Die Schlange von Hamburg - Jürgen Ehlers - E-Book

Die Schlange von Hamburg E-Book

Jurgen Ehlers

4,9

Beschreibung

... und sterben, sterben, sterben In der Hamburger S-Bahn wird ein toter Student gefunden. In der Brust des jungen Mannes steckt ein auffälliges Schlangenmesser. Nur wenig später entdeckt man eine weitere Leiche in einem anderen Zug. Auch hier ist ein Schlangenmesser die Tatwaffe, aber diesmal kennt Kommissar Kastrup das Opfer, und er beginnt bereits zu ahnen, dass es nicht bei diesen zwei Morden bleiben wird. Fieberhaft leitet er die Suche nach dem Täter ein. Eine Spur führt zum alten Bunker in der gesprengten Pulverfabrik bei Geesthacht. Jemand hat mit schwarzer Farbe auf den Beton geschrieben: Weil du dieses getan hast, wirst du als Schlange verflucht sein und sterben, sterben, sterben. Doch das ist nicht das Schlimmste, was die Ermittler in dieser Ruine vorfinden …

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Jürgen EhlersDie Schlange von Hamburg

Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Mann über Bord

Mitgegangen

Neben dem Gleis

Die Nacht von Barmbeck

In Deinem schönen Leibe

Der Spion von Dunvegan Castle

Blutrot blüht die Heide

Hamburg Krimi-Reiseführer

Nur ein gewöhnlicher Mord

Der Wolf von Hamburg

Die Hyäne von Hamburg

Jürgen Ehlers wurde 1948 in Hamburg geboren und lebt heute mit seiner Familie auf dem Land. Seit 1992 schreibt er Kurzkrimis, die in verschiedenen Verlagen im In- und Ausland veröffentlicht wurden, und ist Herausgeber von Krimianthologien. Er ist Mitglied im »Syndikat« und in der »Crime Writers’ Association«. Sein erster Kriminalroman Mitgegangen wurde in der Sparte Debüt für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert.

Jürgen Ehlers

Die Schlangevon Hamburg

Originalausgabe

© 2017 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

© Stefan_Weis und © Max Diesel – www.fotolia.de

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-359-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-371-3

Inhalt

Die Schlange

Der Tote in der S-Bahn

Die fixe Idee

Keine Kunst

Abschiebung

Entscheidungen

Verfolgungswahn

Einer soll sterben

Blut

Die Schlange

Die Schlange

Und hier haben wir die Schlange.«

Wo war die Schlange? Der Film war mit einer Nachtsichtkamera aufgenommen. Man sah einen dünnen Ast vor dem Ausgang der Undara Lavahöhlen in Queensland, Australien. War das die Schlange? Nein, die Schlange saß auf dem Ast. Sie bewegte sich jetzt.

Eine zaghafte Frage aus dem Publikum: »Ist die giftig?«

»Ähm – ja. Wenn sie bedroht wird, beißt sie ohne Warnung zu. Bei Menschen führt das Gift manchmal zu leichten Lähmungen. – Da ist noch eine. Auch eine ›Braune Nachtbaumnatter‹, Boiga irregularis. Diese Biester sind extrem schlank, eher wie Würmer, aber sie können über zwei Meter lang werden.«

Die Schlange erschien in Nahaufnahme. Im Infrarotlicht der Nachtsichtkamera leuchteten ihre Augen als helle Punkte. Tausende von Fledermäusen flogen durchs Bild. Die Schlange wartete. Dann plötzlich schnellte sie nach vorn – ins Leere.

»Jetzt guckt genau hin!«

Das Bild wurde ziemlich dunkel, die Fledermäuse rauschten unscharf vorbei, aber im Zentrum des Bildes lauerte die Schlange mit ihren leuchtenden Augen. Ihre unnatürlich großen Augen. Wie Puppenaugen.

Ein Raunen ging durch die Gruppe.

Wieder hatte die Schlange zugepackt, wieder vergeblich.

Der Führer erläuterte, dass einige Schlangen sofort erfolgreich seien, andere dagegen ziemlich lange brauchten, bis sie endlich ihre Mahlzeit gesichert hatten. »Sie glauben vielleicht, sie habe keine Chance, weil die Fledermäuse so schnell sind. Aber das täuscht. Die Schlange ist schneller.«

Und dann war es soweit. Die Schlange hatte eine Fledermaus gepackt. Einige Sekunden pendelte sie mit der Fledermaus am Ast hin und her, bis sie plötzlich gemeinsam zu Boden stürzten. Frauen kreischten. Ein Mann im Publikum lachte. Die Kamera schwenkte hin und her, aber die Schlange war mit ihrer Beute verschwunden.

Der Tote in der S-Bahn

Sonnabend, 5. November 2016

Der Tote war ein junger Mann, vielleicht 25 Jahre alt. Er saß im zweiten Waggon der letzten S-Bahn der Linie S3 in Richtung Stade, 0:28 Uhr ab Hamburg Hauptbahnhof, und als Hauptkommissar Bernd Kastrup am Tatort eintraf, war er bereits seit schätzungsweise zwei Stunden tot.

»Schön, dass Sie gleich gekommen sind!« Der Kollege aus Niedersachsen, ein junger Mann, den Kastrup nicht kannte, begrüßte ihn mit Handschlag.

Kastrup brummte irgendetwas Unverständliches. Er wäre lieber im Bett geblieben, als sich mitten in der Nacht auf den Weg ins Nachbarland zu machen. Zum Glück hatte irgendjemand kurz vor Buxtehude bemerkt, dass die S-Bahn mit einem Toten unterwegs war. Wenn sie bis zur Endstation weitergerollt wäre, bis nach Stade, hätte er rund 75 Kilometer fahren müssen, und das wegen eines Toten, der ihn möglicherweise gar nichts anging. »Ist das nicht eigentlich Ihre Leiche?«, fragte er.

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Er hat seinen Ausweis in der Tasche. Der Mann wohnt in Neugraben. Und das ist eindeutig Hamburg.«

»Aber es gilt das Tatortprinzip.« Kastrup hoffte einen Moment lang, dass der Tote vielleicht in dieser Nacht einen Ausflug nach Buxtehude oder Stade hatte unternehmen wollen.

»Der Tatort war auch in Hamburg. Der junge Mann war auf dem Nachhauseweg. Es gibt inzwischen eine Vermisstenmeldung. Seine Eltern haben sich gemeldet.«

»Seine Eltern?«

»Er hat noch zu Hause gewohnt.«

Kastrup seufzte. »Jedenfalls dürfte die Todesursache diesmal ziemlich eindeutig sein«, sagte er. Das Messer steckte noch in der Brust des Toten.

Der Mediziner sagte: »Mehrere Stiche ins Herz. Keine Abwehrverletzungen. Es muss alles sehr schnell gegangen sein. Er hat übrigens in Hamburg studiert.«

»Sinologie?«, fragte Kastrup. Auf dem Boden lag ein blaues Buch mit dem Titel Das Neue Praktische Chinesisch.

