Die Nacht von Barmbeck - Jürgen Ehlers - E-Book

Die Nacht von Barmbeck E-Book

Jurgen Ehlers

4,5

Beschreibung

Hamburg in den frühen 1920er Jahren. Einbrüche und Raubüberfälle sind an der Tagesordnung. Wilhelm Berger und seine Kollegen von der Kripo sehen sich einer gut organisierten Bande von Kriminellen gegenüber. Ihr Anführer Julius Adolf Petersen, genannt der "Lord von Barmbeck", ist kein Gentleman-Verbrecher, sondern ein gefährlicher Gewalttäter. Gewalt gibt es allerdings auch anderswo: Hunger-Unruhen, Kapp-Putsch - die junge deutsche Republik steckt in einer schweren Krise. Schon bald zeigt sich: Um Petersen das Handwerk zu legen, geht die Polizei bis an die Grenzen des Rechtsstaats - und darüber hinaus ...

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Jürgen Ehlers

Die Nacht von Barmbeck

Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

»Mann über Bord«»Mitgegangen«»Neben dem Gleis«»Die Nacht von Barmbeck«»In Deinem schönen Leibe«»Der Spion von Dunvegan Castle«

Jürgen Ehlers wurde 1948 in Hamburg geboren, lebt heute mit seiner Familie auf dem Land und arbeitet hauptberuflich im Geologischen Landesamt Hamburg. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis, die in verschiedenen Verlagen im In- und Ausland veröffentlicht wurden, und ist Herausgeber von Krimianthologien. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«.

Sein erster Kriminalroman »Mitgegangen« wurde in der Sparte Debüt für den Friedrich-Glauser-Preis nominert.

Jürgen Ehlers

Die Nachtvon Barmbeck

1. Auflage Juni 20082. Auflage Dezember 20093. Auflage Oktober 20114. Auflage September 2012

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Redaktion, Satz: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-940077-26-4E-Book-ISBN 978-3-95441-035-4

I. Sieg

Tod eines Wachtmeisters

19. Mai 1919

1.

»Thérèse. Das ist Thérèse.« Wilhelm Berger tippte auf die sepiafarbene Fotografie. Niemand hörte ihm zu. Es war Nacht, er war betrunken, und von Thérèse Charpentier-Deterville, deren Bild er seit einem dreiviertel Jahr mit sich herumschleppte, hatte er seit jener Nacht in Huppaye nie wieder etwas gehört. »Warum schreibst du nicht?«, murmelte er. Sie hatte es doch fest versprochen.

Unter einer Straßenlaterne hielt er an, betrachtete das Bild. Das Foto war in einem Studio aufgenommen. Der Park im Hintergrund war nur gemalt. Und dieses hölzerne Ding, was sollte das sein? Eine Bank?

Ungestüm sah sie aus, die Thérèse.

Das Foto fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich danach, geriet ins Straucheln, fing sich wieder. Noch ein Zettel war heruntergefallen. Die Seite, die er immer in sein Tagebuch kleben wollte, wozu er aber nie gekommen war.

Am 24. April Sturmangriff auf den Kemmel-Berg. Nachts um 3.30 Uhr Beginn des Trommelfeuers. Gasschießen. Wir setzen Masken auf, Regen. Noch vor 7 Uhr in den großen Sprengtrichter. Um 7.00 Uhr Sturm. Viel Gas und Pulverdampf, Blasen, Gefangene, Verluste, Halt. Splitter gegen Bein. Trull tot. Straße Kemmel-Ypern, Schlafen im Freien, Regen. Oft in Gefahr. Am Abend des 27. abgelöst. In unserer Kompanie 12 Tote, 30 Verwundete.

Zwölf Tote, dreißig Verwundete. Fast die Hälfte war das gewesen.

Zum Teufel damit. »Zum Teufel mit dem Krieg!«

Hatte er das wirklich laut gerufen? Und, was da knallte, waren das wirklich Schüsse? Hier, in Hamburg, mitten im Frieden? Nein, er träumte.

Undeutlich nahm er wahr, dass Leute auf ihn zurannten; sie sahen ihn, verschwanden nach links zwischen den Häusern. Und vor ihm, vor ihm lag etwas auf der Kreuzung. Vielleicht sollte er ... Da schepperte es unmittelbar neben ihm. Die Männer, die eben noch in die Gärten gerannt waren, kamen zurück, kletterten über ein Gitter.

»He, he! Nun mal langsam!«, rief er.

Sie stießen ihn zur Seite.

2.

»Jetzt haben wir es gleich geschafft!« Wernicke gähnte.

»Ja«, sagte Brandt. So hatte er sich den Dienst bei der Polizei nicht vorgestellt.

Die beiden Schutzleute standen an der Ecke Peterkampsweg und Wandsbeker Chaussee in Eilbeck. Eigentlich waren sie auf Streife, aber man konnte ja nicht die ganze Zeit herumlatschen, schon gar nicht mit den neuen Stiefeln. Es war drei Uhr morgens; die Straßen waren leer.

»Ich hör auf«, sagte Brandt.

Wernicke lachte. »Das hat schon mancher gesagt.«

»Doch, ganz im Ernst. Dieser Schichtdienst, der macht einen kaputt.«

»Gleich ist er ja vorbei!« Wernicke, der ältere der beiden Schutzleute, wollte diese Leier nicht schon wieder hören. Auch er war nicht begeistert davon, sich die Nächte auf diese Weise um die Ohren zu schlagen, aber er hatte sich damit abgefunden. Es wurde ja alles besser. Und sicherer. Die Hungerunruhen vom April – vorbei. Keine Gefahr mehr, dass der Mob die Polizeiwache stürmte. Sogar neue Stiefel hatte er gekriegt inzwischen. Die drückten zwar, aber wenn er sie gut fettete, würde sich das schon geben. »Und was willst du machen, wenn du wirklich hier aufhörst?«

Darüber hatte sich Brandt noch keine Gedanken gemacht. »Ich bin doch jung, ich kann überall Arbeit finden.«

»Denk dran, du hast hier ’ne Lebensstellung ...«

»Lebenslänglich, ja, das kannst du wohl sagen. Von den dreihundert Piepen kann man ja nicht leben und nicht sterben. Und wenn wir jetzt heiraten, die Irmi und ich ...«

»Heiraten willst du?«

»Ja, wir wollen heiraten.« Brandt klang etwas kleinlaut.

Wahrscheinlich muss er heiraten, dachte Wernicke. »Wenn ich dir mal was sagen darf, mein Lieber, dann ist es dieses: Bleib bloß in dieser Stellung und erzähl keiner Menschenseele, dass du hier weg willst. Denn wenn die da oben das erst spitz kriegen, dann kannst du sicher sein ...«

»Moment mal!«

»... dann kannst du ganz sicher sein, dass sie dir hinterher ...«

»Sei doch mal still!«

»Was ist denn los?« Wernicke sah sich um.

»Da hinten, da sind welche!«

»Wo?«

»Da, bei der Kreuzung!«

Wernicke sah niemanden.

»Beim Roßberg muss das sein«, sagte Brandt. »Ja, das ist die Ecke Roßberg. Und da auf der anderen Seite, das ist die Maxstraße.«

Wernicke wusste selbst, wie die Straßen hießen. »Was hast du gesehen?«, fragte er ungeduldig.

»Da sind zwei Männer rübergegangen!«

»Um diese Zeit?« Mist, das sind Einbrecher, dachte Wernicke.

»Das sind Einbrecher! – Komm, die schnappen wir uns!«

»Die sind bestimmt längst weg.«

»Die haben uns doch nicht gesehen! Komm, wir teilen uns auf: Ich gehe hier drüben rein, Fichtestraße, und dann nach links. Du gehst hier runter und dann in die Maxstraße. Da haben wir sie in der Zange.«

»Ja, das können wir versuchen.« Wernicke war nicht begierig darauf, jetzt kurz vor der Ablösung auf ein paar Einbrecher zu treffen. Über den Eifer des Kollegen konnte er nur den Kopf schütteln. Eben wollte er noch den Dienst an den Nagel hängen!

