Die ohne Reue sterben - David Docherty - E-Book
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Die ohne Reue sterben E-Book

David Docherty

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Beschreibung

Ein unsichtbarer Feind, der ohne Gnade tötet: Der eiskalte Thriller »Die ohne Reue sterben« von David Docherty jetzt als eBook bei dotbooks. Als der Patient Zero in die Notaufnahme des Londoner King Henry's Hospital eingeliefert wird, ist es schon zu spät: der junge Mann stirbt nach kürzester Zeit, aus Augen, Nase und Ohren blutend. Die Todesursache ist ein bisher unbekannter Virus, der sich rasant in der britischen Hauptstadt ausbreitet – bis das Militär einen Sperrgürtel um die Londoner City zieht. Dr. Mike Davenport, ein weltweit angesehener Virologe, soll ein Gegenmittel gegen den unsichtbaren Killer zu finden, bevor der Virus England und die Welt in den Abgrund stürzt. Die ersten Laborergebnisse bestätigen einen grausamen Verdacht: Der Virus wurde von Menschen gezüchtet – und Dr. Davenport muss feststellen, dass irgendjemand aus den eigenen Reihen ihre lebensrettende Arbeit sabotiert … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Pandemie-Thriller »Die ohne Reue sterben« von David Docherty. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Als der Patient Zero in die Notaufnahme des Londoner King Henry's Hospital eingeliefert wird, ist es schon zu spät: der junge Mann stirbt nach kürzester Zeit, aus Augen, Nase und Ohren blutend. Die Todesursache ist ein bisher unbekannter Virus, der sich rasant in der britischen Hauptstadt ausbreitet – bis das Militär einen Sperrgürtel um die Londoner City zieht. Dr. Mike Davenport, ein weltweit angesehener Virologe, soll ein Gegenmittel gegen den unsichtbaren Killer zu finden, bevor der Virus England und die Welt in den Abgrund stürzt. Die ersten Laborergebnisse bestätigen einen grausamen Verdacht: Der Virus wurde von Menschen gezüchtet – und Dr. Davenport muss feststellen, dass irgendjemand aus den eigenen Reihen ihre lebensrettende Arbeit sabotiert …

Über den Autor:

David Docherty ist englischer Journalist, TV-Produzent und Autor mehrerer Bücher, die weltweit erschienen sind. Nach einer Karriere beim britischen Rundfunk, zuletzt als Deputy Director of Television der BBC, konzentrierte er sich auf das Schreiben von Sachbüchern und Thrillern, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Bei dotbooks veröffentlichte David Docherty bereits seine Thriller »Die dunklen Herzens sind« und »Die ohne Sünde leben«.

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eBook-Neuausgabe November 2020

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »The Spirit Death« bei Simon & Schuster, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Der zweite Tod« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by David Docherty

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/jovannig

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-138-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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David Docherty

Die ohne Reue sterben

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Kubiak

dotbooks.

Danksagung

Ich möchte mich bei Dr. Sue Stuart-Smith, Sergo Hill und Dr. Richard S. G. Knight vom CJD Surveillance Unit in Edinburgh für ihre unschätzbar wertvollen Erläuterungen zu den medizinischen Aspekten dieses Romans bedanken. Alle Fehler gehen natürlich zu meinen Lasten. Meine Agenten Julian Friedmann, Conrad Williams und Carole Blake haben mich all die Jahre unbeirrt unterstützt und wissen, daß ich dieses Buch ohne sie niemals beendet hätte. Anna Kiernan bei Simon and Schuster war eine phantastische Lektorin. Aber dieses Buch wäre ohne das Vertrauen, das Nick Webb in mich gesetzt hat, niemals geschrieben worden.

Obstabatque aliis aliud.

Alles war alles anderen Feind.

Ovid, Metamorphosen (Buch 1, Vers 18). Die Weltschöpfung

Prolog

»Ich hasse es, Kinder zu töten.«

Der schwarze Mann spuckte auf die kalte, harte Erde Belizes unter seinen Füßen. Er schwitzte in dem grünen, hermetisch dichten Ganzkörperschutzanzug, den er auf Anweisung der Company tragen mußte.

»Still«, flüsterte der Anführer der Patrouille, während er ein kleines Mädchen von acht oder neun Jahren beobachtete. Die Kleine kauerte vor der Tür ihres Hauses. Während sie sich vor und zurück wiegte, sang sie mit brüchiger Stimme vor sich hin. Er konnte den Körper ihrer Mutter sehen und das Jammern ihrer beiden Brüder hören, das durch die stille Abendluft herüberdrang. Links von ihm streichelte ein anderer Angehöriger ihrer Sechsergruppe das lange, schlanke Messer, das er immer zum Töten auf kurze Distanz benutzte. Sein rötliches Gesicht war hager, und seine Augen schimmerten dunkelblau.

»Keine Messer«, sagte der Anführer. »Steck's weg. Wir erledigen das ganz sauber.«

Der dunkeläugige Mann sah ihn kurz an und schob dann das Messer behutsam zurück in die Lederscheide. Der Anführer schaute sich um. Er konnte erkennen, daß seine Männer sich nicht sehr wohl fühlten und daß ihnen unerträglich heiß war, aber jeder von ihnen wußte, daß der Anzug sein einziger Schutz war. Flammenwerfer standen vor der Patrouille auf dem Boden, während die Schatten der Fichten sich streckten und die sechs Hütten des Dorfes zuerst berührten und schließlich ganz zudeckten. Von überall starrte den Männern das gepeinigte Antlitz Ach Puchs entgegen, des Todes-gottes der Maya.

