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Berlin 1933: Vier unzertrennliche Freunde aus dem Arbeiterbezirk Wedding kämpfen mit Armut, politischen Umbrüchen und der Ahnung, nicht von dieser Welt zu sein. Während einer in SA-Uniform marschiert, verliebt sich ein anderer in einen US-Journalisten und gerät in ein Netz aus Lügen, Liebe und Gefahr. Ein bewegender Roman über Freundschaft, queere Identität und den Zerfall einer Demokratie.
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Seitenzahl: 369
Veröffentlichungsjahr: 2025
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BERLIN, WEDDING 30. JANUAR 1923
BERLIN, HOTEL BRISTOL, UNTER DEN LINDEN
DIENSTAG, 31. JANUAR
MITTWOCH, 1. FEBRUAR
DONNERSTAG, 2. FEBRUAR
FREITAG, 3. FEBRUAR
SONNABEND, 4. FEBRUAR
SONNTAG, 5. FEBRUAR
MONTAG, 6. FEBRUAR
DIENSTAG, 7. FEBRUAR
MITTWOCH, 8. FEBRUAR
DONNERSTAG, 9. FEBRUAR
FREITAG, 10. FEBRUAR
SONNABEND, 11. FEBRUAR
SONNTAG, 12. FEBRUAR
MONTAG, 13. FEBRUAR
BERLIN, SOMMER 1993
ANMERKUNG DES AUTORS
DANKSAGUNG
Ein Täter kehrt immer an den Ort des Verbrechens zurück.
Mit diesen Worten verbot mir mein Vater, den Kohlenkeller der Mietskaserne ohne ihn zu betreten. Während der Revolution hatte man dort Frau Kluske gefunden, vergewaltigt und mit sauber durchgeschnittener Kehle. Der Übeltäter wurde nie gefasst und schien uns elfjährigen Jungens noch vier Jahre nach der Tat allgegenwärtig. Das machte den Kohlenkeller zum unheimlichsten Ort der Stadt. Es war klar, dass wir dort, und nur dort, unser eigenes blutiges Ritual durchführen konnten, ja, geradezu mussten.
Keiner würde uns stören, denn die Kohlen waren längst aufgebraucht und die Erwachsenen besaßen kaum Geld, neue zu kaufen.
Das Wort Inflation geisterte durch unser Wohnviertel, den Sprengelkiez am Wedding. Wie der Mörder von Frau Kluske. Die Inflation bescherte den Erwachsenen großen Ärger, uns Jungens leere Bäuche und unendlich viele Träume. Wir drückten uns an den Schaufenstern der Konditoreien und Fleischereien die Nasen platt und starrten wie die Affen auf Kuchen, Pralinés, Würste und Braten. Die Preise explodierten und selbst das Nötigste war kaum noch zu bezahlen.
»Für ’n Dollar muss ick nu neunundvierzigtausend Mark hinlegen«, knurrte Papa am Morgen des dreißigsten Januar.
»Warum willste überhaupt einen Dollar kaufen, wo wir nicht mal was Ordentliches zu futtern haben«, fragte ich und Papa lachte.
Ich liebte es, wenn er lachte, denn als Mama vier Jahre zuvor gestorben war, hatte er für lange Zeit vergessen, dass er lachen konnte. Sie fehlte uns, aber Papa liebte mich für zwei und ich ihn für drei. Was allerdings nicht hieß, dass ich immer ungeschoren davonkam.
Er arbeitete als Bierfahrer für die berühmte Schultheiß-Brauerei. In den Ferien begleitete ich ihn manchmal. Dann saß ich wie Graf Koks auf dem Kutschbock zwischen seinen Beinen und durfte die beiden braunen Gäule lenken. Er klemmte sich die allgegenwärtige Kippe zwischen die Lippen und legte seine riesigen Hände sanft um meine zarten Finger, so, als wollte er ein rohes Ei beschützen. Ich lehnte mich an ihn und atmete seinen herben Geruch ein. In diesen Momenten war ich unendlich glücklich, aber auch sehr aufgeregt und meine Finger verkrampften sich um die Zügel.
»Ganz locker, Honigköpfchen«, sagte Papa dann und ich warf ihm einen grimmigen Blick zu.
Honigköpfchen! Nannte man so seinen Jungen?
Papa lachte sein herrliches Männerlachen.
Kerlen wie Papa sahen die Frauen nach. Die Männer musterten neidvoll seine breiten Schultern und die kräftigen Arme. Ich war stolz auf meinen schönen, großen Papa. Aber das Einzige, was ich von ihm geerbt hatte, war dieser üppige blonde Haarschopf. Alles andere stammte von meiner zierlichen Mutter. Liebe hin oder her, welcher Junge hörte schon gerne, dass er wie seine Mutter aussieht, wenn er ein Prachtexemplar von Mann zum Vater hatte.
Die Jungens, also Emil, Hans und Joseph, bedeuteten mir neben Papa alles. Wir wurden in derselben Nacht und in derselben Straße geboren. Das alleine war schon ein Ding. Doch um jene heiße Augustnacht rankte sich ein Mysterium. Ein seltsames Licht erschien über dem Himmel von Berlin. Nicht einmal die schlauen Astronomen der Universität konnten sich das Phänomen erklären. War es ein Komet? Ein verlöschender Planet? Ein außerirdisches Luftschiff? So vieles fanden die Wissenschaftler heraus, aber die wirklich wichtigen Fragen des Lebens blieben immer auf der Strecke.
Wir vier funktionierten jedenfalls von Anfang an wie ein Perpetuum Mobile. Irgendeine magische Kraft hatte es angestoßen. Seitdem bewegte es sich unaufhörlich und schöpfte seine Energie aus sich selbst.
Wenn wir nebeneinander den Gehsteig entlangschlenderten, spürten wir diese Magie. Manchmal war mir, als umgäbe uns tatsächlich ein geheimnisvolles Licht. Ich glaubte dann, dass nicht unsere Mütter uns geboren hatten, sondern dieses Licht. Wir schwammen darin wie verspielte Delfine. Es beschützte und nährte uns, war unser eigentliches Element.
»Kieck ma, de Musketiere vom Wedding«, sagten die Leute in der Burgsdorfstraße.
Das gefiel uns und so wie diese berühmten Schützen der französischen Könige wollten auch wir uns ewige Treue schwören.
In eben jenem Kohlenkeller.
Jungens konnten wunderbar romantisch sein.
»Mensch, Willi, du olle Trantüte!« Hans, die Bohnenstange, musterte mich mit seinen vorwurfsvollen blauen Augen. »Wie lange müssen wir denn noch auf dich warten!«
Ich erschien an jenem trüben Januarnachmittag als Letzter und völlig außer Atem an der Kellertreppe, obgleich ich wie Emil im Haus wohnte.
»Wohnungsputz«, sagte ich knapp. Jungens verständigten sich einsilbig, aber treffsicher.
»Wollen wir wirklich da runter?« Joseph war schön wie seine halbjüdische Mutter. Die ganze Burgsdorfstraße schwärmte von seinen dunklen Augen, den schwarzen Naturwellen und dem hübschesten Schmollmund Berlins. Diese Äußerlichkeiten sicherten uns einen Bonus, wenn wir etwas angestellt hatten. Dann schickten wir Joseph vor. Mit berechnendem Charme holte er für uns die Kohlen aus dem Feuer. Außerdem war Joseph der beste Schmieresteher. Seiner Aufmerksamkeit entging nichts und sie bewahrte uns vor manchem Unheil. Wir beneideten Joseph nicht wegen seiner Schönheit, sie gehörte einfach zu ihm, sondern um seinen großen Pimmel, mit dem er jedes Wettpinkeln gewann.
