Die narzisstische Volksgemeinschaft - Felix Römer - E-Book

Die narzisstische Volksgemeinschaft E-Book

Felix Römer

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Beschreibung

Die Ostfront, 31. Januar 1944: Ein deutsches Bataillon wird von der Roten Armee überrannt, der Kommandeur fällt im Kampf. Es ist Theodor Habicht, einer der ranghöchsten Nationalsozialisten, die als Offiziere den »Heldentod« sterben. Er hinterließ ein einzigartiges Tagebuch, das für den Historiker Felix Römer Ausgangspunkt einer ungewöhnlichen Biographie ist. Sie offenbart tiefe, zuweilen verstörende Einblicke in die Gedankenwelt eines überzeugten Nationalsozialisten und Wehrmachtoffiziers. Vor allem entdeckt Felix Römer bei Habicht eine enorme Selbstbezogenheit, die ihn in allen Lebensphasen leitete - ein Narzissmus, der auch die NS-Gesellschaft insgesamt prägte. Felix Römer erzählt eine Geschichte von Machtspielen und Korruption, beschreibt den Aufstieg der NSDAP, das Agieren der NS-Führer und ihre Mentalität. Er bietet eine unmittelbare Nahsicht auf den Alltag an der Ostfront und in die Innenwelt eines überzeugten Kriegers. Fassungslos liest man, wie Habicht sich selbst sah und mit männerbündischer Heiterkeit von Gewalt und Tod erzählt. »Anhand des Tagebuchs von Theodor Habicht zeigt Felix Römer den Alltag des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion in seltener Eindringlichkeit.« Volker Ullrich, Historiker und Autor von ›Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs‹ »Römers These über den Narzissmus der Nationalsozialisten ist originell und potentiell fruchtbar für die NS-Geschichte.« Ian Kershaw, Historiker und Autor von ›Höllensturz. Europa 1919 bis 1945‹ »Römers Buch ist besonders interessant, weil es den Narzissmus der Nationalsozialisten heraushebt, der bislang wenig beachtet worden ist. Habichts Aufzeichnungen ermöglichen einen sehr aufschlussreichen Blick auf Bereiche des Nationalsozialismus, die wir sonst nicht zu Gesicht bekommen.« Ulrich Herbert, Historiker und Autor von ›Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert‹

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Seitenzahl: 637

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Dr. Felix Römer

Die narzisstische Volksgemeinschaft

Theodor Habichts Kampf1914 bis 1944

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]I EinleitungII Die Kultur des NarzissmusVorkämpfer des NS-Staates: Die Selbstinszenierung als AvantgardeDie NS-Elite aus dem Kleinbürgertum: Anspruchsdenken und Statusgehabe»Das System Habicht«: Die Dominanz von Personen im NS-SystemDie NS-Bewegung als PersonenverbandSeilschaften und BeziehungenMachtkämpfe und Streitigkeiten»Große Männer«: Der Tatendrang einer selbsternannten PersönlichkeitIII VolksgemeinschaftKonsens über den »Persönlichkeitswert«: Das Bündnis mit den alten ElitenDie Verwirklichung der Leistungsgesellschaft und Habichts RessentimentsVon oben herab: Paternalismus statt KameradschaftIV KriegProfilierung als »Führerpersönlichkeit«: Kampfkultur und KampfmoralDie Gestaltung des Alltags: Habichts Ordnung im GewaltraumZeitRaumDie militärische OrdnungDie eigene TruppeDer FeindIdeologieWahrnehmung und Wirklichkeit: Gute Besatzer?RepressalienMisshandlungenSexuelle GewaltZwangsarbeitHungerKriegsgefangeneVerbrannte ErdeV AusblickDas Tagebuch von Theodor Habicht – AuszügeAnhangDankQuellen und LiteraturArchivquellenGedruckte Quellen und SekundärliteraturAbbildungsnachweisOrtsregisterPersonenregister

Für Louis und Henry

IEinleitung

In der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« galt die Maxime »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, doch in Wirklichkeit hielten sich noch nicht einmal die Machthaber daran. Die NS-Propaganda predigte unablässig, dass nur noch das Kollektiv zähle und nicht mehr der Einzelne, aber viele der führenden Nationalsozialisten nahmen sich selbst davon aus: Sie hielten sich für herausragende Persönlichkeiten, die über der Masse des Volkes standen. Ein typischer Fall war der prominente NSDAP-Funktionär Theodor Habicht aus Wiesbaden. Im Jahre 1926 trat er als Achtundzwanzigjähriger in die NSDAP ein – im NS-Staat schaffte er es später fast bis ganz nach oben.[1] Vor 1933 galt Habicht als einer der erfolgreichsten nationalsozialistischen Provinzführer in ganz Deutschland. Ab 1931 führte er die NS-Bewegung in Österreich an und machte weltweit Schlagzeilen, als er im Juli 1934 einen Putschversuch gegen die Regierung in Wien unternahm, der blutig scheiterte. Trotz dieses spektakulären Fehlschlags ging seine Karriere ab 1937 weiter, erst als Oberbürgermeister von Wittenberg und Koblenz, dann ab 1939 sogar als Diplomat im Auswärtigen Amt. Im Herbst 1940 trat er als Offizier in die Wehrmacht über und kam 1944 schließlich an der Ostfront ums Leben. Schon zu Lebzeiten sah sich Habicht als historische Figur und war vollkommen von sich selbst eingenommen. Weit über den Einzelfall hinaus offenbart Habichts Biographie die narzisstischen Züge der Nationalsozialisten. Damit ist nicht ihre individuelle Psyche gemeint, sondern ihre historische Mentalität im Sinne eines kollektiven kulturellen Musters. Dennoch lassen sich die analytischen Kriterien für die Beschreibung dieser Mentalität aus der psychologischen Forschung ableiten. Dies verdeutlicht das folgende kurze Gedankenexperiment, das auf Habichts historischen Selbstzeugnissen beruht.

Stellen wir uns einmal vor, Habicht hätte sich damals einem psychologischen Test unterzogen, der erst mehrere Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Diagnose von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen entwickelt wurde. Nehmen wir einmal an, Habicht hätte den Fragebogen Ende 1943 kurz vor seinem Tod im Rückblick auf sein Leben während einer Kampfpause in seinem Quartier an der Ostfront ausgefüllt. Auf seinem Schreibtisch hätte er die deutsche Version des Narcissistic Personality Inventory (NPI) vor sich liegen gehabt, der heute zum Standard der Psychologie gehört. Wenn Habicht den NPI aufgeblättert hätte, hätte er eine Liste mit vierzig Paaren von kurzen Aussagen vorgefunden. Der Test hätte darin bestanden, diese Aussagenpaare Punkt für Punkt durchzugehen – und sich jeweils zu entscheiden, mit welchem der alternativen Statements man sich mehr identifiziert. Natürlich hat Habicht in Wirklichkeit nie etwas vom NPI gehört, geschweige denn, ihn jemals ausgefüllt. Doch nach allem, was Habicht in seinen Reden, Schriften und Tagebüchern von sich selbst preisgegeben hat, kann man sich leicht ausrechnen, was er auf die Fragen des NPI wohl geantwortet hätte.

1 Ich bin ziemlich genau wie jeder andere auch | Ich bin eine außergewöhnliche Person

Gleich die erste Aussage wäre für jemanden wie Habicht irritierend gewesen. Die Vorstellung, dass irgendjemand ihn nicht für außergewöhnlich halten könnte, war aus seiner Sicht reichlich absurd. Wegen seiner Leistungen und Taten fühlte sich Habicht den meisten Zeitgenossen weit überlegen, deshalb sah er in vielen auch nur »Durchschnittsfiguren«. Immer wenn Habicht auf seine eigene Geschichte zurückblickte, wurde er pathetisch – sein Tagebuch zeigt an vielen Stellen, wie sich das bei ihm anhörte. Im Weltkrieg hatte er als Kriegsfreiwilliger gekämpft und war dafür mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Nach der Schmach von 1918 hatte er in Berlin mit einem Freikorps gegen die Spartakisten gekämpft, die alles umstürzen wollten, wofür er und seine Kameraden gefochten hatten – eine düstere, aber auch eine heroische und prägende Zeit. Ab Mitte der 1920er Jahre hatte er dann seine Heimatstadt Wiesbaden zu einer Hochburg der NSDAP gemacht: In der Kampfzeit hatte er mit die besten Wahlergebnisse des gesamten Reiches eingefahren. Sein Aufstieg zum Gauleiter und Führer der Nationalsozialisten von ganz Österreich im Sommer 1931 war die logische Folge seiner großen Verdienste um die Bewegung gewesen. Bei dem Gedanken an Österreich konnte Habicht gleichzeitig einen Anflug von Bitterkeit nicht ganz unterdrücken, denn unweigerlich kam auch die Erinnerung an seinen gescheiterten Coup vom Juli 1934 wieder hoch. Habicht ließ sich jedoch von dem Fehlschlag nicht weiter beeindrucken, schließlich hatte der ja nicht an ihm gelegen, sondern am Versagen der österreichischen SA. Auch dass Hitler ihn nach dem Putschversuch seines Amtes entheben musste, war eben nur außenpolitischen Rücksichtnahmen geschuldet gewesen.

Sein Wiedereinstieg in die Politik war ihm schon 1937 gelungen, als Oberbürgermeister von Wittenberg. Ab 1939 dann regierte er das wesentlich bedeutendere Koblenz, in der Übergangszeit sogar beide Städte zugleich – auch das hatte er sich selbstverständlich ohne Zögern sofort zugetraut. Die erhebenden Bilder von den großen Aufmärschen und Paraden mit den Menschenmassen, Wehrmachtsformationen und wehenden Flaggen standen ihm noch lebhaft vor Augen. Die Krönung war dann seine Berufung als Unterstaatssekretär ins Auswärtige Amt im Herbst 1939. Mit Ehrfurcht dachte er daran, wie er als Diplomat Weltpolitik mitgestaltet hatte, einmal sogar als Sondergesandter des Reiches in Oslo nach dem deutschen Einmarsch vom April 1940. Er hatte zwar das Amt im selben Jahr wieder verlassen müssen, doch das hatte nur an der Unfähigkeit von Reichsaußenminister Ribbentrop gelegen, unter dem die Wilhelmstraße zu einem »Narrenhaus« heruntergekommen war. Habicht war froh, dass er seither wieder Soldat war. Als Offizier an der Front für die Volksgemeinschaft und die Zukunft des Reiches zu kämpfen war ohnehin das Ehrenvollste und Männlichste, was es überhaupt gab. Und auch auf diesem Feld hatte er gezeigt, was er konnte. In Polen hatte er noch als Leutnant gedient, jetzt war er schon Hauptmann und Kommandeur eines Bataillons, nachdem seine Leistungen auf dem Schlachtfeld endlich angemessen gewürdigt worden waren.

