Die neue Freundin - Ruth Rendell - E-Book

Die neue Freundin E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

«Es ist Ihnen vielleicht nicht klar», sagte sie, «aber wenn Colin mich heiratet, ist das ein Glücksfall für ihn. Er braucht mich nämlich, um ein Mann zu werden.» Mutter tätschelte Moiras Knie. «Ich begreife durchaus, dass das eine fast unlösbare Aufgabe für Sie sein könnte.» «Die neue Freundin» ist eine Sammlung von erschreckenden, erbarmungslosen Kurzgeschichten, komödiantisch und makaber und von brutaler Gerechtigkeit.

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Seitenzahl: 273

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Ruth Rendell

Die neue Freundin

Kriminalstorys

Aus dem Englischen von Edith Walter

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungDie neue FreundinEin dunkelblaues ParfümDie Mauer des ObstgartensHares HausBestechung und KorruptionDer PfeiferDie Uhr mit der TrichterwindeWölfchenFen HallVatertagDie grüne Straße nach Quephanda
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Für Paul Sidey

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Die neue Freundin

Du weißt, was wir das letzte Mal gemacht haben?», sagte er.

Auf diesen Anruf hatte sie seit Wochen gewartet. «Ja.»

«Wie wär’s mit einer Wiederholung? Hättest du Lust dazu?»

Das hatte sie, wollte aber auch nicht allzu eifrig auf seinen Vorschlag eingehen. «Warum nicht?»

«Dann am Freitagnachmittag, ja? Ich habe den ganzen Tag frei, und Angie fährt am Freitag immer zu ihrer Schwester.»

«Nicht immer, David.» Sie kicherte.

Auch er lachte kurz auf. «Aber diese Woche fährt sie. Ob wir wohl deinen Wagen nehmen können? Angie braucht unseren.»

«Aber klar doch. Ich hol dich gegen zwei ab, ja?»

«Ich lasse die Garage offen, damit du direkt hineinfahren kannst. Ach, und noch etwas, Chris – richte es so ein, dass du ein bisschen länger bleiben kannst. Ich wäre so gern einen ganzen Abend mit dir zusammen.»

«Ich will’s versuchen», sagte sie und dann: «Ich kann’s bestimmt einrichten, ich sag Graham einfach, ich treffe mich mit meiner neuen Freundin.»

Er sagte auf Wiedersehen, und er freue sich auf den Freitag. Christine legte den Hörer auf. Sie hatte es fast aufgegeben gehabt, auf seinen Anruf zu warten. Trotzdem musste noch ein Körnchen Hoffnung in ihr gewesen sein, denn sie hatte den Hörer nie neben den Apparat gelegt, wie es ihre Gewohnheit war.

Das letzte Mal hatte sie es an einem Donnerstag vor drei Wochen getan, an dem Tag, an dem sie Angie besuchen wollte und David allein zu Hause gewesen war. Christine hatte sich angewöhnt, den Hörer in der Tagesmitte neben den Apparat zu legen, um nicht ständig Anrufe für die Midlandbank entgegennehmen zu müssen. Ihre Telefonnummer unterschied sich nur um eine Zahl von der der Bank. An den meisten Tagen nahm sie den Hörer um halb zehn ab und legte um halb vier wieder auf. Am Donnerstagnachmittag ging sie fast regelmäßig zu Angie und kümmerte sich nicht um das Telefon.

Christine kannte Angies Mann ziemlich gut. Wenn sie an den Donnerstagen ein bisschen länger blieb, sah sie ihn, sobald er aus der Arbeit kam. Manchmal gingen sie und Graham, Angie und David zu viert aus. David war Firmenvertreter wie Graham – oder Verkaufsrepräsentant, wie er sich lieber nannte, und nach dem Lebensstandard ihrer Freundin zu schließen, musste er wesentlich erfolgreicher sein als Graham. Sie hatte ihn nie besonders anziehend gefunden, denn obwohl er groß war, wirkte er irgendwie mädchenhaft und hatte hellblondes, welliges Haar.

Graham war ein schwer gebauter, sehr dunkler Mann mit dunkel gebräunter Haut. Er musste sich zweimal täglich rasieren. Christine war mit ihm gegangen, seit sie fünfzehn gewesen war, und an ihrem achtzehnten Geburtstag hatten sie geheiratet. Sie hatte nie einen anderen Mann näher gekannt, und wenn sie jetzt mit einem Mann allein war, war sie verlegen und fürchtete sich vor ihm. Sie hatte Angst, dass ein Mann über sie «herfallen» könnte, und der Gedanke allein erschreckte sie. Lange Zeit trug sie ein Taschenmesser in ihrer Handtasche herum, für den Fall, dass sie sich verteidigen musste. Als sie eines Abends mit ein paar Freunden von Graham aus gewesen waren und sie ein paar Gläser getrunken hatte, vertraute sie ihm ihre Ängste an.

Er sagte, sie sei albern, schien sich jedoch zu freuen, dass sie so empfand.