Während die Sonne tiefer sank, gab der Anführer ein Zeichen, und sechs dunkle Schatten bildeten einen Halbkreis und rückten langsam vor. Sie konnten noch immer den monotonen Gesang des Mädchens hören. Mit lautem Getöse wurden vier Flammenwerfer gezündet, und das Mädchen schrie: »Der Engel des Todes – Als die Kleine auf den Wald zu rannte, wobei Urin an ihren Beinen herabrann und den trockenen Erdboden hinter ihr benetzte, schoß der dunkeläugige Mann auf das Mädchen. Kugeln aus einem AK47 prasselten in die Büsche und ins Laub, und das Mädchen stolperte und stürzte. Dann raffte es sich auf die Knie auf, erhob sich ganz und rannte weiter.

Während der dunkeläugige Mann der Kleinen in den Wald folgte, wandte der Anführer seine Aufmerksamkeit den primitiven Häusern vor sich zu. Er ging in eins hinein und sah eine junge Frau, nicht älter als achtzehn Jahre, an eine Wand gelehnt auf dem Boden sitzen. Eine Blutlache hatte sich um ihre Beine ausgebreitet. Ihre Brust hob und senkte sich mühsam, aber sie spürte nichts und nahm nichts mehr wahr. Der Mann hatte so etwas schon vorher in den anderen Dörfern gesehen, die sie gesäubert hatten; die Frau befand sich im letzten, blutigen Stadium der Krankheit. Er brachte das Gewehr in Anschlag und tat seine Pflicht. Dann aktivierte er den Flammenwerfer. Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum, aber der Filter in seiner Gesichtsmaske bewahrte ihn davor. Er setzte das Dach in Brand, um die Toten zu verbrennen. Ein Baby weinte in einer Ecke. Der Junge sah durchaus gesund aus, und in einem kleinen Winkel seines Herzens regte sich Mitleid. Doch er hob das Gewehr und schoß mehrmals in die Wiege. Wenigstens ist das Kind schnell gestorben, dachte er.

In den anderen sechs Hütten erledigten seine Männer ihren Auftrag. Keiner der Maya wehrte sich, noch nicht einmal die Männer – nicht einmal die jungen Männer. Sie saßen da und warteten darauf, daß die Engel des Todes sie mitnahmen. Es war ihre Zeit. Der Anführer war stolz auf seine Leute. Sie führten die Mission auf ruhige, disziplinierte Art und Weise aus. Keine lauten Rufe. Keine Hektik. Es war ein sauber ausgeführter Job. Während sie sich zu den Hubschraubern zurückzogen, die sie zur Basis zurückbringen würden, beobachtete er, wie die Flammen, die aus den Hütten schlugen, Löcher in den Nachthimmel rissen und die Sterne überstrahlten.

Vierhundert Meter entfernt in einem dichten Strauchdickicht unterdrückte der Mann, der das Mädchen verfolgte, einen wütenden Fluch, weil seine klobige Ausrüstung ihn erheblich in seiner Bewegungsfreiheit behinderte. Wo war das kleine Biest? Komm schon, du Luder. Zeig dich. Er schwitzte, und der Schweiß beschlug sein Visier. Verdammter Anzug, dachte er, so eine dämliche Vorsichtsmaßnahme! Ich kann überhaupt nichts sehen.

Die Kleine versteckte sich im Astwerk ihrer Lieblingsfichte. Sie war schon oft mit ihren Brüdern darin herumgeklettert und hatte es immer bis zur Spitze geschafft. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, sie würde eines Tages sicherlich eine ganz bedeutende Frau, wenn sie es bis zur Spitze schaffte, und er hatte ihre Brüder damit gehänselt, daß eine Frau besser wäre als sie. Und sie konnte wirklich besser klettern als die Jungen – sogar besser als Roberto, der ein Jahr älter war als sie. Aber Roberto würde nie mehr auf einen Baum klettern.

Sie sah, wie unter ihr der Engel des Todes seine Kapuze abnahm, die Bäume ringsum absuchte und in eine Tasche griff, die er vor der Brust trug. Was machte er? Sie wollte nach ihrem Vater rufen – aber er war von seiner Arbeit mit den Holzfällern nicht zurückgekommen.

Während der Mann das Fernglas mit der Vorrichtung zum Aufspüren von Wärmestrahlung an die Augen setzte und die Büsche zu inspizieren begann, huschten Tiere durch sein Gesichtsfeld. Dann blickte er nach oben, untersuchte die Bäume. Nach einiger Zeit nahm er eine Bewegung wahr und unterzog diese Wärmequelle einer etwas eingehenderen Untersuchung. Da war die Kleine. Er konnte das Dröhnen eines Hubschraubers über sich hören, der die erste Söldnergruppe zum Lager zurückbrachte. Der Mann legte seine Waffe an und grinste. Nicht mehr lange und er wäre wieder im Lager, wo er etwas zu trinken bekam und die Nigger beim Poker ausnehmen konnte. Sein Finger legte sich um den Abzug. Das Rattern von Gewehrfeuer erfüllte den Wald und brachte für einen kurzen Moment jedes andere Lebewesen in der Umgebung zum Verstummen. Er hörte, wie die Kleine in die Tiefe stürzte. Ihre Schreie waren so laut wie die wütenden Rufe der Papageien, die von den Schüssen aufgeschreckt worden waren.