Habicht dachte daran, wie er an seinem letzten Geburtstag über einer Europakarte gesessen hatte und mit dem Finger über all die Orte gefahren war, an denen er in seinem Leben gewirkt hatte. Andere mochten vielleicht weiter gereist sein als er, aber kaum jemand hatte an so vielen Punkten Geschichte mitgemacht. Gewiss hatte er auch Niederlagen und Rückschläge hinnehmen müssen. Mehr als einmal war er um seine Erfolge betrogen worden, und das von Leuten aus den eigenen Reihen. Aber er hatte nie den Konflikt gescheut und immer in vorderster Linie gekämpft, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch ganz wörtlich. Wenn man sein außergewöhnliches Leben auf einen Nenner bringen wollte, dann konnte es keinen besseren Begriff dafür geben als diesen: den Kampf! Und um die historischen Dimensionen dieses kämpferischen Lebens zu erfassen, dafür brauchte es doch eine geradezu epochale Bezeichnung: Habicht sprach deshalb von seiner Zeit seit Beginn des Ersten Weltkriegs als seinem ganz persönlichen dreißigjährigen Krieg.

2 Ich bin ein geborener Führer | Führerschaft ist eine Qualität, die man lange entwickeln muss

Auch bei dieser Frage lag die Antwort für Habicht auf der Hand. Dass er ein geborener Führer war, hatte er doch schon im Weltkrieg bewiesen, mit neunzehn Jahren hatte er es zum Unteroffizier gebracht! Und in der Wiesbadener NSDAP hatte er gerade einmal ein Jahr gebraucht, um Parteichef zu werden. Ein weiteres Jahr später hatte er mit der Partei in der Stadt den Durchbruch geschafft. In Österreich war es im Grunde dasselbe gewesen. Die österreichische Bewegung war unter dem schwachen Landesleiter Alfred Proksch so in Unordnung geraten, dass erst Habicht kommen musste, um wieder eine straffe Partei daraus zu formen – und das hatte er ja wohl geschafft! Man denke nur an seine Radioansprachen im bayerischen Rundfunk, mit denen er die Bewegung bei der Stange gehalten hatte! Noch vor wenigen Tagen hatte ihn hier im Frontgebiet schon wieder ein früherer Anhänger aus Österreich darauf angesprochen: Er sei damals »Abonnent« auf Habichts Rundfunkreden gewesen. Habicht hatte immer gezeigt, wo es langging, auch als Oberbürgermeister. In Wittenberg war man ihm doch heute noch dankbar dafür, was er dort alles bewegt hatte, und das gegen alle Widerstände. Am klarsten zeigte sich natürlich hier an der Front, wer ein geborener Führer war. Kein Zweifel, seine Soldaten waren ihm ergeben, wie es eine Gefolgschaft nur sein konnte. Wenn er Witze machte, dann lachten sie, und wenn er durch den Bataillonsbereich ging, lief keiner vor ihm weg, so wie beim Regimentskommandeur mit seiner falschen Leutseligkeit. Mit diesem »Volk« konnte er alles anstellen.

3 Ich stehe gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit | Es ist mir unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen

Diese Frage ließ sich nicht ohne kurzes Nachdenken beantworten. Bei der zweiten Aussage fiel Habicht einer der anständigen Ritterkreuzträger aus seinem Regiment wieder ein, der vor Bescheidenheit einmal beinahe ganz rot geworden war, als Hitler im Radio von den Leistungen der Ritterkreuzträger geschwärmt hatte. Ein weiterer Ritterkreuzträger aus seinem Regiment war fast wütend darüber gewesen, als ihn eine Zeitung in der Heimat mit einem Bericht über seine Heldentaten zu einer regelrechten Lokalberühmtheit gemacht hatte. Es ehrte die Männer, dass sie sich nicht übermäßig herausstellen wollten, schließlich war jeder Einzelne ja nur ein kleines Glied in der großen Volksgemeinschaft, der alle letztlich dienten. Auf der anderen Seite waren sie aber eben auch keine Gauleiter und Unterstaatssekretäre, so wie er. Wenn man im ganzen Reich als bedeutende Persönlichkeit bekannt war, stand man zwangsläufig häufig im Mittelpunkt, und dass man Habicht als »hohes Tier« ansah, hatte nun einmal auch seine Gründe. Warum sollte man verschweigen, welches Ansehen man genoss? Habicht dachte nicht ungern daran, wie oft ihn schon frühere Anhänger aus Österreich hier im Frontgebiet angesprochen hatten, auch wenn er manchmal vielleicht etwas nachhelfen musste, wenn man ihn nicht gleich erkannte. Teilweise war er geradezu wie ein Filmschauspieler umschwärmt worden. Einer seiner Anhänger aus Linz hatte sich gar nicht wieder eingekriegt, als er begriff, wen er vor sich hatte, und hatte sogar darauf bestanden, mit Habicht für ein Foto zu posieren. Habicht wusste, wie sich Ruhm anfühlte, aber das war eben eine logische Folge seiner Verdienste.

4 Ich bestehe darauf, den Respekt zu erhalten, der mir zusteht | Für gewöhnlich erhalte ich den Respekt, den ich verdiene

Für eine bedeutende Persönlichkeit wie ihn war die Antwort auf diese Frage offensichtlich. Wenn er sich nicht stets Respekt verschafft hätte, wäre er nicht da, wo er heute war. Anders konnte man in der Partei auch gar nicht bestehen, denn dafür gab es zu viele »Parteigenossen«, die nur auf ihre Chance warteten, einem den Posten wegzuschnappen. In der Kampfzeit in Wiesbaden hatte er gnadenlos jeden aus der Partei entfernt, der ihm nicht passte. Er hatte sich niemals auch nur das Geringste gefallen lassen. Wer ihn kritisierte, kriegte eine Verleumdungsklage vor dem Wiesbadener Amtsgericht an den Hals oder eine Breitseite aus seiner Parteizeitung. Seine persönlichen Feinde hatte er mit schlagkräftigen Schmähartikeln überzogen – für seinen beißenden Sarkasmus war er in Wiesbaden berühmt gewesen. Nach der Machtergreifung von 1933 standen natürlich noch ganz andere Mittel zur Verfügung, um mit lästigen Zeitgenossen fertig zu werden. So wie mit den beiden Parteigenossen, die sich damals in dem Münchener Wirtshaus beim Biertrinken über ihn lustig gemacht hatten – ein halbes Jahr Konzentrationslager für beide! Ansonsten kam es ja ohnehin nicht häufig vor, dass man ihm nicht den gebührenden Respekt zollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er in seinem gesamten Tagebuch an der Ostfront auch nur einmal eine despektierliche Bemerkung über sich registriert hätte, im Gegenteil.

5 Ich habe eine natürliche Gabe, Menschen zu beeinflussen | Ich bin nicht gut darin, Menschen zu beeinflussen

Habicht wäre ein kläglicher Propagandist gewesen, wenn er bei dieser Frage lange überlegt hätte. Allein die Mitgliederzuwächse und Wahlerfolge seiner NSDAP-Ortsgruppe während der Kampfzeit in Wiesbaden sprachen doch Bände. Habicht wusste, dass er als begnadeter Redner galt, und seine Parteizeitung war der Schrittmacher der Bewegung in Wiesbaden gewesen. Durch seine unermüdliche Agitation war die Partei nicht nur in die wohlhabenden Gegenden im Osten und Norden der Stadt vorgedrungen, sondern auch in das Arbeiterviertel in Biebrich. Zugegeben, einmal hatten sich einige Arbeiter bei der NSDAP-Führung über ihn beschwert, weil es angeblich zu autoritär zuging in der Partei, doch gerade die Massen brauchten doch straffe Führung! Bei höhergestellten Persönlichkeiten konnte er sich auf seine Überredungskünste verlassen. Im Sommer 1934 hatte er sogar den Führer höchstpersönlich von seinen Putschplänen in Österreich überzeugen können. Leider fiel Habicht zwangsläufig auch ein Gegenbeispiel ein, das ihn an einige der unerfreulichsten Erscheinungen im Reich erinnerte, die ständigen Grabenkämpfe mit machthungrigen Parteibonzen. Im Auswärtigen Amt wusste selbst er irgendwann nicht mehr weiter. Ausgerechnet andere Nationalsozialisten hatten sich in der erzkonservativen Wilhelmstraße gegen ihn gestellt, und Alfred Rosenberg hatte sogar seinen vielversprechenden Putschplan für Afghanistan zunichtegemacht. Natürlich nur aus Eitelkeit, da war sich Habicht sicher. Dass er die Gabe hatte, auf Menschen einzuwirken, das erlebte er doch täglich bei seinen Soldaten. Eine Bestätigung erhielt Habicht sofort, als er die nächste Aussage in dem Fragebogen las, die offenbar in eine ähnliche Richtung ging wie die vorliegende: »Ich kann in Menschen lesen wie in einem Buch.« Etwas ganz Ähnliches hatte er einmal in seinem Tagebuch über einen seiner Feldwebel geschrieben: »Ich kann in sein Inneres sehen wie durch Glas.«

6 Ich hänge manchmal von anderen ab, um Dinge fertigzubringen | Ich hänge selten von anderen ab, um Dinge fertigzubringen

Diese Frage war durchaus schwierig, doch je länger Habicht nachdachte, desto mehr tendierte er zur letzteren Aussage. Einerseits war es ja vollkommen selbstverständlich, dass man im neuen Deutschland nicht auf sich selbst gestellt, sondern in der Gemeinschaft aufgehoben war. Hier an der Front im Osten erlebte Habicht den Geist der Kameradschaft jeden Tag – viel mehr im Übrigen als in der Heimat, wo allzu viele selbstsüchtige Parteibonzen die Ideale des Nationalsozialismus untergruben. Er wusste sich schon damals in Wiesbaden eine loyale Gefolgschaft aufzubauen, durch die ihm kaum einer etwas anhaben konnte. Auch in Österreich hatte er eine Auslese von Getreuen um sich geschart, auf die er sich verlassen konnte. Manche Verbindungen aus der Kampfzeit waren so unerschütterlich, dass sie bis heute hielten – und schon einmal sehr nützlich sein konnten, zumal einige von seinen alten Mitstreitern inzwischen in hohe Positionen gelangt waren. Schon bei seiner Berufung als Oberbürgermeister in Wittenberg war das hilfreich gewesen. Das hieß aber keinesfalls, dass Habicht nur durch Seilschaften zu seinen hohen Stellungen gelangt wäre, und deshalb konnte es für ihn keine andere Wahl geben, als oben die zweite Aussage anzukreuzen. Er hatte schließlich alles aus eigener Kraft geschafft, durch seine Leistungen, weil er eben mehr konnte und tatkräftiger war als andere. Mit Leuten wie seinem aktuellen Regimentskommandeur wollte er nicht verglichen werden: Der hatte seinen Posten nur deshalb bekommen, weil er SA-Obergruppenführer war und seine Beziehungen hatte spielen lassen. So einer war doch kein richtiger Nationalsozialist!

