suchte Bruno Abwechslung und war er bereit, dafür auch auf seine Gerda zu verzichten? Die, um einmal zum nervus rerum vorzustoßen, sich kosten- und spesenfrei ihrem Bruno ins Bett gelegte hatte, was man von einer Prostituierten normalerweise nicht erwarten durfte - es sei denn, Bruno hatte es schon bis zu ihrem Zuhälter gebracht?

"Hatte Bruno Ihres Wissens irgendwo Geld gebunkert?"

"Ja, etwas. Das hatte er sogar dem Amt verheimlicht. Aber ich weiß nicht, wo und wieviel das war."

Eigentlich war Gerda mit dem Abstecher in die Innenstadt nicht einverstanden, aber Lene ließ nicht locker. Und auf der Fahrt wurde Gerda merklich ruhiger, sogar eine Spur bedrückt. Über einen Toten zu schimpfen, war eine Sache, sich aber vorzustellen, dass man gleich seine Leiche würde genau anschauen müssen, stand auf einem anderen Blatt. Lene bereitete sie absichtlich nicht auf den Geruch vor, der überall in dem alten gekachelten Gebäude schwebte und auch durch gründliches Lüften nicht zu vertreiben war. Beate Stoll, langjährige Mitarbeiterin in der Gerichtsmedizin, nahm sie in Empfang. Die Leiche war hergerichtet, und als Beate das Laken vom Gesicht und vom Oberkörper zurückschlug, nickte Gerda sofort: "Ja, das ist Bruno."

"Prima, vielen Dank, Frau Hallberg, wir machen gleich das Protokoll, dann müssen Sie nicht noch einmal ins Präsidium kommen. Beate, was ist mit der Frau aus 505?"

"Ausgepackt, die Chefin hat noch nicht angefangen. Abdrücke und DNA von beiden sind schon unterwegs."

Gerda Hallberg sträubte sich vergeblich, sie musste sich auch die Leiche aus der Badewanne ansehen. Auch hier reagierte sie sofort: "Ja, das ist Brunos Neue."

"Kein Zweifel?"

"Nein, ganz sicher."

"Immer noch keine Idee, wer sie ist? Oder war?"

"Nein."

Die beleidigte Gerda verzichtete darauf, nach Hause gebracht zu werden, sie unterschrieb die Identifizierungsprotokolle für Bruno und die noch namenlose Tote aus Brunos Badewanne und meinte dann, sie brauche jetzt unbedingt einen oder mehrere klare Schnäpse als Nervennahrung. Lene empfahl ihr die Klause und machte sich auf die Suche nach Professor Nadine Golowski.

Das Blonde Gift - wie immer perfekt geschminkt und gekämmt - hatte nichts Neues zu berichten. Bruno - auf den Namen einigten sie sich - war tatsächlich schon vor etwa vier Wochen durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet worden. Das Geschoss war noch zur Untersuchung bei den Ballistikern. Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, hatte es vorher keinen Kampf gegeben. Weil der Körper in dem verschlossenen Kofferraum gelegen hatte, waren auch nur wenige Insekten auf der Leiche zu finden. "Irgendein Hinweis darauf, wo der tödliche Schuss abgegeben wurde?"

"Nein, liebe Lene."

Nadine grinste vergnügt. Sie war mit Marlene Schelm seit vielen Jahren befreundet, und das Blonde Gift kam dem, was man eine beste Freundin nennen mochte, recht nah. Ihr Verhältnis hatte sich etwas gelockert, seit Nadine mit dem Direktor der Kriminalabteilung des Präsidiums zusammenlebte, der sie mit Beschlag belegte. Lenes Freund Jochen Pauly arbeitete in Berlin, wo er sein Geld als Lobbyist verdiente. Er war verheiratet und konnte Lene nicht so oft sehen, wie sich beide das wünschten. Nadines Geliebter Jörg Steiner und Lenes Freund Jochen Pauly hatten sich zufällig bei einem Essen im Alten Ritter kennengelernt und Jochen war von dem "Blonden Gift" mächtig beeindruckt gewesen, was Lene ihm nicht verübelte. Nadine war das, was man eine Schönheit nannte, nicht nur sexy und attraktiv, sondern etwas, auf das nur das altmodische Wort Schönheit passte und sich außerdem das Adjektiv "makellos" aufdrängte. Seit Steiner erfasst hatte, dass Pauly für Nadine Golowski etwas schwärmte, flirtete er mit seiner, wie er sich ausdrückte, Lieblingshauptkommissarin Lene Schelm, was sie sich gerne gefallen ließ. Die beiden Paare kamen sehr gut miteinander aus und Lene war froh, dass sie vor den Kollegen nicht mehr Versteck spielen musste.