»Betriebswirtschaft. Er hatte mit Freunden gefeiert und war jetzt auf dem Weg nach Hause.«

»Woher wissen Sie denn das alles?«, fragte Kastrup verblüfft.

»Telefon. Als der Sohn nicht pünktlich nach Hause gekommen ist, hat die Mama gleich herumtelefoniert – erst die Freunde angerufen, dann die Polizei, und so ist sie schließlich an uns weitergeleitet worden.«

Als Bernd Kastrup in Hamburg im Präsidium eintraf, war es 7 Uhr morgens.

»Du brauchst einen Kaffee«, stellte Vincent fest. Hauptkommissar Vincent Weber war Kastrups ältester Mitarbeiter.

Ja, er brauchte einen Kaffee. Oberkommissar Alexander Nachtweyh, der wie üblich als Erster zum Dienst erschienen war, hatte die Kaffeemaschine längst in Betrieb gesetzt. Das ganze Zimmer roch angenehm nach frisch gebrühtem Kaffee. Alexander schob Kastrup einen Becher hin. Der trank schlürfend ein paar Schlucke. Dann berichtete er.

»Es ist also tatsächlich unsere Leiche«, sagte Vincent.

Kastrup nickte. »Der Tote heißt Marvin Roland. Er ist Student, 25 Jahre alt. Nach allem, was wir wissen, hat er gestern mehrere Lehrveranstaltungen an der Universität Hamburg besucht, ist anschließend mit Freunden zusammen ins Theater gegangen, ins Hamburger Sprechwerk, dort haben sie Tod eines Jägers von Rolf Hochhuth gesehen …«

»Wie passend!«, sagte Alexander.

»Nein, das war überhaupt nicht passend. Marvin hatte keine Ahnung, was passieren würde. Und er war ganz bestimmt kein Jäger. Er war ein vollkommen harmloser Mensch, der nach einem gelungenen Tag friedlich mit der S-Bahn nach Hause fahren wollte, und der dort nicht angekommen ist. – Ein sehr behüteter, junger Mensch.«

»Gibt es irgendwelche Zeugen?«

»Keine Zeugen. Wir nehmen an, dass der Student allein im Abteil gesessen hat – allein mit seinem Mörder. Er hat in einem Buch gelesen und ist offenbar von dem Angriff vollkommen überrascht worden. Er ist im Sitzen getötet worden. Der Täter hat ihm das Messer von schräg oben in die Brust gerammt, mehrmals übrigens, und sich dann aus dem Staub gemacht.«

»Ein Einzeltäter?«, fragte Oliver Rühl. Sie hatten Kommissar Rühl als Ersatz für Jennifer bekommen, die nach der Geiselnahme und dem Mord an ihrem Kollegen noch immer nicht wieder einsatzfähig war.

»Wahrscheinlich. Ich nehme an, wenn sie zu mehreren auf ihn losgegangen wären, dann hätte der Student doch wohl gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. – Aber genau wissen wir das natürlich nicht.«

»Wer hat dann den Toten entdeckt?«

»Eine junge Frau, die in Neu Wulmstorf in diesen Waggon eingestiegen ist. Das ist eine Station vor Buxtehude. Sie war auch auf dem Wege nach Hause. Sie hat erst gedacht, der junge Mann würde schlafen, aber dann hat sie das Messer gesehen und das Blut. Sie ist in Buxtehude zum Triebfahrzeugführer gelaufen, und der hat dann die Polizei alarmiert.«

»Mit anderen Worten: Niemand hat den Täter gesehen. Und wir wissen auch nicht, wo er ein- oder ausgestiegen ist.«

»Noch nicht. Wir werden natürlich die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras auswerten, und wir werden außerdem über die Presse die Personen bitten, sich zu melden, die in der fraglichen S-Bahn gefahren sind – ganz gleich, ob sie irgendetwas gesehen haben oder nicht.«

»Sind die Waggons eigentlich videoüberwacht?«

»Ja, das sind sie.«

»Und die Bahnhöfe haben noch zusätzliche Überwachungskameras?«

»Ja, haben sie. Etwa 2000 Kameras hat der HVV in ganz Hamburg. Einige davon liefern allerdings nur Live-Bilder, aber die meisten zeichnen die Aufnahmen für mehrere Tage auf. Ich gehe davon aus, dass wir von allen Bahnhöfen Aufzeichnungen bekommen werden.«

»Und was willst du darauf sehen?«, fragte Vincent.

»Wo der Täter eingestiegen ist und wo er ausgestiegen ist natürlich. Vincent und Oliver, ihr fahrt nach Neugraben und befragt die Eltern. Ich gehe in die Rechtsmedizin. Wenn ich meinen Kaffee ausgetrunken habe. Und Alexander, du rufst bitte bei der Bahn an, dass sie die entsprechenden Videos sicherstellen. Wir brauchen einen Mitschnitt von allen infrage kommenden Kameras.«

Alexander nickte. Darum würde er sich kümmern.

Kastrup sagte: »Ach ja, das hier, das ist übrigens die Tatwaffe.« Er warf ein Foto auf den Tisch.

»Oh«, sagte Alexander. »Das ist aber hübsch! Dieser rote Griff und dieses originelle Symbol hier. Was soll das sein? Eine Schlange?«

»Du solltest mehr essen!«, sagte Kurt Beelitz.

Kastrup reagierte nicht auf diesen wohlgemeinten Ratschlag des Rechtsmediziners. Ihm war klar, dass er in den letzten Monaten erheblich abgenommen hatte. Schuld daran waren die Krankheit und der Tod seiner Frau. Obwohl sie geschieden gewesen waren, hatten sie sich bis zuletzt sehr nahegestanden.

»Nimm dir ein Beispiel an mir!« Der Mediziner hatte sich zwei Stücke Torte vom Tresen geholt und dazu einen Becher Kakao mit Schlagsahne. Sie saßen im Café des Universitätskrankenhauses Eppendorf. »Das hilft niemandem, wenn du nicht ordentlich isst! – Wann ist übrigens die Beerdigung?«

»Ich weiß nicht. Kerstin organisiert das. Ihre Schwester.«

»Gabrieles Schwester?«

»Ja, als nächste Angehörige. Aber da gibt es noch irgendwelche Verzögerungen.«

»Das kenne ich. So etwas geht nie ratzfatz. Ich weiß noch, als meine Oma damals …«

»Marvin Roland«, fiel Kastrup ihm ungeduldig ins Wort. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Das ist auch so eine schlechte Angewohnheit von dir«, sagte Beelitz.

Bernd Kastrup hörte auf, auf den Tisch zu trommeln. Er sah den Mediziner verärgert an.