7 Ich werde nie zufrieden sein, bis ich bekomme, was ich verdiene | Ich beziehe meine Zufriedenheit daraus, was sich mir bietet

Auch diese Frage erforderte ein kurzes Nachdenken, doch im Grunde gab es für Habicht keinen Zweifel, dass überhaupt nichts Schimpfliches daran war, die erste Aussage zu unterschreiben. Selbstverständlich lag ihm nichts ferner, als sich zu bereichern, so wie manche Bonzen in der Heimat das taten. Doch hier ging es ja darum, das zu bekommen, was einem zustand. Und was hatte Habicht nicht alles für Opfer gebracht! Erst der heldenhafte Einsatz für das Vaterland in Weltkrieg und Revolutionswirren, dann die Kampfzeit in Wiesbaden. Nach dem begeisternden Wahlsieg vom September 1930 war es ja einfach, Nationalsozialist zu sein, aber in den Jahren davor hing doch die ganze Bewegung an einem seidenen Faden, und dieser seidene Faden war eben die kleine Schar von unerschrockenen Kämpfern wie ihm. Für die Partei hatte er alles aufs Spiel gesetzt, auch seine Anstellung hatte er bereitwillig aufgegeben, und wer hätte ihn jemals wieder eingestellt, wenn die Bewegung gescheitert wäre? Und was hatte Deutschland der Bewegung nicht alles zu verdanken! Nach dem Diktat von Versailles marschierten jahrelang französische und britische Besatzer durch seine Heimatstadt Wiesbaden – eine unvergessliche Demütigung. Und heute hatte Deutschland seine Freiheit und Größe wieder. Das war auch mit sein Werk gewesen. Alles andere wäre Hohn gewesen, wenn Männern wie ihm jetzt nicht auch die verdiente Anerkennung zuteilgeworden wäre. Da war es nur passend, dass Deutschlands Wiedererwachen auch mit seinem eigenen Aufstieg verbunden gewesen war. In Wiesbaden war er in einer engen Mietswohnung aufgewachsen, doch inzwischen wohnte er nicht mehr in kleinbürgerlichen Quartieren, sondern in großzügigen Villen, und das war nur angemessen. Natürlich gab es noch Bürokraten, die das nicht verstanden, aber solche Hindernisse ließen sich leicht ausräumen, wenn man eine große Persönlichkeit war. Es war nur gerecht, dass man das bekam, was man verdiente. Für den Einsatz in diesem Krieg winkte vielleicht ein Rittergut hier im Osten. Habicht blickte aus dem Fenster und malte sich die roten Kirchtürme im Tal und die weißen Segelboote auf dem Fluss vor seinem Bataillonsabschnitt aus: Aus diesem Land könnte unter deutscher Ordnung wirklich etwas werden. Habicht legte den NPI beiseite. Den Fragebogen auszufüllen war befriedigender, als er gedacht hatte, fast so wie Tagebuchschreiben.

*

Mit diesen Fragen, auf die Habicht in seinen historischen Selbstzeugnissen ungewollt Antworten gab, waren alle sieben Hauptkategorien des NPI angesprochen: das Gefühl der Einzigartigkeit und Überlegenheit; der Anspruch auf Autorität; Prahlsucht und das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit; Selbstgefälligkeit und Empfindlichkeit gegenüber Kritik; Manipulationsneigung; die Selbstgewissheit, alles aus eigener Kraft geschafft zu haben; Anspruchsdenken.[2] Mit den oben zusammengefassten Aussagen, die mit Habichts Tagebüchern, seinen Schriften und anderen zeitgenössischen Quellen im Einzelnen belegbar sind, punktete Habicht in sämtlichen Kategorien. Am NPI gemessen, wies er zweifellos narzisstische Charakterzüge auf. Es geht hier aber nicht darum, Habichts Psyche mit vermeintlich universellen Kategorien zu ergründen, sondern darum, die Historizität der mentalen Einstellungen eines Nationalsozialisten wie Habicht präziser zu erfassen.

Der NPI ist allerdings nicht der einzige gebräuchliche Diagnosemaßstab in der modernen Psychologie, und es lohnt sich, auch die Kriterien des international etablierten Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) in Betracht zu ziehen, um Habicht als historischen Typus besser einordnen zu können.[3] Das DSM kennt noch einige weitere Kriterien, die im NPI nicht berücksichtigt sind. Interessanterweise bekräftigen manche von diesen Kriterien den Befund, während andere Punkte auf Habicht nur teilweise zutreffen. Das gilt zum einen für das Kriterium »Mangel an Empathie«. Einerseits äußerte sich dies bei Habicht in der Gefühlskälte, mit der er Tod und Gewalt im Krieg beschrieb. Andererseits registrierte er durchaus die Gefühle und Ansichten seiner Offizierskameraden. Ebenso wenig war Habicht besonders neidisch oder unterstellte anderen oft Neid, was einem weiteren Kriterium der DSM-Definition entspräche. Einerseits war Habicht sehr sensibel dafür, wenn er nicht die Anerkennung erhielt, die er für sich beanspruchte. Auf der anderen Seite identifizierte er sich so sehr mit dem Leistungsprinzip der »Volksgemeinschafts«-Ideologie, dass sich jeder seiner Anerkennung sicher sein konnte, der sich in seinen Augen bewährt hatte. Auch soziale Unverträglichkeit und übermäßige Arroganz gegenüber seinen Mitmenschen – der letzte Punkt in der DSM-Liste – konnte man Habicht nur teilweise nachsagen: Einerseits konnten Meinungsverschiedenheiten mit Habicht erstaunlich schnell eskalieren, andererseits besaß er aber auch Charisma und konnte sich in soziale Umgebungen einpassen, was sich nicht zuletzt daran zeigen sollte, wie er sich als früherer NS-Funktionär in die traditionelle Welt der Wehrmacht integrierte.

Diese Einschränkungen widerlegen den Befund des Narzissmus aber nicht, sondern helfen, ihn als Phänomen der Zeit zu präzisieren. Die DSM-Definition verlangt ohnehin nicht, dass alle Kriterien gleichermaßen erfüllt sein müssen. Allerdings geht es hier sowieso nicht darum, bei Habicht eine voll ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitsstörung nachzuweisen. Von der Definition her traf auf ihn eher der alltäglichere Befund von narzisstischen Persönlichkeitszügen zu, die in der Psychologie als abgeschwächte, häufiger auftretende Form unterschieden werden – und deren Hauptmerkmal das übersteigerte Selbstwertgefühl ist. Was Habichts Narzissmus abschwächte, waren vor allem die oben beschriebenen Qualifizierungen, die alle in dieselbe Richtung wiesen: Sie folgten dem Imperativ der Gemeinschaft, der wohl wichtigsten sozialen Norm der nationalsozialistischen Gesellschaft. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass wir es hier nicht allein mit einer allgemeinen psychologischen Erscheinung zu tun haben, sondern mit mentalen Einstellungen, die historisch aufgeladen waren.

Hier geht es also nicht in erster Linie um Narzissmus als individualpsychologische Diagnose, sondern um Narzissmus als kulturelle Tendenz von Gruppen oder Gesellschaften. Lange dominierte in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein Verständnis von Narzissmus als Persönlichkeitstyp oder klinische Störung mit individuellen und familiären Ursachen, doch mittlerweile hat sich die Sicht etabliert, dass es ihn auch auf einer überindividuellen Ebene geben kann.[4] Psychologen, Sozialwissenschaftler und Philosophen sehen im Narzissmus zunehmend auch ein soziales, kulturelles und historisches Phänomen. Theodor Adorno etwa attestierte der Gesellschaft der 1960er Jahre einen kollektiven Narzissmus, den er als Abwehrmechanismus gegen die sozioökonomischen Umwälzungen der Zeit deutete.[5] In den 1970er Jahren konstatierten amerikanische Publizisten eine ausgeprägte Kultur des Narzissmus in der US-Gesellschaft, in der es geradezu eine Explosion von extremem Individualismus und Selbstversessenheit gegeben habe.[6] Mit einer Kultur des Narzissmus im linksradikalen Milieu der Bundesrepublik erklärten Wissenschaftler auch das Sendungsbewusstsein der RAF-Terroristen und ihre Obsession für Gewalt und Macht.[7]

Das Thema des kulturellen Narzissmus ist auch in der Gegenwart angekommen. Psychologen sprechen von einer regelrechten Narzissmusepidemie in der heutigen westlichen Welt.[8] Was damit gemeint ist, dürfte jedem vertraut sein. Die Celebrity-Kultur treibt immer neue Blüten, und Tag für Tag nehmen zahllose Menschen »Selfies« von sich auf, um sie auf ihren Internetseiten zur Schau zu stellen. In den »sozialen Medien« imitieren viele Zeitgenossen die Selbstanpreisung der Prominenten, die alle noch so banalen Dinge von sich der Welt mitteilen, in dem Glauben, dass sie wichtig seien. In Ländern wie Großbritannien wird diese Entwicklung kritisch von den Medien verfolgt, und auch in Deutschland wurde der Narzissmus als Gesellschaftstrend zum Titelthema.[9] Im Diskurs der Gesellschaften hat sich ein Narrativ etabliert, das die sozialen Medien immer mehr als Symptom und Katalysator für zunehmenden Individualismus begreift. Das heißt aber nicht, dass alle Nutzer von sozialen Medien Narzissten sind, die das Internet ausschließlich zur Selbstanpreisung verwenden, im Gegenteil. Studien haben gezeigt, dass die sozialen Medien für vielfältige Zwecke genutzt werden und nicht nur zur Eigenwerbung.[10] Es besteht aber kein Zweifel, dass die Selbstdarstellung ein wichtiger Teil der sozialen Medien ist – sie sind ein modernes Beispiel dafür, wie kulturelle Formen der Identitätsarbeit und Subjektivierung von den jeweiligen Gesellschaften und Zeiten abhängen.