«Als du weggingst, um mit diesen Leuten zu reden, und ich mit John allein blieb, war mir furchtbar zumute. Ich war schrecklich nervös und wusste nicht, was ich mit ihm reden sollte.»

Graham brüllte vor Lachen. «Willst du damit etwa sagen, dass du gedacht hast, der gute alte John könnte versuchen, dich mitten in einem überfüllten Restaurant zu vergewaltigen?»

«Ich weiß nicht», antwortete Christine. «Ich weiß nie, was sie tun werden.»

«Solange du dich nur nicht vor dem fürchtest, was ich tue», sagte Graham und fing an sie zu küssen. «Alles andere ist unwichtig.»

Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt – zehn Jahre zu spät – noch zu sagen, dass sie sich vor dem fürchtete, was er tat. Dass sie sich immer davor gefürchtet hatte. Natürlich hatte sie sich inzwischen daran gewöhnt, hatte keine panische Angst davor. Sie ließ es resigniert über sich ergehen und fand es manchmal sogar recht lustig. David war jedoch der einzige Mann, bei dem sie sich wohlfühlte, wenn sie mit ihm allein war.

Beim ersten Mal, an jenem Donnerstag, an dem Angie zu ihrer Schwester gefahren war und Christine telefonisch nicht erreicht hatte, um ihr abzusagen, hatte sie sich bei ihm wohlgefühlt. Und hinterher war sie glücklich und sorglos gewesen, obwohl das, was vorgegangen war, ihr am nächsten Tag wie ein Traum vorkam. Es schien einfach unglaublich. Schon ziemlich bald hatte er gefragt:

«Wirst du es Angie erzählen?»

«Nicht wenn du es nicht willst.»

«Ich glaube, es würde sie aufregen, Chris. Es könnte sogar das Ende unserer Ehe bedeuten. Siehst du …» Er zögerte. «Siehst du, es war das erste Mal, dass ich … Ich meine, bisher hat niemand …» Er hatte ihr tief in die Augen gesehen. «Dem Himmel sei Dank, dass du es warst!»

Am nächsten Donnerstag hatte sie Angie besucht, wie gewöhnlich. In der Zwischenzeit hatte sie von David kein Wort gehört. Sie war lange geblieben, um ihn zu sehen, und ihr war vor lauter Spannung ein bisschen übel geworden. Als er hereinkam, hatte sie Herzklopfen bekommen.

Er sah ganz anders aus als am vergangenen Donnerstag, als er am Tisch gesessen und bei Radiomusik gelesen hatte. Er trug einen grauen Flanellanzug und eine graue, gestreifte Krawatte. Als Angie das Zimmer verließ, war Christine mit ihm eine Minute allein, und sie fühlte das Aufflackern jener Wachsamkeit, die der Vorläufer ihrer Angst war. Er brachte ihr einen Drink. Sie sah auf, begegnete seinem Blick, und alles war in Ordnung. Er lächelte ihr mit Verschwörermiene zu und legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

«Ich ruf dich an», flüsterte er ihr zu.

Sie musste aber noch zwei Wochen warten. In der Zwischenzeit war sie zweimal bei Angie, und Angie war zweimal bei ihr. Dann gingen sie zu viert zusammen aus, und während Graham die Drinks holte und Angie sich hinter der Tür mit der Aufschrift Damen aufhielt, sah David sie lächelnd an und berührte unter dem Tisch ihren Fuß ganz leicht mit dem seinen.

«Ich ruf dich an, ich hab’s nicht vergessen.»

An einem Mittwoch rief er schließlich an. Am nächsten Tag erzählte Christine ihrem Mann, sie habe eine neue Freundin, ein Mädchen aus ihrer Firma. Am Freitag wolle sie mit dieser neuen Freundin ausgehen und komme nicht vor elf zurück. Sie hatte große Angst, dass er den Wagen nehmen würde – der ihm beziehungsweise der Firma gehörte –, aber zufällig hatte er den ganzen Tag im Büro zu tun, und dann fuhr er immer mit dem Zug. Christine hatte kein schlechtes Gewissen, weil sie ihn anlog, denn es handelte sich ja nicht um eine schmutzige Affäre. Es war ganz anders.

Am Freitag zog sie sich sehr sorgfältig an. Wenn sie zu Angie ging, trug sie normalerweise Jeans, ein T-Shirt und darüber einen Pullover. Das hatte sie auch das erste Mal angehabt, als sie mit David allein gewesen war. Jetzt schlüpfte sie in Rock und Bluse und holte ihre schwarze Samtjacke aus dem Schrank. Sie nahm die vorgeheizten Wickel aus dem Haar und bürstete es zu Locken, die ihr offen auf die Schultern fielen. Für Kleidung konnte sie nie viel ausgeben, dazu war nicht genug Geld da. Die Hypothek für das Haus fraß ein Drittel von Grahams Verdienst und die Hälfte des Gehalts, das sie für ihren Halbtagsjob bekam. Aber sie konnte sich eine schwarze Strumpfhose leisten, zu der sie die Schuhe mit den höchsten Absätzen trug, die sie besaß – ihre schwarzen Pumps.