Als der Mann sie auf dem Waldboden fand, lebte sie noch und rief ihm zu, er solle sie schnell töten. Das kleine Luder muß richtig abserviert werden, dachte er und zückte sein Messer. Blutiger Nebel stieg in die Luft. Als sich das Mädchen nicht mehr rührte, packte er es, schleppte den Körper zurück zur Lichtung und warf ihn ins Feuer.

Teil IDer zweite Tod

Kapitel 1

Mike Davenport war schon einmal gestorben. In einem winzigen schmutzigen Nest in Bolivien war sein erschöpfter Körper zusammengebrochen, zugrunde gerichtet von einem von Ratten übertragenen Junin-Virus. Blut war ihm aus Augen, Nase und Anus getreten.

An nichts, was mit seinem ersten Tod zusammenhing, konnte er sich erinnern. Aber diesmal, zwei Jahre später, hatte er das Gefühl, über dem Krankenhausbett zu schweben und hinunter auf sein aufgedunsenes Gesicht zu blicken, das kaum noch als das seine zu erkennen war. Seine Arme und Beine waren stark verkrampft.

Mike sah seine Schwester Tess, die aschfahl und stumm neben dem Bett saß, und seine zwölf Jahre alten Zwillingstöchter, Jo und Molly. Sie hielten sich bei den Händen, klammerten sich aneinander und weinten leise. Sein Geist, der sich aus seinem Körper befreit hatte, suchte nichts anderes als Frieden. Während er auf die geraden Linien auf dem Monitor starrte, die ihm verrieten, daß sein Herz zu schlagen aufgehört hatte, geriet er in Panik. Er stieß stumme Schreie aus, feuerte unhörbar die Ärzte und Krankenschwestern an, die versuchten, ihn wiederzubeleben. Und er schrie nach seiner Schwester. Aber Tess konnte ihn nicht hören, da seine Worte nicht physische Realität waren.

Dann sagte jemand: »Liebling.«

Während die sanfte Stimme ihn rief, und er glaubte, wie ein Astronaut im Weltall dahinzutreiben, drehte er sich und sah links von sich ein Licht. Es brach auf wie eine Schmetterlingspuppe, und seine Frau Anne erschien im Zentrum eines Strahlenkranzes. Das letzte Mal hatte er sie vor zwanzig Monaten in einer Leichenhalle in Southampton gesehen. Ihr kurzes blondes Haar war mit Blut verklebt, nachdem ein Sattelschlepper ihren Renault zerquetscht hatte. Aber nun sah sie so aus wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte. Sie trug ein kurzes blaues Sommerkleid, das ihre kleinen Brüste umschmeichelte und die Eleganz ihrer langen, schlanken Beine unterstrich.

Er wollte sich bei ihr für die vielen Monate entschuldigen, die sie getrennt gewesen waren, für all die Male, die er nicht angerufen hatte oder nicht hatte anrufen können, weil er sich in irgendeinem abgelegenen Dorf aufhielt; dafür, daß er einen Hochzeitstag verschwitzt hatte, weil er sich gerade in Südamerika mit irgendeiner Krise herumschlug. Er wollte ihr erklären, daß sie einmalig war und daß er am Tag ihrer Beerdigung mit einer Flasche Scotch und einer Handvoll Schlaftabletten auf seinem Bett gesessen und sich danach gesehnt hatte, bei ihr zu sein.

Ihr elfenhaftes Gesicht lächelte. »Komm zu mir«, sagte sie und streckte ihm die Arme entgegen. Der Kampf zwischen Tod und Leben, der in seiner Seele tobte, war furchtbar. Doch während er sich auf Anne zu bewegte, begierig, wieder die Frische ihres Körpers zu spüren, begann dieser langsam zu verfallen. Mike wollte sich übergeben, wie er es während des vergangenen Jahres so oft getan hatte. Zitternd und fröstelnd wandte er sich wieder seinem toten Körper auf dem Bett zu. Er öffnete die Augen, starrte wild und blind ins Leere, und ein einzelner Blutstropfen sickerte über seine Wange. Mike stieß einen Schrei aus, der im Nichts verhallte.

»Mike, Mike.« Eine weiche weibliche Stimme, betont ruhig, drang behutsam in sein Bewußtsein. »Ich hole dich jetzt zurück. Wenn ich deine Hand berühre, wirst du ein Zeichen geben, daß du mich spürst.«

Sein Körper trudelte der Erde entgegen wie ein Pilot in einem außer Kontrolle geratenen Hubschrauber. Er wirbelte und taumelte schreiend seinem Grab entgegen.

»Mike.« Die Stimme war jetzt drängender. »Komm schon, Mike.« Er hörte den Klang von Fleisch auf Fleisch, als jemand in die Hände klatschte. Was für ein Geräusch war das? Er erkannte es. Es bedeutete Sicherheit. Er hörte Musik. Akkordfolgen voller Wohlklang rollten über ihn hinweg und linderten seine Pein, während die Eröffnungssequenzen von Brahms' Vierter Sinfonie erklangen.