Bei näherem Hinsehen zeigen sich interessante Parallelen zwischen der heutigen Selbstbewerbung im Internet und dem Narzissmus der Nationalsozialisten, wie ihn Theodor Habicht verkörperte. Heute nutzen die Zeitgenossen Facebook oder Instagram, um eine positive Identität von sich zu konstruieren – wobei sich von selbst versteht, dass dabei nur sorgfältig ausgewählte und bearbeitete Informationen präsentiert werden.[11] Damals schrieben die Zeitgenossen hierzu Tagebücher, die gerade in den 1930er und 1940er Jahren einen Boom erlebten – historische Tagebücher waren im Grunde genauso selektiv angelegt wie heutige Facebook-Profile und dienten häufig ebendem Zweck, im Schreiben von sich selbst das Bild einer kohärenten, integren Persönlichkeit zu behaupten.[12] Auch der emotionale Nutzen dieser Identitätsarbeit war damals wie heute ganz ähnlich. Für die Gegenwart wissen wir aus psychologischen Studien, dass schon das bloße Ansehen und Bearbeiten der eigenen Online-Profile bei den Nutzern einen Schub im Selbstwertgefühl auslösen kann.[13] In der Vergangenheit verschaffte man sich solche positiven Gefühle durch das Tagebuchschreiben. Die Forschung zur Geschichte des Tagebuchs im 20. Jahrhundert unterscheidet in diesem Zusammenhang eine Reihe von Funktionen, die das Tagebuchschreiben für die Zeitgenossen haben konnte: Man schrieb Tagebücher, um sich seiner Identität zu vergewissern, zur Selbststeuerung und Selbstoptimierung oder auch zur Selbstanalyse und Selbsttherapie.[14] Als Sonderform wäre in dieser Liste noch zu ergänzen, dass Tagebücher auch als privates Forum für Selbstanpreisung und extremen Individualismus dienen konnten – den man in der »Volksgemeinschaft« nur bis zu einem gewissen Grade öffentlich zum Ausdruck bringen konnte. Theodor Habicht war ein besonders offenkundiges Beispiel dafür.

1.

Porträt von Theodor Habicht, ca. 1930/34

Doch selbst in der »Volksgemeinschaft« gehörte es zum gesellschaftlichen Leben, die Taten von hochgestellten »Persönlichkeiten« öffentlich zu zelebrieren. Wenn es schon damals soziale Medien gegeben hätte, wäre Habicht zweifellos ein begeisterter Nutzer geworden: Sicherlich hätte er begierig von Facebook und Instagram Gebrauch gemacht, um sich und seine Taten in geeigneter Form herauszustellen. Stattdessen schrieb Habicht Tagebuch, und das wie ein Besessener. Während seines Kriegseinsatzes an der Ostfront von 1941 bis 1944 schrieb Habicht fast jeden Tag, selbst in den hitzigsten Kampfphasen, oft bis spät in die Nacht hinein. Bis er Ende Januar 1944 im Kampf an der Front umkam, beschrieb Habicht insgesamt über 1500 Blätter.[15] Ähnlich wie heutigen Facebook-Nutzern war Habicht in seinem Tagebuch kein Detail seines Lebens zu nichtig: Er dokumentierte jeden Tag minutiös in seinem Ablauf und produzierte damit gleichzeitig das wahrscheinlich aussagekräftigste Zeugnis über den Alltag an der Ostfront, das bislang bekannt ist. Wie in den heutigen sozialen Medien hatte sein Tagebuch auch eine kommunikative Funktion, denn er adressierte es an seine Ehefrau, Margarete Habicht, der er die Tagebuchblätter nach und nach in die Heimat schickte. Sie war eine ähnlich glühende Nationalsozialistin wie er selbst, und wie heutige »Freunde« auf Facebook fungierte sie als das geneigte Publikum, vor dem ihr Mann sich virtuell profilieren konnte, um Anerkennung zu erheischen. Entsprechend ichbezogen waren Habichts Tagebucheinträge, obwohl sie auch als Briefe an seine Ehefrau gedacht waren: Fast nie ging er darin auf ihre Mitteilungen ein, und wenn, dann nur sofern sie von ihm handelten – ein typisch narzisstisches Kommunikationsverhalten.[16] Und genauso wie viele Facebook-Nutzer musste selbst ein überzeugter Nationalsozialist wie Habicht an seiner Identität durchaus arbeiten: Zwar war sein Selbstbild absolut festgefügt und völlig frei von Zweifeln oder Schwankungen, doch suchte er ständig nach neuen Bestätigungen dafür. Wenn man Habichts Tagebuch liest, wird offenkundig, dass er es in erster Linie deshalb schrieb, weil er sich und sein Erleben für historisch bedeutsam hielt und weil er ein Medium benötigte, um sich selbst anzupreisen. Habichts Tagebuch ist ein erstrangiges Zeugnis für den Narzissmus der Nationalsozialisten.

Anders als bei Facebook hatte Habicht mit seinem Tagebuch kein Massenpublikum – doch das war wahrscheinlich für die Zukunft angedacht. Ob Habicht plante, sein Tagebuch nach dem Krieg als Buch zu veröffentlichen, geht aus seinen Aufzeichnungen nicht hervor, ist aber zu vermuten. Er hatte Ernst Jüngers »Stahlgewitter« gelesen und nahm in den 1920er Jahren sogar persönlich Kontakt zu Jünger auf – Jüngers Buch stand noch im Zweiten Weltkrieg in Habichts Quartier an der Ostfront im Regal. Habicht war offensichtlich inspiriert von Jünger, und viel spricht dafür, dass er beabsichtigte, es diesem gleichzutun und seine Aufzeichnungen von der Front nach dem Krieg zu einem Buch zu verarbeiten – um damit einen ähnlich durchschlagenden Erfolg zu erzielen. Es wäre nicht Habichts erste Publikation gewesen, die stark um ihn selbst gekreist wäre. Schon in seinen Parteizeitungen schrieb er oft Artikel mit großer Selbstbezogenheit. Und im Jahr 1928 veröffentlichte er seine eigene Kampfschrift in Buchform – eine Aufsatzsammlung mit dem Titel »Wider den Unstaat«.[17] Bei dem kurzen Band handelte es sich um eine Zusammenstellung von Habichts Kolumnen aus seiner Parteizeitung, die seine Weltanschauung vermittelten und seine Identität als Weltkriegsveteran betonten. Der Band war ganz anders angelegt als Hitlers Buch »Mein Kampf«, aber er war unverkennbar von dem gleichen Glauben an die eigene Bedeutsamkeit beseelt.[18] Habichts Geschichte führt vor Augen, wie die Nationalsozialisten ihre eigene Biographie als politische Ressource in den internen Machtkämpfen der NSDAP einsetzten.

Im NS-Staat konnte man seine narzisstischen Züge allerdings nur bis zu einem gewissen Grad offen zutage treten lassen, denn in der Doktrin der »Volksgemeinschaft« galt Egoismus als Todsünde. Die Nationalsozialisten lavierten daher immer zwischen Gemeinschaftsrhetorik und Selbstdarstellung. Das war aber kein Widerspruch, sondern passt ins Bild der historischen Situation – und lässt sich wiederum mit den Kategorien der psychologischen Forschung erklären. Diese unterscheidet zwischen offenen und verdeckten Formen von Narzissmus.[19] Bei den offenen Formen sind die Zurschaustellung von grandiosem Selbstwertgefühl und das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Arroganz und Anspruchsdenken besonders offensiv. Für die verdeckten Formen dagegen ist ein äußerlich bescheidenes Auftreten typisch, hinter dem sich innerlich ein ähnlich starkes Selbstbewusstsein und umso größere Sensibilität für Fremdwahrnehmung und Kritik verbergen. Beide Formen können sich vermischen und treten in unterschiedlichen Schweregraden auf. Bei der schwächeren bis normalen Ausprägung können die Betroffenen weiter funktionieren und sind damit sogar häufig in hohem Maße erfolgreich. Zwischen diesen Polen oszillierten auch die Nationalsozialisten, und sie besaßen in aller Regel noch ein Bewusstsein dafür, wie weit sie mit ihrer Selbstdarstellung gehen konnten, ohne die Konventionen der »Volksgemeinschaft« zu verletzen. Wem das nicht gelang, der unterminierte seine eigene Position – auch dafür war Habicht ein Beispiel. Einen Teil ihrer narzisstischen Emotionen fraßen die Nationalsozialisten deshalb in sich hinein oder nutzten Tagebücher dafür, ihr Eigenlob weiter auszubreiten, als sie das in der Öffentlichkeit tun konnten. Was blieb, war das starke Gefühl von der eigenen Relevanz.

Habicht war kein Einzelfall, sondern typisch für die Mentalität vieler Nationalsozialisten. Prominente Beispiele für deren narzisstische Züge gab es bis in die höchste Führungsriege des NS-Staates – die Tagebücher von Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg sind voll von entsprechenden Aussagen. Der Chefideologe des NS-Staates, Rosenberg, kreiste so sehr um sich selbst, dass seine persönlichen Aufzeichnungen an vielen Stellen fast komische Züge annahmen.[20] Etwa wenn Rosenberg voller Befriedigung einen Anhänger zitierte, der ihn als »größten Denker unserer Geschichte« bezeichnete. Rosenberg ließ keine Gelegenheit aus, um sich in Applaus und Lobhudelei zu sonnen, wann immer er irgendwo Anzeichen von Zustimmung registrierte. Bei seiner Auszeichnung auf dem Parteitag 1937 etwa vermerkte er Beifall »von einer einmütigen Wucht« und »ohne Ende« – und wie die Gauleiter »z.T. geheult« hätten vor lauter Rührung. Während Rosenberg sich selbst unablässig als ein Stück »Geschichte« feierte, erregte er sich gleichzeitig über die »Selbstbeweihräucherung« anderer Parteiführer, insbesondere über die Eitelkeit seines größten Rivalen, Joseph Goebbels, der für ihn die »Eiterbeule« des NS-Staates war. An Rosenberg kann man sehen, wie blindwütig der Narzissmus der Nationalsozialisten sein konnte und welche spaltende Wirkung er hatte, wenn er hinter der Fassade der Gemeinschaftsrhetorik einen Kampf aller gegen alle befeuerte.