Das Tor von Angies und Davids Garage stand weit offen, und der Wagen war nicht da. Christine bog in die Zufahrt ein, fuhr in die Garage und machte das Tor hinter sich zu. Eine Tür am Ende der Garage führte auf den Hof und in den Garten hinter dem Haus. Die Küchentür war unverschlossen wie am Donnerstag vor drei Wochen und eigentlich an jedem Donnerstagnachmittag. Sie machte die Tür auf und trat in die Küche.

«Bist du das, Chris?»

Die Stimme klang männlich. Nur sein Anblick konnte ihre Unruhe beschwichtigen. Als sie in der Halle stand, kam er die Treppe herunter.

«Du siehst bildhübsch aus», sagte er.

«Du aber auch.»

Er trug ein Kostüm aus marineblauer Seide mit einem Muster aus hellroten und weißen Blumen. Der Rock war sehr kurz, die Jacke mit einem breiten marineblauen Wildledergürtel an der Taille eng geschnürt. Das lange goldblonde Haar fiel ihm über die Schultern, er war stark geschminkt und hatte sich diesmal auch die Fingernägel lackiert. Er war viel schöner als das erste Mal.

 

Damals, vor drei Wochen, hatte laute Radiomusik Christines Eintritt übertönt, und sie hatte plötzlich vor diesem Mädchen gestanden, das am Tisch gesessen und in der Vogue gelesen hatte. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, es sei Davids Schwester. Sie hatte vergessen, dass Angie ihr erzählt hatte, David sei ein Einzelkind. Das Mädchen hatte langes blondes Haar und trug ein rotes, getupftes Sommerkleid, weiße Sandalen und um den Hals eine weiße Perlenkette. Als Christine sah, dass sie kein Mädchen, sondern David vor sich hatte, wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte.

Stumm und reglos hatte er sie angestarrt und dann das Radio ausgeschaltet. Und dann hatte Christine etwas absolut Albernes, in dieser Situation ganz und gar Unangebrachtes gesagt.

«Was machst du um diese Zeit zu Hause, David?»

Darüber hatte er lächeln müssen. «Ich bin fertig für heute, also habe ich mir den Rest des Tages freigenommen. Ich hätte die Hintertür abschließen müssen. Aber setz dich, da du schon mal hier bist.»

Sie setzte sich. Sie musste ihn ununterbrochen ansehen. Er sah nicht aus wie ein als Mädchen verkleideter Mann, er sah aus wie ein Mädchen und war viel hübscher als sie oder Angie.

«Weiß Angie Bescheid?»

Er schüttelte den Kopf.

«Aber warum tust du es?», platzte sie heraus und sah sich im Zimmer um, in Angies kleinem, unordentlichem Wohnzimmer, betrachtete das Radio, das Exemplar der Vogue. «Was hast du davon?» Plötzlich fiel ihr etwas ein, das sie in einem Illustriertenartikel gelesen hatte. «Hat deine Mutter dir Mädchenkleider angezogen, als du noch klein warst?»

«Ich weiß nicht», erwiderte er. «Vielleicht. Ich erinnere mich nicht. Ich will kein Mädchen sein. Ich ziehe mich nur gern manchmal wie ein Mädchen an.»

Der erste Schock war vorüber, und sie fand zu ihrer alten Ungezwungenheit zurück. Sein Aussehen hatte nichts Groteskes. Er erinnerte sie auch nicht an einen dieser Männer, die auf der Bühne Frauen darstellten. Ihr kam der sonderbare Gedanke, dass es schöner und irgendwie kultivierter war, eine Frau zu sein, und wenn alle Männer den Frauen ähnlicher gewesen wären … Das war natürlich albern, es war unmöglich.

«Und es genügt dir, dich schick zu machen und allein hier zu sitzen?»

Er antwortete nicht sofort. Dann meinte er: «Da du schon fragst – am liebsten würde ich ja so ausgehen, und …» Er unterbrach sich und sah sie an. «Am liebsten möchte ich, dass viele Leute mich so sehen. Bisher hatte ich noch nie die Courage dazu.»

Die kühne Idee kam ihr, ohne dass sie einen Moment überlegen musste. Sie wollte es tun, und sie begann vor Erregung zu zittern.

«Komm, dann gehen wir eben aus, du und ich. Und zwar jetzt sofort. Ich fahre mein Auto in eure Garage, damit du einsteigen kannst, ohne dass die Nachbarn dich zu sehen bekommen, und dann fahren wir irgendwohin. Genau das tun wir jetzt, David. Einverstanden?»

Sie wunderte sich hinterher, dass es ihr so großen Spaß gemacht hatte. Nach außen hin war es doch nichts anderes als ein Spaziergang zweier Mädchen in Hampstead Heath. Hätte Angie ihr den Vorschlag gemacht, hätte sie gedacht, das sei eine trübsinnige Art, einen Nachmittag zu verbringen. Aber mit David … Es hatte ihr nicht einmal etwas ausgemacht, dass er viel besser angezogen, größer, hübscher und anmutiger war als sie. Es störte sie auch jetzt nicht, als er die Treppe herunter auf sie zukam und vor ihr stehen blieb.