"Wie geht es voran?"

"Bis jetzt sehr ordentlich."

"Bis wann brauchst du den Bericht?"

"Lass dir Zeit. Wir können sowieso erst richtig loslegen, wenn wir wissen, wer die Frau aus der Badewanne ist respektive war."

"Wie kommst du mit dem Häschen zurecht?"

"Sehr gut."

"Jörg ist sehr angetan von ihm. Hase hat den Betrug beim Bau der Philharmonie fast im Alleingang aufgeklärt."

"Und warum ist er aus der Schwerpunkt-Abteilung weggegangen?"

"Er hatte angefangen, sich für die Konkursverschleppung der Polenz-Bank zu interessieren."

"Au weia. Da werden einige unserer Polit-Promis aber schlecht geschlafen haben."

"Eben nicht. Sie wurden im Gegenteil sehr schnell sehr wach und haben den üblichen Druck hinter den Kulissen ausgeübt. Hase hat sich versetzen lassen, als man ihm den Fall wegnehmen wollte."

"Sagt Jörg?!"

"Im Bett und unter der Dusche, ja."

"Ich wünschte, mir würde auch mal wieder einer liebevoll den Rücken abseifen."

"Ich drücke dir die Daumen, wenn ich nicht gerade für dich arbeiten muss."

Lene machte auf dem Weg in ihr Büro einen kleinen Abstecher in die Staatsanwaltschaft. Paul Hase schien ehrlich erfreut, sie zu sehen. Das war bei seinem Vorgänger nicht der Fall gewesen.

"Was gibt es Neues, Frau Schelm?"

"Die Tote aus der Badewanne scheint die Geliebte des Mannes gewesen zu sein, den wir aus dem Kofferraum geborgen haben."

"Zu Lebzeiten der beiden? Entschuldigung, das war ein so dummer wie überflüssiger Kalauer. Soll nicht wieder vorkommen."

Sie winkte ihm zu: "Geschenkt, Herr Hase."

"Aber wenn Krawinke seine Geliebte umgebracht und abgepackt in der Badewanne abgelegt hat, wer hat dann Krawinke erschossen und in den Lantener Forst verfrachtet?"

"Wie lautete der Filmtitel? Der dritte Mann."

"Der tauchte aber erst sehr spät auf - im Film, meine ich."

"Der Film musste mal ein Ende haben. Wir haben Zeit, wir kennen keine Verjährungs- und Einspruchsfristen." Sie nickte Hase zu und ging. In ihrem Referat wartete Josef Kimmig schon auf sie.

Die Klause lag auf der anderen Seite des Merhoff-Platzes. Es war eine ganz normale, etwas schummrige Kneipe, mit einem langen Tresen, ziemlich unbequemen Holzstühlen an weiß gescheuerten Vierertischen, Butzenglasscheiben mit Klappen, die früher, als hier noch geraucht wurde, fast immer geschlossen gewesen waren, aber jetzt, nachdem sich die Klause in eine Nichtraucher-Zone verändert hatte, meistens geöffnet waren. Die Luft war fraglos besser geworden, aber die durchschnittlichen Raumtemperatur dafür spürbar gesunken. Ausgeschenkt wurde Pils, für Altmodische auch Export-Bier, klarer Schnaps vom Fässchen - wer insistierte, bekam auch ein alkoholfreies Getränk oder Kaffee; und weil der Fernsehkommissar Heinz Haferkamp in seiner Stammkneipe, die große Ähnlichkeit mit der Klause aufwies, gerne Buletten mit Senf gegessen hatte, gab es hier jetzt auch Buletten, kalt oder ganz kurz in der Mikrowelle angewärmt. Eine Zeitlang kämpfte Haferkamp mit seinen Buletten gegen Schimanskis Parka. Das hörte ziemlich schnell auf, nachdem Kriminaldirektor Jörg Steiner, an sich ein liberaler Chef, auf einer Feier in einer launigen Rede vorgestellt hatte, wie, warum und wann er den ARD-Hauptkommissar Horst Schimanski längst aus dem Polizeidienst entfernt hätte. Danach gab es wieder mehr Buletten und weniger Parkas in der Klause; der Wirt wollte nie verraten, von wem er die hervorragenden Frikadellen bezog, und die hatten im Verein mit einem sehr ordentlichen Kartoffelsalat manchen Kollegen schon vor dem Absturz bewahrt. Selbst Lene schätzte diese Buletten, warm mit Essiggurke, einem Stück Stangenbrot und Dijon-Senf. Der Wirt hatte sie wegen des Stangenbrots gerne aufgezogen und den Uralt-Witz von dem Gast erzählt, der die Bedienung lobte, heute hätten die Buletten aber ganz besonders gut geschmeckt, worauf sie ihm zuflüsterte, er dürfe sie nicht verraten, aber der Koch habe heute Morgen vergessen, das Hackfleisch in die Bulettenmasse zu geben.