Auch beim obersten Nationalsozialisten waren zweifellos ähnliche Züge vorhanden. Sein Biograph Ian Kershaw hat Hitlers Egomanie als seinen hervorstechendsten Charakterzug beschrieben, der alle anderen Denkweisen und Verhaltensmuster bestimmte.[21] Wie sich das bei Hitler ausdrückte, ist aus der historischen Forschung bekannt. Hitler entwickelte schon frühzeitig einen unerschütterlichen Glauben an seine historische Bedeutsamkeit – deswegen gab er sich auch zusehends distanzierter und lachte immer weniger, um den Nimbus des Auserwählten zur Schau zu stellen.[22] Sein Glauben an sich war so stark, dass er nicht nur sich selbst ständig etwas vormachte: Weil er so sehr von sich und seinen Ideen ergriffen war, wirkte er auch auf andere umso überzeugender. Wegen seines Sendungsbewusstseins entwickelte er außerdem eine ausgeprägte Angst um sich selbst, die ihn sein Leben lang begleitete: Er fürchtete, er könnte nicht lange genug leben, um seine geschichtliche Mission zu Ende zu bringen, und er war überzeugt, dass kein anderer das an seiner Stelle fertigbringen könnte. Diese Zeitangst trug wohl auch zu einigen seiner folgenschwersten Entscheidungen bei: Er beschleunigte seit 1936/37 den Weg in den Krieg, obwohl er wusste, dass das Land und sein Militär dafür noch nicht bereit waren – weil er glaubte, nicht länger warten zu können, unter anderem wegen seines eigenen Alterns.[23] Auch am Vorabend des fatalen Angriffs auf die Sowjetunion vom Juni 1941 erklärte er seinen Generälen, dass der Krieg gegen den Bolschewismus nicht aufgeschoben werden könne, weil nur »jetzt« mit ihm ein großer »Staatsm.[ann] u. kongenialer Feldherr« vorhanden sei, der den »Kampf um unser Dasein« durchkämpfen könne.[24] Der vielleicht vielsagendste Beleg für Hitlers Narzissmus war sein eigenes Buch, das vor Selbstbezogenheit und Größenwahn nur so strotzte. Den Herausgebern der neuen Edition drängte sich das als eines der hervorstechendsten Kennzeichen von »Mein Kampf« auf – dass es »vor allem« ein »ungemein egozentrisches Buch« ist, das »einen gescheiterten Demagogen« zu einer »großen historischen Persönlichkeit« stilisiert und ständig insinuiert, dass er das »Gravitationszentrum« in einem »größeren Geschichtsprozess« sei.[25]

Prominente Einzelfälle wie die von Hitler, Goebbels oder Rosenberg könnten zu der Annahme verleiten, dass sich in der NS-Bewegung vielleicht einfach Personen angesammelt hätten, die aus individuellen Gründen zufällig gleichzeitig Narzissten waren – doch eine solche Sichtweise würde zu kurz greifen. Die Erklärung, die ich in diesem Buch vorschlage, ist vielmehr, dass die Nationalsozialisten als Gruppe durch ihre soziale Praxis eine Kultur des Narzissmus ausbildeten – und dass diese kollektiven narzisstischen Züge dann auch einen Teil der Dynamik der NS-Bewegung ausmachten. Die moderne Psychologie kennt dieses Phänomen von Gruppen oder Organisationen auch aus der Gegenwart, etwa von Managern, Bankern oder Politikern. In bestimmten Gruppen verfestigt sich eine narzisstische Kultur, indem sie im Denken und Umgang gelebt und kultiviert wird – schon einige wenige Persönlichkeiten können bei der Etablierung einer solchen sozialen Praxis entscheidend sein.[26] Auch die NS-Forschung hat dafür schon Beispiele gefunden: Sogar in der SA sahen sich die Führer der »Braunhemden« als überragende historische Persönlichkeiten an, die dabei waren, Weltgeschichte zu machen.[27]

Es wäre aber zu einfach anzunehmen, dass sich diese Mentalität schlicht auf den Einfluss einiger bestimmender Einzelpersönlichkeiten reduzieren ließe – die Kultur des Narzissmus war in der NS-Bewegung noch viel tiefer verwurzelt und basierte auf sehr spezifischen historischen Ursachen. Der Narzissmus der Nationalsozialisten war keine allgemeinpsychologische Erscheinung, die man in dieser Form auch heute finden würde, sondern besaß einen eigenen, unverwechselbaren Fußabdruck, der aus einem komplexen Bündel von erfahrungsgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen, kulturgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Faktoren bestand. In diesem Buch führe ich den Narzissmus der Nationalsozialisten auf vier zentrale Faktoren zurück:

Erstens: die generationelle Lagerung der NS-Aktivisten der ersten Stunde. Männer wie Theodor Habicht waren alt genug, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, im Anschluss in den Freikorps weiterzukämpfen und dann während der 1920er Jahre auch die Führung der NS-Bewegung zu übernehmen. Aus diesen Erfahrungen ergab sich für diese Aktivisten einerseits ein Gefühl der doppelten Zurücksetzung, als Angehörige einer gedemütigten Nation nach der Niederlage von 1918 und als rechtsextreme Parias in der Nachkriegsgesellschaft. Andererseits folgte aus der mythischen Verklärung des »Fronterlebnisses« und der Freikorpszeit gleichzeitig der tiefempfundene Stolz, etwas Besonderes geleistet zu haben und darzustellen. In Verbindung mit der Führungsrolle in der lange marginalisierten, sektenähnlichen NS-Bewegung entstand bei den Aktivisten das Gefühl, eine Avantgarde zu sein.

Zweitens: die soziale Lagerung der NS-Aktivisten. So wie Habicht stammen viele von ihnen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, kamen sich aber als Veteranen und Aktivisten als etwas Besseres vor. In der »Kampfzeit« kam bei den Aktivisten das Gefühl hinzu, mit dem Einsatz für die »Bewegung« auch die eigene soziale Existenz zu riskieren und damit gegenüber dem vorgestellten Deutschland der Zukunft in Vorleistung gegangen zu sein. Das führte bei ihnen zu starkem Anspruchsdenken, gleichzeitig machten sie ihre bescheidene Herkunft mit Statusgehabe wett. Als sie nach 1933 in Villen einzogen und hohe Gehälter kassierten, imitierten die kleinbürgerlichen Emporkömmlinge den Lebensstil des Großbürgertums und fühlten sich umso mehr in ihrem elitären Selbstbild bestärkt.

Drittens: die Personalisierung der politischen Kultur. Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte und alltägliche Praxis, entwickelte sich in der NS-Bewegung von Anfang an eine stark personalisierte Parteikultur, die nach 1933 den Charakter des »Dritten Reichs« als Personenverbandsstaat mit begründete. Schon in der »Kampfzeit« bauten die NS-Führer ihre Macht auf persönlichen Beziehungen, Netzwerken und Entouragen auf. Vor allem in der frühen NSDAP nahmen sich die institutionellen Strukturen der NS-Bewegung eher schwach aus gegenüber dem starken Gewicht, das einzelnen Persönlichkeiten wie Theodor Habicht zufiel. Männer wie Habicht begriffen, dass alles auf Personen ankam – und fühlten sich selbst umso bedeutsamer. Und je erfolgreicher sie waren, desto mehr wurde ihnen gehuldigt, selbst auf den mittleren und unteren Ebenen des NS-Staates. Funktionäre wie Habicht wurden im »Dritten Reich« teilweise wie heutige »Prominente« hofiert.

Viertens: der nationalsozialistische Kult der Persönlichkeit. Alle bisher aufgezählten Faktoren waren in der NS-Ideologie durch den Kult der Persönlichkeit informiert und legitimiert. Schon in »Mein Kampf« hatte Hitler äußerst elitäre und im Grunde extrem individualistische Ideen geäußert. Ihm zufolge hing alles von großen Männern ab. Er nannte dies das »aristokratische Prinzip« oder das »Persönlichkeitsprinzip«. In der nationalsozialistischen Weltanschauung stand es allerdings in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis mit dem ebenfalls verabsolutierten Gemeinschaftsprinzip, und aus diesem Grund war die historische Narzissmusvariante der Nationalsozialisten – wie in Habichts Fall – in einer widersprüchlichen Mischung sowohl von extrem individualistischen als auch von kollektivistischen Elementen geprägt. Dieser vierte ideengeschichtliche Faktor fiel besonders ins Gewicht und zählt zu den Gründen, warum Habichts Geschichte nicht nur über ihn selbst viel aussagt, sondern weit über den Einzelfall hinausweist: Der Kult der »Persönlichkeit« beruhte auf einem breiten Diskurs, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte, und Habicht war ein Paradebeispiel dafür, wie sich dieses diskursive Konzept in soziale Praxis umsetzte.[28]

Die narzisstischen Züge der Nationalsozialisten erklären natürlich nicht alles, und zur Mentalität von Hitler und seinen Gefolgsleuten gehörte selbstverständlich noch viel mehr – doch der Narzissmus wirkte dabei als verbindendes Element. Als hervorstechendes Kennzeichen ihres Habitus gilt in der historischen Forschung, dass sie sich als »Tatmenschen« mit unbändigem Willen sahen.[29] Dieser Dezisionismus und Voluntarismus beruhte auf einem elitären Selbstbild und hing damit wiederum mit ihren narzisstischen Zügen zusammen. Zum Auftreten der Nationalsozialisten gehörte außerdem, dass sie sich als authentische Persönlichkeiten aufführten.[30] Weil ihre Biographien dem Ideal von Gradlinigkeit und Echtheit aber häufig nicht entsprachen, spielten sie eine Rolle – und dabei wirkten sie umso überzeugender, weil sie aufgrund ihres grandiosen Selbstwertgefühls auch persönlich an die Wahrhaftigkeit ihrer Selbstdarstellung glaubten. Der narzisstische Glaube an sich selbst war deshalb ein wesentlicher Bestandteil des Charismas, das für die Machttechniken von Hitler und seinen Gefolgsleuten so zentrale Bedeutung besaß.