«Was unternehmen wir heute?»

«Diesmal gehen wir nicht in den Park», antwortete er. «Machen wir einen Einkaufsbummel.»

In einem der großen Warenhäuser kaufte er sich eine Bluse. Christine ging mit ihm in die Kabine, und er probierte die Bluse an. Später gingen sie doch in den Park. In den Hyde Park diesmal. Später am Abend aßen sie in einem Restaurant, und Christine stellte fest, dass sie die einzigen Frauen ohne männliche Begleitung waren.

«Ich bin dir dankbar», sagte David und legte auf dem Tisch die Hand über die ihre.

«Es macht mir Spaß», antwortete sie. «Es ist so – verrückt. Es macht mir wirklich einen Heidenspaß. Aber du solltest meine Hand lieber nicht festhalten. Der Mann dort drüben guckt schon komisch.»

«Aber Frauen halten sich bei den Händen», wandte David ein.

«Nur diese Sorte Frauen. – David, das könnten wir doch an jedem Freitag machen, an dem du nicht arbeiten musst.»

«Warum nicht?», sagte er.

Es gab nicht den geringsten Grund für Schuldgefühle. Sie tat Angie nicht weh und war Graham nicht untreu. Sie ging nur ganz harmlos mit einem anderen Mädchen aus. Graham interessierte sich nicht für ihre neue Freundin, er fragte nicht einmal, wie sie hieß. Christine begann sich nach den Freitagen zu sehnen, konnte sie kaum erwarten – besonders nicht jenen Moment, in dem sie Angies Haus betrat und David die Treppe herunterkam, und auch nicht jenen Moment, in dem sie aus dem Wagen stiegen und er die ersten Blicke auf sich zog. Sie besuchten den Holland Park, sie gingen in den Zoo, in die Kew Gardens. Im Kino legte der Mann auf dem Nachbarsitz David die Hand aufs Knie. David war begeistert, es war ein Triumph für ihn, aber Christine flüsterte ihm zu, sie müssten die Plätze wechseln, und das taten sie auch.

Wenn sie sich am Ende eines Abends trennten, küsste er sie zart auf die Lippen. Er duftete nach Alliage, Je Reviens oder Opium. Im Lauf des Nachmittags gingen sie gewöhnlich in eines der großen Kaufhäuser und besprühten sich aus den Probierflaschen.

 

Angies Mutter lebte im Norden Englands. Da sie nach einer Operation noch erholungsbedürftig war, fuhr Angie zu ihr, um sie zu pflegen. Sie rechnete damit, zwei Wochen auszubleiben, und in der zweiten Woche ihrer Abwesenheit musste Graham mit dem Verkaufsmanager seiner Firma nach Brüssel reisen.

«Wir könnten übers Wochenende wegfahren», sagte David.

«Graham ruft bestimmt an», wandte Christine ein.

«Dann nur für eine Nacht. Nur von Samstag auf Sonntag. Du kannst ihm sagen, dass du mit deiner neuen Freundin ausgehst und erst spät nach Hause kommst.»

«Na schön.»

Sie war traurig, weil sie nichts Hübsches zum Anziehen hatte. David hatte eine kleine, aber sehr elegante Auswahl an Kostümen, Kleidern, Schuhen, Schals und schöner Unterwäsche. Er bewahrte sie in einem Schrank im Büro auf, zu dem nur er einen Schlüssel hatte. Hin und wieder nahm er in seinem Aktenkoffer das eine oder andere Stück heimlich nach Hause mit und brachte es auf demselben Weg wieder zurück ins Büro.

Christine fand es einfach ungerecht, dass sie in ihrem grauen Flanellrock, der weißen Seidenbluse und der schwarzen Samtjacke wegfahren sollte, während David in einem Kleid von Zandra Rhodes erschien. In einem Anfall von Leichtsinn kaufte sie sich für zwei Wochengehälter ein Leinenkostüm.

Sie fuhren mit Davids Wagen. Er hatte alle Vorbereitungen übernommen, und Christine dachte, ihr Ziel sei ein Motel, ungefähr zwanzig Meilen außerhalb von London. Sie hatte geglaubt, es sei David ziemlich gleichgültig, wohin sie fuhren. Doch er überraschte sie durch seine Wahl eines Hotels in einem dreihundert Jahre alten Haus an der Küste von Suffolk.

«Wenn wir’s schon tun, dann auch mit Stil», sagte er.