»Ich habe inzwischen meine Untersuchungen abgeschlossen. Den Bericht schicke ich dir wie üblich zu. Aber ich nehme an, du willst jetzt schon ein paar Einzelheiten wissen.«

Der Hauptkommissar fragte sich, warum Kurt Beelitz ihn überhaupt zu diesem Treffen bestellt hatte. »Dein Kollege in Buxtehude hat mir schon das Wesentliche erzählt.«

»So, hat er das?«

»Der junge Mann hat ein Messer ins Herz gekriegt, und daran ist er gestorben. Punkt, aus, Ende.«

»Wie gut, dass du nicht der Rechtsmediziner bist, sondern ich! – Ja, im ersten Moment hat es natürlich so ausgesehen, als ob der Student allein durch einen Messerstich getötet worden ist. Was mich allerdings stutzig gemacht hat, das ist die Wahl der Tatwaffe. Du hast das Messer gesehen …«

»Ein Schlangen-Messer«, brummte Kastrup.

»Ja, ein sogenanntes Schlangen-Messer. Made in China. Ein ganz gewöhnliches Klappmesser. Die Klinge ist nicht länger als 10 Zentimeter. Das reicht zwar aus, um jemanden damit zu erstechen, wie wir ja gerade gesehen haben, aber ideal ist das nicht. Wenn ich jemals in die Verlegenheit kommen sollte, jemanden totstechen zu wollen, dann würde ich mir ein Messer mit einer deutlich längeren Klinge aussuchen.«

»Sie hat aber gereicht«, sagte Kastrup.

»Ja, sie hat gereicht. Aber so, wie es aussieht, hat unser Täter auch seine Zweifel gehabt. Er hat deswegen die Klinge mit einem Gift bestrichen. Davon ist nicht sehr viel in den Kreislauf eingedrungen, weil das Opfer ja beinahe sofort tot war, aber auf der Klinge waren noch genügend Rückstände, die ich analysieren konnte.«

»Curare?«, fragte Kastrup ungläubig.

»Wo willst du das herkriegen? Dazu brauchst du ziemlich gute Beziehungen zu südamerikanischen Indianern, und selbst dann musst du noch aufpassen, dass sie dich nicht übers Ohr hauen. Der garantiert echte Schrumpfkopf, den ich damals von meiner Kreuzfahrt mitgebracht habe, hat sich ja dann im Labor auch bloß als der Kopf eines Affen erwiesen.«

»Was für ein Gift?« Kastrup war ungeduldig.

»Nun, da es sich um ein Schlangen-Messer handelt, war mein erster Gedanke natürlich, dass es sich um Schlangengift handeln könnte. Aber auch das ist schwer zu kriegen, und wenn du im Internet danach forschst, dann kommst du sehr rasch in Gegenden, wo alles ziemlich illegal ist. Natürlich wäre es möglich, ein paar Kreuzottern zu fangen und das Gift selbst zu gewinnen …«

»Kurt, ich bitte dich! Ich will nicht hören, was alles nicht zutrifft, sondern ich möchte einzig und allein wissen, um was für ein Gift es sich handelt.«

»Wenn du willst – bitte: Coniin.«

Der Begriff sagte Kastrup gar nichts. Er starrte den Mediziner an. Der aß ungerührt seine Torte. Nach dem dritten Bissen hielt Kastrup es nicht länger aus.

»Was ist das für ein Gift?«, fragte er so beherrscht wie möglich.

»Gefleckter Schierling. Conium maculatum.«

»Der ist tödlich, oder?«

»Ja, das kann man so sagen. Etwa 0,5-1 Gramm Coniin reichen aus, um einen Menschen umzubringen. Wenn man es ihm oral verabreicht. Den berühmten Schierlingsbecher. Allerdings musst du dein Opfer erst einmal dazu bringen, dass es das Zeugs trinkt. Wenn man die Pflanze zerreibt, stinkt sie nämlich nach Mäusepisse.«

»Und wenn das Gift in den Blutkreislauf gelangt?«

»Es wirkt gerade dadurch, dass es in den Blutkreislauf kommt. Insofern ist es gar keine schlechte Idee, die Messerspitze damit einzustreichen. Die Muskeln fangen an zu zittern, Lähmung breitet sich aus, schließlich kannst du nicht mehr atmen und erstickst – bei vollem Bewusstsein übrigens.« Beelitz zuckte mit den Schultern. »Aber das ist dem jungen Mann erspart geblieben«, sagte er.

»Also jedenfalls ein Gift, an das jeder ohne Weiteres rankommt«, sagte Kastrup. Er hatte etwas Exotischeres erwartet.

»Ja, etwas, wo jeder rankommt. Theoretisch zumindest. Wenn er etwas von Botanik versteht. Es gibt eine ganze Reihe von Doldenblütlern, die für den Laien ziemlich ähnlich aussehen. Giersch zum Beispiel. Oder Wiesenkerbel. Oder Bärenklau, um nur ein paar der wichtigsten zu nennen.«

»Das ist nicht so schwierig. Selbst ich könnte jederzeit ins Gelände gehen und Schierling finden«, behauptete Kastrup. Er hatte immerhin Was blüht denn da? zu Hause im Regal stehen.

Beelitz lächelte. »Jederzeit? – Vergiss bitte nicht, dass wir inzwischen November haben. Und der Schierling blüht von Juni bis September. Wenn du ihn jetzt noch suchst, wirst du einige Mühe haben.«

»Mit anderen Worten: Der Mord ist von langer Hand vorbereitet worden?«

Beelitz nickte.

»Besuch für dich!«, sagte Alexander, als Kastrup zurückkam. »Zwei junge Leute.« Er öffnete die Tür zu Kastrups Zimmer.

Die beiden jungen Frauen erhoben sich. Die eine war groß und blond, die andere klein und dunkelhaarig – eine fernöstliche Schönheit.

»Das ist Rabiya Isqaqov«, sagte die Blonde. »Und ich bin Bärbel Scholz.«

»Es ist schön, dass Sie gekommen sind«, sagte Kastrup. »Eigentlich hätte es auch genügt, wenn ich mit Fräulein Iska … Isqua … wie spricht man das aus?«

Bärbel lächelte. »Sagen Sie einfach Rabiya«, sagte sie. »Rabiya kommt aus China.«

Rabiya sah aber nicht chinesisch aus.

»Sie ist eine Uighurin aus Xinjiang, im Nordwesten von China. Sie spricht zwar ziemlich gut Deutsch, aber sie fühlt sich noch immer ein bisschen unsicher. Deswegen bin ich mitgekommen.«

»Und wie verständigen Sie sich?«, fragte Kastrup.