Emil nickte. Unter seiner Mütze quollen fuchsrote Locken hervor. Normalerweise lag auf seinem Sommersprossengesicht ein unablässiges Grinsen, aber heute wirkte er feierlich. Wie ein Priester.
Ich lächelte ihm zu. Er stand mir besonders nahe und das nicht nur, weil wir im selben Haus wohnten. Wir wurden nicht nur in derselben Nacht geboren, sondern auch von derselben Muttermilch ernährt. Meine kränkliche Mutter hatte damals kaum welche und Frau Hartmann musste abpumpen. Also steckten uns unsere Mütter zusammen in die Wiege. Emil und ich schliefen schon selig ineinander verschlungen, als wir noch gar nicht wussten, wer der andere war. Die Hartmanns, meine Zweitfamilie, standen damals auf meiner Liste der liebsten Menschen, gleich nach Papa und den Jungens. Ich vergötterte Emil, weil er seine bedingungslose Zuneigung an mich verschenkte, als besäße er ein unerschöpfliches Lager davon.
Wer teilt schon freiwillig die Muttermilch?
Ich fand immer alles gut, was Emil tat und sagte. Hätte er behauptet, ich könnte mit meinen abstehenden Ohren fliegen, ich hätte es, ohne mit der Wimper zu zucken, ausprobiert.
»Na dann los jetzt.« Emil legte einen Arm um meine Schulter.
Die beiden anderen zögerten.
»Was ist?«, fragte Emil.
Hans strich sich das blonde Haar zurück. »Überlegt doch mal! Wenn der Mörder ausgerechnet heut da unten auf ein neues Opfer lauert.« Seine Augen leuchteten im Licht der flackernden Deckenlampe.
»Menschenskind!« Emil verdrehte die Augen und öffnete die Kellertüre. »Der Mord ist vier Jahre her, du Schisser. Ein Kerl, der sich an Frauen vergreift, interessiert sich doch nicht für Jungens.«
Hans biss sich auf die Unterlippe. Er war der Schlaueste von uns und bedachte immer alles, was Emil vorschlug. Er wollte im Grunde nur das Risiko abschätzen, damit uns nichts zustieß. Deswegen gerieten die beiden auch immer wieder mal aneinander und ich spielte den Friedensrichter. Aber letzten Endes überzeugte Emils Lässigkeit. Er hatte die Ideen, Hans machte die Pläne und wir beiden anderen waren die Statisten.
Hans nickte. »Leuchtet ein.«
Joseph hingegen überzeugte grundsätzlich nichts. Vielleicht lag es daran, dass er christlicher Vierteljude war und nie so recht wusste, wo er denn nun hingehörte und was er glauben sollte.
»Na, ick wees ja nich«, sagte er skeptisch.
Das war sein Standardspruch, aber am Ende machte er doch alles mit. Wie ich. Weil wir vier einfach zusammengehörten, ohne Anfang und ohne Ende.
Joseph hielt ein halbvolles Wasserglas wie den Heiligen Gral vor sich. Ich bewunderte seine stets sauberen Fingernägel. Er sah mich an und schluckte. Joseph war überaus kreativ, wenn es galt, jemanden abzulenken, während wir in einem Geschäft Sachen mitgehen ließen, die wir uns nicht kaufen konnten. Als Straßenjunge jedoch fehlte ihm der richtige Biss. Er konnte zwar kräftig zuschlagen, wenn es darum ging, die Jungs aus den Neubauten zu verprügeln. Sie nannten uns Ratten und hielten sich für etwas Besseres, weil sie Badezimmer besaßen. Aber er jammerte ständig, dass seine Hose schmutzig würde und dass das doch alles sowieso Blödsinn sei.
Dann spiel doch mit den Mädchen, frotzelte Emil und Joseph kniff seine schönen Lippen zusammen.
Ich, der Kleinste und Schmächtigste, von den anderen liebevoll Küken genannt, betrachtete die drei nacheinander. Mein Herz klopfte wie verrückt und mein Unterleib kribbelte, wie immer, wenn meine drei Freunde und ich eine Operation durchführten.
Wir nickten uns zu und stiegen die Kellertreppe hinunter. Das Licht im Kellergang flackerte ein paarmal und erlosch.
»Scheißbirne«, fluchte ich und blies meinen langen Pony aus der Stirn.
»Weiter«, drängte Emil und wir tasteten uns in der Dunkelheit bis zum Fuß der Treppe vor. Sein Arm um meine Schulter gab mir Mut.
»Still«, zischte Hans.
Joseph drückte sich von der anderen Seite an mich. »Da war was.« Sein Atem kitzelte in meinem Ohr.
Etwas streifte meine Schuhe und ich schrie auf.
»Memmen!« Emil ließ mich los und zündete einen Kerzenstummel mit dem silbernen Benzinfeuerzeug an, das er irgendwo stibitzt hatte. Er leuchtete in den Gang vor uns. Zwei Ratten schlüpften durch die Latten eines Kellerabteils. »Mistviecher«, fluchte er und schritt unbeeindruckt voran.
Wir tappten hinterher und stoppten vor der Brettertüre des Kohlenkellers.
»Wer?«, fragte ich leise.
Wir knobelten im Kerzenschein. Joseph verlor.
»Na gut.« Er reichte mir vorsichtig das Wasserglas und schob mit seinen gepflegten Händen den rostigen Riegel zurück.
Die Scharniere der alten Türe quietschten, als Joseph sie mit dem Fuß aufstieß. Der Geruch von Kohlenstaub schlug uns entgegen und wir spähten in den dunklen Raum. Durch den Spalt der Einwurfsluke unter der Decke fiel ein einsamer Lichtstrahl auf uns. Ich wusste, dass er uns beschützen würde, wie die göttlichen Lichtstrahlen auf den Schutzengelbildern.
»Na also«, sagte Emil, »keener da.« Er stapfte voran und stellte die Kerze auf eine alte Holzkiste. »Der Altar.«
Wir atmeten auf und folgten ihm.
Hans zog ein verrotztes Taschentuch heraus, legte es neben die Kerze und strich es glatt. »Altardecke.« Er grinste.
Emil schüttelte sich angewidert und Joseph kicherte. Ich stellte, ohne lange zu fackeln, das Glas darauf.
Emil blickte in die Runde. Das Ritual konnte beginnen. Wir knieten uns um den Altar, ich knöpfte meine Jacke auf und zog ein Küchenmesser aus dem Hosenbund. Langsam wickelte ich es aus dem geflickten Geschirrtuch, als handelte es sich um einen magischen Dolch.
»Sauscharf«, warnte ich.
Wir rückten zusammen, legten die Arme um unsere Schultern und drückten die Stirnen aneinander.
»Nenie rüf ella, ella rüf renie«, murmelten wir in unserer Geheimsprache. Sie war nicht besonders einfallsreich. Man musste die Wörter nur umdrehen und von hinten sprechen. Wenn man es ein bisschen übte, ging es ganz gut.