Sie fühlte sich bei ihm geborgen, und sie war sehr glücklich. Immer wieder versuchte sie sich vorzustellen, was sie empfinden würde, wenn sie jetzt unterwegs wäre, um eine Nacht mit ihrem Geliebten in einem Hotel zu verbringen? Wenn die Person neben ihr kein schwarz und weiß gemustertes Seidenkleid mit scharlachroter Jacke, sondern einen Männeranzug mit Hemd und Krawatte getragen hätte? Wenn das Gesicht, das sie so gern ansah, nicht mit Rouge und Mascara geschminkt und gepudert, sondern rau und nicht mehr ganz frisch rasiert gewesen wäre? Es gelang ihr nicht, sich das vorzustellen. Eigentlich konnte sie nur daran denken, dass sie dann wohl an der ersten roten Ampel aus dem Wagen springen würde.

Sie hatten nebeneinanderliegende Einzelzimmer. Sie waren sehr klein, aber Christine sah ein, dass ein Doppelzimmer für David ein paar Peinlichkeiten mit sich gebracht hätte, da er sich irgendwann einmal – sie dachte höchst ungern daran – rasieren und ausziehen, sich gewissermaßen in seinen Urzustand zurückversetzen musste.

Als sie ihr Nachthemd und das zweite Paar Schuhe auspackte, kam er herein und setzte sich aufs Bett.

«Das macht Spaß, nicht wahr?»

Sie nickte, blinzelte ihr Spiegelbild an und bearbeitete ihre Lider mit einer kleinen Bürste. David schminkte sich die Augen immer sehr schön. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte.

«Komm, jetzt gehen wir runter und trinken etwas», sagte er.

Der Speisesaal, die Bar, die Hotelhalle hatten niedrige Balkendecken und geschnitzte Wandtäfelungen. David sagte, es sei eine Täfelung mit Faltwerkfüllung. An den Wänden hingen goldgerahmte alte Landkarten und Jagdszenen, und auf den Tischen standen kupferne Krüge mit Rosen. Hohe, weit geöffnete Türen führten auf eine Terrasse. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und es war sehr warm. Während Christine auf der Terrasse in der Sonne saß, holte David die Drinks. Als er zurückkam, brachte er einen Mann mit, einen untersetzten, dicken Mann von etwa vierzig Jahren, der ein Tablett mit vier Gläsern trug.

«Das ist Ted», sagte David.

«Ich bin entzückt», sagte Ted, «und ich habe meinen Freund gebeten, sich uns anzuschließen. Sie haben doch nichts dagegen?»

Die Spielregeln verlangten, dass sie sagte, sie habe nichts dagegen. David sah sie an, und sein Blick verriet ihr, dass er Ted ganz bewusst «angemacht» hatte.

«Aber warum denn?», fragte sie ihn hinterher. «Warum wolltest du das? Du hast mir doch gesagt, es war dir unangenehm, als dir der Mann im Kino die Hand aufs Knie legte?»

«Das war so direkt – so körperlich. Das hier ist nur Spaß. Du glaubst doch nicht, dass ich mich von ihm anfassen lasse!»

Ted und Peter saßen beim Abendessen am Nebentisch. Christine war schweigsam und zurückhaltend, aber David flirtete mit den beiden. Ted beugte sich immer wieder herüber, flüsterte mit ihm, und David kicherte und lächelte. Man sah ihm an, dass er sich unglaublich amüsierte. Christine wusste, dass die beiden sie und David nach dem Abendessen auffordern würden, mit ihnen auszugehen, und sie begann sich zu ängstigen. Angenommen, David trieb den Spaß auf die Spitze und ließ sich dazu hinreißen, mit Ted zu verschwinden, ließ sie mit Peter allein? Peter hatte ein rotes Gesicht, ein schwarzes Bärtchen und einen Kinnbart und auf der linken Wange eine Warze, aus der schwarze Haare wuchsen. Christine und David aßen Steaks, und der Ober brachte ihnen scharfe und spitze Steakmesser. Sie benutzte ihr Messer nicht. Das Steak war sehr zart. Als niemand aufpasste, steckte sie das Steakmesser in ihre Handtasche.

Ted und Peter tranken noch Kaffee und Brandy, als David plötzlich aufstand. «Kommst du?», wandte er sich an Christine.

«Ich nehme an, du hast mit den beiden noch eine Verabredung für später getroffen?», fragte Christine, nachdem sie den Speisesaal verlassen hatten.

David sah sie an. Seine scharlachroten Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Dann lachte er.

«Ich habe ihnen einen Korb gegeben.»

«Hast du das wirklich?»

«Ich hab dir angesehen, dass du am liebsten das Weite gesucht hättest. Außerdem wollen wir doch allein sein, nicht wahr? Ich jedenfalls möchte mit dir allein sein.»

Ihre Erleichterung war so groß, dass sie fast laut seinen Namen gerufen hätte, sodass jeder es hören konnte. Sie beherrschte sich, aber sie zitterte. «Natürlich möchte ich mit dir allein sein», erwiderte sie.