»Auf Chinesisch. Wir haben uns an der Uni kennengelernt, Marvin, Rabiya und ich. Und Marvin – Marvin und Rabiya – es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Marvin hat angefangen, Chinesisch zu lernen. Dabei sollte er eigentlich Betriebswirtschaft studieren. Sie wollten heiraten. Und jetzt – jetzt ist alles zu Ende.«

Kastrup sah Rabiya an. Die junge Uighurin wirkte sehr gefasst. »Rabiya ist chinesische Staatsbürgerin?«

»Ja, sie ist als chinesische Studentin hierher nach Deutschland gekommen. Sie soll Medizin studieren, aber bisher ist sie noch nicht allzu weit damit gekommen. Das Problem ist die Sprache.«

»Deutsch – schwer!«, sagte Rabiya.

»Und was haben Marvins Eltern zu den Heiratsplänen gesagt?«

»Die haben nichts davon gewusst. Marvin war sich sicher, dass sie dagegen sein würden. Er wollte erst mit ihnen darüber reden, wenn die Hochzeit unmittelbar bevorstand. Das war natürlich sowieso ein schwieriges Projekt. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass es nicht so einfach ist, eine Ehe zwischen einem Deutschen und einer Uighurin zu beantragen. Da gibt es jede Menge bürokratischer Hürden.«

Ja, das konnte Kastrup sich gut vorstellen. Sein Kollege Vincent Weber war mit einer Syrerin verheiratet. Das war schwierig genug gewesen. »Hatte Marvin irgendwelche Feinde?«

Rabiya schüttelte den Kopf.

»Oder fühlte er sich bedroht?«

»Nein.«

»Wissen Sie irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte? – Wir wollen Marvins Mörder natürlich so rasch wie möglich festnehmen. Bis jetzt wissen wir nur, dass dieser Mord passiert ist, aber nicht warum. Es gibt kein Motiv.«

Bärbel übersetzte. Rabiya antwortete auf Chinesisch. Bärbel sagte: »Nein, wir haben keine Ahnung, warum jemand Marvin getötet hat. Er war solch ein freundlicher Mensch. So vollkommen harmlos. Es ist einfach unfassbar.«

»Und was ist nun an jenem Abend genau passiert?«, fragte Kastrup.

»Wir haben uns nach der Uni getroffen, sind zusammen essen gegangen, beim Inder in der Rothenbaumchaussee, und dann hinterher ins Theater.«

»Das Stück hieß Tod eines Jägers?«

»Ja. Rolf Hochhuth hat das geschrieben, schon vor sehr vielen Jahren. Es ist ein fiktiver Monolog, den Ernest Hemingway in den Stunden vor seinem Selbstmord hält.«

»Hochhuth – ist das ein politisches Stück?«

»Sie denken an so etwas wie Der Stellvertreter? Nein, in Tod eines Jägers geht es um das Altwerden und um den Tod.«

»Und Sie selbst? Sind Sie politisch aktiv? Ist Rabiya politisch aktiv?«

Rabiya schüttelte den Kopf.

Bärbel sagte: »Sie ist nicht politisch aktiv. Aber natürlich träumen alle Uighuren von der Unabhängigkeit. Das gilt auch für sie.«

Alexander hatte sich inzwischen schlaugemacht, was es mit dem Schlangenmesser auf sich hatte. »Das Messer wird von AliExpress angeboten«, sagte er. »AliExpress ist etwas Ähnliches wie eBay auf Chinesisch, aber nicht genau gleich. Ein kleines bisschen anders. Über AliExpress bieten chinesische Händler ihre Waren an. Zu diesen Produkten gehört unter anderem das Schlangenmesser. Eigentlich heißt es gar nicht Schlangenmesser, sondern bei AliExpress steht einfach nur Schlange Kopf. Und wenn man die Abbildungen vergrößert, dann sieht man, dass sowohl auf der Klinge als auch auf dem Heft des Messers der Kopf einer Kobra abgebildet ist.«

»Daher der Name«, sagte Kastrup.

»Daher der Name«, bestätigte Alexander. »Auf der deutschen Webseite von AliExpress wird das Messer zurzeit von ein paar Dutzend verschiedenen Anbietern offeriert. Der Preis beträgt meistens ungefähr 20 US-Dollar, aber du kannst für dasselbe Messer auch über 30 Dollar ausgeben. Der Versand ist normalerweise kostenlos. Die Beschreibung des Produktes variiert. Die Übersetzungen ins Deutsche sind zum Teil sehr fantasievoll. Ein Anbieter schreibt zum Beispiel: Schlange Kopf XJ11 Klappmesser Kugellager G10 Griff Dienstprogramm tactical Überleben Messer outdoor Camping Werkzeuge. Das Produkt wird per Luftpost verschickt. Die Lieferzeit beträgt knapp zwei Monate.«

»Es sieht also nicht so aus, als ob wir eine Chance hätten, den Käufer dieses Messers zu finden?«, fragte Kastrup.

Alexander schüttelte den Kopf. »Das ist ein Massenprodukt«, sagte er. »Und das Messer wird von vielen verschiedenen Firmen angeboten. Ich halte es für ausgeschlossen, dass wir den Käufer ermitteln können. Natürlich ist es auch möglich, dass der Täter das Messer gebraucht gekauft hat. Bei eBay wird es zum Beispiel auch angeboten.«

»Ich denke«, sagte Vincent, »dass das Messer uns einiges über den Täter erzählt. Nach allem, was ich gesehen habe, ist dieses Schlangenmesser nicht gerade ein ideales Mordinstrument. Wer immer es benutzt hat, dem ging es offenbar unter anderem darum, mit dem Begriff ›Schlange‹ Eindruck zu machen. Daher auch das Gift auf der Klinge. Das ist zwar kein Schlangengift, aber natürlich haben Giftschlangen eine gewisse Faszination.«

»Aber wer ist der Täter? Wir haben nicht den leisesten Hinweis darauf, dass irgendjemand einen Groll auf das Opfer gehabt hat.«

»Vielleicht haben wir ihn nur noch nicht gefunden«, sagte Kastrup. »Marvin Roland war mit einer Uighurin befreundet«, fügte er hinzu.

Alexander zog die Augenbrauen hoch. »Mit einer Uighurin?«

»Ich habe sie kennengelernt. Sie ist ein sehr nettes, schüchternes Mädchen.«

»Dir ist klar, dass es mit den Uighuren immer wieder Zoff gibt in China?«

»Ja, ich weiß.«

»Ziemlich wilde Sachen. Und keiner weiß so richtig, ob das nun Freiheitskämpfer oder Terroristen sind. Die Chinesen sagen: Terroristen. Und die Amerikaner sagen auch: Terroristen. Sie haben damals eine ganze Menge Uighuren in Afghanistan festgenommen und nach Guantanamo gebracht. – Jedenfalls: Wenn jetzt der Freund einer Uighurin mit einem chinesischen Messer in der Brust tot aufgefunden wird …«

Kastrup schüttelte den Kopf. »Das ist Blödsinn«, sagte er. »Die Frau ist unpolitisch. Und Marvin Roland, der ermordete Student, der war allem Anschein nach auch unpolitisch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Motiv ganz woanders liegt.«

»Also kein Fall für LKA 7?«

»Für den Staatsschutz? Nein, ich glaube nicht. – Jedenfalls erst mal nicht. Vincent und Oliver sind draußen und befragen die Eltern; mal sehen, ob da irgendwelche neuen Erkenntnisse bei herauskommen.«

»Übrigens – draußen wartet noch ein Besucher auf dich. Es ist Carl Dachsteiger.«

Bernd Kastrup verzog das Gesicht. Es war ganz offensichtlich, dass er sich auf diesen Besucher nicht gerade freute.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Dachsteiger?«

»Es geht um Julia, unsere Tochter.«

»Ihre angebliche Tochter«, korrigierte Kastrup. Er war der festen Überzeugung, dass es sich um einen Identitätsdiebstahl handelte, dass die wahre Julia Dachsteiger tot war, vor Jahren schon an einer Überdosis Rauschgift gestorben. Soweit hatten sie das ermittelt. Aber ohne die Hilfe der angeblichen Eltern ließ sich der Fall nicht aufklären.