Brandt eilte davon.

Wernicke ging die Wandsbeker Chaussee entlang. Nur nichts überstürzen. Da war schon die Maxstraße. Er guckte erst einmal, was hier überhaupt los war. Einbrecher. Wo könnten die herkommen? Aus jedem der anliegenden Häuser natürlich, das war klar. Oder hier aus dem Laden.

An der Ecke Roßberg/Wandsbeker Chaussee gab es ein Textilgeschäft. Lehmann, Weißwaren. Die Scheiben waren unversehrt, die Tür war geschlossen. Wernicke trat heran, fasste an die Klinke. Die Tür ließ sich öffnen! Tatsächlich ein Einbruch?

Schlagartig wurde Wernicke klar, dass sein Kollege in Gefahr war. Er rannte los.

3.

Brandt lief indessen die Fichtestraße entlang und bog dann in die Schellingstraße ein. Er war gut im Training, aber er wusste natürlich, dass er sich beeilen musste. Sein Weg war mehr als doppelt so lang wie der der beiden Männer, die er gesehen hatte. Nur mit Glück konnte er sie noch erwischen!

Schon hatte er die Kreuzung vor sich. Alles frei, niemand zu sehen. Brandt hörte auf zu rennen, fiel in einen gemächlichen Trab. In dem Augenblick kamen sie. Zwei Männer waren es, die einen Sack zwischen sich trugen. Jeder hatte einen Zipfel gepackt, und gemeinsam schleppten sie die offensichtlich schwere Last über die Kreuzung. Brandt war keine fünfzig Meter entfernt, er fing wieder an zu laufen. Da bemerkten die Männer ihn.

»Halt!«, rief Brandt, aber da hatten die beiden schon den Sack fallen gelassen und rannten in unterschiedliche Richtungen davon. Kein Zweifel, das waren Einbrecher! »Halt! Polizei!«

Sie hörten nicht auf ihn.

Brandt wollte hinterher, da sah er, dass auf der anderen Straßenseite noch jemand stand. Der Mann bewegte sich jetzt, wollte sich offensichtlich davonmachen, so tun, als ob er nicht dazugehörte. Aber er gehörte dazu, keine Frage, was hätte er sonst zu dieser Stunde hier auf der Straße zu suchen?

Brandt packte ihn am Arm.

»He, was soll das?« Der Kerl wollte sich losreißen.

»Mitkommen!« Brandt ließ nicht locker. Er zerrte den Mann auf die Kreuzung, ins Licht, zu dem liegen gebliebenen Sack. Der Kerl wand sich wie ein Aal. Zu spät bemerkte Brandt, dass der Bursche mit der freien Hand etwas aus der Tasche zog. Eine Waffe!

Der Wachtmeister griff danach. Zu spät.

4.

Wernicke sah die Männer vor sich auf der Kreuzung. Plötzlich krachte ein Schuss, dann noch einer. Zwei Schüsse in rascher Folge. Wernicke sprang in Deckung. Er riss seine Waffe heraus. Wo war Brandt? Da vorne stand er!

»Schieß doch, schieß!«, rief er.

Aber der Mann, der da vor ihm auf der Kreuzung stand, wendete sich ab und rannte. Als Wernicke hinterher wollte, sah er, da stand noch jemand, nicht auf der Kreuzung, sondern weiter vorn, hinter dem Baum!

»Brandt!« schrie Wernicke.

Da blitzte es auf. Nicht Brandt! Jemand schoss auf ihn!

Wernicke zückte die Trillerpfeife. Über ihm im Haus, über dem Krämerladen, wurde ein Fenster aufgerissen. »Was ist denn los hier?« Eine kräftige Männerstimme. Auch von den Fenstern auf der anderen Straßenseite wurden Stimmen laut. Als Wernicke sich wieder gefasst hatte, war der Mann verschwunden.

Wernicke rannte auf die Kreuzung. Da lag etwas groß und schlapp mitten auf der Fahrbahn. Um Himmels willen, dachte Wernicke. Aber es war nicht der Kollege. Es war der Sack, den die Einbrecher fallen gelassen hatten.

Brandt lag ein paar Meter weiter, auf halbem Wege zur Schellingstraße, aus der er gekommen war, und rührte sich nicht.

»Brandt!«, schrie Wernicke. Er kniete sich neben ihn. »Mensch, Brandt, was machst du für Sachen?«

Der Kollege antwortete nicht.

»Junge, komm hoch, so – schlimm wird’s schon nicht ...« Wernicke brach ab. Er bemerkte jetzt, dass er sich in einen Blutfleck gekniet hatte.

»Sag doch was!«, bat er.

Umsonst. Der Schutzmann Brandt war tot.

5.

Was wollten diese Leute von ihm? »Ich will nach Hause«, sagte Berger. »Ich will einfach nur nach Hause und schlafen.« Sie hatten ihn auf die Wache gebracht.

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, so einfach geht das nicht. Hier ist ein Einbruch verübt worden, und ein Mord. Sie wurden zur Tatzeit am Tatort angetroffen und haben uns bisher keine glaubhafte Erklärung darüber abgeben können, was Sie da gemacht haben!«

»Gar nichts hab ich gemacht. Ich hab gesoffen und bin auf dem Weg nach Hause.«

»Wo haben Sie gesoffen?«

»In Hamburg. Unten am – am Hafen.«

»Und wo sind Sie zu Hause?«

»Wandsbek. – Aber was geht Sie das an?«

»Und warum irren Sie dann hier mitten in der Nacht durch Eilbeck, anstatt mit dem Zug direkt bis vor die Haustür zu fahren?«

»Fährt doch kein Zug mehr, um diese Zeit!«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Ja, wo hab ich denn – ach, im Mantel. Wo ist denn der – ach, da drüben.«

Einer der Polizisten prüfte den Inhalt der Taschen, fand nur ein vollgerotztes Taschentuch.

»Innen.«

Der Polizist zog das Foto von Thérèse aus der Tasche. »Was ist das denn für ’ne Schlampe?«

»Andere Tasche.«

»Ist das Ihre Freundin?« Der Polizist griff in die andere Tasche. Da steckte tatsächlich ein Dokument; er zog es heraus. »Oh«, sagte er. »Das ist ein Dienstausweis.«

»Was denn sonst?«, lallte Berger. »Wir bei der Kripo haben alle Dienstausweise!«

6.

Die Kriminalwachtmeister Jastorf und Krohn kamen fast gleichzeitig in Eilbeck an. Wache 38. Berger lag in der Arrestzelle und pennte.

»Ja, das ist er«, sagte Krohn. »Wie lange ist das jetzt her? Fast sechs Stunden? Gut, dann ist das Meiste wieder abgebaut, dann müssen wir ihn nur noch wach kriegen.«

»Das mache ich«, sagte Jastorf. »Man reiche mir einen Eimer Wasser!«

Zu dritt ließen sie sich berichten, was die Kripo vor Ort unternommen hatte.

»Wir haben drei Dinge gemacht. Zum einen haben wir festgestellt, was es mit diesem Einbruch auf sich hat. Wir haben den Sack auf die Wache gebracht. Er enthielt Kleidung. Der Sack war in der Tat so schwer, dass man ihn mit zwei Mann tragen musste. Festgestellt wurde, dass der Inhalt des Sackes bei dem Manufakturwarenhändler Hermann Lehmann, Wandsbeker Chaussee 160, mittels Einbruch gestohlen war. Die Täter sind vom Hausflur aus in den Keller gelangt, haben die Tür zu dem Keller, welcher unter dem Laden liegt, mit zwei Brecheisen aufgebrochen ...«

»Zwei Brecheisen?«, fragte Krohn.