»Giwe dnu remmi rüf.«
Emil streckte die Hand aus und verlangte das Messer. »Blutzoll!«
Joseph, Hans und ich hielten unsere linken Hände über das Wasserglas. Es mussten die linken sein, weil dort das Herz saß. Ehe wir uns versahen, ritzte Emil nacheinander in die Kuppen unserer Zeigefinger. Jeder von uns zog scharf die Luft durch die Zähne. Mein Zeigefinger pochte und klopfte. Emil hatte gesagt, es tut nicht richtig weh, also tat es auch nicht weh. Ohne zu zögern, schnitt sich Emil selbst in den Finger. Professionell wie ein Abdecker.
Im Schein der Kerze beobachteten wir, wie unser heiliges Blut das Wasser verfärbte.
»Genug«, bestimmte Emil nach einer Weile. Wir drückten die verwundeten Finger aneinander, damit sich unser Blut vermischen konnte.
»Wir sind ein Blut, ein Herz, ein Körper. Ein Leben.« Emil fixierte uns. Seine grünen Augen leuchteten wie die einer Katze. »Nur der Tod entbindet uns von diesem Schwur. Wer ihn bricht, ist ein Verräter!«
Ich himmelte ihn an. Woher nur kannte er diese leidenschaftlichen Worte? Soweit ich wusste, mied er Bücher wie der Teufel das Weihwasser.
Wir schluckten und wiederholten unseren Psalm.
Einer für alle, alle für einen. Für immer und ewig. Dann schleckte Emil seinen Finger ab, grinste und trank. Wir beobachteten ihn argwöhnisch.
»Bäh!« Er schüttelte sich und reichte das Glas weiter.
Ich war der Letzte und leerte das Glas. Vereintes Jungenblut schmeckte metallisch und süß. Ein magischer Nektar.
»Ha ick euch erwischt, ihr Hosenscheißer!«
Wir erstarrten. Kein Zweifel, wir hatten mit unserem Blut den Mörder beschworen. Wir sprangen auf, schrien in Todesangst und rannten herum wie aufgescheuchte Hühner. Reflexartig schleuderte ich das Glas in Richtung Türe. Es zerschellte an der Wand.
Emil warf gekonnt das Messer hinterher.
Joseph stolperte über den Altar, die Kerze kippte um und Hans’ Rotzfahne fing Feuer.
»Aah! Verdammte Ratten!« Das Küchenmesser hatte den Unterarm von Hauswart Kaiser gestreift. »Euch ham se wohl komplett ins Jehirn jeschissen!«
»Flucht!«, befahl Emil und wir stürmten los.
»Na, euch werd ick Beene machen!«
Ich rannte als Erster an Kaiser vorbei und der Affe stellte mir ein Bein. Ich strauchelte, landete vor seinen Füßen und er zog mich am Hosenboden hoch. »Hierjeblieben, du Satansbraten.«
»Hilfe!«, brüllte ich, boxte und trat Kaiser, wo immer ich ihn erwischen konnte. Aber seine Pranken hielten mich fest wie Schraubzwingen, während das Blut aus seinem Arm tropfte.
Die anderen drei rannten an uns vorbei und flohen durch den Kellergang. Kaiser langte mir eine. Sternchen flimmerten vor meinen Augen, ich verstummte und ergab mich.
Das war’s dann wohl mit der ewigen Treue. Die Enttäuschung trieb mir Tränen in die Augen, als mich der Hauswart durch den Kellerflur zerrte.
»Die wollten mir abstechen wie ’n Schwein«, grölte er, »dett jibt ’ne Anzeije uff schwere Körperverletzung und Totschlag.«
Ich zappelte und jammerte, aber es half nichts. Kaiser stieß mich unerbittlich die Kellertreppe hinauf.
An der Türe erwarteten uns meine drei Freunde mit den kältesten Gesichtern, die ich je an ihnen gesehen hatte.
»Lass ihn los«, knurrte Emil mit Grabesstimme und kniff gefährlich die Augen zusammen.
Kaiser lachte dreckig.
»Haste nicht verstanden?« Joseph ballte seine Fäuste.
Der Hauswart stutzte, genau wie ich. Der anmutige Joseph?
»Ick zähl bis drei«, drohte Hans, der nie ungefragt mit Erwachsenen sprach. »Wenn du uns verpfeifst, haste ausgekaisert!«
Die beiden anderen nickten.
Kaiser war irritiert.
»Eins«, sagte Hans.
Kaiser blickte von einem zum andern. »Ick lass mer doch nicht von euch Rotznasen …«
»Zwei.« Die drei rückten einen Schritt vor. Die Entschlossenheit in ihren Augen jagte selbst mir einen Schrecken ein.
Offensichtlich erging es Kaiser nicht anders, denn der Griff um meinen Kragen lockerte sich.
»Drei.«
Das Wunder geschah. Die Magie unseres Schwures zeigte ihre erste Wirkung.
Kaiser ließ mich los. »Verschwindet! Wenn ick euch noch einmal im Keller erwische, dann …«
»Was ist hier los?«
Die Stimme gehörte meinem Vater. Er war früher nachhause gekommen als erwartet und rettete damit Hauswart Kaiser sozusagen das Leben.
Aber das wusste außer uns Musketieren ja keiner.
»Mensch, Scholze«, sagte Kaiser erleichtert. »Dein Kurzer und diese Räuber wollten mir um die Ecke bringen!«
Papa brach in schallendes Gelächter aus. »Scheißt du dir wegen vier Bengels in die Hosen?«
»Die war’n im Kohlenkeller«, petzte Kaiser, »und wollten noch die janze Bude abfackeln.«
Papa sah mich an. »Stimmt das, Willi?«
»Nicht ganz«, verteidigte ich uns.
»Wir war’n im Keller«, gestand Emil.
»Aber wir haben kein Feuer gelegt«, fügte Hans hinzu. Joseph nickte. »Daran war Kaiser schuld, weil er sich angeschlichen hat.«
»Ihr habt im Keller nix verloren und wisst, was das bedeutet!«
Wir nickten.
Meine Freunde ernteten jeder eine saftige Ohrfeige. Als ich an die Reihe kommen sollte, sagte ich: »Mal langsam, Papa! Der Kaiser hat mich schon geschlagen.«
Papa kniff die Augen zusammen und fixierte den Hauswart. »Du hast meinen Jungen verprügelt?«
Kaiser blinzelte. »Aber …«
»Wenn du den Willi noch einmal anfasst, dann brech ich dir sämtliche Knochen. Merk’s dir!«
Ich grinste zufrieden und Kaiser funkelte mich böse an.
»Und jetzt ab nachhause!«, befahl Papa meinen Blutsbrüdern und zwinkerte mir zu. »Machste mir Rührei, Willi?«
»Klar mach ich dett.«
»Isses beste Rührei der Welt.« Er hob mich wie einen Kartoffelsack über die Schulter und trug mich gut gelaunt davon.
Ich blickte zu meinen Freunden, die sich ihre Backen rieben. In ihren Gesichtern aber strahlte die Gewissheit, dass die Magie unseres Schwures bis in alle Ewigkeit andauern würde.
Einer für alle, alle für einen. Für immer und ewig.