Carl Dachsteiger sagte: »Das möchte ich jetzt nicht kommentieren. Sie wissen ja, dass meine Frau der festen Überzeugung ist, dass Julia unsere Tochter ist. Und davon lässt sie sich auch nicht abbringen.«

»Aber?«

»Was meinen Sie damit?«

»Herr Dachsteiger, Sie sind doch nicht zu mir gekommen, um mir zu erzählen, dass alles bestens sei.«

»Nein. – Nein, es ist nicht alles bestens. Ich mache mir große Sorgen. Dieser Kontakt zu Julia – ich hatte gehofft, dass der im Laufe der Zeit nachlassen würde, aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil. Es gibt immer häufigere Treffen, und ich habe das Gefühl, dass sich dort etwas Übles anbahnt.«

»Können Sie das konkretisieren?«

»Wenn Julia sich unbeobachtet glaubt, dann habe ich das Gefühl, dass sie ihre Maske fallen lässt. Dann habe ich das Gefühl, dass sie uns regelrecht belauert. Wie – wie eine Schlange, die auf den günstigsten Moment wartet, um zuzustoßen.«

»Das Beste wäre es nach wie vor«, sagte Kastrup, »wenn Sie den Identitätsdiebstahl auffliegen lassen, indem Sie einfach eine DNA-Analyse durchführen. Das können Sie privat machen lassen. Das ist gar nicht mehr so teuer …«

»Das kann ich nicht. Das kommt nicht infrage. Meiner Frau würde es – das klingt jetzt melodramatisch, aber das ist einfach so – meiner Frau würde es das Herz brechen, wenn sie am Ende doch zugeben müsste, dass dies nicht ihre Tochter ist.«

»Und was stellen Sie sich vor, was wir nun machen sollen? Wir können Sie nicht unter Schutz stellen. Dafür haben wir nicht die geringste Handhabe. Sie haben beide ausgesagt, dass Julia Dachsteiger Ihre Tochter sei, und also ist sie Ihre Tochter – bis zum Beweis des Gegenteils. Und wenn Sie jetzt vor ihr Angst haben, dann ist das ist kein Fall für die Polizei. Die Bedrohung, die Sie zu spüren glauben, das ist einfach nur ein Gefühl. Und aufgrund eines unbestimmten Gefühls können wir nicht aktiv werden.«

»Es ist mehr als ein Gefühl. Allein die Art, wie sie mich ansieht …«

»Herr Dachsteiger, ich bitte Sie! Julia kann Sie angucken, wie sie will. Jedenfalls so lange, wie Sie nichts dagegen unternehmen. Wenn Ihnen das nicht gefällt, wie sie mit Ihnen umgeht, dann können Sie ihr natürlich das Haus verbieten …«

Carl Dachsteiger schüttelte den Kopf.

»… oder die Beziehung zu ihr abbrechen. Das muss nicht abrupt geschehen. Sie können die Geschichte ganz einfach auslaufen lassen. Sie nur noch in immer größeren Abständen treffen und dann schließlich gar nicht mehr.«

»Das funktioniert nicht. Meine Frau ist es, die diese Treffen arrangiert. Gemeinsame Ausflüge am Wochenende, gemeinsame Weihnachten …«

Kastrup versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, mit einem Menschen zusammen Weihnachten zu feiern, der vorgab, seine Tochter zu sein, und von dem er mit hundertprozentiger Sicherheit wusste, dass es sich um eine Schwindlerin handelte. Eine unheimliche Vorstellung. Er sagte: »Ich kann Ihnen nicht helfen. So wie die Lage jetzt ist, können Sie sich nur selbst helfen. Decken Sie den Schwindel auf. Das ist unangenehm, vor allem, nachdem Ihre Frau und Sie vor Gericht ausgesagt haben, dass Julia Dachsteiger Ihre Tochter sei. Aber da müssen Sie nun durch …«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sich Julia noch einmal vornehmen würden. Dass Sie einmal genauer nachforschen würden, was sie in den letzten zehn Jahren gemacht hat, und was sie heute macht …«

»Warum? Warum sollte sich die Polizei dafür interessieren? Wenn Sie mehr wissen wollen, können Sie sich natürlich an irgendeine Detektei wenden. Aber das Einzige, was dabei mit Sicherheit herauskommen wird, das ist eine saftige Rechnung.«

»Wie war’s in Neugraben?«

Vincent zuckte mit den Schultern. »Traurig natürlich, das kannst du dir ja vorstellen. Die Eltern sind am Boden zerstört. Marvin war ihr einziges Kind.«

»Und sie haben keine Ahnung, wer das getan haben könnte?«

»Nein.«

»Das wird schwierig. Die beiden Studentinnen, mit denen ich gesprochen habe, die haben auch keine Ahnung. Sieht so aus, als wäre Marvin ein zufälliges Opfer einer sinnlosen Gewalttat geworden.«

Vincent war nicht überzeugt, aber einen besseren Vorschlag hatte er auch nicht. »Und ich habe gehört, du hattest Besuch?«

»Carl Dachsteiger, ja.«

»Und? Wie war’s?«

Kastrup zuckte mit den Schultern. »Ergebnislos. Der Herr Dachsteiger hat ein ungutes Gefühl, aber das kann ich nicht ändern.«

»Glaubst du, er macht sich zu Recht Sorgen?«

»Woher soll ich das wissen, Vincent? Julia hat vor Gericht gestanden, und der Richter hat sie freigesprochen. Der Richter hat befunden, dass sie ein Opfer dieses Mannes gewesen ist, der sich damals als die ›Hyäne von Hamburg‹ bezeichnet hat.«

»Aber das war sie nicht, oder?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich bin mir nicht sicher. Du weißt ja, dass sie angeschossen worden ist, und zwar durch die Hyäne. Und am Ende ist die Hyäne ohne sie geflüchtet. Julia Dachsteigers Anwalt hat die Situation geschickt ausgenutzt. Die Hyäne, dieser Christian Sommerfeld, war tot, und deshalb konnte er alle Schuld auf diesen Mann schieben.«

»Na schön. Julia Dachsteiger ist unschuldig. Alle Probleme sind gelöst.«

»Nicht ganz, Vincent. – Die Julia weiß natürlich, dass ihre angeblichen Eltern jederzeit nachweisen könnten, dass sie nicht ihre Tochter ist.«

»Aber die Dachsteigers unternehmen nichts, und die Hyäne ist tot.«

»Das wissen wir nicht. Ob die Hyäne tot ist, meine ich.«

Vincent schüttelte den Kopf.