Er schlug die Augen auf, drehte sich halb zur Seite und erbrach sich in eine weiße Plastikschale neben dem Sofa. Während er würgte, erklang Dr. Sheila Spielmans Stimme: »Ganz ruhig, Mike. Es ist alles okay.« Sie massierte sanft seinen Rücken. »Es wird seine Zeit dauern.« Er schaute zu Sheilas weichem rundem Gesicht empor. Sie war seine Freundin und Psychiaterin im King Henry's Hospital, wo sie beide angestellt waren. Ihre Augen teilten ihm eine Wahrheit mit, die er nicht akzeptieren wollte. Das Würgen setzte wieder ein, und er drehte sich erneut zur Schale. Diesmal war Brahms kein Trost für ihn.

Kapitel 2

Am folgenden Morgen wälzte Mike sich um sieben Uhr morgens aus dem Bett, stieg mit seinen langen Beinen in eine schwarze Shorts und schlüpfte in eine schmutzigweiße Trainingsjacke. Sein Körper hatte sich noch immer nicht ganz von den Auswirkungen des Junin-Anfalls erholt, und Mike versuchte, sich ein wenig Fitneß anzutrainieren.

Er betrachtete den Müll auf dem Fußboden seines Schlafzimmers: vier leere, zerquetschte Cola-Dosen, die Reste einer Packung Rolos, drei Kaffeetassen und eine zerknautschte blaue Krawatte, die er am Vorabend getragen hatte, um zum Dinner auszugehen. Ein Arzt aus Sierra Leone hatte ausgerechnet in dem Moment angerufen, als er sich mit seiner Freundin Jane zum Essen treffen wollte. Mike hatte daraufhin von elf bis zwei Uhr nachts am Telefon gesessen und in einer Konferenzschaltung die jüngsten Forschungsergebnisse zum Lassa-Fieber referiert. Er verdammte den Bürgerkrieg, der die Bedingungen für ein heftiges Wiederaufflackern einer Krankheit schuf, die lange Zeit unter Kontrolle hatte gehalten werden können.

Während er aus der Tür seines Hauses trat, spiegelte sich die tiefstehende Morgensonne in den Fenstern eines grauen Saab gegenüber und blendete ihn. Er machte einen tiefen Atemzug und hustete ein wenig, als sich der Dreck der Stadt, der sich während einer einmonatigen Hitzewelle angesammelt hatte, in seiner Kehle festsetzte. Er verfiel in einen mühsamen Trab und verfluchte jeden Schritt, zwang sich jedoch, die Richtung zum Park auf dem Primrose Hill einzuschlagen und die erste sanfte Steigung zu überwinden. Schweiß sammelte sich sofort auf seiner Brust und seiner Stirn, als die brütende Hitze ihren Tribut forderte. Sein glänzendes blondes Haar wurde schnell feucht und klebte in seinem Nacken. Als er die Kuppe des Hügels erreichte, blickte er auf das Zentrum Londons hinab, das im Dunst einer giftgelben Smogwolke gefangen war, die sich in der Skyline der City festgesetzt hatte.

Er wandte sich nach rechts und entschied sich für den Weg zur luftigen Konstruktion des Vogelhauses im Londoner Zoo, während er über seine Möglichkeiten nachdachte. Sie schienen nicht allzu rosig zu sein. Was soll ein ehemaliger Viren-Cowboy tun, fragte er sich. Fünfzehn Jahre bin ich den blutigen Killern von Mittelamerika bis nach Afrika nachgejagt, und jetzt soll ich für den Rest meines Lebens an einen Schreibtisch gefesselt sein? Wenn herauskommt, daß ich es nicht mehr bringe, dachte er grimmig, drückt man mir eine schöne, harmlose Aufgabe aufs Auge. Ich darf dann Krankenkassenanträge und ähnliches bearbeiten. Er fragte sich, ob er einen Forschungsjob bei Laura Holmes ergattern könnte, einer Arztkollegin bei der WHO, die ihn wiederbelebt hatte, als er in Bolivien gestorben war. Laura arbeitete an der vordersten Front der Erforschung und Entwicklung neuer DNS-Impfstoffe. Es war lange her, seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Nicht mehr seit ... Nein, die Gedanken waren zu schmerzlich. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie sie sich getrennt hatten. Ich war ein solcher Idiot, dachte er. Aber er war froh, daß Tess die Aussicht auf eine mögliche Versöhnung zur Sprache gebracht hatte. Er würde Laura noch heute anrufen. Vielleicht hatte sie gerüchteweise von einem Job gehört, den er machen könnte.

Mike konnte schnelle Schritte hinter sich hören. Ein junger Mann um die Zwanzig in einer roten Shorts und mit nacktem Oberkörper spurtete, kaum schneller atmend, an ihm vorbei. Mike hängte sich an den Mann und war froh, seine Lungen durchblasen zu können. Der jüngere Läufer schien ihn nicht zu bemerken, aber auch er steigerte sein Tempo und setzte sich ein wenig von Mike ab, der nun begann, schneller zu atmen. Als sie für etwa eine Minute Gleichschritt hielten, begann Mike, sich besser zu fühlen, und glaubte, immer noch mithalten zu können.

Der junge Mann drehte sich halb um, grinste herablassend und legte eine Distanz von fünf Metern zwischen sie. Mike biß die Zähne zusammen und warf sich nach vorn, bis er mit dem anderen Jogger fast auf gleicher Höhe war. Doch dieser blickte zur Seite, sagte »Bye«, straffte die Schultern und spurtete durch das Tor.