Diese Perspektive trägt dazu bei, besser zu verstehen, was die Nationalsozialisten antrieb und wie ihre Gefühlswelt aussah. Denn ihre narzisstische Mentalität war mit starken Emotionen verbunden. Ihr übersteigertes Selbstwertgefühl konnte die gegensätzlichsten Gefühle auslösen: Gereiztheit und Verbitterung bei Konflikten und Fehlschlägen, aber auch Stolz und Genugtuung bei Erfolg und Anerkennung.[31] Diese Gefühle waren aber keine universellen Gegebenheiten, sondern sagen auch etwas über die Gesellschaft und ihre Zeit aus, in der sie geprägt, zugelassen oder unterdrückt wurden. Anhand von Habichts Geschichte lässt sich nachverfolgen, welches Verhältnis die Nationalsozialisten zu solchen Emotionen hatten. In Habichts Fall verrät seine Kommunikation mit seiner Ehefrau, dass ihm seine Selbstbezogenheit persönlich überhaupt nicht unangenehm war: Das gute Gefühl des Stolzes auf sich selbst hielt er offenkundig für absolut legitim. Sogar der Chefideologe des NS-Staates, Rosenberg, fand überhaupt nichts dabei, sich in seinem Tagebuch seinen narzisstischen Affekten hinzugeben, trotz der Gemeinschaftsrhetorik in der Propaganda.

Die narzisstischen Gefühle der Nationalsozialisten erklären zumindest teilweise auch ihr Verhalten, vor allem das selbstversessene Gehabe, das viele NS-Funktionäre auf allen Ebenen schon in der »Kampfzeit« an den Tag legten. Sie machen außerdem die zahlreichen innerparteilichen Rivalitäten und Feindschaften begreiflich, die in der NS-Bewegung umso schneller aufkeimten, weil viele Nationalsozialisten eben besonders allergisch reagierten, wenn ihre Eitelkeit verletzt wurde. Der Narzissmus hatte aber keineswegs nur spaltende, destruktive Effekte, sondern wirkte auch dynamisierend – mit letztlich gleichfalls zerstörerischen Konsequenzen. Er war für viele NS-Funktionäre auch eine emotionale Ressource, die ihnen die Fähigkeit verlieh, bis zuletzt einen unbeirrbaren Glauben an sich selbst zu bewahren. Die moderne Psychologie hat in vielen Studien gezeigt, dass Narzissten häufig selbstbewusster auftreten und vielfach damit erfolgreich sind. Eine Untersuchung kam 2013 sogar zu dem Ergebnis, dass US-Präsidenten, die einen höheren Grad an narzisstischen Zügen aufwiesen, mehr Führungsstärke im Krisenmanagement bewiesen, mehr Gesetze durch den Kongress brachten und größere Überzeugungskraft in der Öffentlichkeit hatten als andere Amtsinhaber, die tendenziell etwas weniger von sich selbst eingenommen waren.[32] Die Nationalsozialisten machten sich ebenfalls die Energien zunutze, die der Narzissmus in ihnen freisetzte. Wie in Habichts Fall bildeten sie sich ein, sie könnten trotz ihrer geringen Bildung und Qualifikation nicht nur Politiker werden, sondern auch Oberbürgermeister, Diplomaten und Truppenkommandeure – und gingen dann so selbstbewusst zu Werke, dass sie vielfach tatsächlich als kompetent galten. Die Nationalsozialisten waren Amateure, füllten aber ohne Zögern hohe und höchste Staatsämter aus. Sie trauten sich einfach alles zu, weil ihre narzisstische Einstellung in ihnen kaum Zweifel aufkommen ließ.

Die narzisstischen Züge der Nationalsozialisten sagen außerdem viel über die Herrschaftsmechanismen des Regimes aus. Sie erklären einen Teil der großen Aggressivität, die das NS-System als Ganzes entfaltete. Die Dynamik des »Dritten Reichs« speiste sich in besonderem Maße aus dem Aktivismus seiner Funktionäre, die sich in permanenten Machtkämpfen mit immer neuen Initiativen gegenseitig zu übertrumpfen versuchten – angefeuert durch die sozialdarwinistischen Grundüberzeugungen des Diktators und ermöglicht durch die Freiräume, die Hitlers großzügiger Führungsstil eröffnete. Dadurch entstanden die polykratischen Strukturen, die den NS-Staat so stark prägten – das Nebeneinander von Staatsbürokratie und Parteihierarchie, das Chaos aus konkurrierenden Ämtern und Sonderbevollmächtigten, die ständigen Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten auf allen Ebenen. Diese Strukturen führten zu vielen Reibungsverlusten, konnten aber auch dazu genutzt werden, Dinge in Bewegung zu bringen – Habichts Geschichte ist ein aussagekräftiger Testfall für diese »neue Staatlichkeit« im NS-System.[33] Sein Beispiel unterstreicht den großen Anteil, den einzelne Funktionäre am Geschehen hatten. Das heißt nicht, dass Hitler ein »schwacher Diktator« war, im Gegenteil.[34] Doch er setzte auf den Tatendrang seiner Funktionäre und nahm dabei auch in Kauf, dass sie eigene Wege beschritten. Männer wie Habicht gingen dabei mit übermäßigem Selbstbewusstsein zu Werk und hatten keine Scheu, selbst Entscheidungen zu treffen und Entwicklungen voranzutreiben.

Mit diesem Funktionsprinzip unterschied sich das NS-Regime zugleich von den vielen übrigen Diktaturen und autoritären Systemen, die sich in den 1920er und 1930er Jahren in Europa etablierten. Im faschistischen Italien etwa stützte sich Mussolini auf das Bündnis mit den alten Eliten in Monarchie, Militär, Staatsverwaltung und Wirtschaft – und achtete sorgfältig darauf, dass die Partei keine parallelen Machtstrukturen ausbildete.[35] Die Entfaltungsmöglichkeiten, die ein italienischer Gegenpart von Theodor Habicht gehabt hätte, wären damit von vornherein begrenzt geblieben – während Habicht in NS-Deutschland den polykratischen Ämterdarwinismus personifizierte. Im Klassensystem des italienischen Heeres hätte Habicht außerdem kaum dieselben Aussichten auf eine Offizierskarriere gehabt wie in der Wehrmacht, in der sogar ein ehemaliger Unteroffizier wie er den Sprung zum Bataillonskommandeur schaffen konnte.[36] In der Sowjetunion wiederum setzte Stalin bei seinen gewaltigen Projekten zwar durchaus auf die Durchsetzungsfähigkeit seiner Funktionäre, doch sein paranoides Misstrauen ließ ihnen kaum Freiräume. Das bekamen sie mit aller Macht im großen Terror von 1937/38 zu spüren, als der Diktator ihre persönlichen Netzwerke zerschlug und die alte Parteigarde bis auf seine eigene Entourage weitgehend auslöschte. Die sowjetische Version von Theodor Habicht hätte seine eigenmächtige Art unter Stalin zweifellos früher oder später mit dem Leben bezahlt – während Habicht in NS-Deutschland trotz wiederholter Eskapaden immer wieder neue Chancen erhielt.

Eine Karriere wie die von Theodor Habicht war weder im italienischen Faschismus noch in der stalinistischen Sowjetunion denkbar. In keiner anderen Diktatur in Europa besaßen die Funktionäre der herrschenden Partei so große Handlungsspielräume wie in NS-Deutschland – und nirgendwo nutzten sie diese wohl so effektvoll und machten so viel von der Wirkungsmacht der Diktatur aus wie unter Hitler. Wahrscheinlich traten sie auch nirgendwo sonst so selbstbewusst auf wie hier. Inwieweit die verschiedenen totalitären Systeme unterschiedliche Funktionärstypen mit jeweils spezifischem Habitus hervorbrachten, wäre eine interessante Fragestellung für die vergleichende Diktaturforschung.[37] Wahrscheinlich würden die kollektiven Eigenheiten der Nationalsozialisten dabei noch deutlicher hervortreten, einschließlich ihrer narzisstischen Züge. In der Historiographie wird es teilweise wie ein Kuriosum beschrieben, dass sich Hitler von Anfang an mit scheinbar pathologischen Exzentrikern umgab – doch die egozentrischen Persönlichkeitszüge seiner Gefolgsleute beruhten nicht auf individueller Charakterschwäche, sondern gehörten zur historischen Mentalität der Nationalsozialisten.[38]

Der Narzissmus der Nationalsozialisten sagt gleichzeitig viel über die Gesellschaftsordnung aus, die sie für das Deutschland der Zukunft anstrebten. Zum einen entlarvt er die Ungereimtheiten in ihrem eigenen Denken, denn schließlich widersprach ihr »aggressiver Individualismus«[39] der Ideologie der »Volksgemeinschaft«. In den Gesellschaftsvorstellungen der Nationalsozialisten galt einerseits die Maxime, dass sich der Einzelne grundsätzlich der Gemeinschaft unterzuordnen habe, andererseits maß Hitler einzelnen »Persönlichkeiten« herausragende Bedeutung bei.[40] Die Widersprüche zwischen individualistischen und kollektivistischen Maximen in Hitlers Weltanschauung lassen sich logisch nicht auflösen. Der Inbegriff dieses Dilemmas war die Losung »Du bist nichts, dein Volk ist alles«: Eine ideengeschichtliche Analyse hierzu hat zu Recht die Frage aufgeworfen, wie aus der »Summation des Nichts die Größe des Ganzen« entstehen sollte.[41] Genauso inkonsistent waren Hitlers Ideen von sozialer Mobilität und Elitenbildung. Er predigte die Abschaffung aller Klassenprivilegien, damit sich im »Kampf des täglichen Lebens« eine »Auslese« der »Besten« durchsetzen könne, von der auch die »Volksgemeinschaft« als Ganzes profitieren würde. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dieses »aristokratische Prinzip« allerdings den Kampf aller gegen alle und damit die Aufhebung der Gemeinschaft.