Kastrup sah Vincent an. »Unser S-Bahn-Mörder erinnert mich an die Hyäne«, sagte er.

»Inwiefern?«

»In der Art der – der Konstruktion.«

»Was meinst du damit?«

»Wenn ich einen Menschen erstechen will, dann nehme ich ein großes Messer und steche zu, und fertig. Aber hier hat der Täter ein kleines Messer genommen – vielleicht wegen dieses Schlangenkopfes. Und dann obendrein die Sache mit dem Gift. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn er ein vernünftiges Messer genommen hätte. Überflüssiger Schnickschnack. Tütelkram, wie man bei uns sagt. Genau wie diese überflüssigen E-Mails der Hyäne damals.«

Vincent sah seinen Freund an. »Das ist weit hergeholt, Bernd. Das Ganze ist eine fixe Idee von dir. Tut mir leid, aber anders kann ich das nicht bezeichnen. Dieser Mensch ist damals von der Elbbrücke ins Wasser gestürzt. Mit voller Kleidung, im November. Du hast auf der Brücke gestanden und gesehen, wie er gestürzt ist, und du hast gesehen, dass er nicht wieder aufgetaucht ist. Wer im November in die Elbe fällt und nicht wieder auftaucht, der ist tot. Daran gibt es keinen Zweifel.«

»Seine Leiche ist nicht gefunden worden.«

»Was besagt das schon? Denk an die Familie aus diesem Dorf an der Elbe. Wo ist das noch gewesen? Haben die nicht alle gemeinsam Selbstmord begangen?«

Kastrup erinnerte sich. »In Drage war das«, sagte er.

»Den Mann haben sie schließlich tot aus der Elbe gezogen. Aber Frau und Tochter sind nie gefunden worden.«

»Das mag sein. Ich kenne den Fall nur aus den Zeitungen. Da stand, dass der Mann damals mit einem 25 Kilo schweren Betonklotz am Bein von der Elbbrücke in Lauenburg gesprungen ist. Dennoch ist seine Leiche wieder aufgetaucht. Aber Christian Sommerfeld, die ›Hyäne‹, ist mit Sicherheit ohne Betonklotz in die Elbe gesprungen, und wir haben seine Leiche nicht gefunden.«

»Nicht jeder Selbstmörder wird gefunden.«

»Das war kein Selbstmord, Vincent. Das war eine Flucht. Als Sommerfeld in die Elbe gesprungen ist, hatten wir auflaufendes Wasser. Ich habe im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie nachgefragt. Der Flutstrom hatte eine Geschwindigkeit von etwa 30 Zentimeter pro Sekunde. Das sind 18 Meter pro Minute. Wenn Christian Sommerfeld von der Brücke senkrecht nach unten gesprungen ist, und das ist er, und wenn er dann nach einer knappen Minute wieder aufgetaucht ist, dann war er von meinem Standort aus nicht mehr zu sehen.«

»Aber wir haben doch das Ufer abgesucht.«

»Ja, das haben wir. Aber viel zu spät. Wenn Sommerfeld lebend ans Ufer gekommen ist, dann war er zu dem Zeitpunkt längst weg.«

Vincent schüttelte den Kopf. »Mit nassen Klamotten und bei 7 °C – wenn er dann nicht sehr schnell ins Trockene gelangt ist, dann muss er an Unterkühlung gestorben sein.«

»Er lebt«, beharrte Kastrup. »Ich bin überzeugt, dass er lebt. Und ich will ihn haben.«

»Wollt ihr mal gucken?«, fragte Alexander.

Sie gingen hinüber zu seinem Rechner. Auf dem Bildschirm blickte man von oben in das Innere eines S-Bahn-Wagens. Der Wagen war leer – jedenfalls der Teil, den die Kamera erfasst hatte.

»Wir sind jetzt am Hauptbahnhof«, sagte Alexander. »Diese Einblendungen, das sind die Waggonnummer, die Zugnummer und die Uhrzeit. Der Zug ist gerade am Hauptbahnhof angekommen, und jetzt steigt Marvin Roland ein.«

Alexander startete das Video, und man sah, wie ein junger Mann in das Abteil einstieg. Er wandte sich nach links, setzte sich auf die kurze Sitzbank direkt hinter dem Eingang, mit dem Rücken zur Tür, öffnete seinen Anorak, zog ein Buch aus der Innentasche und begann zu lesen.

»Was ist das für ein Buch?«, fragte Vincent.

»Ein Chinesisch-Lehrbuch.«

»Oh.«

»Jetzt passiert ziemlich lange gar nichts. Der Wagen ist nicht vollständig leer. Es sind insgesamt zwölf Personen darin – ohne unseren Studenten. Zehn davon sind am Hauptbahnhof eingestiegen. Alle sind nacheinander ausgestiegen. – Hier, da seht ihr es: Der erste ist schon in Hammerbrook ausgestiegen.«

Man sah, wie ein etwas schlaksiger, junger Mann zu dem Ausgang ging, den die Überwachungskamera erfasst hatte. Der Zug hielt. Der Mann öffnete die Tür und stieg aus. Die Tür wurde wieder geschlossen. Der Zug fuhr weiter.

»In dem Teil, den wir mit dieser Kameraeinstellung im Blick haben, passiert jetzt erst einmal überhaupt nichts. Aus den anderen Kameraeinstellungen weiß ich, dass in Wilhelmsburg noch drei Personen eingestiegen sind, und in Harburg noch einmal zwei. Die sind dann alle in Harburg-Rathaus wieder ausgestiegen.«

Auf dem Bildschirm sah man nichts weiter, als dass Marvin Roland in seinem Buch las.

»Das ist jetzt Harburg-Rathaus«, sagte Alexander. »Der Zug hält. Und nun passt auf, was jetzt passiert.«

Es passierte erst einmal gar nichts. Der Zug fuhr weiter. Dann plötzlich fiel dem Studenten das Buch aus der Hand. Er schreckte hoch, bückte sich, hob das Buch wieder auf, blätterte darin herum und las schließlich weiter.

»Er ist eingeschlafen«, sagte Alexander.

Der Zug hielt in Heimfeld. Der Zug fuhr weiter.