Mike lehnte sich an einen schlanken viktorianischen Lampenmast und wurde fast ohnmächtig. Während er mühsam nach Luft rang, mußte er darüber lachen, wie machohaft idiotisch er sich benahm. Aber im Grunde seines Herzens war er froh, daß er jüngeren Leuten immer noch ernsthaft Konkurrenz machen konnte. Das vermittelte ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Vor zwei Jahren war Mike tot gewesen – zwar nur für ein paar Minuten, aber tot war tot, wie er sich neuerdings ständig ins Gedächtnis rief, wenn die düsteren Schatten seinen Schlaf attackierten. Die Alpträume quälten ihn, seitdem Anne tot war. Zuerst waren sie unregelmäßig gekommen. Sie waren eine Folge langer Arbeitsstunden im Labor. Dann, vor sechs Monaten, hatte er sich unglücklich mit einer Injektionsnadel verletzt, die ein schwaches Bakterium enthielt. Obgleich er für ein paar Tage nur leichte Krankheitssymptome bei sich festgestellt hatte, hatte dieser Vorfall sein seelisches Gleichgewicht zerstört und seine Vorsicht zu Angst gesteigert. Jetzt, erkannte Mike, war seine Karriere beendet, und Sheila konnte nichts dagegen tun. Ihr Einsatz von Hypnose hatte ihm helfen sollen, seine zunehmende Angst zu bekämpfen. Aber es hatte keinen Sinn, es wurde nur noch schlimmer. Er hatte seinen Entschluß am Vortag nach der Sitzung mit Sheila getroffen. Es wurde Zeit, weiterzuziehen.

Er bereitete sich innerlich auf den Dauerlauf zurück nach Hause vor und begann, im Kopf seinen Kündigungsbrief zu entwerfen. Es schmerzte unendlich, daß er gehen mußte. Eine Menge Telefongespräche und politische Kompromisse waren nötig gewesen, um von der WHO und dem NHS Gelder für das Londoner Zentrum für Infektionskrankheiten zu bekommen. Er wollte nicht gehen und einen nur halb erledigten Job zurücklassen, aber er sah keine Alternative.

Während er sich nach Hause kämpfte, träumte er von der Cola in seinem Kühlschrank. Trotz der Enttäuschung und des Gefühls eines großen Verlustes freute er sich irgendwie darauf, seinem Chef sagen zu können, er solle sich seinen Job irgendwohin schieben. Er erinnerte sich noch sehr gut an den Schmerz, als James Graham wie aus heiterem Himmel auf den Chefposten des Centers gehievt worden war. Graham, dem das Verdienst zugeschrieben wurde, der Regierung bei der Bewältigung der BSE-Krise entscheidend geholfen zu haben, hatte das Center als eine Art Belohnung erhalten. Mike mußte sich mit dem Posten des Stellvertretenden Leiters zufriedengeben.

Er drehte die Lautstärke seines Walkman hoch, und Bruce Springsteens Born to Run schien seinen schwerfälligen Lauf zu verspotten. Dann hatte er den Park hinter sich, trabte die mit Bäumen bewachsene Straße hinauf, in der er wohnte, und bog in die kurze Auffahrt seines zweistöckigen, weißen, im edwardianischen Stil erbauten Hauses mit seinen gotischen Fenstern und der farbig verglasten Tür ein. Er registrierte die adrette, komfortable Eleganz und erkannte, daß er die Hypothekenraten nicht mehr würde aufbringen können. Was sollte er den Mädchen sagen? Sie mußten noch an diesem Abend einen Familienrat abhalten.

Kapitel 3

In der Notaufnahme des King Henry's Hospitals herrschte ein frühmorgendliches Durcheinander. Oberschwester Tess Davenport hatte eine Nacht hinter sich, in der sie sich mit den üblichen Fällen herumgeschlagen hatte: Knochenbrüche, Verbrennungen und schlechte Laune. Hochgewachsen und schlank wie ihr Bruder Mike, bewegte sie sich graziös, aber energisch durch ein Wartezimmer voller Menschen, die müde und ängstlich aussahen. Ihr rotes Haar war zu einem kurzen Bubikopf geschnitten. Sie beugte sich über einen Schreibtisch und nahm eine kurze Eintragung in einer Krankenakte vor, dann brachte sie eine alte Frau zu einer Kabine. Für eine Frau hatte sie sehr große und – dank vieler Trainingsstunden im Fitneßraum – kräftige Hände, jedoch ging sie mit der zerbrechlichen, gebückt gehenden, hustenden Gestalt, die sie zu einer der anderen Schwestern brachte, ausgesprochen behutsam um. So müde sie sich nach einer langen Nachtschicht auch fühlte, Tess freute sich doch auf das zwanzigminütige Schwätzchen mit Mikes beiden Töchtern – die sie viel inniger ins Herz geschlossen hatte, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Mit siebenundzwanzig Jahren ersetzte Tess ihnen die Mutter. Nach dem Verkehrsunfall war ihr Bruder unfähig gewesen, Ordnung in sein Leben zu bringen, geschweige denn zwei Elfjährige zu versorgen, daher hatte sie sich in Mikes Krankenhaus versetzen lassen und war zu ihnen gezogen.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie einer der Sanitäter einen gutaussehenden Mittzwanziger mit sportlicher Figur stützte, und hörte dann den Sanitäter fragen: »Was fehlt Ihnen, Sir?« Der Marin schwankte wie ein Betrunkener und stürzte auf den schmutzigen weißgrauen Fußboden, wo er zitterte, als hätte er einen epileptischen Anfall. Tess eilte schnell zu dem Krankenwagenfahrer und half ihm, den Patienten aufzuheben und ihn in eine Kabine zu bringen, wo sie ihn auf eine Bahre betteten. Sie fragte den Sanitäter aus, während sie sich den Mann genauer ansah: »Wie heißt er?«