»Ja, das sieht man an den unterschiedlichen Spuren. Die Täter haben vorher wohl mit einer Brustleier gebohrt, aber damit haben sie die Tür nicht aufgekriegt. Da haben sie sie dann mit dem Eisen aufgebrochen und sind so in den Laden gelangt.«

»Und dieser Lehmann – wo wohnt der?«

»Oben. Im ersten Stock. Aber der hat nichts gehört. Wir haben den Laden zunächst gesperrt und das chemische Staatslaboratorium in Kenntnis gesetzt – wegen der Fingerabdrücke.«

»Und?«

»Leider vergeblich.«

»Das waren Berufsverbrecher«, sagte Jastorf.

»Der Herr Lehmann hat uns ein Verzeichnis der gestohlenen Sachen erstellt.«

»Darf ich mal sehen?« Jastorf nahm sich die Liste.

»Die abgehakten Teile sind in dem Sack gefunden worden«, erläuterte Wernicke.

»Da fehlt also noch ein ganz erheblicher Teil?«

»Ja, mindestens die Hälfte. Sofort nach Bekanntwerden der Tat haben wir die Wohnungen der hier bekannten Verbrecher durchsucht. Nur einen davon haben wir zu Hause angetroffen: Fritz Wehner. Wir haben seine Kleidung kontrolliert ...«

»Wozu das?«, fragte Krohn.

»Die Täter haben das Diebesgut in einem Sack transportiert, in dem vorher Federn gewesen sind. Wir gehen davon aus, dass Spuren von den Federn an dem gestohlenen Zeug zu finden sein müssen.«

»Und? Haben Sie Federn gefunden?

»Nein. – Dann kam noch dieser Schmied infrage. Willi Martens heißt der. Wird wegen verschiedener Einbrüche gesucht. Aber der war nicht zu ermitteln.«

Berger zog die Stirn kraus. So konnte man doch nicht arbeiten! Auch Krohn schien nicht überzeugt, dass Martens und Wehner für diese Tat in Betracht kämen.

»Außerdem haben natürlich unsere Leute die Zeugen vernommen. Hier sind die Aufzeichnungen.«

Warum mussten immer die Kollegen mit der größten Sauklaue das Protokoll schreiben? Die Zeilen der Sütterlinschrift flossen ineinander; Oberlängen und Unterlängen überlappten sich. Berger hatte große Mühe, den Text zu entziffern.

Der Zeuge Milchhändler Wilhelm Knoor, wohnhaft Maxstr. 13, daselbst befragt:

»Am 19.5.1919 kurz vor 3.30 Uhr vormittags hörte ich Laufen bei uns in der Straße. Ich sprang aus dem Bett und öffnete die Tür, um zu sehen, was los war. Ich hörte, wie jemand rief: »Schieß ihn.« Dann hörte ich mehrere Schüsse. Ich lief hinaus und sah nun den Wachtmeister Brandt erschossen Ecke Max- und Ottostraße liegen. Auf Bitten des Wachtmeisters Wernicke bin ich so lange bei der Leiche geblieben, bis die Feuerwehr kam und Brandt abholte. Die Täter habe ich nicht gesehen.«

Die Zeugin Martha Sahlmann, geborene Brügge, wohnhaft Ottostraße 33 ptr daselbst befragt:

»Ich habe in der Nacht vom 18./19.5.1919 drei Schüsse gehört. Wie ich aus dem Fenster sah, lag der uns bekannte Wachtmeister Brandt auf dem Bürgersteig. Von dem Einbrecher habe ich nichts gesehen.«

Wenn sie alle Aussagen von den Leuten aufschreiben wollten, die nichts gesehen hatten, dann hätten sie viel zu tun, dachte Berger.

Die ermittelte Zeugin, Ehefrau Wilhelmine Graupner geb. Warnke, wohnhaft Ottostraße 29 I, daselbst befragt:

»In der Nacht zwischen 3-3.30 Uhr vom 18./19.5.1919 hörte ich zwei Schüsse fallen. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Ich sah nun, wie zwei Personen aus der Fabrik von Gierner Ottostr. 27 kamen und die Ottostraße nach dem Eilbecker Weg zu fortliefen. Der eine war 1,80-83 groß, und der zweite viel kleiner. Ich bin der Meinung, dass einer eine Schirmmütze trug und der andere einen weichen Hut, vermag aber nicht sicher anzugeben, wer von den beiden Hut oder Mütze aufhatte. Näher beschreiben kann ich sie nicht, da es noch zu dunkel war. Sachen hatten sie nicht bei sich.«

»Wunderbar«, sagte Jastorf. »Zwei oder drei Schüsse, zwei Männer, einer größer als der andere, was bei zwei Personen in der Regel der Fall ist, der eine hat einen Hut getragen, der andere eine Mütze, aber vielleicht war es auch umgekehrt. Und dann noch ein sturzbetrunkener Kriminalbeamter, der am Tatort herumtorkelt. – An die Presse werden wir geben: Die Polizei verfolgt bereits verschiedene konkrete Spuren. Nähere Einzelheiten können nicht bekannt gegeben werden, um den Gang der Ermittlungen nicht zu behindern.«

7.

Als sie wieder unter sich waren, sagte Jastorf: »Na, Berger, nun zeig mal, was du gelernt hast! Was haben die Kollegen in Eilbeck falsch gemacht?«

Berger überlegte. Die kalte Dusche hatte ihn aufgeweckt; die nassen Haare waren inzwischen wieder getrocknet. Er war fast wieder einsatzbereit – bis auf die Kopfschmerzen. Es war klar, dass bei einem Mord, noch dazu einem Polizistenmord, jedem noch so unwahrscheinlichen Hinweis nachgegangen wurde. Das war kein Fehler. Auch, dass die Beschreibungen der Täter praktisch wertlos waren, konnte Jastorf nicht meinen. Dafür konnten die Kollegen nichts.

»Der Sack«, sagte Berger schließlich. »Nur die Hälfte der Beute ist sichergestellt worden. Die Kollegen glauben, dass die Täter zu zweit waren und zweimal gegangen sind. Aber das muss nicht sein.«

»Weiter«, verlangte Jastorf.

»Wenn sie zu viert gewesen sind, dann konnten sie zwei dieser Säcke gleichzeitig wegschleppen. Bleibt aber noch das Einbruchswerkzeug. Zwei Brecheisen und eine Handleier. Das wiegt einiges. Die haben sie sicher nicht zu der Wäsche in den Sack geworfen. Und da war ja auch noch der Mann, der auf Wernicke geschossen hat. Ich denke, sie werden mindestens zu fünft gewesen sein.«

»Selbst im Suff kann er noch nachdenken«, sagte Krohn. »Da sieht man, wozu so ein Abitur gut ist!«

»Große Einbrecherkolonnen sind aber selten«, sagte Jastorf. »Hier in Hamburg haben wir zur Zeit von dieser Art Gruppierung eigentlich nur die Bande des Adolf Julius Petersen.«

»Wer ist das denn?«

»Die Barmbecker Verbrechergesellschaft.«

»Wir sind hier aber in Eilbeck«, gab Berger zu bedenken.

»Ach, das Abitur ist doch nicht mehr, was es mal war«, sagte Jastorf. »Siehst du das Wasser da drüben? Das ist der Eilbeck-Kanal, dahinter fängt Barmbeck an.«

8.

»Das ist er, der Petersen!« Jastorf schob Berger die Akte hin. »Da hat sich einiges angesammelt im Laufe der Jahre!«

Berger überflog die Zusammenfassung:

Julius Adolf Petersen, geboren am 17. Oktober 1882.