Sie hakte ihn unter. Es war schließlich ganz alltäglich, dass Mädchen untergehakt gingen. Männer drehten sich nach David um, und einer pfiff sogar hinter ihm her. Sie wusste, dass der Pfiff nur David gelten konnte, weil er mit seinem langen blonden Haar und den hochhackigen roten Sandalen so attraktiv aussah. Sie schlenderten die kleine Seepromenade entlang. Es war auch jetzt, um halb neun, noch zu warm für einen Mantel. Es waren viele Leute unterwegs, aber keine Menschenmassen. Der Ort war zu exklusiv, um die Masse anzuziehen. Sie gingen bis ans Ende des Piers, tranken noch ein Glas im Ship Inn und ein zweites in den Fishermen’s Arms. In den Fishermen’s Arms versuchte ein Mann, David anzusprechen, doch diesmal war er kalt und abweisend.

«Ich würde gern den Arm um dich legen», sagte er auf dem Rückweg. «Aber ich glaube, das geht nicht gut, obwohl es dunkel ist.»

«Lass es lieber», sagte Christine. Und dann plötzlich: «Das war der schönste Abend meines Lebens.»

Er sah sie an. «Meinst du das wirklich ernst?»

Sie nickte. «Es war der schönste, ehrlich.»

Sie kamen ins Hotel. «Ich lasse uns noch ein paar Drinks heraufbringen. In mein Zimmer. Einverstanden?»

Christine setzte sich aufs Bett. David ging ins Bad. Um sich zu schminken, dachte sie, vielleicht auch um sich zu rasieren, bevor der Kellner ihn sieht, der die Drinks bringt. Es klopfte, und der Kellner kam mit einem Tablett herein, darauf standen zwei hohe Gläser mit einer Flüssigkeit, in der Früchte und Blätter schwammen. Daneben zwei rosafarbene Servietten, zwei aufgespießte Oliven und zwei grün verpackte Pfefferminzbonbons.

Christine kostete den Drink. Sie aß eine Olive. Sie machte die Handtasche auf, nahm Spiegel und Lippenstift heraus und zog sich die Lippen nach. David kam aus dem Badezimmer. Er hatte die goldblonde Perücke abgenommen und sich das Gesicht gewaschen. Rasiert hatte er sich nicht, und auf Kinn und Wangen waren helle Bartstoppeln zu sehen. Er war barfuß, hatte nackte Beine und trug einen sehr männlichen marineblauen Frottébademantel. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.

«Du hast dich aber verändert», sagte sie strahlend.

Er zuckte mit den Schultern. «Es gibt Grenzen.»

Er hob sein Glas, und sie hob ihr Glas, und er sagte: «Auf uns!»

Irgendwo, ganz tief in ihr, begann sich Panik zu regen. Plötzlich war er so ganz, so unverwechselbar Mann. Sie rutschte ein Stückchen von ihm weg.

«Ich wünschte, wir hätten das ganze Wochenende für uns.»

Christine nickte nervös. Ihr wurde bewusst, dass sie angefangen hatte, am ganzen Körper leicht zu zittern. Er hatte es ebenfalls bemerkt. Schon einmal war ihm aufgefallen, dass starke Gefühlsaufwallungen sie zum Zittern brachten.

«Chris», sagte er.

Völlig passiv und verängstigt saß sie da.

«Ich bin in Wirklichkeit gar nicht wie eine Frau, Chris. Ich spiele es nur manchmal zum Spaß. Das weißt du doch, nicht wahr?» Die Hand, die sie berührte, roch nach Nagellackentferner. Auf dem Handgelenk wuchsen Haare, die sie bisher noch nie gesehen hatte. «Ich bin dabei, mich in dich zu verlieben», sagte er. «Und dir geht es genauso, nicht wahr?»

Sie könnte nicht sprechen. Er nahm sie bei den Schultern. Er presste die Lippen auf ihren Mund, legte die Arme um sie und begann sie zu küssen. Seine Haut war ein wenig rau, und er roch genauso nach Mann wie Graham. Sie schüttelte sich, ein Schauer überlief sie. Er stieß sie aufs Bett und fing an sie auszuziehen – seine Lippen lagen noch auf den ihren, sein Körper lastete schwer auf ihr.

Sie tastete hinter sich, schob die Hand in die offene Handtasche und zog das Messer heraus. Weil sie seinen regelmäßigen Herzschlag an ihrer rechten Brust fühlte, wusste sie, wohin sie stechen musste, und sie stach und stach und stach. Hellrotes Herzblut sprudelte auf ihre Kleider, auf das Bett und auf die beiden Pfefferminzcremebonbons auf dem Tablett.