I am Willi - your personal guide through amazing Berlin. Dieser Satz stand auf dem heftgroßen Schild, das um meinen Hals hing. Ich hatte mich an diesem schweinekalten Montagmorgen wie üblich vor dem Luxushotel neben der russischen Botschaft platziert. Dort stiegen überwiegend wohlhabende Engländer und Amerikaner ab. Dick eingemummelt in Schal und Mütze wartete ich auf Kundschaft. Quer über der Schulter hing eine Tasche mit Proviant und meiner geliebten Leica-Kamera. Mein wertvollster Besitz.
Der Winter war eine flaue Zeit für den Fremdenverkehr. Wir Musketiere hielten uns über Wasser, konnten unsere Wohnung bezahlen, uns Zigaretten und gelegentlich eine Bockwurst gönnen. Vor allem aber konnten wir das Baby ordentlich versorgen.
Insgesamt gesehen ging es uns in dieser verdammten Wirtschaftskrise besser als vielen anderen und ich war guter Laune. Die Arbeit als Fremdenführer machte Spaß und ich lernte dabei interessante und auch großzügige Leute kennen.
Gestern führte ich zwei englische Ladys vom Brandenburger Tor über den Gendarmenmarkt bis zum Dom und den Museen. Die haben mich vielleicht auf Trab gehalten! Sind stramm durch die Straßen marschiert. Wie SA-Kerle. Da wurde mir wenigstens nicht kalt. Am Lustgarten gerieten wir prompt in eine Massendemonstration der Sozialdemokraten.
Berlin bleibt rot, war auf ihren Schildern zu lesen. Ein gewaltiges Polizeiaufgebot trennte die Demonstrierenden von der aufmarschierenden Sturmabteilung der Nationalsozialisten. Die brüllten ihre Gegenparolen über demokratische Willkür und jüdischen Bolschewismus durch die Polizeiabsperrung. Das reinste Affentheater.
Ich erklärte den Ladys, dass man in Deutschland gerade einen Bürgerkrieg befürchtete. Der Reichstag war durch die ständigen Notverordnungen handlungsunfähig geworden und das gefiel keinem, außer dem regierenden Kabinett, weil es so machen konnte, was es wollte. Die Ausschreitungen zwischen Linken und Nazis nahmen täglich an Heftigkeit zu. Immer wieder gab es Tote. Nun war Kanzler von Schleicher nach zwei Monaten Amtszeit zurückgetreten.
»Oh, how exciting«, sagten die Damen, legten ihre ziegenlederbehandschuhten Finger vor die Lippen und kicherten wie aufgeregte Backfische.
Ich fand das keineswegs aufregend, sondern idiotisch. Nach so vielen Wahlen, zurückgetretenen Regierungen und der katastrophalen Wirtschaftslage glaubten ohnehin nur noch die SPD und Ludwig Kröger an die Zukunft der Demokratie. Ludwig war mein ehemaliger Vormund und Lehrherr.
Ich machte mit den Ladys einen Umweg und sie gaben mir am Ende fünfzehn Mark. Das hätte rein rechnerisch gesehen genau einhundert Bockwürste ergeben. Ein fürstliches Salär.
Der Boulevard Unter den Linden lebte hauptsächlich von den Besuchern Berlins. In meinen Augen glich er einem alten Schlachtross, dessen Ruhm längst verblasst war und dem schon der Abdecker mit Messer und Wetzstahl winkte. Englische Ladys und Amerikaner aber mochten alte Schlösser, Denkmäler und Museen. Von diesem geronnenen preußischen Ruhm gab es Unter den Linden genug.
Das quirligere Leben Berlins spielte sich inzwischen rund um den Kurfürstendamm ab oder an den verkehrsreichen großen Plätzen.
An diesem Morgen machte ich mir keine großen Hoffnungen auf Kunden. Es war zu kalt, und wer die Stadt sehen wollte, entschied sich für eine bequeme Besichtigungsfahrt mit einem dieser modernen Busse von Berolina-Rundfahrten.
Türsteher Otto nickte mir zu und tippte grüßend an seine Mütze. »Na, Willi? Nüscht los heute, wa?« Ottos Atem glich hellweißem Rauch.
»Hab schon Eiszapfen am Rüssel«, knurrte ich.
Otto lachte. »Scheißkälte!«
»Sind gestern neue Gäste gekommen?«, erkundigte ich mich. Der Frost fraß sich durch meine abgetragene Kleidung und drei Schichten langer Unterhosen. Ich stampfte mit den Füßen und schlang die Arme um mich.
»Kommen doch immer welche.«
»Neuer Tag, neues Glück.« Ich lächelte zuversichtlich.
»Haste schon Zeitung gelesen?«, fragte Otto.
Ich schüttelte den Kopf. »Die kostet so viel wie eine Bockwurst. Was gibt’s Neues?«
»Adolf Hitler, der Führer der Nazis, wird heute Vormittag zum Reichspräsidenten von Hindenburg bestellt.«
»Ach, sie suchen mal wieder einen neuen Kanzler.« Das wusste ich von Ludwig.
Otto nickte. »Nach den Wahlerfolgen im letzten Jahr stehen seine Chancen nicht übel.«
»Der spuckt beim Reden wie die Lamas im zoologischen Garten«, lästerte ich.
Otto feixte. »Wenn er nur halb so viel Schmalz ablassen würde, wär’s immer noch genuch! Aber er will alles wieder ins Lot bringen. Sagt er.«
»Soll er mal. Mich plagen andere Sorgen.«
Eigentlich war ich Fotograf. Ludwig Krögers Atelier, in dem ich gelernt hatte, lief so schlecht wie die übrige Weltwirtschaft und er konnte mich nicht mehr bezahlen. Ich hatte mir etwas einfallen lassen müssen und bin auf die Idee mit den Führungen gekommen. Ludwig überredete mich in meiner Lehre, Englisch zu lernen. Berlin sei eine Weltstadt, sagte er, und mit einer Fremdsprache öffnen sich neue Türen. Er sollte recht behalten, denn nun konnte ich Ausländern private Führungen anbieten. Aber davon wurde ich nicht reich. Einer meiner Absätze wackelte verdächtig und die Sohlen waren fast durch. Ein Paar warme Schuhe standen also ganz oben auf meiner Wunschliste, aber vom Geld der Engländerinnen war kaum noch etwas übrig. Das meiste hatte ich in die alte Eduscho-Kaffeedose gesteckt, die als Gemeinschaftskasse unserer Musketier-Wohngemeinschaft herhielt. Sie war grün lackiert und zeigte drei hübsch gekleidete Frauen an einem Kaffeetisch. Aber mit Eduscho war schon lange Feierabend. Bohnenkaffee kostete ein Vermögen und unsere Kasse war schneller leer als voll. Vier junge Kerle und ein sieben Monate altes Baby fraßen wie die Scheunendrescher. Wir achteten längst nicht mehr darauf, wer wann wie viel in die alte Kaffeedose steckte.
»Achtung!«, sagte Ottos Kollege Fred.
Aus dem Innern der Hotelhalle näherte sich ein elegantes Pärchen. Otto und Fred hielten die Türen auf und die Hotelgäste traten ins Freie. Na denn!
»Good morning, Herrschaften. How about a guide?« Ich machte einen Schritt auf die beiden zu und stolperte über die aufgeworfene Kante des roten Teppichs. Ich verlor Mütze samt Gleichgewicht und landete zu Füßen des Pärchens.