9.6.1896 verurteilt wegen gemeinschaftlichen schweren Diebstahls zu 5 Tagen Gefängnis,

22.9.1897 verurteilt wegen einfachen und schweren Diebstahls zu 1 Monat Gefängnis,

18.11.1897 verurteilt wegen eines gemeinschaftlich begangenen schweren Diebstahls zu 1 Monat Gefängnis,

22.4.1898 verurteilt wegen eines gemeinschaftlich begangenen schweren Diebstahls und Raubes zu 6 Monaten Gefängnis,

14.3.1901 verurteilt wegen schweren Diebstahls und wegen Raubes zu 1 Jahr Gefängnis,

25.6.1901 verurteilt wegen schweren Diebstahls und Raubes in zwei Fällen zu 4 Jahren Gefängnis und 4 Jahren Ehrverlust,

24.4.1906 verurteilt wegen versuchter Gefangenenbefreiung zu 3 Tagen Gefängnis,

8.1.1908 verurteilt wegen gemeinschaftlich begangenen schweren Diebstahls zu 3 Jahren Zuchthaus, 5 Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht,

8.6.1912 verurteilt wegen Hehlerei und Widerstands zu 1 Jahr 7 Monaten Gefängnis und 3 Jahren Ehrverlust sowie Polizeiaufsicht.

»Im Krieg war er natürlich interniert«, sagte Jastorf. »Ab 1916. Das steht hier nicht drin.«

Berger wusste, dass Gewohnheitsverbrecher vorbeugend in Haft genommen worden waren, um bei der Knappheit der Polizeikräfte die Sicherheit an der »Heimatfront« zu erhöhen. Genützt hatte es nicht viel.

»Wenn man sich das so anguckt«, sagte Berger, »hat man eigentlich nicht den Eindruck, dass der Mann besonders erfolgreich gewesen sein kann. Zehnmal geschnappt und verurteilt, und diese Strafen, das sind zusammen – Moment mal – zehn Jahre, zwei Monate. Dann kommt noch die Internierung dazu – der Mann hat ja fast ein Drittel seines Lebens im Gefängnis gesessen.«

»Nicht lange genug«, brummte Jastorf.

»Schade, dass kein Foto dabei ist«, sagte Berger.

»Das können wir dir besorgen, aber das hilft auch nicht viel. Er bezeichnet sich als Kaufmann, und so sieht er auch aus, als ob er vielleicht einen Kolonialwarenladen betreiben würde. Völlig unauffällig. Aber wie er aussieht, ist nicht das Problem. Das Problem ist, wie wir ihn kriegen.«

Krohn sah Berger an: »Du wunderst dich vielleicht, dass wir so viel über ihn wissen und ihn dennoch nicht festsetzen können? – Das liegt daran, dass diese Burschen so eng zusammenhalten. Ganze Verbrecherfamilien sind das. Nimm zum Beispiel die Petersens. Vier Geschwister. Da ist nicht nur der Adolf Petersen, sondern auch noch sein Bruder Arnold – ebenfalls mehrfach vorbestraft. Der zweite Bruder Karl, der lebt in Amerika. Was er da macht, weiß ich nicht, aber vermutlich auch nichts Gutes. Die Schwester Martha – eine obstinate Person. Und die Eltern – beides Galgenvögel, wenn du mich fragst. Der Vater ist ja inzwischen tot – im Gefängnis gestorben. Die Mutter hat natürlich gleich wieder geheiratet, einen Mohnsen. Den kennen wir noch nicht, aber der wird schon zum Rest der Familie passen.«

»Das vererbt sich«, sagte Jastorf. »Das ist doch ganz offensichtlich: Das Verbrechertum vererbt sich.«

»Ich weiß nicht, ob die Vererbung wirklich so einfach funktioniert.« Berger dachte: Wenn das stimmen würde, dann wäre ich ja genau wie mein Vater!

»Wie dem auch sei. – Die Amerikaner sagen: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Das lässt sich auch auf Gewohnheitsverbrecher anwenden. Nur ein toter Einbrecher ist ein guter Einbrecher.«

»Das geht mir zu weit«, widersprach Berger.

»Tot oder lebenslänglich weggesperrt, damit er keinen Schaden mehr anrichten kann. Alles andere ist verlorene Liebesmüh.«

Berger schüttelte den Kopf. Aber er wusste, dass Jastorf nicht der einzige Polizist war, der in äußerster Härte das einzige Mittel gegen die wachsende Kriminalität sah.

9.

»Wie geht’s deinem Sohn?«, fragte Schacht.

»Danke der Nachfrage.«

Hjalmar Schacht sah Friedrich Berger fragend an.

»Du weißt ja, wie es ist«, erläuterte Berger. »Er hat bei der Polizei angefangen.«

»Das ist eine ehrliche Arbeit, denke ich.« Schacht sprach es so aus, als ob es eine Spur anrüchig sei.

»Ich hab ja versucht, ihn zum Studium zu bewegen. Das hat er leider abgelehnt. Kein Interesse. Er hätte alles haben können. – Früher, da war er ganz anders. Voller Ehrgeiz und Lebenslust. Aber jetzt – der Krieg, der hat ihn total verändert.«

»Ich habe mich schon immer gefragt: Hast du ihn da nicht raushalten können?«

Berger zuckte mit den Achseln. »Er wollte nicht«, sagte er.

»Immerhin ist er heil zurückgekehrt. Das können die wenigsten von sich und ihren Kindern behaupten.«

»Ah, da kommt er ja! – Wilhelm, der Herr Schacht isst heute Abend mit uns!«

»Guten Abend, Herr Schacht!« Nicht der erste und nicht der letzte Bankier, den ich auf diese Weise kennenlerne, dachte Wilhelm. Er wusste, dass sein Vater mit dem jetzigen Chef der Nationalbank für Deutschland zusammen die Schule besucht hatte. Das Johanneum, genau wie er selbst.

Schacht hatte einen kräftigen Händedruck.

»Ihr Vater hat mir von Ihnen erzählt. Sie waren ja auch in Belgien, habe ich gehört?«

»Im Krieg, ja, 1918«, sagte Berger. Dieses Thema wollte er lieber meiden. Aber Schacht wollte sowieso nichts von ihm wissen; er redete offenbar am liebsten von sich selbst. Sehr von sich eingenommen, dieser Mensch, stellte Wilhelm Berger fest; er bestritt die Unterhaltung fast im Alleingang.

»Ich war ja auch in Belgien«, sagte er. »Schon 1914, gleich nach Kriegsausbruch ist man an mich herangetreten und hat mich gebeten, ob ich nicht vielleicht banktechnische Verwaltungsaufgaben in den besetzten belgischen Gebieten übernehmen könne. Sie wissen ja, dass ich aufgrund meiner Augen vom Wehrdienst freigestellt war.«

»Dabei guckt er wie ein Adler!«, lachte Wilhelms Vater.

Schacht sah ihn etwas pikiert an. »Das würde ich nun nicht sagen!«

Eher wie ein Geier, dachte Wilhelm.

»Wie dem auch sei – nun war natürlich zunächst die Frage meiner Stellung innerhalb dieses Kreises hoher Offiziere in der belgischen Hauptstadt zu klären. Und um gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, da habe ich gesagt, dass ich wünsche, im Offizierskasino zu speisen. – Dieses Huhn ist übrigens ausgezeichnet, mein lieber Berger!«

»Danke, ich werde das Kompliment gern weitergeben. – Und? Wie ist das ausgegangen? Hat man dich im Kasino speisen lassen?«

»Nein. Ich habe mich also an den Generalmajor von Lumm gewandt. Ich weiß nicht, ob du dich an den noch erinnerst?«

Wilhelm hatte den Namen noch nie gehört, und selbst sein Vater schüttelte den Kopf.

»›Unmöglich‹, hat der gemeint, und das könne höchstens der Generalgouverneur genehmigen. Da habe ich gesagt: ›Dann fragen wir ihn eben!‹ Von Lumm hat gelacht und bloß gesagt, das sei völlig undenkbar, ihn in einer solchen Angelegenheit zu belästigen. Daraufhin habe ich mich an den zuständigen Herrn des Auswärtigen Amtes gewandt. Das war damals der Herr von der Lancken, und auch der hat abgelehnt. Da bin ich einfach hingegangen und habe mich beim Generalgouverneur angemeldet. Das war ja damals noch der General von der Goltz ...«

Wilhelm Berger hörte nicht mehr hin. Er dachte: Damit haben sich die hohen Herren also beschäftigt, während wir im Schützengraben gehockt haben, bis zu den Knöcheln im Matsch, und gewartet haben, dass der Feind kommt. Tanks sollten sie haben, unzerstörbare Panzerfahrzeuge, die Engländer, und Gas natürlich sowieso. Todesangst haben wir gehabt.