[zur Inhaltsübersicht]

Ein dunkelblaues Parfüm

Man könnte ruhig sagen, dass noch kein Tag vergangen war, an dem er nicht an sie gedacht hatte, denn es war die reine Wahrheit. Es traf allerdings nicht auf seine mittleren Jahre zu. Damals hatten andere Frauen ihn abgelenkt, nur hatte ihm keine so viel bedeutet, dass er sie zu seiner zweiten Frau gemacht hätte. Als er jedoch in die Fünfziger kam, kehrte die Erinnerung an sie zurück und war so lebhaft wie früher. Wenn er andere Männer beobachtete, die mit einer liebenden Ehefrau an der Seite dem Alter ruhig entgegensehen konnten, sagte er oft ihren Namen vor sich hin: Catherine, Catherine …

Er hatte, seit sie ihn verließ, nie wieder in dem Land gelebt, in dem er geboren und aufgewachsen war. Seine Firma schickte ihn in der ganzen Welt umher. Jahrelang hatte er sich in Südamerika, Afrika, Westindien aufgehalten, war nur auf Urlaub nach Hause gekommen, und manchmal nicht einmal dann. Er wollte jedoch heimkehren, sobald er in den Ruhestand trat, und hatte während eines Urlaubs ein Haus gekauft. Es stand in der Stadt, in der sie beide geboren waren, aber er hatte sich einen Bezirk ausgesucht, der von jenem, in den sie mit ihrem neuen Ehemann gezogen war, so weit entfernt war wie möglich, und noch weiter weg von dem Viertel, in dem sie zusammen gewohnt hatten. Denn gerade als er das Haus kaufte, hatte er wieder angefangen, jeden Tag an sie zu denken.

Mit fünfundsechzig hörte er auf zu arbeiten und kam nach Hause. Er selbst nahm ein Flugzeug. Sein Hab und Gut, das sich mit den Jahren angesammelt hatte, vertraute er einem Schiff an. Darunter war auch die Waffe, die er vor vierzig Jahren erworben hatte und mit der er sich hatte erschießen wollen, wären die Dinge unerträglich geworden. Aber sie waren selbst damals nicht völlig unerträglich geworden. Zorn und Hass hatten ihn aufrechterhalten, und er war nicht einmal so weit gekommen, die kleine, ungebrauchte Automatic zu laden.

Es war Winter, als er nach Hause kam, düster, nass und viel kälter, als er in Erinnerung hatte. Als es anfing zu schneien, blieb er zu Hause, heizte gut und bekam niemanden zu Gesicht. Es gab auch niemanden, den er besuchen konnte, sie waren alle weggezogen oder gestorben.

Als seine Sachen in drei Schrankkoffern eintrafen – mehr war es in vierzig Jahren nicht geworden, nur drei Schrankkoffer hübscher Nichtigkeiten –, packte er staunend aus. Nur die Pistole hatte er selbst hineingelegt, den Rest hatte sein Diener gepackt. Es kamen Dinge ans Licht, von denen er längst nicht mehr gewusst hatte, dass er sie besaß, Bücher, Kuriositäten und in einem Umschlag alle Fotografien, die er von ihr gemacht hatte. Und er hatte sich eingebildet, er habe sie seinerzeit vernichtet.

An einem Abend im Vorfrühling sah er sich die Fotos an. Seine Putzfrau hatte ihm eine Schale mit blauen Hyazinthen mitgebracht, und ihr süßer Duft hing schwer und schwül im Raum. Catherine, Catherine, sagte er, während er ein Bild betrachtete, das sie in ihrem gemeinsamen Garten zeigte, und ein anderes von der See mit im Wind wehenden Haaren. Wie anders wäre sein Leben verlaufen, wenn sie bei ihm geblieben wäre! Wenn er ein nachgiebiger Ehemann gewesen wäre, der alles ertragen, alles hingenommen und ihr verziehen hätte. Aber wie hätte er das ertragen können? Wie hätte er sie bei sich behalten können, obwohl sie von einem anderen Mann schwanger war?

Die Hyazinthen dufteten so stark, dass er sich schwach und matt fühlte. Er steckte die Fotos in den Umschlag zurück, schien aber auch durch das starke, undurchsichtige braune Papier hindurch ihr Gesicht zu sehen. Sie war ein bisschen älter gewesen als er und war jetzt fast siebzig. Sie war alt geworden, wahrscheinlich hässlich, vielleicht dick, vielleicht arthritisch, die festen Wangen zu Hängebacken erschlafft, die Augen in Hautfalten eingesunken, der weiße Hals sehnig, das glänzende kastanienbraune Haar ein graues Büschel. Kein Mann würde sie jetzt noch wollen.

Er stand auf und blickte in den Spiegel. Er war nicht sehr gealtert, hatte sich nicht sehr verändert. Das sagten alle. Das kam natürlich daher, dass er nicht intensiv gelebt hatte, und es war das Leben, das die Menschen altern ließ. Er hatte keine Glatze, er war schlanker als mit fünfundzwanzig, seine Augen hatten ihren Glanz bewahrt, waren wehmütig und voller Hoffnung. Die vier Jahre, die sie älter war als er, würden sich jetzt gravierend bemerkbar machen, wenn sie nebeneinanderstünden.

Vielleicht war sie schon tot. Er hatte nie wieder von ihr gehört, nachdem die Scheidung ausgesprochen worden war und sie diesen Mann geheiratet hatte. Aldred Sydney. Vielleicht war Aldred Sydney gestorben und sie vielleicht Witwe? Er dachte an all das, was dieser Name in jeder Beziehung für ihn bedeutet, wie emotional er auf ihn reagiert hatte.

«Ich möchte dich mit dem neuen Generaldirektor Sydney Robinson bekannt machen.»