»Er will oder kann nicht reden, und die Frau, die ihn hergebracht hat, fuhr sofort wieder weg, ehe ihr irgendwelche Fragen gestellt werden konnten«, erwiderte der Fahrer.

Tess durchsuchte die Taschen der Lederjacke, die der Patient trug, und fand eine Brieftasche mit Kreditkarten, die auf einen Peter Palowsky lauteten. »Nun, Mr. Palowsky, Sie scheinen nicht ganz gesund zu sein, nicht wahr?« Sie warf einen Blick auf das Fieberthermometer. »Vierzig Grad. Sie sind ganz und gar nicht gesund, mein Freund.« Ihre Stimme klang tief und heiser.

Während sie in Palowskys pechschwarze Pupillen schaute, fragte Bill Green, der Sanitäter: »Hätten Sie heute abend Zeit für einen gemeinsamen Drink?«

Tess beugte sich über den jungen Mann und redete weiter auf ihn ein. Er schwitzte offensichtlich und starrte ins Leere. Sein Körper zitterte seltsam unregelmäßig. »Seine Pupillen sind weit geöffnet«, stellte Tess fest und fügte dann hinzu: »Ich würde mit Ihnen noch nicht einmal in einen Pub gehen, wenn es der letzte Ort auf dieser Welt wäre, wo man ein Bier bekommt.« Sie schaute Bill an, und in ihren blaugrauen Augen funkelte es boshaft. »Und Sie wissen ja, wie gern ich Bier trinke.«

»Was haben Sie gegen mich?«

»Sie sind fett, haben eine Glatze und sind verheiratet nicht gerade eine Kombination, die einem Mädchen Herzklopfen bereitet. Tun Sie mir einen Gefallen und holen Sie den SHO her.« Das war ganz eindeutig ein Fall für den Senior House Officer, dachte sie, während Bills Pieper ertönte.

Er las die Nachricht auf dem Display. »Tut mir leid. Ich muß los«, sagte er. »Ein Verkehrsunfall auf der Euston Road.«

Während Palowsky einen grünen Schleim aushustete, beendete Tess ihre erste oberflächliche Untersuchung. »Was können Sie mir über sich erzählen, Mr. Palowsky? Was ist mit Ihnen passiert?«

Der Mann erwiderte ihren Blick mit einem merkwürdigen, starren Lächeln. Sein Kopf rollte zur Seite wie bei einer zerbrochenen Puppe. Sie legte eine Hand auf seine Arme und seinen Hals. Er schien innerlich in Flammen zu stehen, und die Hitze stieg von seiner Haut auf. Das war schon mehr als ein normales Fieber. »Sie gehören aber schnellstens in Behandlung, mein Junge.« In diesem Moment würgte er eine rötlichschwarze Masse hervor, die, wie Tess sehen konnte, mit Blut vermischt war, das nun auf den Kachelboden tropfte und sich dort ausbreitete. Er warf sich krampfartig hin und her und hustete heftig, wobei er Erbrochenes ausspuckte. Tess rutschte beinahe auf dem glatten Fußboden aus, als Palowskys Krämpfe sich verstärkten und seine Bewegungen heftiger wurden. Sie rief um Hilfe. Zwei Krankenschwestern erschienen, um sie zu unterstützen. »Er geht in den Schock. Bereiten Sie vier Einheiten Blut vor und helfen Sie mir, ihn in den Schockraum zu bringen«, rief sie, während sie versuchte, Palowsky festzuhalten und er ihr sein Erbrochenes mitten ins Gesicht spuckte.

Eine halbe Stunde später war Palowsky mittels einer ganzen Reihe von Röhren und Schläuchen und Monitoren an Maschinen angeschlossen, die versuchten, sein Leben zu retten. Die Spuren seines Zustands sind über den ganzen Raum verteilt, dachte Tess. Aber wenigstens hatte das Erbrechen und Zittern aufgehört. Das Beruhigungsmittel hatte seine Wirkung entfaltet, und der Blutdruck des Patienten hatte sich stabilisiert.

Jack Lim – ein hagerer fünfundvierzigjähriger Arzt aus Malaysia, der seit einem Jahr im Center für Infektionskrankheiten arbeitete – betrat den Raum. Sofort überließen ihm die Anwesenden die Verantwortung. »Mit was haben wir es zu tun?« fragte er den Senior House Officer, eine Ärztin, die die seltsamen Symptome derart irritiert hatten, daß sie Jack hatte rufen lassen. Seine Stimme war ein angenehmer Bariton, und sein Akzent war reinstes North Oxford, das Ergebnis, eines zehnjährigen Studiums in den Siebziger Jahren, wie Tess wußte.