»... und ehe ich überhaupt mein Anliegen vorbringen konnte, da hat der Goltz mich direkt gefragt: ›Sie essen doch heute mit mir im Kasino?‹, und da haben dann die anderen natürlich nicht schlecht gestaunt, als ich nicht nur im Kasino gegessen habe, sondern obendrein noch direkt an der Seite des Generalgouverneurs!«

»Köstlich, mein Lieber! – Du bleibst doch sicher noch auf eine Tasse Kaffee?«

»Nein, Friedrich«, Schacht faltete die Serviette zusammen, »ich fürchte, das Angebot muss ich heute ausschlagen. Ich hatte dir ja schon telegraphiert, dass ich nur kurz vorbeischauen könnte; wir haben noch eine Besprechung in wichtigen Bankangelegenheiten.«

»Um diese Zeit?«

»Zu jeder Zeit, wenn es der Sache dient. Ich bin mit den Herren im Schauspielhaus verabredet.«

»Was hat er eigentlich gemacht in Belgien – abgesehen vom Essen?«, fragte Wilhelm, als der Besucher gegangen war.

»Hat er doch gesagt. Hast du nicht zugehört?«

»Ich war nicht besonders aufmerksam, fürchte ich«, sagte Wilhelm. »Es war ein anstrengender Tag.«

»Hjalmar Schacht hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Belgier die Besatzungskosten in bar bezahlen.«

»Wie?«, sagte Berger. »Wir haben das Land überfallen, und dieser Schacht hat dann die Belgier obendrein noch dafür bezahlen lassen?«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Deine Ausdrucksweise ist unangemessen, Wilhelm. Wir haben alle nur das getan, was getan werden musste.«

10.

Beerdigung auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Ein riesiges Areal, bemessen für die Toten einer Millionenstadt. Einige davon in prunkvollen Mausoleen, andere nicht. Der Wachtmeister Brandt bekam ein schlichtes Grab. Auch die Trauergemeinde war klein; die meisten davon Polizisten. Der Pastor hielt eine kurze Ansprache am Grab. Es regnete in Strömen. Berger fror.

Es sei eine Art Unglück gewesen, hatte Krohn gesagt, musste ein Unglück gewesen sein. Die Einbrecher waren zwar fast alle bewaffnet, aber gewöhnlich schossen sie nicht. Schon gar nicht auf die Polizei. Es ging nur um die Abschreckung. Aber wo Waffen im Spiel waren und der Einsatz so hoch, da konnte leicht etwas passieren. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung, und schon fiel ein Schuss. Wer eine Waffe führte, musste bereit sein, sie zu ziehen; wer eine Waffe zog, musste bereit sein, sie abzufeuern. Das galt für Einbrecher wie für Polizisten.

Berger sah in die Gesichter der Kollegen. Jetzt, wo die Aktivität vorbei war, wo man nichts mehr tun konnte, um die Täter direkt zu fassen, sah er Leere, Hilflosigkeit und Wut. Brandt war schon der dritte Polizist, der in diesem Jahr ermordet worden war, wenn man den Hilfspolizisten aus Harburg mitzählte. Eines Tages könnte es dich selber treffen, Berger! Er wischte den Gedanken zur Seite.

Sie defilierten am Grab vorbei, warfen Erde auf den Sarg, kondolierten den Hinterbliebenen. Die Eltern sahen erschrocken aus, als ob sie es noch immer nicht wahrhaben wollten. Eine junge Frau weinte.

»Wir kriegen ihn!«, versprach Jastorf ihr auf die Hand.

Sie nickte.

Berger bezweifelte, dass es ihr Trost brachte.

11.

»So sieht’s aus, Krohn, so sieht’s aus!« Jastorf war deprimiert.

»Jetzt setz dich erst mal hin«, sagte Krohn. Sie waren nach dem Dienst zu ihm in die Wohnung gezogen, nicht zum ersten Mal, und es war auch nicht das erste Mal, dass der Kollege eine Aufmunterung brauchte.

»Es heißt doch, es gibt so viele Arbeitslose und so wenige offene Stellen; nun haben wir einen Posten zu besetzen, und wen schickt man uns: diesen Herrn Berger. Bürgersöhnchen, Abiturient!«

»Reg dich ab.« Krohn öffnete das Fenster. Ein Schwall kalter Luft drang in das Wohnzimmer. Krohn langte in den Blumenkasten, entnahm ihm eine Flasche Korn.

Jastorf nahm einen Stapel Zeitungen vom Stuhl, wusste nicht recht, wohin damit.

»Einfach fallen lassen!«, sagte Krohn.

Jastorf ließ sie fallen. Es setzte sich auf den Stuhl, immer noch angespannt. Krohn saß ihm gegenüber, völlig locker, der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht. »Hier, trink das!«, sagte er. Er goss Jastorf einen Schnaps ein.

»Puh!« Jastorf schüttelte sich. »Ist das wieder irgend so ein königlich-hannoversches Zeug?«

»Nicht reden, trinken!«

Jastorf schloss die Augen, kippte den Schnaps mit einem Zug hinunter. »Oh Mann!«, sagte er.

»Das ist der Hundertjährige«, sagte Krohn. »Seit 1816 machen sie den in Hittfeld. Da war mein König noch gar nicht geboren. Das kam erst später. Du weißt ja wahrscheinlich, dass er als legitimer Nachfolger Georgs III. in der englischen Thronfolge an zweiter Stelle stand ...«

»Wenigstens dieses Unglück ist den Briten erspart geblieben!«

»Ich sehe, dir geht es schon wieder zu gut!«, sagte Krohn. Er schraubte die Flasche zu. »Was nun den Berger angeht, so muss ich dir recht geben: Er ist ziemlich jung.«

»Nicht nur das«, sagte Jastorf.

»Der Rest sind Vorurteile. Ja, es ist richtig, er ist ein verzogenes Bürgersöhnchen, aber was hast du erwartet? Du als Maurerkind und ich als Sohn eines Landarbeiters – wir sind die krassen Ausnahmen. Das war doch schon immer so: Die Zweitgeborenen der reichen Familien – ganz gleich, ob das nun Adel oder Bürgertum ist – die hatten nichts zu erben; die sind dann Offiziere geworden. Oder Beamte, zum Beispiel bei der Kripo.«

»Er ist das einzige Kind, soweit ich weiß.«

»Spielt das eine Rolle? Er ist intelligent, aufgeschlossen, gutwillig. Pfeffersack, aber kein Angeber. Abiturient, aber kein Besserwisser. Was willst du mehr?«

»Ach, ich weiß auch nicht.« Jastorfs Blick ruhte auf der Schnapsflasche.

Krohn tat so, als ob er das nicht bemerkte. »Ich will dir sagen, was dich in Wirklichkeit wurmt: Er ist besser ausgebildet als wir. Heute sagen wir ihm, wo es langgeht, aber morgen ist er unser Chef. Das ist so, das bleibt so, da kannst du nichts dran drehen. Ich weiß ja, wie ehrgeizig du bist, und sie haben dir ja alles Mögliche versprochen, aber ich sage dir: Du wirst trotzdem kein Kommissar. Oben bleibt oben und unten bleibt unten. Das war beim Kaiser so, und das ist in der Republik nicht anders. Sieh mich an! Wenn du das akzeptierst, wie die Dinge liegen, dann kannst du ein feines Leben führen. Wenn nicht, machst du dich nur kaputt.«

»Es geht doch sowieso alles kaputt«, sagte Jastorf. »Hast du das gehört? In der Kleinen Reichenstraße sollen sie heute eine Sülzefabrik demoliert haben.«

»Ich mag keine Sülze«, sagte Krohn.