»Jetzt kommt er aus dem Tunnel heraus«, erläuterte Alexander. »Und jetzt – seht ihr das? – jetzt fährt er über die B 73. Das Helle, was man da im Fenster sieht, das ist die B 73.«

Kastrup gähnte. Jetzt sahen sie schon seit 20 Minuten, wie ein Mensch in der S-Bahn durch die Nacht fuhr. Bis nach Buxtehude würde er wahrscheinlich weitere 20 Minuten brauchen. »Kann man das nicht schneller ablaufen lassen?«, fragte er.

»Achtung«, sagte Alexander, »jetzt kommt es. Der Zug läuft in Neuwiedenthal ein.«

Man sah, wie der Zug seine Fahrt verlangsamte. Ein Mann und eine Frau gingen zum Ausgang. Man sah die Lichter des Bahnsteigs. Der Zug hielt. Die Tür wurde geöffnet. Der Mann und die Frau stiegen aus.

»Das ist er!«, sagte Alexander.

Der Mann, der in das Abteil gekommen war, trug einen dunklen Anorak mit Kapuze, um die er obendrein einen dunklen Schal geschlungen hatte, sodass von seinem Gesicht nur die Augenpartie frei war, und auch die konnte man durch den Schatten der Kapuze nicht erkennen. Der Mann blickte nach rechts und nach links. Die Türen wurden geschlossen. Die S-Bahn setzte sich wieder in Bewegung.

»Er ist jetzt mit dem Studenten allein im Abteil«, sagte Alexander. »Alle übrigen Fahrgäste sind in Neuwiedenthal ausgestiegen. Bis zur nächsten Station hat er drei Minuten. Neugraben ist das. Drei Minuten bis Neugraben.«

Kastrup ertappte sich dabei, dass er hoffte, es möge nichts geschehen, obwohl er sehr wohl wusste, was passiert war.

Der Mann im Anorak sah sich noch einmal um, trat dann blitzschnell vor, zückte ein Messer und stieß zu. Das Buch fiel zu Boden. Der Student hob die Hände. Der Mann mit der Kapuze stieß erneut zu. Der junge Mann sackte in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Der Mörder stieß noch ein letztes Mal zu, dann ließ er das Messer los und wandte sich zum Ausgang. Der Zug bremste und hielt in Neugraben. Der Mann stieg aus.

»Das war’s«, sagte Alexander.

»So ein Mist«, schimpfte Kastrup. »Man sieht nichts. Man sieht einfach gar nichts. Wir haben die ganze Tat auf Video, und wir können nichts damit anfangen. Wir können nicht einmal entscheiden, ob der Mörder nun ein Mann oder eine Frau gewesen ist.«

»Ein Mann«, behauptete Vincent.

»Eine Frau«, konterte Alexander.

»Wir brauchen die Zeugen. Wir brauchen alle anderen Personen, die in dieser S-Bahn gefahren sind. Alle aus diesem Wagen jedenfalls. Vielleicht haben die beim Aussteigen etwas gesehen. Sie müssen dem Täter praktisch begegnet sein. Vielleicht hat wenigstens einer von ihnen irgendetwas gesehen, was uns weiterhilft. Vielleicht erinnert sich einer von denen, ob das nun ein Mann oder eine Frau gewesen ist.«

Der Film lief unterdessen weiter.

»Müssen wir uns das alles angucken?« Kastrup deutete auf den Bildschirm.

»Das geht noch eine gute Viertelstunde«, sagte Alexander. »Man sieht, wie dann nachher in Neu Wulmstorf die junge Frau einsteigt, wie sie das Blut sieht und das Messer, und wie sie dann in Buxtehude in panischer Hast die Tür aufreißt und hinausspringt, und dann kommen der Triebfahrzeugführer und dann die Sanitäter und dann die Polizei. Du bist auch im Bild zu sehen, Bernd. Die Videoaufzeichnung ist einfach immer weitergelaufen.«

»Das muss ich jetzt nicht alles sehen. Wir brauchen die Fahrgäste. Wir brauchen eine Pressemitteilung – Zeugen, die Angaben zum Tathergang machen können, oder so ähnlich. Die übliche Routine. Ich kümmere mich um den richterlichen Beschluss zur Öffentlichkeitsfahndung. Und dann fahren wir heute Nacht mit der gleichen S-Bahn und befragen die Fahrgäste. Vielleicht bringt das etwas.«

Feierabend. Vincent Weber saß noch immer in seinem Zimmer im LKA. Er hatte keine Eile, jetzt schon nach Hause zu kommen. Es war eng geworden zu Hause, sehr eng, seit die Familie seiner Frau bei ihnen eingezogen war. Vincent hatte sich noch einmal die Unterlagen vorgenommen, die sie im letzten Jahr aus Russland bekommen hatten. Unterlagen, von denen sie glaubten, dass sie sich auf die Frau bezogen, die sich Julia Dachsteiger nannte. Es waren Indizien, aber keine Beweise.

Die echte Julia Dachsteiger war am 12. Juni 1987 geboren. Sie hatte bei ihren Eltern gewohnt, sie hatte angefangen zu studieren: Höheres Lehramt, Deutsch und Geschichte. Weit war sie damit nicht gekommen. Sie hatte sehr bald angefangen, Drogen zu konsumieren und das Studium 2008 abgebrochen. 2009 war sie zuletzt lebend gesehen worden. Ihre Eltern hatten angenommen, dass sie tot sei. Und dann war vor einem Jahr plötzlich diese Frau aufgetaucht, die behauptete, Julia Dachsteiger zu sein. Vincent glaubte nicht, dass das stimmte.

Da war zunächst einmal der Pass. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung hatten sie einen sogenannten russischen Inlandspass gefunden, ausgestellt auf den Namen Alix Bolschakowa, geboren am 3. Oktober 1987 in Wolokolamsk. Einen solchen Inlandspass bekam man ab dem 14. Lebensjahr. Der musste erneuert werden, wenn man 20 wurde, und ein zweites Mal, wenn man 45 war. Die Inhaberin dieses Passes war neun Jahre zuvor 20 geworden. Dieses Dokument war also nicht mehr gültig. Das Foto zeigte ein junges Mädchen, das vielleicht die angebliche Julia Dachsteiger sein könnte, aber mit Sicherheit ließ sich das nicht sagen. Die wissenschaftliche Bildanalyse durch die Kollegen vom LKA 38 hatte kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Die Dachsteiger hatte behauptet, diesen Pass müsste Sommerfeld irgendwann in ihrer Wohnung vergessen haben. Sommerfeld war in Russland gewesen, daran bestand kein Zweifel, und insofern hätte er relativ leicht an solch ein Dokument kommen können.