Diese Widersprüche bestanden aber nur in der Theorie – in der Propaganda ging Hitler einfach darüber hinweg, und in der Praxis ließ das NS-Regime trotz der Verabsolutierung des Gemeinschaftsprinzips Raum für Individualität. Für die Machthaber war das schon ein Gebot der Herrschaftssicherung, denn sie hätten zweifellos viel Zustimmung verspielt, wenn sie sich den langfristigen Gesellschaftstrends von Konsumstreben, Privatheit und Aufstiegssehnsüchten entgegengestellt hätten – die nun einmal alle auf individuellen Ambitionen und Ansprüchen beruhten.[42] Die Parole von der Leistungsgerechtigkeit und die Aussicht auf Mobilitätschancen wirkten auf viele aufstiegswillige Deutsche aus allen Schichten höchst attraktiv, obwohl diese Zukunftsversprechen im »Dritten Reich« nur ansatzweise eingelöst wurden.[43] Das Angebot, sich durch Leistung als Einzelner hervorheben zu können, stachelte aber auch das Konkurrenzdenken an. Der Historiker Moritz Föllmer ist indes zu dem Ergebnis gekommen, dass Individualitätsvorstellungen und Gemeinschaftsideologie in der NS-Gesellschaft keine Widersprüche bildeten, sondern miteinander vereinbar waren – die Nationalsozialisten machten sich die individuellen Ambitionen der Deutschen sogar regelrecht zunutze, um ihre Energien für die »Volksgemeinschaft« zu mobilisieren.[44] Habichts Geschichte zeigt, wie sich dieses Spannungsverhältnis in seinem Umfeld äußerte. Neuigkeitswert hat dabei insbesondere die soziale Praxis in der Wehrmacht, die in der historischen Debatte über die »Volksgemeinschaft« weitgehend außer Acht gelassen wurde.

Die »Volksgemeinschaft« bot die Chance auf Individualität, doch nicht für jeden in gleichem Maße – diese wichtige Beobachtung führe ich hier anhand von Habichts Geschichte fort.[45] Damit ist nicht in erster Linie die rassistische Ausgrenzung von Juden und anderen »Gemeinschaftsfremden« gemeint, die in der historischen Forschung in zahlreichen Studien analysiert wurde.[46] Ich konzentriere mich stattdessen auf die Ungleichheiten innerhalb der »Volksgemeinschaft«, die sich in der gedanklichen Einteilung der vollwertigen »Volksgenossen« in »Persönlichkeiten« und »Massenmenschen« manifestierten. In der »Volksgemeinschaft« waren diese Gruppen offiziell nicht mehr mit bestimmten sozialen Schichten assoziiert, doch insgeheim dachten die Nationalsozialisten bei den »Massen« zweifellos in erster Linie an die Arbeiter. Die Ungleichheiten manifestierten sich auf vielfältige Weise, nicht nur in den Sozialstrukturen, die im NS-Staat trotz der egalitaristischen Rhetorik erstaunlich starr blieben. Sie äußerten sich auch in den Möglichkeiten zu individueller Selbstentfaltung. Das zeigt sich schon an so kleinen Details wie den vornehmen Herrenclubs, in denen führende Nationalsozialisten durch ihr Auftreten offenbarten, dass der in der Rhetorik des Regimes suggerierte Antiindividualismus nicht für die Elite galt.[47] Dieses Denken blieb keineswegs nur bloße Theorie: Theodor Habichts Beispiel zeigt, dass es auch im täglichen Umgang in der Praxis zum Tragen kam – und das gab der NS-Gesellschaft insgesamt einen elitäreren Zug.

Habichts Geschichte zeigt außerdem, wie die nationalsozialistischen »Führerpersönlichkeiten« im Krieg an der Ostfront agierten: Habicht zügelte hier seinen Narzissmus, gab seinem Individualismus aber auf andere Weise Ausdruck. Seine Tagebücher sind dabei gleich in mehrfacher Hinsicht ein einzigartiges Zeugnis. Zum einen, weil sie erstmals im Detail zeigen, wie sich die NSDAP-Funktionäre als Soldaten in der Wehrmacht verhielten. Es waren insgesamt mehrere Hunderttausend, doch bislang sind in der historischen Forschung hierzu nur die Statistiken bekannt – obwohl ihre Rolle für das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Nationalsozialismus offensichtlich große Bedeutung besaß.[48] Habichts Tagebücher haben aber auch deshalb Seltenheitswert, weil sie einmalige Einblicke in den Alltag der Kompaniechefs und Bataillonskommandeure an der Ostfront gewähren – das war eine entscheidende Personengruppe, aus der es aber in der gesamten Literatur bislang kein vergleichbares wissenschaftlich aufbereitetes Selbstzeugnis gibt. Zudem ist kein anderes Tagebuch eines so hochrangigen Nationalsozialisten bekannt, der bei Hitlers Vernichtungskrieg selbst mitkämpfte. Weil Habicht schreiben konnte, liest man sich in seinen Aufzeichnungen schnell fest: Es existieren nur wenig andere Zeugnisse, die ein ähnlich detailliertes und lebensnahes Bild vom Krieg vermitteln – das allerdings aus der Perspektive eines Ideologen. Es ist eine zuweilen verstörende Lektüre, der man sich aber stellen muss, wenn man die Gedankenwelt der Nationalsozialisten nachvollziehen will.

Das vorliegende Buch geht von Theodor Habichts Biographie aus, weist aber weit darüber hinaus. Es erzählt die Geschichte eines wichtigen, aber weithin vergessenen Akteurs des »Dritten Reichs«, der mit seiner narzisstischen Art erstaunlich weit kam und dabei oft am Abgrund wandelte, bis er schließlich stürzte. Es ist eine Geschichte von Machtspielen, Klüngeln und Korruption, aber auch von der Kraft der Ideologie, für die Habicht letztlich sogar sein Leben zu opfern bereit war: Er war einer der ranghöchsten Nationalsozialisten, die mit der Waffe in der Hand im Kampf an der Front starben. Habichts Geschichte sagt aber nicht nur über ihn selbst viel aus. Dieses Buch ist auch eine Studie über den Aufstieg der NSDAP vor 1933 und die Kultur und Mentalität der Nationalsozialisten. Es ist ein Buch über die Herrschaftsstrukturen und die Gesellschaftsordnung des »Dritten Reichs«. Und es ist ein Buch über den Krieg und den Alltag an der Front in Hitlers brutalstem und folgenschwerstem Feldzug. Den roten Faden bildet der Narzissmus der Nationalsozialisten – er zieht sich durch alle Phasen und Stationen. Das Buch stützt sich dabei auf diverse Quellenbestände aus mehr als zwei Dutzend kommunalen, regionalen, nationalen und internationalen Archiven.

Das zentrale Thema dieses Buches versinnbildlicht auch das Titelbild auf dem Umschlag. Man sieht Soldaten aus Habichts Infanterieregiment, die sich bei einer Theateraufführung im Feld an der Ostfront amüsieren. Das Bild symbolisiert die Ideologie der »Volksgemeinschaft«, indem es den auflachenden Offizier in der Bildmitte rechts vorne inmitten seiner Mannschaften und Unteroffiziere zeigt – entsprechend der Idee von der rangübergreifenden Kameradschaft in der Wehrmacht, die den Abbau der Klassenschranken in der Gesellschaft widerspiegeln sollte. Andererseits lässt das Bild aber auch erkennen, dass individuelle Unterschiede dadurch nicht aufgehoben waren: Der Offizier sticht als Einzelner aus dem Bild deutlich hervor – durch die Bildkomposition, den Fokus und die Bildunterschrift in dem zugehörigen Fotoalbum, in dem er namentlich als individuelle Persönlichkeit herausgehoben ist. Gerade weil sich dieses Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektivistischen Zügen nicht unbedingt auf den ersten Blick erschließt, ist das Foto ein Sinnbild dafür, wie subtil sich die Machtverhältnisse in der paternalistischen Gesellschaftsordnung des »Dritten Reichs« im Alltag artikulierten: Die Nationalsozialisten schafften die Klassengrenzen ab, aber ersetzten sie durch gläserne Decken.

Das Titelbild ist gleichzeitig eine Metapher für eine theoretische Perspektive, die für Habichts Geschichte und die Themen dieses Buches sehr treffend ist. Die Situation auf dem Foto erinnert an die Rollentheorie des Soziologen Erving Goffman, der soziale Interaktion als Theateraufführung beschrieben hat. Laut Goffman verhalten sich Menschen im Umgang mit ihren Mitmenschen wie Schauspieler auf einer Bühne gegenüber ihrem Publikum: Sie spielen sich selbst und versuchen dabei, einen guten Eindruck zu machen.[49] Sie brauchen die Zuschauer und die Vorführung, um überhaupt eine Identität entwickeln zu können, und daher hängt ihre Performance auch von den Reaktionen des Publikums ab.[50] Die Rollen und die Darbietungen werden an die soziale Situation und das Publikum angepasst, und nur im privaten Backstagebereich, der den Blicken des Publikums entzogen ist, kann man zeitweise aus der öffentlichen Rolle schlüpfen – spielt dafür aber eine andere und übt im Kreis der Vertrauten sogar weiterhin für die Bühnenrolle.

Wendet man diese Theorie auf unseren historischen Fall an, tritt das eigentümliche Verhalten von Nationalsozialisten wie Theodor Habicht noch deutlicher hervor. Habicht war ein Selbstdarsteller, der ständig mit seiner Imagepflege beschäftigt war. Er nutzte dafür auch sein Tagebuch als Bühne und seine Frau als Publikum – oder eher noch als Backstagebereich und als Bühnenassistentin. Es war vor allem der Bereich hinter der Bühne, wo Habicht offen um sich selbst kreisen konnte, während er auf der Bühne seine narzisstischen Züge eher zügeln musste, um den gesellschaftlichen Konventionen des »Dritten Reichs« zu entsprechen. Der Bereich hinter der Bühne bot ihm Kompensation dafür – hier konnte er seiner Ichbezogenheit freien Lauf lassen und erhielt Bestätigung von seiner gleichgesinnten Partnerin. Das half ihm zweifellos, seine Rolle auf der Hauptbühne noch überzeugender zu spielen; durch die Autosuggestion von der eigenen Großartigkeit glaubte er wahrscheinlich selbst daran. Weil die Nationalsozialisten so sehr von sich selbst überzeugt waren, spielten sie ihre Rolle ohne Rollendistanz – sie hinterfragten sich nicht und traten dadurch umso effektvoller auf.[51] Zudem war ein gewisses Maß an Narzissmus selbst auf der Hauptbühne zulässig, schließlich sah man im »Dritten Reich« zu »großen Männern« empor. In der »Volksgemeinschaft« wurden narzisstische Parteiführer wie Theodor Habicht nicht etwa verspottet für ihre Selbstversessenheit, sondern als starke Persönlichkeiten verehrt.