»Woher, verdammt noch mal, soll ich das wissen?« flüsterte Liz O'Mara, die neben Tess stand, mit ihrem Dubliner Akzent.

»Wie bitte?« Jack ließ –den Patienten nicht aus den Augen.

»Ich fürchte, das liegt außerhalb meines Arbeitsbereichs, Dr. Lim«, sagte Liz zerknirscht.

»Gut für Sie, Dr. O'Mara. Wenn man sich im Zustand völliger Ahnungslosigkeit befindet, sollte man immer die Wahrheit sagen. Sonst bringen Sie nämlich mehr Menschen um, als Ihnen in Ihrem Status als SHO gestattet ist.« Jack schaute zu Tess, und ihr warmes Lächeln wurde schnell von ihrer ernsten, professionellen Miene zugedeckt. Es wäre keine besonders gute Idee, der gesamten Abteilung durch eine solche Unbedachtsamkeit zu verraten, daß sie den größten Teil des gestrigen Abends damit verbracht hatte, in einem teuren Hotel im West End mit Jack zu schlafen.

Jacks Gesicht strahlte eine gewisse Eleganz aus – helle Haut spannte sich über fein geschnittenen Jochbögen. Sie liebte es, seine Arme und die langen, schlanken Finger zu streicheln. Nur sie wußte, daß er am rechten Daumennagel kaute, wenn er besonders angespannt war. Nur sie hatte ihn betrunken und verzweifelt erlebt, als er voller Bitterkeit den Todestag eines Jungen begangen hatte, bei dem er eine Fehldiagnose gestellt hatte und der ein Jahr später qualvoll gestorben war. Jack hatte den Ruf, stets kühl und reserviert zu sein, aber sie hatte erlebt, wenn sie miteinander im Bett waren, wie er vor Glückseligkeit weinte, vor Lust fast brüllte und am Ende entrückt und zufrieden lächelte.

»Schwester Davenport, würden Sie bitte die üblichen Proben entnehmen – Blut, Urin, Kot und Gewebe?« Seine Stimme beendete abrupt ihren Tagtraum.

»Warum schickt sie nicht einfach ihre Tracht in die Hämatologie?« fragte Liz.

Jack machte ein erschrockenes Gesicht, während er sich zu Tess umdrehte und bemerkte, daß sie mit roten und schwarzen Flecken übersät und daß ihr Haar mit Erbrochenem verklebt war. »Ich habe verstanden«, sagte er. »Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie sich erst einmal säubern, Schwester Davenport.« Er wandte sich zu Palowsky um und begann ihn zu untersuchen. »Also, Mr. Palowsky, wo waren Sie, mein Freund? Wo waren Sie? Und was haben Sie von dort mitgebracht?«

Kapitel 4

Louis Femandez, groß, weißhaarig, glattrasiert und mit der Haltung eines Soldaten, saß in der Personalcafeteria des King Henry's vor einer kalten Tasse Kaffee und überlegte, wie er Dragoslav Uzelac, auch bekannt als Peter Palowsky, entführen und töten könnte. Uzelac war ins Krankenhaus gebracht worden, während Femandez seine letzten Vorbereitungen getroffen hatte, um ihn zu töten. Fernandez hatte den Mann um die halbe Welt verfolgt und dabei alle Möglichkeiten genutzt, die der Company zur Verfügung standen.

Er lauschte dem nördlichen Akzent einer jungen weißen Frau, die mit der Pflege Uzelacs betraut war, während sie sich mit einer farbigen Kollegin unterhielt und dabei fast gierig eine Zigarette rauchte. »So etwas wie bei diesem Palowsky habe ich noch nie gesehen«, sagte sie. »Erst zittert er am ganzen Körper wie Espenlaub, und schon im nächsten Moment liegt er völlig ruhig da und starrt mit einem geradezu gespenstischen Grinsen ins Leere.« Das weiße Gesicht der Krankenschwester war müde und schlaff wie ein alter Spüllappen. Jack Lim meint, die Chancen stünden bestenfalls achtzig zu zwanzig, daß er den heutigen Tag überlebt.« Sie massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen.

»Ist Mike Davenport an dem Fall?« fragte die farbige Frau, die, wie Fernandez feststellen konnte, aussah, als stammte sie aus Kenia.

»Jack will ihn später anrufen. Mike ist ganz wild auf solche Fälle. Er wird schon rauskriegen, was der arme Kerl hat.« Sie bohrte ihren Löffel in ein kleines Stück Eistorte.

»Ich weiß nicht, wie du für Davenports Center arbeiten kannst. Ich wünschte, er hätte nie damit angefangen.« Die Kenianerin knüllte die Verpackung ihres Keksriegels zusammen und stopfte sie in eine angeschlagene weiße Kaffeetasse. »Ich kriege immer eine Heidenangst, wenn ich von diesem Ebola-Virus und solchen Dingen höre. In meiner Heimat gibt es schon genug von dem Zeug, da braucht man nicht auch noch hier damit herumzuspielen.«

»Er ist regelrecht besessen und hat ein großes Ziel vor Augen«, hielt ihr die weiße Krankenschwester entgegen. »Außerdem hat er einen hübschen Hintern.«

Die Kenianerin lachte. »Weiße Frauen haben anscheinend überhaupt keine Hemmungen.«

Fernandez ging an den beiden vorbei, stolperte über ein Stuhlbein und spritzte ein wenig Kaffee auf die grüne Tracht der Schwester aus dem Norden. Während er sich wortreich entschuldigte, gewinnend lächelte und anbot, die Kosten für die Reinigung der Tracht zu übernehmen, las er ihr Namensschild: Gillian Trimble. Das war alles, was er an Informationen brauchte, um mit einer Computersuche beginnen zu können.