Das Lokal befand sich um diese Zeit wie üblich fest in Polizeihand und war gut besetzt. Viele drehten sich nach Lene und Josef um, als sie eintraten. Und in einigen Gesichtern las Lene nicht nur Erstaunen, sondern auch unverhohlene Missbilligung. Es war nicht das erste Mal, dass man der Kollegin, der Ersten Hauptkommissarin Marlene Schelm aus dem Referat 11, zu verstehen gab, man sei mit ihr nicht einverstanden. Mittlerweile ließ es sie kalt. Und wer versuchte, sie zu mobben, erlebte sein blaues Wunder. Lene schlug sehr hart und ausgesprochen rücksichtslos zurück. Trotzdem steuerte sie mit Josef Kimmig einen Tisch an, an dem man sie nicht belauschen konnte.

"Das Übliche?", erkundigte sich Gerlinde. Sie war nett, flink und hilfsbereit, aber mundfaul, was die Bedienung in einer Kneipe eigentlich nicht sein sollte.

"Ja, zweimal." Lene passte sich schnell an.

"Was war das nun mit dem alten Mann?", drängelte Kimmig.

"Gleich, Josef, sobald Gerlinde wieder gegangen ist."

Die Bedienung setzte ihr Tablett ab. Zwei Bier, zwei klare Schnäpse, zwei Teller mit je einer warmen Bulette, Essiggurke und Besteck. Einmal Senf und zwei Stück Baguette. Zum Wohl."

"Danke, Gerlinde."

Lene war vor Kimmig fertig: "Wir reden ab jetzt im Vertrauen. Und alles, was ich dir erzähle, bleibt unter uns, einverstanden?"

"Versprochen."

"Ich bin zweimal in so einer elenden Situation gewesen; die Kollegen haben ihre Arbeit eingestellt, und ich stand da mit leeren Händen und einem ewig hungrigen Schreihals." Sie hatte seine verwunderte Miene bemerkt und lachte leise.

"Josef, ich habe mit neunzehn Jahren eine Tochter geboren. Unehelich, natürlich. Tanjas Vater war zwei Jahre älter als ich, sah blendend aus, redete wie ein Grammofon, stand auf eigenen Füßen, verdiente gutes Geld und hatte mir hoch und heilig geschworen, er würde für mich und unser Kind sorgen. Er ist dann nicht einmal mehr ins Krankenhaus gekommen, um seine Tochter anzusehen, sondern hat das Weite gesucht. Sehr gründlich sogar. Als ich aus der Klinik entlassen wurde, war er wie vom Erdboden verschluckt. Ich hätte gerne selbst nach ihm gesucht, aber ich musste Wach- und Wechseldienst schieben und für Tanja einen Pflege-Platz suchen. Und du erinnerst dich noch, was man zu Beginn auf einem Revier nie hat?"

"Oh ja", sagte er düster, "Geld und Freizeit und ordentliche Dienstzeiten."

"Ich habe Arno Grimme - so hieß mein Freund - als vermisst gemeldet. Angeblich haben sich die Kollegen die Beine ausgerissen, aber nach vier Wochen kamen sie zu mir - es gebe keine Chance mehr, Arno Grimme zu finden. Ich bin fast geplatzt vor Wut und Verzweiflung, aber es blieb dabei: keine gezielte Fahndung nach Arno Grimme. Später habe ich mich selbst auf die Suche gemacht und dabei habe ich an Arnos Arbeitsplatz den heute alten Mann bei Ellerding & Fels kennengelernt. Er war damals der Personal-Sachbearbeiter."

Josef schnaufte mitleidig. Diese Stimmung kannte er nur zu gut. "Hat sich Freund Arno später mal gemeldet?"

"Nie, ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt."

"Wie hast du das mit deiner Tochter hinbekommen?"

"Da sind zwei Wunder geschehen. Das erste noch in Tanjas ersten Monaten; meine Eltern und ich haben ein junges Ehepaar gefunden, das selbst einen Sohn in Tanjas Alter hatte, aber kein zweites Kind mehr bekommen konnte, und das bereit war, Tanja als Pflegekind auf Dauer aufzunehmen."

"Haben die nie an Adoption gedacht?"