»Scheiße!«
Der Mann knurrte etwas, das Pärchen betrachtete mich abfällig und steuerte ein Taxi an.
Ich kniete auf dem Teppich und sah ihnen nach. »Affen!«
»Haben Sie sich verletzt?«
Ich blies mir den Pony aus der Stirn, hob meinen Blick und landete in dunklen Männeraugen.
Dunkles Licht, dachte ich.
»Leben Sie noch?«
Ich blinzelte, denn was ich gesehen hatte, verwirrte mich. Dunkles Licht? Das war doch unmöglich. »Ähm … nein.«
»Sie sind also tot?« Ein herzliches Männerlachen. Wie das von Papa.
»Nein … Ich meine … ich bin nicht verletzt.«
»Gut.« Der Mann grinste und reichte mir seine rechte Hand. »Bitte schön!«
Ein kräftiger Ruck stellte mich wieder auf die Beine. Ich bückte mich nach meiner Mütze, richtete mich auf und musterte den Mann. Er überragte mich um mehr als eine Kopflänge, was bei meiner Körpergröße von einssechsundsechzig keine Kunst war. Der Duft von Rasierseife und Zigarettenrauch stieg mir in die Nase. Mein Retter war schätzungsweise Ende zwanzig und trug einen sportlichen Tweedanzug. Über seinem linken Arm hing ein Mantel. Auch sonst war er prächtig ausgestattet. Braune Haare, breite Schultern, ein unverschämtes Grinsen im markanten Gesicht. Verdammt sympathisch, der Kerl, und, offen gestanden, so appetitlich wie eine heiße Bockwurst.
Warum dachte ich ständig an Bockwürste?
Mit Interesse las er den Text auf dem Schild, das mir mit einem Mal wie ein Sabberlatz vorkam.
»Ah! Sie sind der Führer!« Er sprach gutes Deutsch mit amerikanischem Akzent.
Otto und sein Kollege kicherten.
»Ein Führer, Mister«, verbesserte ich und rieb den Schmutz von der Knickerbockerhose.
Er lächelte breit, als ihm sein Versprecher bewusst wurde. »An der Rezeption sagte man mir, ich würde hier draußen einen jungen Mann finden, der mir helfen könnte.« Er schlug sich an die Stirn. »Verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Bradley Ashton Turner.«
»Wilhelm Scholze.«
Wir schüttelten uns die Hände.
»Sie wünschen eine Stadtführung?«, fragte ich.
»Nein. Ich bin Journalist und suche einen Fotografen. Adolf Hitler soll am Vormittag zum Reichskanzler ernannt werden. Ich möchte einen Artikel darüber schreiben und hätte gerne Fotografien dazu.« Er musterte mich skeptisch. »Glauben Sie, Sie schaffen das?«
»Na hören Sie mal! Ich habe meine Fotografenlehre mit besonderer Auszeichnung abgeschlossen.«
»Oh! Wie alt sind Sie?«
»Einundzwanzig.«
»Dann kommen Sie! Beeilen wir uns.« Er zog seinen Mantel über und knöpfte ihn im Davongehen zu.
Ich starrte ihm verblüfft nach.
Turner blieb stehen und drehte sich um. »Was ist? Wir müssen rechtzeitig am Kaiserhof sein, wenn wir einen Logenplatz haben wollen. Ich zahle jeden Preis.« Er setzte seinen Weg fort.
Ich riss mir das Schild vom Hals, stopfte es in meine Umhängetasche und hastete ihm wie ein angelocktes Hündchen hinterher.
Kurz darauf bogen wir in die Wilhelmstraße ein. Hier befanden sich die wichtigsten Ämter, das Reichspräsidentenpalais und die Reichskanzlei. Ihr schräg gegenüber am Wilhelmplatz protzte das Nobelhotel Kaiserhof mit preußischem Glanz und Gloria. Inzwischen residierte hier die Naziprominenz.
»Erzählen Sie mir was über die Nazis, Herr Scholze.«
»Was wollen Sie denn hören?«
»Wie die Leute von der Straße denken.«
Ich blieb abrupt stehen. »Na hören Sie mal! Ich bin kein Tippelbruder!«
»Was?«
»Ein obdachloser Bettler!«
Turner kratzte sich verlegen am Kopf.
Ich schniefte. Es gab wohlhabende Ausländer, die meinten, in Berlin könnte man für einen Appel und ein Ei die Welt beherrschen. Im Grunde war es auch so und das ärgerte mich.
»Verzeihen Sie, so habe ich das nicht gemeint. Ich bin mit der deutschen Umgangssprache nicht sehr vertraut.«
»Na, schon gut.«
»Mögen Sie die Nazis, Herr Scholze?«
»Hab noch keine gegessen«, antwortete ich noch immer ein bisschen eingeschnappt.
Wieder lachte Turner und mein Groll verflog erstaunlich schnell. Zum einen, weil es Dummheit gewesen wäre, einen Mann vor den Kopf zu stoßen, der jeden Preis zahlen wollte, und zum anderen natürlich, weil er mir gefiel.
»Ich kann die Nazis nicht leiden«, gestand ich.
Er sah mich an. »Und warum?«
»Weil sie nur Krawall machen und sonst nichts auf dem Kasten haben.«
Turner stutzte. »Kasten?«
Ich kicherte. »Nichts auf dem Kasten haben bedeutet so viel wie … keine besonderen Fähigkeiten besitzen.«
Er nickte und wir setzten unseren Weg fort.
»Es heißt, die Eigentümer des Kaiserhofs sympathisieren mit den Nationalsozialisten«, erklärte er. »Hitler bewohnt dort eine Suite und im Obergeschoss richtete die NSDAP ihre Schaltzentrale ein.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Irgendetwas haben sie also doch … auf dem Kasten.«
»Das sieht ihnen ähnlich«, schnaubte ich. »Hocken sich in eine Nobelherberge und erzählen den Arbeitern was von sozialistisch.«
Turner räusperte sich verlegen.
In diesem Augenblick dämmerte mir, dass er ja auch in einem der besten Hotels der Stadt wohnte. Ich sollte erst denken und dann reden.
»Welche Partei würden Sie denn wählen, Herr Scholze?«
»Gute Frage.«
Nach dem Tod meines Vaters vor sechs Jahren lebte ich bei den sozialdemokratischen Krögers, wo man viel über Politik redete. Aber es waren immer unerfreulichere Gespräche geworden, die sich im Kreise drehten. Ich hielt mich da raus. Für mich gab es nichts Schöneres, als in meiner wenigen freien Zeit mit der Leica, Emil und seiner kleinen Nichte Eva durch Berlin zu schlendern und Streiche auszuhecken.
Neulich schoben wir Eva im Kinderwagen durch den Tiergarten. Ich lenkte eine elegante Dame ab und Emil entführte ihr Schoßhündchen. Kurz darauf brachte er es dem aufgelösten Frauchen wieder zurück. Den Finderlohn verprassten wir mit Schwarzwälder Kirschtorte in der nächstbesten Konditorei. Dann waren wir wieder die Jungs vom Wedding und vergaßen die SA-Aufmärsche in den Straßen, die Toten, die es bei den Zusammenstößen mit den Roten gab, die Schlangen vor den Arbeitsämtern, die hungrigen Kinder bei den Ausgabestellen der städtischen Wohlfahrt, und, und, und. Berlin war ein brodelnder Vulkan.