Die nächsten Informationen hatten sie aufgrund einer Initiative von Bernd Kastrup erhalten, von der Vincent nicht geglaubt hatte, dass sie Erfolg haben könnte. Er hatte über das Internet eine Kontaktadresse in Wolokolamsk gefunden, und ein gewisser Anatol Nowikow hatte sich schließlich gemeldet und berichtet, was damals in Russland passiert war. Christian Sommerfeld war als Lastwagenfahrer in Russland gewesen. Er hatte die Route Hamburg-Riga-Moskau bedient. Er hatte in Wolokolamsk eine Panne gehabt und eine Woche lang festgesessen. In dieser Zeit hatte er Alix kennengelernt, und später hatte er sie mit nach Deutschland genommen. Wie er sie schwarz über die Grenze gekriegt hatte, wussten sie nicht.

Nowikow hatte außerdem gewusst, dass Alix Bolschakowa kriminell gewesen war, der Kopf einer Jugendbande, wie er sich ausdrückte. Wegen ihrer roten Haare wurde sie »die Rote Alix« genannt. Sie konnte damals kein Deutsch; Sommerfeld und sie hatten sich auf Russisch verständigt. Sommerfeld sprach ein bisschen Russisch.

Wann die Rote Alix nach Deutschland gekommen war, wusste Nowikow nicht genau. Er hatte gesagt: wahrscheinlich vor 10 bis 15 Jahren. Das konnte kaum stimmen. Wenn sie vor 15 Jahren nach Deutschland gekommen wäre, im Jahre 2000 also, dann wäre sie 13 Jahre alt gewesen und hätte ihren Inlandspass noch gar nicht gehabt. Wahrscheinlich war sie also eher um 2005 herum gekommen. Da war sie 18 Jahre alt. Kopf einer Jugendbande – möglich war das. Aber nur gerade so.

Das waren die Dinge, die sie bei ihrer Jagd auf die »Hyäne von Hamburg« bereits erfahren hatten. Später war dann noch ein detaillierter Brief von Nowikow eingetroffen, der weitere interessante Details über Alix Bolschakowa enthielt, aber den sie im Prozess dann schließlich doch nicht hatten verwenden können.

Vincent nahm sich den Brief noch einmal vor. Der Russe hatte sich sehr viel Mühe gegeben, und ganz offensichtlich hatte noch jemand den Text korrigiert; das Deutsch war fehlerfrei.

Alix Bolschakowa war als ungewünschtes Kind einer ledigen Mutter zur Welt gekommen, und sie war zum ersten Mal mit den Behörden in Berührung gekommen, als eine Nachbarin die Polizei geholt hatte, weil das Kind so entsetzlich schrie. Es hatte sich herausgestellt, dass die kleine Alix, sie war damals vier Jahre alt, von ihrer Mutter grün und blau geschlagen worden war. Mama wollte in Ruhe ihren Wodka trinken, und das Kind störte, weil es schrie. Als die Mutter wieder nüchtern war, machte sie einen ganz vernünftigen Eindruck. Sie versprach den Polizisten alles Mögliche, und sie bekam das Kind zurück. Als das Kind das nächste Mal schrie, hielt die Nachbarin den Mund. Die erboste Mutter hatte inzwischen herausgefunden, wer sie angezeigt hatte, und sie hatte ihr zwei Zähne ausgeschlagen.

Den Behörden fiel schließlich auf, dass Alix nicht zur Schule angemeldet worden war. Wieder kam die Polizei ins Haus. Die Mutter meldete Alix für die Schule an. Und als die Polizisten gegangen waren, verprügelte sie das Mädchen. Alix riss sich los und rannte aus dem Haus. Der Mutter war es recht. Sie machte keine Vermisstenmeldung.

Aber natürlich fiel es auf, dass Alix nicht zur Schule ging. Sie wohnte heimlich bei einem entlassenen Priester, von dem sie wirres, pseudoreligiöses Zeugs lernte. Sie trieb sich mit größeren Jungs herum, half mit, in Wohnungen einzubrechen, die tagsüber leer standen. Sie war klein genug, um durch Kellerlöcher zu krabbeln, durch die die Größeren nicht mehr hindurchkamen. Sie wurde erwischt und nach Hause gebracht. Dort blieb sie keine Woche, sie lief wieder davon. So kam sie schließlich in ein Heim für schwer erziehbare Kinder.

Nowikow schrieb: Dort lernte sie dann das, was ihr noch zu einer erfolgreichen Karriere als Verbrecherin fehlte. Sie prügelte sich herum; selbst die großen Jungs hatten Respekt vor ihr. Einen, der sich mit ihr angelegt hatte, hatte sie von hinten angesprungen und ihm mit dem Kugelschreiber ein Auge ausgestochen. Seitdem traute sich niemand mehr, ihr irgendetwas zu sagen. So lernte sie zu prügeln, zu lügen, zu stehlen, und wenn es irgendetwas gab, was sie auf diese Weise nicht bekommen konnte, dann setzte sie ihre Sexualität ein.

Die hatte sie auch eingesetzt, als der deutsche Lastwagenfahrer in Wolokolamsk gestrandet war. In sein Hotelzimmer durfte sie nicht; darüber wachte eine strenge Concierge. Aber es gab viele Möglichkeiten in und um Wolokolamsk, sich für sexuelle Abenteuer zu treffen. Der Deutsche hatte ihr versprochen, sie in seinem Lastwagen mitzunehmen, aber er war dann doch ohne sie losgefahren.

Sie hatte ihn schon fast vergessen, als er zum zweiten Mal nach Wolokolamsk kam. Eigentlich war er auf der Durchreise nach Moskau, aber da stand Alix Bolschakowa am Straßenrand. Ihre Bande hatte sich aufgelöst; die meisten Mitglieder saßen im Gefängnis. Die Rote Alix wollte als Anhalterin nach Moskau und dort ihr Glück versuchen. Der Deutsche hatte sie mitgenommen, erst nach Moskau, dann zurück nach Deutschland. Die Einzelheiten wusste Nowikow nicht.

Das passte alles. Fast alles. Bis auf die roten Haare; die hatte sie offensichtlich ganz sorgfältig blond gefärbt. Jedenfalls hatten sie das geglaubt. Vincent überlegte. So sorgfältig blond gefärbt, dass man gar keine Spuren von Rot mehr sehen konnte? Nicht einmal am Haaransatz? – Nein, das war falsch. Ein ganz dummer Fehler. Alix Bolschakowa hatte in Wahrheit blonde Haare. Das hatten sie doch auf dem Foto im Inlandspass gesehen. Sie hatte von Geburt an blonde Haare, und die hatte sie zeitweilig in Russland rot gefärbt.

Lügen konnte sie, das hatte sie unter anderem im Prozess bewiesen. Und ihre körperlichen Reize hatte sie auch eingesetzt, wenn auch sehr dezent. Sie hatte sich so zurechtgemacht, dass sie auf die Juristen wie ein armes, liebenswertes Mädchen gewirkt hatte, das auf den schlimmen Christian hereingefallen war, und das man vor der bösen Welt beschützen musste. Vincent fragte sich, ob das bei einer Richterin genauso geklappt hätte.