"Doch, oft sogar, aber ich wollte nicht." Kimmig zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Denn ich erlebte nach dem Unglück ein zweites Wunder. Meine Eltern lebten noch, und mein Vater konnte es sich leisten, mich regelmäßig finanziell zu unterstützen. Später bezog ich Zinsen aus meinem Erbe. Tanja hat es bei den Pflegeeltern sehr gut gehabt und hat sie Papa und Mama genannt, und die beiden haben für sie gesorgt, als sei es ihre eigene Tochter, die sie nach dem Sohn gerne noch bekommen hätten."

"Und du? Hat man dich akzeptiert?"

"Ohne jeden Vorbehalt, wir haben Tanja so früh wie möglich gesagt, dass Martin und Charlotte Lange ihre Pflegeeltern sind, ich konnte Tanja jederzeit besuchen, hatte sogar einen Schlüssel zum Haus der Langes und auch wenn es mir zu Anfang immer einen Stich versetzt hat, dass mein Kind die anderen mit Papa und Mama und mich mit Lene angeredet hat, sind wir hervorragend miteinander ausgekommen. Ich bin mit Tanja in den Urlaub gefahren, mit ihr und ihrem Pflegebruder Thomas ins Theater und Konzert gegangen, und das war alles so erfreulich, dass Tanjas beste Freundin eines Tages gejammert hat, sie möchte auch zwei Mütter haben."

"Ihr habt euch also nicht entfremdet?"

"Nicht so schnell, Josef. Du kennst doch den dummen Spruch: Die Pubertät beginnt, wenn die Eltern komisch werden?"

"Und ob." Er stöhnte.

"Bis dahin waren wir als Quintett ein Herz und eine Seele."

"Quintett?"

"Martin, Charlotte, ihr Sohn Thomas Lange, Tanja und ich. Dann hat Tanja angefangen, Fragen zu stellen: Wer ist mein Vater? Wo steckt er jetzt, warum ist er weggelaufen? Warum kümmert er sich nicht um mich?"

Gerlinde brachte ohne Aufforderung eine weitere Runde.

"Ich habe ihr ehrlich geantwortet, so gut ich konnte und so gut sie es damals verstand, und habe mit ihr ausgemacht, dass sie an ihrem achtzehnten Geburtstag alle Unterlagen, Briefe und Bilder bekommt, die ich von ihrem Erzeuger Arno Grimme hatte. Danach war für einige Zeit Ruhe, dann kam eine neue Phase. Sie fing an, mir Vorwürfe zu machen. Warum ich ihn nicht gehalten hätte, warum ich ihn mit meiner strengen Art - nein, sie hatte dafür sogar ein neues Wort gelernt - mit meiner harschen Art vertrieben hätte, warum ich nicht genug Verständnis für ihn aufgebracht hätte."

Kimmig schwieg, weil es ihn schrecklich an seine Tochter Lara erinnerte, die ihm dieselben Vorwürfe gemacht hatte, als aus Verenas alltäglichen Klagen eine echte Verstimmung zwischen den Eheleuten entstanden war.

Nach einer langen Pause seufzte er mitleidig: "Ich erinnere mich. Das ist diese grausame Phase, in der Kinder immer alles wissen und vor allem: besser wissen."

"War das bei dir genau so?"

"Aber ja. Es hat bei Lara zum Glück nicht lange gedauert, sie hatte damals eine Trainerin, mit der sie sich gut verstand und die Lara immer wieder auf den Teppich zurückgeholt hat, wenn sie aus dem häuslichen Alltag abheben wollte. Aber es war schon ziemlich heftig, und als ich merkte, dass da ein anderer Mann gekommen war, hat meine Tochter lange gezögert, ob sie bei mir bleiben oder mit Verena fortgehen sollte."

"An ihrem achtzehnten Geburtstag ist Tanja morgens bei mir erschienen, wir haben zusammen gefrühstückt, sie hat ihr Geschenk bekommen und einen Ordner mit Kopien aller Dokumente, Briefe und Bilder etcetera, die ich von Arno Grimme besaß. Wir haben uns an der Wohnungstür noch freundlich verabschiedet, weil ich zum Dienst musste, und das war das letzte Mal, dass ich von meiner Tochter etwas gesehen oder gehört habe."

"Nein!"

"Doch, seit jetzt vierzehn Jahren kein Lebenszeichen mehr von Tanja. Natürlich haben wir Vermisstenanzeige erstattet. Okay - formell war sie volljährig, als sie verschwand, aber unter diesen Umständen ... Nach drei Monaten dann dieses ‚Liebe Kollegin, wir haben alles versucht, aber wir sind mit unserem Latein am Ende. Wir müssen die gezielte Suche aufgeben.‘"

Kimmig nickte nur. Das waren Situationen, in denen es keinen Trost mehr gab, sondern nur noch heiße, sinn- und hilflose Wut.