»Ich bin nicht schlau genug für Politik, Mister Ashton. «
»Turner, bitte. Mein Nachname ist Turner.«
»Entschuldigung. Aber ich würde eine Partei wählen, die mich so sein lässt, wie ich bin.«
»Und welche wäre das, ihrer Meinung nach?«
»Die WSP.«
»WSP?«
»Die Willi- Scholze-Partei.«
Turner lachte ein drittes Mal. Es war keineswegs herablassend, sondern geradeheraus und herzlich. Ich wusste, dass ich ihn mochte.
Wir passierten die alten Palais. Ich deutete auf verschnörkelte Barockfassaden hinter schmiedeeisernen Gittertoren. »Einst wurden diese Paläste als Stadthäuser für Familien des deutschen Hochadels erbaut«, erklärte ich im Fremdenführertenor. »Heute verkörpern sie den Geist der wilhelminischen Zeit, der noch immer durch Berlin spukt.«
Turner lächelte. »Das haben Sie schön gesagt.«
»Hab ich auswendig gelernt.«
Turner kicherte.
»Für welche Zeitung schreiben Sie?«, fragte ich.
»Für keine. Ich arbeite als freier Mitarbeiter für eine New Yorker Presseagentur, die meine Reportagen dann an Zeitungen und Magazine verkauft.«
»Ah! Und … wie wird man Journalist?«
Er sah mich an. »Wie wird man Fotograf und Fremdenführer?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
Turner lächelte. »Ich studierte Geschichte und Germanistik. Geschrieben habe ich schon immer. Für die College-Zeitung und an der Highschool. Während meines Studiums übersetzte ich dann Artikel deutscher Journalisten für eine New Yorker Zeitung. So fing es an.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Und Sie?«
Ich erzählte es ihm.
»Die Krise hat die ganze Welt erfasst«, seufzte er.
»Auch Amerika?«
»Von dort kommt sie ja.«
»Wie lange sind Sie schon in Berlin?«
»Eine Woche.«
»Gefällt’s Ihnen?«
»Im Sommer ist es schöner.«
»Dann sind Sie nicht zum ersten Mal hier?«
»Ich begleitete meine Eltern vor fünf Jahren auf einer Europareise.«
Ich grinste. »Meine weiteste Reise ging mal nach Potsdam. Mit der Schule. Wegen ’m alten Fritz.«
»Potsdam ist ein schönes Reiseziel«, sagte Turner. Diese Antwort war nett. Er wollte mich nicht blamieren.
»Besonders Sanssouci«, ergänzte er.
»Das heißt ohne Sorge«, erklärte ich.
»Sprechen Sie auch Französisch?«
»Nee, das weiß doch jeder.«
Wir lächelten uns zu.
»Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut, Mister Turner.«
»Die Eltern meiner Mutter stammen aus Danzig und wanderten als junges Paar in die Staaten aus. Ich spreche mehrere Sprachen, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin. Englisch, Deutsch und Polnisch. Dazu ein wenig Französisch.« Er machte eine kleine Pause und lächelte verschmitzt. »Wenn Amerikaner Französisch sprechen, klingt es allerdings völlig albern.«
Ich feixte. »Sagen Sie doch mal was!«
Er hielt an und überlegte. »Scheiteim.«
»Was?«
»Ich versuch’s mal anständig.« Er atmete tief ein. »Je t’aime«, hauchte er theatralisch und verdrehte dabei die Augen.
Ich lachte. »Hört sich immer noch nicht besser an.«
»Sag ich doch.«
»Was heißt das?«
»Ich …« Er zögerte. »Ist nicht so wichtig.«
»Nun sagen Sie schon!«
»Ich liebe dich.« Er wurde rot wie eine Tomate und dieses geheimnisvolle dunkle Licht leuchtete wieder in seinen Augen.
»Ich spreche nur Deutsch und ein bisschen Englisch«, sagte ich schnell und rettete ihn damit aus seiner Verlegenheit.
»Wirklich?«
»Yes. I learned it while I became a photographer«, erklärte ich abgehackt und mit fürchterlich deutschem Akzent, »and now I can talk with the visitors and show them all the beautiful places of Berlin.« Nach dem langen Satz schnappte ich nach Luft und grinste. »Puh!«
Turner applaudierte. »Perfekt! Habe alles verstanden.«
»Danke.« Ich betrachtete ihn. »Was haben Sie gegen die Nazis? Ich meine, als Amerikaner könnten sie Ihnen doch piepegal sein.«
Er stutzte. »Piepegal?«
»Na, egal eben.«
»Ach so. Nun, meine polnische Großmutter ist jüdisch, Herr Scholze. Für die Nazis bin ich ein Straßenköter. Haben Sie nie Hitlers Mein Kampf gelesen und was er über die arische Rasse schreibt?«
»Nein. Aber mein ehemaliger Vormund sagt, dieses Buch beleidigt den gesunden Menschenverstand.«
»Vormund?«
»Meine Eltern leben nicht mehr.«
Turner starrte mich an. »Das tut mir sehr leid, Herr Scholze.«
»Meine Mutter starb, als ich sieben war. Vater arbeitete als Brauereifahrer. Seine Gäule haben ihn überrollt. Da war ich fünfzehn.«
»Das ist ja furchtbar.«
Ich nickte.
»Mussten Sie in ein Heim?«
»Nein. Der Fotograf Ludwig Kröger, bei dem ich damals nebenher als Botenjunge gearbeitet habe, nahm mich bei sich auf und bildete mich aus. Er und seine Frau mochten mich und beantragten die Vormundschaft, da ich sonst keine Verwandten mehr hatte. Heute sind wir Freunde.« Ich betrachtete ihn. »Aber Sie wollten doch etwas über die Nazis hören.«
»Ich weiß auch gerne etwas über die Menschen, mit denen ich arbeite.« Turner zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Manteltasche und bot mir eine an.
Ich griff natürlich zu. »Danke. Also, für mich sind die Nazis Wichtigtuer und die SA eine Horde Arbeitsloser in Uniform, die keine Idee mehr haben, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.«
Turner gab mir Feuer. Ich schützte die Flamme mit meinen Händen, die ich über seine legte, und zog, bis die Zigarette glühte.
»Man verspricht den Kerlen Freibier und ein bisschen Prügelspaß«, sagte er und zündete sich ebenfalls eine an.
Ich blies den Rauch aus und nickte. »Selbst denken ist dort nicht gefragt. Das weiß ich von meinem Freund Hans. Der ist bei der SA und konnte eigentlich immer ganz gut denken.«
Turner stutzte. »Sie haben einen Freund in der SA?«
»Freunde müssen nicht immer dieselbe Meinung haben«, sagte ich.
»Sondern?«
»Füreinander da sein.«
Turners Gesicht wurde sehr ernst. »Es gibt zwei Arten von Politik, Herr Scholze. Die eine wird auf der Straße gemacht, die andere an Edelholztischen. Beide ergänzen sich hier vorzüglich.«
»Versteh ich nicht.«
»Die NSDAP war lange nicht gesellschaftsfähig. Die Parteiführung gibt sich inzwischen aber weltmännisch, um in der High Society Eindruck zu schinden. Daneben schickt sie ihre SA-Schläger auf die Straße, um das Volk zu beeindrucken, weil sie genau wissen, wo den Leuten … wie sagt man … der Schuh drückt.«
»Und wo?«
»Die Angst vor dem Kommunismus. Und viele glauben, dass die Juden an der Wirtschaftskrise schuld sind.«
»Sind sie’s?«, fragte ich.