12.

»Was sollen wir tun?«, fragte Berger.

Den Lärm vom Rathausmarkt hörte man bis zum Stadthaus.

»Nichts«, sagte Krohn. »Wir haben keine Anweisungen.«

»Aber – das können wir doch nicht einfach hinnehmen!«

»Doch. Das Stadthaus wird verteidigt, denke ich jedenfalls, aber mehr ist nicht drin. Was willst du denn machen mit ein paar Pistolen gegen den gesamten Pöbel der Stadt? Das sind über tausend Leute da draußen. Wir sind ja im Gegensatz zur Schutzpolizei noch nicht mal als Ordnungsmacht zu erkennen. Wenn wir uns denen in den Weg stellen, da werden wir einfach weggefegt. Bei diesen Massen – da hilft nur noch Reichswehr.«

»Wolter sagt, Reichswehr sei unterwegs«, wusste Jastorf.

»Was für ein Wahnsinn!«

Angefangen hatte es gestern mit dem Gerücht, in der Sülze vom Heil werde Hundefleisch verarbeitet. Die aufgebrachte Menge hatte die Fabrik gestürmt, die Einrichtung verwüstet. Den Besitzer hatten sie aus seiner Wohnung geholt, im Triumphzug zum Rathausmarkt geschafft und in die Kleine Alster geschmissen, um ihn zu ertränken. Volkswehr und Polizisten hatten den alten Mann mit Mühe herausziehen können und waren mit ihm ins Rathaus geflüchtet.

»Ich war vorhin draußen«, sagte Jastorf. »Hab mir das angesehen. Die Kommunisten sind das, die wiegeln das Volk auf. Es heißt, zwei andere Sülzefabriken in der Lindenallee und an der Reismühle sind ebenfalls gestürmt worden. Angeblich sind die Angestellten gefangen genommen worden und sollen der Justiz des Volkes übergeben werden. Sie sind unterwegs zum Rathausmarkt.«

Berger sah vom einen zum anderen. Schließlich nahm er seine Pistole, schob das Magazin ein, lud die Waffe durch.

»Was hast du vor? Mach keinen Fehler!«, beschwor ihn Krohn.

Berger war klar, dass die Kollegen auch Angst hatten. »Ich geh raus«, sagte er.

Krohn hielt ihn zurück. »Wenn du in einer solchen Situation die Waffe ziehst, bist du ein toter Mann, Wilhelm!«

»Ja. – Lass mich los, Krohn!«

Das Gejohle war lauter geworden. Berger wollte zum Rathaus, doch als er auf die Straße trat, merkte er, dass das Geschehen sich in seine Richtung verlagerte. Im Neuen Wall strömte ihm eine Menschenmenge entgegen. In der Mitte ein Pferdekarren mit einer Gruppe von Frauen. Man hatte ihnen Schilder um den Hals gehängt: Wir machen die Sülze.

»In die Alster mit ihnen!«, rief jemand aus der Menge. »Ratten geben sie uns zu fressen, jetzt werden sie wie die Ratten ersäuft!«

Berger sah sich um, wog das Risiko ab. Es waren keine tausend Leute, ein paar hundert höchstens, aber zu viele, als dass er allein etwas hätte ausrichten können.

»Tod den Ausbeutern!«, rief einer, offenbar der Rädelsführer.

Es war absurd. Selbst dem größten Idioten sollte klar sein, dass diese zu Tode verängstigten Frauen keine Ausbeuter waren, sondern schlecht bezahlte Arbeiterinnen.

»Werft sie in das Alsterfleet!«

Den Rädelsführer würde er jedenfalls wiedererkennen.

In dem Augenblick, als der Zug auf Bergers Höhe war, wagten zwei junge Frauen die Flucht.

Ein Aufschrei ging durch die Menge. »Lasst sie nicht durch!«

Aber sie waren schon durch. Berger sprang hinzu, riss eine Haustür auf, die Frauen rannten hinein. Die Menge drängte nach, aber in der Enge des Hausflurs war der Einzelne im Vorteil. Berger und noch zwei andere, ihm völlig unbekannte Männer versperrten dem nachdrängenden Volk den Weg.

»Platz da!«, verlangte ein junger Kerl. Er baute sich drohend vor Berger auf.

»Nein.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Sie starrten sich an. Der Mann hatte eine Narbe im Gesicht. Er war größer als Berger. Kein Zweifel, er war auch stärker. Die Frauen waren nicht mehr zu sehen, hatten sich irgendwo versteckt.

»He, was steht ihr hier rum?«, rief jemand vom Eingang. »Jetzt schmeißen sie sie ins Wasser! Komm mit, Hannack, das musst du gesehen haben!«

Der Flur leerte sich. Schließlich zog auch der Große ab. Berger war mit seinen beiden Helfern allein.

»Danke«, sagte er. »Mehr konnten wir nicht tun.«

Die beiden nickten.

13.

»Na, Adolf, wie war’s draußen in der Stadt?«, fragte Helmi Petersen.

»Ruhig. Reichswehr ist eingerückt, der Aufruhr ist zu Ende.« Zu seinem Sohn sagte er: »Hatzel, ich hab dir etwas mitgebracht!«

»Was ist das?«

»Das ist ein Würfelspiel.«

Der kleine Adolf Petersen, den die Eltern Hatzel nannten, war fünf Jahre alt. Allzu viele Spiele hatte er nicht. Auch dieses war nicht gekauft, sondern ein Reklamespiel der Hamburger Sparcasse von 1827. Es hieß Spar Dir was, dann hast Du was! Petersen hatte es bekommen, als er seinen Anteil aus dem letzten Einbruch eingezahlt hatte.

Hatzel würfelte eine Zwei.

»Oh, eine Zwei«, sagte Petersen. »Da kannst du gleich vorrücken bis zur Zwölf.«

»Was steht da auf dem Pfeil?«, fragte Hatzel.

»Da steht: Zur Sparkasse.«

»Mama, willst du nicht auch mitspielen?«

Helmi war in der Küche. »Ich mache gerade das Abendbrot«, sagte sie. »Spielt ihr mal!«

Petersen hatte eine Sechs gewürfelt, aber die nützte ihm nichts. Auf dem Feld mit der Sechs war ein Junge eingezeichnet, der seine Taschen umkrempelte: leer. 1x aussetzen stand da. Das ignorierte Petersen. Er behauptete: »Wer eine Sechs hat, darf noch einmal würfeln!«

Die Drei brachte ihn auf das Feld mit dem Spielwarenladen. Ach du Schreck, das ist bestimmt nicht gut, dachte Petersen. Aber der Junge war clever, er kaufte sich einen Roller und war damit schneller in der Schule. Vorrücken auf die Siebzehn!

Das Spiel zog sich in die Länge. Schon war Hatzel wieder vorn. Er war auf dem Feld mit der Sparkasse gelandet, kriegte fünfzig Mark ausgezahlt und fuhr nun mit der Eisenbahn zum Feld Sechsundzwanzig.

»Das Fleisch ist wieder teurer geworden!«, rief Helmi aus der Küche.

Macht nichts, dachte Petersen. Mit unserem kleinen Zuverdienst kommen wir schon über die Runden.

»Und ein neues Kleid brauche ich auch.«

»Schon wieder?« Sie gibt einfach zu viel Geld aus, dachte er.

»Ich kann doch nicht noch mal dasselbe anziehen wie im letzten Jahr!«

Hatzel hatte inzwischen eine neue Wohnungseinrichtung gekauft. Für 1560 Mark. Wie war das möglich? Das kluge Mädchen auf dem Spielbrett erläuterte es mit erhobenem Zeigefinger der dummen Freundin: Spare!

»Spare!«, rief Petersen in die Küche.

Helmi tat so, als habe sie das nicht gehört. Konnte sie sich nicht selbst was schneidern wie andere Frauen auch? Aber dazu war sie sich ja zu fein!