"Selbstverständlich haben wir nicht aufgegeben. Martin nicht und Charlotte nicht und ich erst recht nicht. Wir haben alles getan, was man mit Geld, Beziehungen und Engagement in die Wege leiten kann. Erfolg gleich Null."

"Arme Lene."

"Die DNA, die Fingerabdrücke und alle Details von Tanja stecken in unseren Systemen, aber keines hat bis jetzt Alarm geschlagen."

"Du hast gesagt, dieser Martin und diese Charlotte hätten ein eigenes Kind gehabt. Thomas, nicht wahr? Wie haben sich die beiden Kinder verstanden? Eifersucht - ich will meine Mami für mich alleine?"

"Nein", sagte Lene entschieden. "Allenfalls die Eifersucht oder der Neid, den Geschwisterkinder untereinander entwickeln. Du kennst doch den Spruch, den man oft auf Geschwister anwendet, die sich dauernd zanken. Sie können nicht miteinander, aber ohne geht es erst recht nicht. Thomas vermisst seine 'Schwester' Tanja seit vierzehn Jahren!"

Kimmigs Frau Verena war vor elf, fast zwölf Wochen weggelaufen. Er hatte gehofft, er würde es vergessen können, aber das gelang ihm nicht; ihn plagte immer noch das Warum; warum ist sie gegangen? Was habe ich falsch gemacht? Und wenn er einmal nicht durch Arbeit oder was anderes abgelenkt war, kam mit der Ruhe und Entspannung sofort das "Warum, warum?" mit noch größerer Wucht zurück.

Gerlinde hatte unverdrossen für Nachschub gesorgt. Kimmig spürte, dass Lene ihn unverwandt betrachtete, wollte ablenken und fragte: "Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?"

"An einer Schießbude auf dem Höveler Sommerfest."

Es war eine traditionelle Kirmes gegen Ende des Sommers. "Und Verena und du?"

"An einem Strand auf Lanzarote. Ich hab' Urlaub gemacht, und sie hatte von ihren Eltern eine Reise zum Examen geschenkt bekommen."

"Examen?"

"Ja, sie hatte Apothekenhelferin in Bad Rösel gelernt und ein sehr ordentliches Schlussexamen hingelegt."

"Bad Rösel ...?"

"Liegt an der Ahr. Spezialisiert auf Erkrankungen der Haut. Es gibt warme Quellen und das berühmte 'Bärenfett' zum Einreiben."

"Bären im Ahrtal? Josef, Josef, soll Gerlinde dir einen starken Kaffee bringen?"

"Nein, danke!", lehnte er etwas verstimmt ab. "Bärenfett ist der Name einer Hautcreme, die der 'Bärenapotheker' in der 'Bärenapotheke' herstellt. Frag mich nicht, was da drin ist und wie sie zu ihrem Namen kommt. Verena hat das nie herausgekriegt."

"Wieso Verena ...?"

"Sie hat in der 'Bärenapotheke' gelernt."

"Ach so." Manchmal musste man Umwege zum Ziel laufen. "Dann habt ihr euch also auf Lanzarote gefunden?"

"Ja und nein. Als ich abreiste, war zwischen uns noch nichts passiert. Wir haben die Adressen getauscht und sie hat mir versprochen, sie würde mich bald in Tellheim besuchen."

"Was sie auch getan hat?"

"Ja." Er senkte die Stimme. "Sogar sehr bald schon. Ich war so glücklich, dass wir ..., dass wir ..."

"Josef, ich ahne alles. Ihr habt euer Wiedersehen im Bett gefeiert."

"Und wie, Lene. Neun Monate später war Lara da."

Lene schwieg; sie wollte Josef nicht gestehen, dass es bei ihr noch schneller gegangen war. Tanja war noch auf dem Höveler Sommerfest gezeugt worden. Warum sie nicht gedrängt hatte, dass Arno sie heiratete, wusste sie heute noch nicht so richtig. Gut möglich, dass das kritische Urteil ihrer Eltern eine Rolle gespielt hatte: "Kind, das ist kein Mann, den man heiratet. Er ist ein Windhund und wird es bleiben, bis ihm die Zähne und die Haare ausfallen." Was wussten schon Eltern, wenn die Tochter bis über beide Ohren verliebt war?

"Letzte Runde, Frau Schelm?"

"Okay, Gerlinde, ich zahle heute."