»Ich bitte Sie! Das ist keine Frage der Glaubenszugehörigkeit, sondern von Kapitalbewegungen.«
»Aber es gibt doch viele reiche Juden.«
»Und viele reiche Christen.« Turner steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel und grinste. Wie Papa.
Ich dachte nach. »Ludwig meint, die Nazis und ihr völkischer Schwachsinn sind bald wieder von der Bildfläche verschwunden. Aber Hans ist von dem völkischen Gedanken geradezu hingerissen. Arier, und all das Gedöns.«
»Der völkische Schwachsinn, wie Sie es nennen, gefällt vielen Deutschen.«
»Mir nicht«, sagte ich. »Seh ich vielleicht aus wie ein Herrenmensch?«
Turner musterte meine schmächtige Gestalt, blies den Rauch aus und sah mich an. »Die Nazis lösen sich nicht wieder in Luft auf. Glauben Sie mir. Sie sprechen zu vielen Deutschen aus der Seele.«
»Warum?«
»Ihre nationale Bewegung ist erfolgreich. Dieser Hermann Göring zum Beispiel. Ein dekorierter Offizier mit Beziehungen zu Gesellschaft und Reichswehr. Seit vier Jahren vertritt er die NSDAP im Reichstag und ist inzwischen Reichstagspräsident.«
»Es heißt, er sei morphiumsüchtig und war in einer Nervenheilanstalt. Wenn das stimmt, ist er nichts weiter als ein … Bekloppter.«
Turner sah mich fragend an.
»Ein geistig verwirrter Mensch, meine ich.«
»Wenn Hitler Reichskanzler ist, Herr Scholze, dann wird dieser … Bekloppte eine zentrale Rolle in der Regierung spielen. Ernst Röhm, der SA-Stabschef, befehligt inzwischen vierhunderttausend Männer.«
»Und er tätschelt ihre Hintern.«
Turner verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette.
Ich grinste. Es gefiel mir, ihn in Verlegenheit zu bringen.
»Nun«, sagte er und schürzte süffisant die Lippen, »damit ist der Kerl wenigstens eine Weile abgelenkt.«
Wir lachten wieder.
»Woher wissen Sie das alles, Mister Turner?«
»Oh, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und bin gut informiert. Außerdem ist der amerikanische Botschafter in Berlin ein guter Freund unserer Familie.«
Ich nickte anerkennend.
Er betrachtete mich. »Ich möchte Ihren Vormund gerne kennenlernen, Herr Scholze. Er scheint ein interessanter Gesprächspartner zu sein.«
»Ehemaliger Vormund. Ich bin volljährig und stehe auf eigenen Füßen. Deswegen interessiere ich mich im Augenblick mehr für neue warme Schuhe als für Politik.«
»Warten Sie.« Turner stellte seinen Fuß neben meinen. »Ich tippe auf sieben. Richtig?«
Sein großer Schuh neben meinem führte mir meine geringe Körpergröße deutlich vor Augen. »Was?«
»Schuhgröße sieben?«
»In Deutschland sagt man neununddreißig.«
Turner überlegte. »Sieben ist neununddreißig. Eine spannende mathematische Gleichung, nicht wahr?«
»Hör’n Sie mir bloß damit auf! Ich bin sehr schlecht im logischen Denken.«
Turner schmunzelte.
»Im Übrigen finde ich Sie nicht besonders charmant«, sagte ich.
Er stutzte. »Wieso?«
»Weil ich es vielleicht nicht gerade für aufregend halte, so klein zu sein.«
»Glauben Sie, es ist aufregender, so groß zu sein?«
Wir sahen uns an. Der Mann war meine Kragenweite.
In Richtung Kaiserhof verdichtete sich der Fußgängerstrom. Am Wilhelmplatz ging nichts mehr. Eingekeilt standen wir zwischen unzähligen nationalsozialistischen Anhängern.
Plötzlich erklang ein Sprechchor. »Wir … wollen … unsern … Führer … sehn!«
Immer mehr Leute schlossen sich an, bis die trotzig geforderten Worte wie dichte Wolken über dem Platz hingen.
»Wir … wollen … unsern … Führer … sehn!«
Die Menge geriet in Bewegung und schob uns unter Heil-Rufen zum Hotelgebäude. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte meinen Kopf. Zum ersten Mal stand Adolf Hitler leibhaftig vor mir. Ich setzte sofort die Leica ans Auge und drückte ab. Hitler blieb auf der Eingangstreppe stehen, warf seine Hand lasch in die Höhe und lächelte fast schüchtern. Ich hielt die Geste fest, während ich mir einen unangenehmen feucht-weichen Händedruck vorstellte. Ich konzentrierte mich ganz auf Hitler und seinen Einfluss auf die Szenerie. Polizisten und Hitlers SS-Männer hatten Mühe, die jubelnden Anhänger zurückzuhalten. Ein ausgezeichnetes Motiv. Ich drückte ab.
Die Heil-Rufe dröhnten in meinen Ohren. Gestreckte Arme verdeckten mir plötzlich die Sicht. Ich nahm sie auf. Großartig, wie sie nach ihrem Führer gierten. Eine starke Aufnahme.
Die Stimmung spornte mich an, aber das Gedränge machte es mir bald unmöglich, zu fotografieren. Als ich wieder freie Sicht hatte, war Hitler bereits in seinem Wagen verschwunden. Immer noch brüllten die Leute. »Heil! … Heil!«
Ich stand verwirrt unter meinen Landsleuten. Noch vorhin hielt ich Hitler für einen Clown, eine Eintagsfliege, hatte nichts als Spott übrig und jetzt erlebte ich einen … Messias.
Ein Teil der Menge folgte Hitlers Wagen zum nahen Reichspräsidentenpalais wie treue Jünger. Der andere zerstreute sich. »Gefällt er Ihnen am Ende?« Turner musste meine Verwirrung bemerkt haben.
Ich starrte ihn an.
»Man sagt, es gibt Frauen, die in Ohnmacht fallen, wenn sie ihn sehen«, frotzelte er.
»Vor Schreck?«
»Vor sexueller Erregung.«
»Was Sie nicht sagen.« Ich beobachtete die sich auflösende Menge. »Er gewinnt sie mit Hass, nicht mit Menschenliebe.«
»Sagt jemand, der sich nicht für Politik interessiert.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es ist kalt.« Turner legte vertraulich eine Hand auf meinen Arm.
Ich sah ihn an.
Er zog seine Hand sofort wieder zurück und räusperte sich. »Darf ich Sie auf einem Kaffee einladen?«
»Einladen klingt immer gut, Mister Turner.«
»Ach, nennen Sie mich doch Brad. Ich bin nicht so förmlich.« Sein Blick mit dem dunklen Licht ließ keine Widerrede zu.
Kurz darauf saßen wir uns in einem Café an einem kleinen Tisch gegenüber, tranken Mokka und aßen Schwarzwälder Kirschtorte. Mein Lieblingskuchen. Das heißt, ich aß und Brad beobachtete mich amüsiert, wie ich genüsslich Gabel für Gabel dieser für mich seltenen Köstlichkeit in den Mund schob. Jeder Bissen begleitet von einem wohligen Mhm. Er hatte sein Stück noch nicht mal angerührt.