Hatzel lag weit vorn. Petersen hatte schon wieder Pech. Diesmal war er auf dem Feld mit den Pokerspielern gelandet. Zurück auf 9 stand da. »Einmal aussetzen«, sagte Petersen. Gut, dass der Kleine noch nicht lesen konnte.

»Was ist das da für eine Zahl?«, fragte Hatzel. Er wies auf die Neun.

»Das ist gar keine Zahl«, behauptete Petersen. »Das ist ein Fragezeichen.«

Diese Sparkassenmenschen hatten keine Ahnung, dass im wirklichen Leben das Glücksspiel eine Menge einbrachte. Solange man nicht selbst spielte, natürlich. Solange man die Spielbank leitete. Alles legal, ein privater Klub, wie er zu sagen pflegte, völlig ohne Steuern.

Doch hier auf dem Sparkassenspiel brachte alle Mogelei nichts. Schon war Hatzel auf der Fünfundfünfzig angelangt, und von dort ging es per Flugzeug zur Sechzig, zum Ziel. Dort war der Großvater eingezeichnet, wie er im Lehnstuhl saß, und jemand reichte ihm einen großen Sack voll Geld. Rente stand da drauf. Das war Hatzels Großvater nicht vergönnt gewesen. Der hatte sich aufgehängt im Gefängnis, aber das wusste Hatzel nicht. Petersen verglich die Größe des Sacks mit den anderen Geldsäcken auf dem Spiel. Er war mittelgroß. Schätzungsweise siebenhundert Piepen. Nicht schlecht, solch eine Rente. Sparen, sparen, sparen! Da würde er noch einige Tresore knacken müssen, bis er da hinkam.

14.

Ich möchte erwachen beim SonnenscheinUnd es müsst alles wie früher sein:Kein Krieg, kein Elend, kein Mühn und PlagenDie Meinen müssten verwundert sagen:Hast lang geschlafen,Hast viel versäumt,Du sprachst vom Kriege –Du hast geträumt.

»Was hörst du für traurige Lieder?«

Wilhelm Berger hatte nicht gemerkt, wie sein Vater hereingekommen war. Er nahm behutsam den Tonarm ab; die Grammophonplatte drehte sich stumm weiter.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht stören. – Nachher kommt Hjalmar zu Besuch. Hast du Lust, mit dabei zu sein?«

Wilhelm schüttelte den Kopf. »Danke für die Einladung«, sagte er. »Aber ihr werdet ja doch nur über eure Geschäfte reden. Da störe ich nur.«

»Wie du willst.«

»Ich bin hundemüde.«

»Ich lasse dir etwas Essen auf dein Zimmer bringen.«

»Danke.«

Es ist grotesk, dachte Wilhelm. All das Elend, das ich Tag für Tag bei der Arbeit sehe, und dann dies. Er war wahrscheinlich der einzige Polizist in Hamburg, dem das Abendessen auf sein Zimmer gebracht wurde. Bei ihnen war in der Tat die Zeit stehen geblieben.

»Dein Sohn ist nicht zu Hause?«, fragte Schacht.

Berger schüttelte den Kopf. »Schon zu Bett gegangen. – Diese Polizisten haben sehr unregelmäßige Arbeitszeiten.«

»Das ist schlecht für die Gesundheit.«

»Ich weiß. Er sollte sich einen anderen Job suchen – und heiraten!«

»Es muss ja nicht jeder so früh heiraten wie du! – Aber wie alt ist er jetzt? Dreiundzwanzig? Und noch immer keine feste Beziehung?«

»Überhaupt keine Beziehung, soweit ich weiß.«

»Er ist doch nicht etwa ...«

»Schwul meinst du?« Friedrich Berger schüttelte den Kopf. »Er hat Briefe bekommen aus Belgien, von einer Thérèse irgendwas. Ich hab sie ins Feuer geworfen. Was soll er mit einem Soldatenliebchen?«

»Sehr vernünftig«, sagte Schacht. »Aber vielleicht solltest du mal selbst etwas arrangieren? Deine Geburtstagsfeier zum Beispiel, das würde sich doch anbieten. Wie alt wirst du? Lass mich nachdenken – fünfundvierzig, stimmt’s? Wenn du nun ein paar Leute einlädst, die Töchter im heiratsfähigen Alter haben?«

»Ich kenne nur wenige Leute, die in diese Kategorie fallen.«

»Denk drüber nach! – Und wie gehts mit der Firma, was macht das Geschäft?«

»Mäßig«, sagte Berger. »Die Handelsbeschränkungen machen alle Bemühungen zunichte. Deutschland liegt am Boden. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen. Bei Null.«

»Bei Null?« Der Bankier lachte. »Mein lieber Berger, du bist gut! Wir können nicht bei Null anfangen.«

»Die Staatsverschuldung, ich weiß. – Noch ein Glas Wein?«

»Ja gern, danke. – Im Augenblick belaufen sich die Verbindlichkeiten Deutschlands auf knappe 90 Milliarden Mark. Die Finanzierung des Krieges durch Anleihen war ein Fehler.«

»Mein Lieber, hast du nicht selbst seinerzeit gedrängt, ich sollte die Kriegsanleihen zeichnen? Ich habe auf dein Anraten immerhin einige tausend Mark in diese Papiere investiert.«

»Das war damals auch richtig. Aus deiner Sicht jedenfalls. Für den Staat war es falsch.«

»Wie hätte der Krieg denn sonst finanziert werden sollen?«

»Durch Steuererhöhungen. So haben es die anderen gemacht. Das wäre zwar unpopulär gewesen, aber es hätte gleichzeitig die überschüssige Kaufkraft abgeschöpft. Es ist ein ziemlich ungesunder Zustand, wenn die Kaufkraft das Warenangebot übersteigt. – Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen!« Der Bankier zog an seiner Zigarre. »Gutes Fabrikat! Wo hast du die denn bekommen?«

»Beziehungen. Man kennt halt ein paar Leute, wenn man im Im- und Export tätig ist.«

»Ja, das hat seine Vorteile.«

»Der Frieden hat überhaupt seine Vorteile.«

Schacht sah ihn an. »Das soll sich noch zeigen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Berger.

»Die neue Regierung hat es versäumt, finanzpolitisch einen harten Schnitt zu machen ...«

»Abwertung der Mark?«

»Eine völlig neue Währung. Hundert zu eins oder so ähnlich ...«

»Das hätte einen Aufruhr gegeben!«

»Und wenn! – Mein Lieber, das Problem ist doch jetzt nur vertagt. Die Preise steigen immer schneller, und die Regierung druckt mehr Geld, um die Nachteile für die Gehaltsempfänger auszugleichen. Das ist krank. Der Haushaltsplan für 1919 hat ein Gesamtvolumen von knapp 18 Milliarden Mark. Weißt du, wie hoch der Anteil des Schuldendienstes ist? Zahlung deiner vier Prozent auf die Kriegsanleihen inklusive?«

»Ein Drittel?«, mutmaßte Berger.

Der Bankier lachte. »10 Milliarden!«

»Da bleibt ja kaum noch ein Handlungsspielraum ...«

»Da bleibt gar kein Handlungsspielraum!«

»Und – worauf läuft das hinaus?«

»Ist das nicht offensichtlich? Die dänische Lösung.«

»1813 meinst du? Staatsbankrott?«

»Ja. – Wenn wir den Mut nicht aufbringen, ist das das Ende dieser Republik.«

Berger schüttelte den Kopf.

»Das Ende dieser Republik!«, beharrte der Bankier. »Verlass dich drauf! Wie lange hat die Räteregierung in Sachsen sich halten können? Ein paar Monate. Und jetzt hier unsere Sozialdemokraten? Auch nicht länger, da bin ich mir ganz sicher. Und das ist auch gut so, weil sie von der Wirtschaft einfach keine Ahnung haben. Ganz im Vertrauen, es gibt bereits Gespräche zwischen verantwortungsbewussten Führungspersönlichkeiten aus Kreisen der Wirtschaft und der Reichswehr, die darauf abzielen, diesem traurigen Schauspiel ein Ende zu bereiten.«

Noch einmal schüttelte Berger den Kopf. »Das kann ich nicht glauben!«

»Glaub, was du willst.«

»Wer ist denn da drin verwickelt?«

»Die Namen habe ich jetzt nicht parat«, log Schacht.