Erst als die letzte Runde vor ihnen stand, rückte Josef mit seinem nächsten Problem heraus. Tochter Lara war zwar bei ihm geblieben, hatte ihm aber angekündigt, dass sie sich auf die Suche nach der Mutter machen wolle, um notfalls doch bei ihr zu bleiben, wenn "der Neue" damit einverstanden war. Lene schüttelte nur den Kopf, auf den Kollegen Josef kam es im Moment wirklich knüppeldick herunter.

An diesem Abend rührte Lene die Burgunder-Flaschen nicht an. Und beim Zähneputzen überlegte sie, ob es eigentlich stimmte, was sie gegenüber Kimmig behauptet hatte, dass sie Arno nicht vermisst hatte, geschweige denn jetzt vermisste. An dem Tag, an dem klar wurde, dass er nicht einmal seine Tochter in der Klinik anschauen würde, hatte Lene sich emotional von ihm getrennt, abgenabelt. Und wenn sie einen Fehler begangen hatte, dann wohl den, dass sie der heranwachsenden Tanja einfach unterstellt hatte, auch sie könne doch keine Gefühle für so einen Verräter aufbringen. Darüber hatten Tanja und ihre Mutter nie gestritten, sich aber in diesem Punkt nicht verstanden. Lene schlief nicht sehr gut.

Noch vor dem Präsidium fuhr sie in die Mittelburgstraße 44. Doch als Lene beim Hausmeister klingelte, rührte sich nichts. Etwas hilflos und unentschlossen stand sie in der großen Eingangshalle mit den vielen Hausbriefkästen und sah sich nach der Treppe ins Souterrain um, als die Haustür geöffnet wurde und eine Frau hereinkam. Sie schaute neugierig auf Lene und ging weiter, stockte plötzlich, drehte sich um und fragte unsicher: "Lene? Marlene Schelm?"

Lene brauchte länger, die andere wiederzuerkennen. "Agnes?"

"Ja."

Mit einer Agnes Wörth hatte Lene Schelm vor Ewigkeiten den Wach- und Wechseldienst im Revier 23 begonnen. Agnes war schon damals eine knochige Bohnenstange mit eckigen Bewegungen und einem kantigen, unschönen Gesicht gewesen, sehr unweiblich, nicht unfreundlich, aber nie verbindlich, zwar hilfsbereit, aber immer kurz angebunden, so, als wolle sie niemanden an sich heranlassen. Ein Kollege hatte über sie mal gelästert: "Armes Igel-Mädchen, sie hat nie gelernt, wie man seine Stacheln einfährt." Lene war, wenn sie sich nicht täuschte, mit dem "Igel", wie alle Kollegen Agnes bald nannten, recht ordentlich ausgekommen, aber auch nie richtig warm geworden. Später hatten sie sich aus den Augen verloren, und als Lene schon bei der Kripo angefangen hatte, erzählte jemand, dass der Igel den Dienst quittiert und geheiratet habe.

"Was hat dich hierhin verschlagen?"

"Im fünften Stock haben wir eine Frauenleiche gefunden!"

"Du bist also immer noch dabei?"

"Ja. Du hast gekündigt, hat man mir mal erzählt."

"Stimmt. Ich habe geheiratet."

"Wohnst du hier?"

"Leider ja."

"Warum leider?"

"Die Häuser waren mal chic und angesagt, das hat sich schwer geändert. Auf viele Nachbarn würde ich gerne verzichten. Aber so, wie die Gesellschaft die Wohnungen und die ganze Anlage verkommen lässt, ist es kein Wunder, dass nur noch Arme, Arbeitslose und Alkoholiker hier einziehen." Der Igel gab sich keine Mühe, seine Verachtung und Ablehnung zu verbergen.

"Könnt ihr nicht wegziehen?"

"Er ist schon lange weg, mit einem süßen, jüngeren Püppchen, und hat mich hier sitzenlassen. Aber warum stehen wir hier herum? Wenn du Zeit hast, komm' doch mit hoch, ich koch' uns einen anständigen Kaffee."

"Gerne." Emil konnte warten, und sie hatte nach dem vielen Bier in der Klause heute Morgen zwei Tabletten mit viel Soda geschluckt und auf den Kaffee verzichtet.

Der Igel wohnte im achten Stock in einer größeren Wohnung als Krawinke seinerzeit in 505. Agnes war - nach der Einrichtung zu schließen - nicht auf Rosen gebettet, was sie auch unumwunden einräumte. Der Verflossene zahlte nur wenig, und das unregelmäßig, weil er jetzt Frau und Kind versorgen musste.

"Wie steht's mit dir, Lene?"

"Nach wie vor Junggesellin."

"Was ist denn aus dem hübschen Großen geworden? Du weißt schon, der mit den hellen Haaren, der so viel von schnellen Autos schwärmte. Wie hieß er bloß noch?"