Unsere Knie stießen unter dem Tisch aneinander.
»Verzeihung«, sagten wir gleichzeitig und kicherten.
»Schmeckt die Torte, Will?«
»Ich liebe Schwarzwälder Kirsch«, nuschelte ich mit vollen Backen. »Leider bekomme ich viel zu wenig davon.«
Lächelnd schob er mir seinen Teller zu. »Bitte. Bedienen Sie sich.«
»Oh, danke schön! Haben Sie keinen Appetit?«
»Nicht wirklich.«
Ich stopfte den letzten Bissen in den Mund und strahlte das neue Tortenstück an wie eine Wunschfee.
»In welchem Teil Berlins leben Sie, Will?«
»Uffmwedding«, nuschelte ich.
»Uff… Uffmweddding?«, wiederholte er so komisch, dass ich gluckste. »Wo ist das?«
»Am Wedding«, erklärte ich auf Hochdeutsch. »Berliner sagen nicht in Wedding.«
»Ah.«
Ich sah ihn an und deutete mit der Gabel auf die Torte. »Wollen Sie wirklich nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich teile eine kleine Wohnung mit drei Freunden.«
Brad nickte.
»Und einem Baby.«
»Einem … Baby?« Brad nahm einen Schluck Kaffee. Schwarz, ohne Zucker.
»Das ist eine verworrene Geschichte«, erklärte ich.
»Dann interessiert sie mich umso mehr.«
Ich hob eine Augenbraue. »Sind Sie sicher?«
Er nickte.
»Also gut. Meine Freunde und ich wurden alle am selben Tag in derselben Straße geboren. Emil und ich sogar im selben Haus. Wir kennen uns seit unserer Geburt. Unsere Mütter steckten uns schon zusammen in die Wiege. Wir vier hängen zusammen, seit ich denken kann. Früher nannte man uns die Musketiere vom Wedding.«
»Einer für alle, alle für einen.« Brad grinste. »Ich dachte, so etwas gibt es nur in Romanen.«
»Nee, das gibt’s auch im wirklichen Leben. Wir träumten jedenfalls schon lange davon, zusammenzuleben. Als Emils Mutter starb, waren wir gerade volljährig und haben die Wohnung übernommen. Aber wir müssen ganz schön wirtschaften. Das meiste Geld geht für Essen, Miete und die Babysachen drauf.«
»Und wie kommen vier junge Kerle an ein Baby? Haben Sie auch dieselbe Freundin?« Er schmunzelte.
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist keine lustige Geschichte, Brad. Emils Familie war vom Pech verfolgt. Sein Vater starb an den Folgen einer Kriegsverletzung. Gleich nach der Schule musste Emil als Arbeiter bei der AEG Lampen zusammenbauen, um seine Leute durchzubekommen. Seine ältere Schwester Vera ist zu den Kommunisten gegangen. Ihr Freund wurde bei einem Straßenkampf von der SA abgestochen.«
»Oh mein Gott!«
»Aus dieser kurzen Beziehung stammt Eva. Inzwischen ist sie fast acht Monate alt. Vera verschwand über Nacht im vergangenen Oktober, angeblich nach Moskau, und Emils Mutter traf daraufhin der Schlag.«
Brad starrte mich an. »Das gibt’s doch nicht!«
»So was erfindet nicht mal ein Schmonzettenschreiber«, fuhr ich fort. »Wir Musketiere zogen zusammen und Evchen bekam vier Väter, sozusagen.«
»Wie schaffen Sie das mit dem Kind? Ich meine, vier junge Männer ohne Frau?«
»Einer für alle, alle für einen, Brad. Das ist Freundschaft. Emil ist Evchens Vormund und wir wechseln uns mit der Betreuung ab. Das klappt, wenn man sich organisiert. Wir haben einen straffen Wochenplan. Emil wurde bei AEG entlassen und arbeitet nun bis mittags in einer Großwäscherei. Tischdecken für Restaurants und Bettwäsche für Hotels bügeln. Wenn er da ist, geht Joseph weg. Er verdient sein Geld als Eintänzer in einem Café am Ku’damm. Ich pass dann meist abends auf Eva auf und Hans ist unser Springer, weil er in der SA unterschiedliche Dienstzeiten hat. Er macht dort Buchführung. Sie bezahlen schlecht, aber immerhin. Das Geld wird zusammengeworfen und wer was am nötigsten braucht, bekommt es. Das ist natürlich gelebter Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus und Demokratie in einem.«
Brad lachte.
»Lachen Sie nicht! Das ist mein voller Ernst. Wir verdienen nicht viel, aber zu viert stemmen wir das. Wenn es sein muss, nehmen wir die Kleine auch einfach mal mit. Manchmal springt Ilse Kröger ein, Ludwigs Frau. Na, und wenn die Fräuleins von der Jugendfürsorge anrücken, kocht Joseph Malzkaffee und macht ihnen schöne Augen. Die lieben uns und da der Staat kein Geld hat, sind die froh, dass wir die Kleine so gut durchfüttern.«
Brad staunte. »Und woher wissen Sie, was ein Baby so braucht?«
»Wir haben gleich nach Veras Verschwinden einen Kurs für werdende Mütter besucht. Vier junge Kerle unter Frauen. Das war die Schau und hat die von der Fürsorge schwer beeindruckt. Natürlich wissen sie nicht alles über uns. Zum Glück.«
»Sie haben Geheimnisse vor den Behörden, Will?«
»Sie nicht?«
Wir lachten.
Brad bemerkte meine leere Kaffeetasse. »Oh, möchten Sie vielleicht noch einen Mokka?« In seiner Stimme schwang die offensichtliche Befürchtung, dass unser zwangloses Geplauder zu früh enden könnte.
Gegen Mittag fuhr ich mit rasendem Herzen von zu viel ungewohnt starkem Mokka in der U-Bahn an den Wedding. Dass Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer. Ich hatte Brad angeboten, den Film bei Ludwig selbst zu entwickeln und die Fotografien am nächsten Morgen ins Hotel zu bringen. Er war natürlich einverstanden.
An der Müllerstraße, der Weddinger Haupteinkaufsstraße, besorgte ich von Brads Honorar endlich Bockwürste, Brot, Gemüse, Obst, Milch, Butter und Haferflocken. Ich war spät dran und hatte am Morgen versprochen, einzukaufen, falls ich Erfolg haben sollte.
Als ich die Fleischerei verließ, erregte der Gleichschritt marschierender Stiefel meine Aufmerksamkeit.
»… Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen,
SA marschiert mit ruhig festem Schritt …«
Etwa sechzig SA-Männer grölten fahnenschwingend ihr Kampflied. Polizisten begleiteten sie. Die Passanten blieben stehen und betrachteten das Schauspiel. Die meisten mit Abscheu und Wut, denn der Wedding galt nach wie vor als eine rote Hochburg. Andere applaudierten.
Die Koppeln und Dolche an den braunen Uniformen glänzten in der Wintersonne. Mittendrin marschierte unser Hans Gehringer wie ein Oberarier.
Er bemerkte mich und nickte mir zu. Der blonde Hans sah schon zackig aus, so in Uniform. Aber was fand er nur an dieser SA?