IIDie Kultur des Narzissmus

Am 25. Juli 1934 hielt die Welt den Atem an: Gegen 13 Uhr stürmten SS-Kommandos das Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz und die Rundfunkanstalt in der Innenstadt. Die österreichischen Nationalsozialisten unter der Führung von Theodor Habicht unternahmen einen gewaltsamen Umsturzversuch gegen die Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Zunächst lief alles nach Plan, als die SS-Trupps die Kontrolle über die Gebäude übernahmen. Doch dann ging alles schief. In der Rundfunkanstalt konnten die Putschisten nur eine kurze Durchsage absetzen, bevor der Sender bei Schusswechseln mit der Polizei beschädigt wurde. Im Kanzleramt war der Großteil der amtierenden Regierung entkommen, und dann wurde Dollfuß von einem der Nationalsozialisten erschossen – obwohl es ein entscheidender Bestandteil des Putschplans war, den Kanzler als Geisel zu benutzen. Am Abend mussten die Putschisten in Wien aufgeben. Damit war auch der zweite Teil des Putschplans zum Scheitern verurteilt, der landesweite Aufstand von SA-Brigaden in den Bundesländern, der über die Wiener Rundfunkanstalt ausgelöst werden sollte.

Der Organisator des Staatsstreichversuchs, Theodor Habicht, heizte die Eskalation der Gewalt trotzdem weiter an. Die Aktion in Wien war fehlgeschlagen, und der SA-Aufstand kam nur stellenweise in Gang oder wurde rasch vom österreichischen Bundesheer niedergeschlagen. Zudem drohte das faschistische Italien einzugreifen, weil es seine Interessen in der Region bedroht sah. Doch in Hitlers Entourage verbreitete Habicht weiterhin »Optimismus«.[52] Er war vermutlich auch die treibende Kraft, als der SA-Führer Hermann Reschny noch am 26. Juli dazu gedrängt wurde, einen Angriffsbefehl an alle SA-Brigaden in Österreich zu funken, um sie in den aussichtslosen Kampf zu hetzen – Habicht war offenbar in dem Irrglauben, man könne Wien doch noch von außen erobern. Manche SA-Einheiten befolgten die Angriffsbefehle gar nicht erst, doch andere taten es. Die Kämpfe endeten dadurch erst am 28. Juli und forderten insgesamt etwa 220 Todesopfer. Wer die Hauptschuld an diesem Drama trug, stand zumindest für den NS-Propagandaminister Joseph Goebbels zweifelsfrei fest: Er sprach noch lange später von dem misslungenen Putsch in Österreich nur als der »Habichtkatastrophe«.[53] So schilderte Goebbels die letzten beiden Tage des Putschversuchs in seinem Tagebuch:[54]

»Habicht und Frauenfeld lügen unentwegt weiter. Ich kann das garnicht mehr mitanhören und gehe nach Hause. (…) Sonntag: Rom tobt weiter. Telegramm aus Kärnten: unsere Leute vollkommen eingeschlossen. Hunderte von Toten. Habicht endgültig aus bei Hitler. Göring und ich geben ihm den Rest. Legion aufgelöst. Ebenso Landesinspektion. In Österreich größtes Durcheinander. Wutanfälle gegen Italien. Aus, aus, aus! Mit dem Führer immer überlegt. Er ist sehr ernst und verhalten. Habicht gehört an die Wand. Ein zynischer Dilettantismus.«

Der Juliputsch von 1934 war Habichts folgenschwerste Tat: Sie erschütterte ein ganzes Land und führte nicht nur zu Hunderten von Toten und Verletzten, sondern auch zu schweren internationalen Verwicklungen. In Österreich griff Habicht in den Gang der Geschichte ein – der Juliputsch machte ihn zu einer historischen Figur. Das sah er auch selbst so: Fast am erstaunlichsten ist aus heutiger Sicht, dass er sich trotz des völligen Scheiterns des Coups bis zuletzt gerne an seine Rolle in Österreich zu erinnern schien – offenbar weil er sich deswegen als bedeutsame geschichtliche Persönlichkeit fühlen konnte. Noch nicht einmal ein Fehlschlag solchen Ausmaßes änderte etwas an Habichts enormem Selbstbewusstsein, mit dem er in Österreich die Entwicklung bis zur Eskalation vorangetrieben hatte – an seinen späteren Karrierestationen trat er weiterhin genauso machtvoll und eigenmächtig auf. Das gehört zu den narzisstischen Zügen der Nationalsozialisten von Habichts Schlag. Sie verliehen ihnen nicht nur eine unbeirrbare Selbstgewissheit, sondern konnten auch konkret zu Verhaltensweisen und Entscheidungen von großer Tragweite führen, so wie beim Juliputsch. Die Wurzeln dieser Mentalität lagen im Ersten Weltkrieg, den die späteren Nationalsozialisten auf ganz bestimmte Weise erlebten und deuteten – und für ihre Selbstinszenierung nutzten.

Vorkämpfer des NS-Staates: Die Selbstinszenierung als Avantgarde

Am 2. November 1915 war die Morgenausgabe der Berliner Volkszeitung voller Siegesmeldungen von den Fronten.[55] Die Berichte enthielten beeindruckende Zahlen von gegnerischen Gefangenen und erbeutetem Kriegsmaterial und erzählten von den hohen Verlusten des Feindes. Nur von den eigenen Verlusten konnte man in der Berliner Volkszeitung nichts lesen. Man musste bis ganz hinten durchblättern, um eine Ahnung davon zu bekommen. Der Teil mit den »Familien-Anzeigen« war voller Trauerannoncen zum »Heldentod«, den Berliner Soldaten Tag für Tag auf allen Kriegsschauplätzen starben. Zu diesem Zeitpunkt gehörte das für die Berliner längst zum Alltag, zumal nach den extrem verlustreichen Kämpfen des Jahres 1914.[56] Das Jahr 1915 brachte große militärische Erfolge für das Kaiserreich, doch die Massenverluste hatten die Deutschen längst ernüchtert. Das »Augusterlebnis« von 1914 hatte noch dazu geführt, dass sich Zigtausende junge Männer aus allen Schichten freiwillig zu den Waffen meldeten – aus Patriotismus, Abenteuerlust oder einfach, weil es in ihrem Umfeld von ihnen erwartet wurde.[57] Insgesamt waren es mehrere Hunderttausend. Im Herbst 1915 aber war die Zahl der Freiwilligen schon längst wieder zurückgegangen. Wer sich zu diesem Zeitpunkt noch freiwillig meldete, war ganz besonders motiviert, an die Front zu kommen. Einer von diesen unbeirrbaren Jugendlichen und Männern, die sich selbst von den massenhaften Todesnachrichten nicht abschrecken ließen, war der junge Theodor Habicht. Beim Kriegsausbruch 1914 hatte er gerade seine Mittlere Reife an einer Schule in Berlin-Mitte erlangt – und der 2. November 1915 war der Tag, an dem er sich freiwillig zum Kriegsdienst meldete, im Alter von siebzehn Jahren. Mit diesem Tag begann alles, was danach folgte.

Die simple Voraussetzung dafür war Habichts Geburt im Jahr 1898, die ihn zu einem Angehörigen der Frontgeneration des Ersten Weltkriegs machte – die generationelle Lagerung ist der erste Faktor in dem Ursachenbündel für die narzisstische Kultur der Nationalsozialisten. Männer wie Habicht waren alt genug, um am Ersten Weltkrieg teilnehmen zu können, und nach dem Krieg waren sie im richtigen Alter, um zu führenden Aktivisten im völkischen Lager zu werden: Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder in Habichts Wiesbadener NSDAP-Ortsgruppe betrug im Jahr 1931 rund vierunddreißig Jahre, es lag also fast exakt bei Habichts Alter.[58] Die Identität als ehemalige Kriegsfreiwillige und Weltkriegsveteranen war der Grundstock für das Lebensgefühl der frühen Nationalsozialisten, eine Avantgarde darzustellen.

Dieses Bewusstsein wurde durch die Intensität der Kriegserfahrung nur noch verstärkt, denn die Veteranen meinten, deshalb umso mehr Respekt zu verdienen – Habicht fühlte sich deshalb auch anderen Veteranen überlegen, die kürzer im Weltkrieg gedient hatten.[59] Habicht erlebte den Krieg als Angehöriger von verschiedenen Artillerieeinheiten an der Westfront und an der Front am Isonzo im heutigen Slowenien. Dabei war er auch an Brennpunkten eingesetzt. Durch einen Zufall hat sich Habichts Militärpass aus dem Ersten Weltkrieg erhalten. Die darin enthaltene Liste der »mitgemachte[n] Gefechte« zeigt, was es hieß, von 1916 bis 1918 fast drei Jahre lang am Ersten Weltkrieg teilzunehmen:[60]

25.3.16–23.6.16

Stellungskämpfe in franz. Flandern

24.6.16–11.7.16

Erkundigungs- und Demonstrationsgefechte der 6. Armee

14.7.16–10.8.16

Kämpfe an der Somme

12.8.16–30.9.16

Stellungskämpfe im Artois

2.10.16–22.10.16

Kämpfe an der Somme (…)

25.10.16–27.3.17

Stellungskämpfe in franz. Flandern (…)

5.5.–27.5.17

Doppelschlacht Aisne-Champagne

28.5.–16.8.17

Stellungsk[ämpfe]. am Chemin des Dames

19.7.–24.7.17

Sturm auf den Nordhang des Winterberges und Kämpfe auf den Chraonner Höhen

23.9.–27.9.17

Aufmarsch hinter der Isonzofront

18.9.–23.10.17

Stellungsk.[ämpfe] am Isonzo

24.10.–27.10.17

Durchbruch durch die Julischen Alpen (…)

18.2.–20.3.18

Stellungsk.[ämpfe] bei St. Quentin und an der Oise

21.3.–6.4.18

Große Schlacht in Frankreich (…)

7.4.–8.6.18

Kämpfe an der Avre, bei Montdidier und Noyon

9.6.–13.6.18