Lene schwieg verblüfft. Nie hätte sie vermutet, dass der Igel sich an Arno erinnern würde.

Agnes missverstand ihr Schweigen. "Bei ihm kommt mir immer Florenz in den Sinn."

"Arno hieß er", sagte Lene leicht mürrisch.

"Richtig."

"Er hat mir ein Kind angehängt und ist dann spurlos verduftet."

"Das tut mir leid." Warum nur hatte Lene den Eindruck, dass Agnes' Bemerkung nicht nach Mitgefühl, sondern nach Schadendfreude klang?

"Ich vermisse ihn nicht. Ich bin sehr gut ohne ihn zurechtgekommen", sagte Lene deshalb trotzig, "wahrscheinlich besser als mit ihm. Besser jedenfalls als mit einem Fremdgeher." Diese Spitze konnte sie sich nicht verkneifen. Der Igel wechselte das Thema.

"Dann bist du jetzt also bei der Kripo?"

"Ja."

"Und wo da?"

"Mord und Totschlag, ich bin erste im ersten."

"Donnerwetter. Ich hab' ja immer gesagt, du wirst noch Karriere machen."

"Und was machst du?"

"Ich bin Verwalterin im Haus Bethanien in Zwiebrücken."

Warum nur kam Lene sofort der Gedanke, dass von vielen möglichen Heimen für den Fall des Falles Bethanien von der Liste gestrichen sei? Wie hatte sie eigentlich wirklich zu Agnes Wörth gestanden? Seltsam, das hatte sie vollständig vergessen. Und auch Arnos alberne Leidenschaft für schnelle Autos, Autorennen und Rennfahrer. Von jedem Modell konnte er Hubraum, PS, maximale Drehzahlen, Höchstgeschwindigkeit und Preise wie ein Automat herunterrasseln, und dass er bei Ellerding & Fels diese Wunderwerke der Technik an andere, betuchtere Menschen verkaufen musste und nicht selber besitzen durfte, quälte ihn regelrecht.

Der Igel hatte Kaffee nachgeschenkt. "Dann bist du also wegen der Leiche in 505 hier?"

"Ja. Weißt du was über diese Frau?"

"Nein. Ich bin ihr auch nur zwei- oder dreimal im Haus begegnet. Sie schaffte hier an."

"Das ist nicht dein Ernst."

"Doch, doch. Wir haben ein richtiges Ferkel von Hausmeister, Emil heißt die Kanaille. Emil hat sie an Hausbewohner vermittelt oder sie in einem Raum neben seiner Werkstatt 'arbeiten' lassen."

"Hat er dafür kassiert?"

"Emil verlangt Geld, wenn du ihn nach der Uhrzeit fragst."

"Hast du zufällig auch den Mieter aus 505 gekannt?"

"Bruno?"

"Bruno Krawinke, ja."

"Was ist mit dem?"

"Er ist auch ermordet worden."

"Nein!" Das klang ehrlich entsetzt.

"Doch. Wir haben seine Leiche im Kofferraum seines Autos gefunden. Im Lantener Forst."

"Ach nee!"

"Hast du ihn gekannt?"

"Ja, flüchtig. Bruno war ein Traumtänzer. Ganz nett, freundlich, aber faul. Immer gut gelaunt, aber im Alltag hilflos. Man musste ihm sehr genau sagen, was er tun sollte; weißt du, es gibt so Frauen, die am meisten Männer lieben, die sie ständig bemuttern müssen."

'Dazu gehörst du mit Sicherheit nicht', dachte Lene belustigt, sagte aber nichts.

"Kannst du mir was über euren Emil und diesen Bruno sagen?"

"Nein, eigentlich nur, dass sie viel zusammengehangen haben. Emil schluckte gerne und Bruno hat in der Zeit für Emil die Arbeiten im Haus erledigt."

"Feine Arbeitsteilung."

Lene trank noch ihre zweite Tasse aus und ging dann, versuchte nicht mehr, mit Emil Sklarek zu sprechen. Agnes Wörth war ein Stück Vergangenheit, und Lene wunderte sich auf der Fahrt ins Präsdium, wie gründlich sie Teile dieser Vergangenheit vergessen, verdrängt, weggeschoben hatte. Was eigentlich doch ganz angenehm war. Ohne Ballast lebte es sich leichter. Und eben das hatte Tanja ihr einmal vorgeworfen. "Du hast meinen Vater bewusst vergessen, wie Ballast abgeworfen, damit du es leichter hattest."