«Ja, man schickt uns nach Australien, nach Sydney, genauer gesagt.»

«Cameron und Sydney, Geometer und Taxatoren. Was kann ich für Sie tun?»

Lange Zeit hatte er gezittert, wenn er nur ihren Familiennamen hörte. Er fragte sich, wieso er anderen Leuten so mühelos von den Lippen ging. Aldred Sydney war kaum älter als siebzig, es gab keinen Grund zu glauben, er sei schon tot.

«Kennen Sie Aldred und Catherine Sydney? Sie wohnen in Nummer 22. Ein älteres Ehepaar, ja, das stimmt. Die beiden hängen sehr aneinander, es ist irgendwie rührend …»

Sie wohnte bestimmt nicht mehr hier, nicht nach vierzig Jahren. Er holte sich das Telefonbuch aus der Halle, saß dann einen Moment mit dem Buch auf den Knien stocksteif da und atmete tief durch, weil sein Herz so schnell schlug. Dann schlug er das Buch auf und blätterte bis zum S. Aldred war ein so ausgefallener Name, dass es vermutlich im ganzen Land nur einen Aldred Sydney gab. Er konnte ihn jedoch nicht finden, obwohl viele A. Sydneys unter Adressen lebten, die ihm nichts sagten, keinerlei Bedeutung für ihn hatten. Hinterher fragte er sich, warum er noch weiter unten nachgesehen, mit den Augen der langen Reihe der Bs gefolgt war und schließlich ihren Namen entdeckt hatte, unverkennbar, unbestreitbar den ihren. Sydney, Catherine, Aurora Road 22 …

Sie war noch da, sie wohnte noch da, und das Telefon war auf ihren Namen angemeldet. Aldred Sydney musste tot sein. Er wünschte, er hätte nicht im Telefonbuch nachgesehen. Warum hatte er es getan? Er konnte in dieser Nacht kaum ein Auge zutun, und als er sehr früh am Morgen aus einem leichten Schlaf erwachte, hatte er ihren Namen auf den Lippen: Catherine, Catherine.

Er stellte sich vor, dass er sie anrief.

«Catherine?»

«Am Apparat. Wer spricht dort, bitte?»

«Weißt du’s nicht? Rate mal. Es ist schon sehr, sehr lange her, Catherine.»

In der Phantasie war es möglich, in Wirklichkeit nicht. Er würde jetzt ihre Stimme nicht mehr erkennen, und wenn er ihr auf der Straße begegnete, würde er sie nicht mehr erkennen. Um zehn Uhr holte er den Wagen aus der Garage und fuhr nach Norden, über den Fluss und durch die nördlichen Vorstädte. Vor vierzig Jahren hatte das Haus, in dem sie lebte, weit außerhalb der Riesenstadt gestanden, durch Felder und Wälder von ihr getrennt.

Er fuhr durch neue Straßen, neue Stadtviertel. Ohne seinen neuen Stadtplan hätte er keine Ahnung gehabt, wo er war. Die Landschaft war in diesen vier Jahrzehnten abgedrängt, weggestoßen worden. Sie drückte sich noch scheu am Rand der kleinen Stadt herum, die Vorstadt geworden war. Und hier war die Aurora Road. Er war noch nie hier gewesen, hatte nie ihr Haus gesehen, obwohl er die Straße auf jedem Stadtplan sofort fand, als sei ihr Name rot gedruckt und brenne ihm in den Augen.

Dass er sie endlich sah, tatsächlich hier war und das Haus sah, machte ihn schwindelig. Er schloss die Augen und blieb reglos sitzen, den Kopf tief über das Steuer gebeugt. Dann richtete er sich auf, drehte sich zur Seite und betrachtete das hübsche, kleine Haus. Es war frisch gestrichen, die Farbe lebhaft; die fünfzig Jahre alte Haustür war durch eine paneelierte Eichentür und die Mauerlücke durch ein Bogenfenster ersetzt worden. Trotzdem war es ein armseliges, schäbiges Haus. Er empfand nichts als Spott für den toten Aldred, der seiner Frau nichts Besseres bieten konnte als das.

Angenommen, er ging zur Tür und klingelte? Aber er würde es nicht tun, der Schock wäre vielleicht zu groß für sie. Er war schließlich gewappnet. Sie aber müsste sich ohne Vorbereitung dem Mann stellen, mit dem sie vor langer Zeit verheiratet gewesen war und der sich kaum verändert hatte. Wie hätte er früher die Grausamkeit, die Rache genossen! Der gut aussehende Mann, der noch im mittleren Alter zu sein schien, tropische Bräune auf den Wangen, die Figur noch schlank und rank, und die gebrochene, alte Frau, gebeugt, grau, welk. Er seufzte. Sein Verlangen nach grausamer Rache war verflogen. Er wollte stattdessen gnädig sein, gütig. Wäre es nicht am gütigsten, sie in Frieden zu lassen? Sie ihrem alten Haus und den einfachen Freuden des Alters zu überlassen?