»Lettow-Vorbeck wahrscheinlich«, mutmaßte Berger. »Und dieser Wangenheim hier in Hamburg auch? Ja, der vermutlich auch.«

Es wird geschossen!

15. März 1920

1.

Wilhelm Berger saß in Heimfeld in der Wohnung der Eltern von Fritz Wehner. Wehner war der einzige Verdächtige, der ihnen noch geblieben war, reichlich Vorstrafen hatte er, und er galt als Mitglied der Barmbecker Verbrechergesellschaft, aber sie konnten ihm die Beteiligung an dem Einbruch in das Wäschegeschäft Lehmann nicht nachweisen. Die Befragung der Eltern war eine reine Formsache. Dennoch hatte es Monate gedauert, bis die Einwilligung aus dem preußischen Harburg im Stadthaus eingetroffen war.

»Dieser Polizistenmord? Ja, wir haben davon in der Zeitung gelesen«, sagte Frau Wehner vorsichtig. Fünfzig Jahre mochte sie alt sein, und es war klar, dass Berger nicht der erste Polizist war, mit dem sie zu tun hatte. Einen Kaffee bekam er hier nicht angeboten.

»Aber ob Ihr Sohn etwas damit zu tun haben könnte, das wissen Sie nicht zufällig.«

»Mein Fritz?« Sie schüttelte den Kopf.

»Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?«

»So um Weihnachten muss das gewesen sein.«

Berger nickte. Er dachte: Hier gibt es für uns nichts zu holen. »Und Ihr Mann – der ist bei der Arbeit?«

»Der Otto, ja der ist vorsichtshalber hingegangen. Ist ja Streik, angeblich, aber ob die Jute nun mitmacht oder nicht, das hat er nicht gewusst.«

Ja, der Generalstreik, der hatte auch Bergers Anreise erschwert. Die Reichsbahn fuhr nicht; da hatte er die Straßenbahn nehmen müssen. An der Süderelbbrücke mussten alle aussteigen und sich kontrollieren lassen, Berger hatte den normalen Ausweis vorgezeigt; die Einwohnerwehr hatte ihn durchgewinkt.

»Und Sie verdienen sich durch Schneiderei ein paar Mark dazu?«

»Ja, Änderungen sind das vor allem. Die Leute haben ja kein Geld mehr, sich was Neues zu kaufen.«

Berger nickte. Er dachte: Änderungen können natürlich auch bei gestohlener Ware recht nützlich sein. Er nahm eine Tischdecke zur Hand: »Es gibt tatsächlich Leute, die das Monogramm ändern lassen?«

»Ja, wenn die Decke verschenkt werden soll ...«

Auf der Kommode standen drei gerahmte Fotografien von jungen Männern in Uniform.

»Das sind unsere Ältesten«, sagte die Frau. »Das waren unsere Ältesten. Jetzt haben wir nur noch den Fritz.«

Und den verdächtigte Berger nun, ein Einbrecher zu sein. Wenn nicht Schlimmeres.

»Das hier, das ist er mit seiner Minna und der kleinen Erna.« Frau Wehner nahm das Foto von der Wand.

Wachsam sah er aus, der Fritz Wehner. Seine Frau eher gutmütig. Wehner hatte den Arm um die Schulter seiner Tochter gelegt. Wie alt mochte sie sein, diese Erna? Sechzehn? Ganz offensichtlich eine glückliche Familie. Berger kam sich schäbig vor. Er verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg.

Das Wetter war trübe wie seine Stimmung. Drei Brüder tot, nur einer noch am Leben. Furchtbar. Aus anderen Familien war keiner der Söhne zurückgekommen. Aber – ein Gutes hatte er jedenfalls gehabt, der Weltkrieg. Die Völker hatten daraus gelernt. Krieg würde es so schnell nicht wieder geben.

2.

»Die Straße frei! – Es wird geschossen!«

Die Menschenmenge vor ihm geriet in Bewegung, zögerlich erst, dann in blinder Panik, als ein Maschinengewehr losfetzte. Berger rettete sich in einen Hauseingang. Mein Gott, dachte er, wo bin ich hier hineingeraten? Schreiende Menschen hasteten vorbei. Das MG schoss wieder, diesmal nicht mehr über die Köpfe, diesmal gezielt. Wer sich jetzt nicht in Sicherheit gebracht hatte, wurde getroffen. Direkt vor Berger, mitten auf der Straße, brach ein junger Mann zusammen, rührte sich nicht mehr.

Ich muss ihn holen, dachte Berger. Er zögerte. Muss ich wirklich? Das MG schwieg. Weiter entfernt brüllte ein Verwundeter. Sie werden nicht schießen, dachte Berger. Ich bin unbewaffnet, ich bin keine Gefahr. Er trat auf die Straße.

»In Deckung!« Erst jetzt bemerkte Berger, dass auch auf der anderen Straßenseite Leute im Hauseingang standen. Zwei Männer in Zivil, genau wie er. Einer hatte ein Gewehr.

Berger ging weiter. Langsam, aufrecht, den Blick nur auf den Mann gerichtet, der da hilflos am Boden lag. »Ich hole dich!«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu dem Mann. Da fiel ein Schuss. Berger griff sich an den Arm, rannte zurück in den Hauseingang. Eine Schramme, dachte er, das ist nur eine Schramme. Aber es tat höllisch weh. Und wofür? Für nichts. Soviel hatte er jedenfalls gesehen: Der Junge, der da draußen in seinem Blut lag, der war tot.

Der Mann drüben im Hauseingang gab einen Schuss ab in Richtung des großen klassizistischen Gebäudes, das Berger vorhin nur unbewusst registriert hatte. Auch woanders fielen Schüsse. Berger wurde bewusst, dass er nirgendwo hin konnte. Er saß in der Falle.

»Rein hier!« Hinter Berger hatte sich die Haustür geöffnet.

Der Mann, der ihn in die Küche führte, mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein. Ein großer, kräftiger Kerl mit einem Vollbart.

»Lamprecht«, stellte er sich vor. »Ich bin der Lehrer.«

»Lehrer?«, fragte Berger. Er registrierte, dass der Mann nur ein Bein hatte.

»Ja, drüben in der Mädchenschule. Heute fällt der Unterricht aus.«

»Was ist denn los hier?«, fragte Berger.

»Gleich.«

»Gibt es hier irgendwo ein Telefon? Ich muss dringend telefonieren!«

»Gleich. Jetzt wollen wir uns erst einmal Ihren Arm angucken.«

»Das ist nur eine Schramme!«, wehrte Berger ab.

»Das habe ich auch gedacht damals«, erwiderte der Lehrer. Er wies auf sein Bein. »Aber dann war es doch ein kleines bisschen mehr. – Hertha, hol mal bitte das Verbandszeug!«

Die kleine Frau hatte Berger erst jetzt bemerkt. Das ist der Schock, dachte er. Mein Gott, ich stehe tatsächlich unter Schock. Er ließ es mit sich geschehen, dass der Lehrer ihm das Jackett auszog. Berger betrachtete den blutigen Ärmel. Das Loch – ob man das wohl stopfen konnte?

»Und jetzt das Hemd!«

Berger biss die Zähne zusammen.

»Ich schneide den Ärmel auf«, sagte der Lehrer. »Das Hemd ist sowieso nicht zu retten!«

Berger schrie auf, als der Mann ihm schließlich die Stofffetzen vom Arm riss.

»Na, das sieht ja gar nicht so schlecht aus! Es ist tatsächlich nur eine Schramme.«

Hertha verband ihn fachgerecht.

»Das machen Sie sicher nicht zum ersten Mal«, sagte Berger anerkennend.