Zum Schluss überlegte Lene erneut, ob es stimmte, was sie dem Igel gesagt hatte: Dass sie Arno nicht vermisst hatte, geschweige denn jetzt vermisste.

Aber welche Gefühle musste Arno Grimme beim Igel ausgelöst haben, wenn der sich nach etwa dreißig Jahren noch an eine, höchstens zwei flüchtige Begegnungen mit ihm erinnerte.

Gegen Mittag drängte sich die Mannschaft um Lenes Schreibtisch, als würde hier steuerfreies Bargeld verschenkt.

Ihre Tote aus 505 hatte tatsächlich einen Namen und eine aktenkundige Vergangenheit. Carmen Salzner, 1971 in Nauen geboren und vor knapp drei Jahren aus der JVA für Frauen in Vechta entlassen, wo sie 30 Monate gesessen hatte, in Bielefeld als vorbestrafte Rückfalltäterin verurteilt wegen mehrfachen Trick- und Taschendiebstahls.

Lenes Kollege, Oberkommissar Harald Sturm, hatte schon mit der JVA telefoniert: Entlassen war Carmen mit Anschrift ihrer verheirateten Schwester Barbara Klein in Nienburg/Weser. Dort war sie jedoch, wie die Schwester am Telefon sagte, nie eingetroffen. Sturm hatte vernünftigerweise am Telefon nicht erwähnt, dass Carmen vermutlich ermordet worden war. Aber er hatte die Schwester veranlassen können, sich sofort ins Auto oder in einen Zug zu setzen. "Sie kommt morgen zu uns ins Präsidium."

Die um Amtshilfe gebetenen Kollegen aus Duisburg begnügten sich mit einer etwas formlosen Mail: Edda Krawinke hatte ihren Ex-Teuren seit mindestens fünfzehn Monaten nicht mehr gesehen oder gesprochen; die letzte Weihnachtskarte, die er ihr geschickt hatte, war in Tellheim abgestempelt worden. Wo er sich herumtreiben könnte, wisse sie nicht, es interessiere sie auch nicht und sie erwartete auch gar nicht mehr, dass er den noch ausstehenden Unterhalt je bezahlen werde. Hatte Bruno nicht wegen der Arbeitsagentur, sondern wegen seiner Ex auf ein Konto verzichtet und lieber Bargeld gebunkert?

Kollege Seidel hatte Wort gehalten und einen ausführlichen Bericht über die kriminaltechnische Untersuchung der Wohnung 505 vorbeigebracht. Das Blut rund um das Bett in der Schlafnische stammte von der Toten in der Badewanne, ebenso die braunen Blutschlieren in der Wanne. Blutgruppe A positiv. Fingerabdrücke gab es en masse in der Wohnung. Fast alle ließen sich in zwei Gruppen einteilen, stammten also von nur zwei Personen. Für eine DNA-Analyse verwertbares Material hatten sie nicht sichergestellt, außerdem nicht eine Spur, nicht ein Indiz, nicht einen Hinweis darauf, dass sich außer der Badewannen-Toten je eine andere Frau in 505 aufgehalten hatte. Lene zog den Kopf ein; wie passte das zu Gerda Hallbergs Aussage?

Josef Kimmig hatte sich mit Papenburg beschäftigt, auf der Werft wollte keiner den Namen Krawinke je gehört oder gelesen haben, im Einwohnermeldeamt war kein Krawinke verzeichnet und auch in der Anzeigenabteilung des örtlichen Blattes war der Name nicht bekannt. Keine Suchanzeige für eine Wohnung oder ein möbliertes Zimmer.

"Da hat Krawinke seinem Kumpel Sklarek aber einen großen Bären aufgebunden", meinte Kimmig verärgert. Lene schwieg und behielt für sich, was ihr durch den Kopf ging: Was, wenn Emil der Tüchtige den ungeliebten Bullen einen Bären aufgebunden hatte? Gerda hatte schließlich behauptet, ihrer Meinung nach habe sich Sklarek zuerst für Brunos Neue interessiert.

Nadine wollte zu einer langen Beschwerde anheben, auch sie hatte lieber ordentliche, saubere Leichen auf ihrem Tisch. Lene unterbrach sie energisch, und Nadine kam zur Sache. Die Badewannen-Tote war wohl nach einem Schlag auf den Kopf betäubt gewesen. Die Platzwunde musste stark geblutet haben. aber sie war noch lebend in den Plastiksack gesteckt worden, den ihr Mörder luftdicht verschweißte, so dass sie jämmerlich erstickte. Vor schätzungsweise vier Wochen. Blutgruppe A positiv. Es gab an der Leiche nur die eine Kopfwunde, die das Blut vor dem Bett in der Schlafnische erklären konnte.