Draußen, im grellen Sonnenschein, setzte er eine dunkle Sonnenbrille auf und wanderte den Hügel hinauf zu einem Straßencafé, wo eine Inderin damit beschäftigt war, einen weißen Gußeisentisch mit einem großen gelben Lappen zu säubern. Sie drehte sich um, lächelte und bot ihm mit einer Handbewegung einen Platz an. Fernandez nickte dankend und bestellte ein Glas Eiswasser. Dann klappte er sein handliches Organizer-Handy auf und schickte dem Sicherheitsdienst der Company eine E-mail:

Bitte Infos beschaffen über:Dr. Jack Lim, Dr. Mike Davenport. Beide am King Henry's Hospital.Zustand von Uzelac/Palowsky feststellen.Feststellen, was mit Leichen geschieht.Welche Vermutung bei Uzelac/Palowsky? Haben sie eine Ahnung, um was es sich handelt?

Die Inderin stellte das Glas vor ihm auf den Tisch, und er sagte: »Vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.« Er hatte einen Akzent, der durchaus nach Sandhurst gepaßt hätte, der jedoch jeden überrascht hätte, der Fernandez aus den Slums in Buenos Aires kannte, in denen er geboren war.

Ihre melancholischen braunen Augen signalisierten unerwartete Freude über seine Höflichkeit. »Nichts zu danken«, sagte sie. »Gern geschehen.«

Fernandez trank von dem Wasser, genoß seine Frische und schaute sich um. Londoner, stellte er fest, trugen einen seltsamen Kleidungsmix, der Menschen verriet, die sich nicht darauf verlassen konnten oder wollten, daß jeder Tag heißer würde als der nächste, und daher ein höchst seltsames Durcheinander von Anzügen, Krawatten, nackten weißen Beinen, verschwitzten Oberhemden und kurzen Oberteilen bildeten. Einige Männer trugen sogar dunkle, schwere Anzüge, in denen sie aussahen, als wären sie per Zeitreise aus dem tiefsten Winter hierher gekommen. Ihre Gesichter waren verschwitzt und gerötet.

Kapitel 5

Bekleidet mit einer weit geschnittenen schwarzen Hose und einem frischen Hemd, die Haare noch feucht, löffelte Mike in Milch aufgeweichte Sugar Puffs, ging durch den kurzen, weißen Flur seines Hauses und hielt Ausschau nach Molly und Jo. Er schob den Kopf um den Türpfosten des kleinen, seltsam verschachtelten Zimmers herum, das ihre ganz private kleine Welt war, und sah, daß sie die blonden Köpfe dem Computerbildschirm zugewandt hatten. Die aufgeweckten Mädchen nahmen kurz die Anwesenheit ihres Vaters zur Kenntnis, ehe sie sich wieder in das Geschehen auf dem Bildschirm vertieften.

Tess, die gerade von ihrer Schicht nach Hause gekommen war, kam hinter Mike herein. »Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, die vierte Zone des dunklen Planeten zu zerstören, um zu erkennen zu geben, daß sie Kinder aus Fleisch und Blut sind, Kinder eines ganz normalen Mannes. Jo ist die Großmeisterin Vulcana und Molly offenbar die Großwesirin von Fang.«

»Ich bin gerade zur Kaiserin befördert worden«, meinte Molly strahlend.

»Sie redet! Sie redet tatsächlich!« Tess lächelte. »Ein Wunder. Dann können wir ja den Kinderpsychologischen Notdienst wieder abbestellen.«

»Hm, hm. Es ist schon wieder Zeit für unsere liebe Lady Sarkasma«, flüsterte Jo ihrer Schwester so laut zu, daß Tess es hören mußte.

»Ich heiße Tante Sarkasma, Kindchen. Und jetzt seid nett zu eurem Daddy und zeigt ihm, daß ihr ihn liebhabt. Sonst verwandle ich eure Software in elektronisches Konfetti.«

»Dad!« kreischten sie unisono. »Niemand hat uns gesagt, daß du vom Joggen zurück bist.«

»Sehr lustig«, sagte Mike und küßte beide Töchter auf die Stirn. »Seid bitte nicht altklüger als unbedingt nötig.«

»Was ist altklug, Jo?« fragte Molly.

Jo verzog das Gesicht, als hätte sie nicht richtig gehört, und sagte: »Hm, ich glaube, er meint, wir sind einfach unbezahlbar.«

»Ach, dann ist ja alles in Ordnung! Ich dachte schon, er wirft uns vor, wir wären für unser Alter intellektuell unnötig weit entwickelt.« Mollys lange Beine und ihr schlaksiger, irgendwie erst halbfertiger Körper tauchten hinter dem Computertisch auf, und sie umarmte ihren Vater.

»Ich habe keine Ahnung, woher ihr diesen Sarkasmus habt«, sagte Mike und warf seiner Schwester einen vielsagenden Blick zu.

»Das ist die düstere Seite deiner Psyche, mein Schatz«, erwiderte Tess. »Sie sind das, was du tief in deinem Innern sein möchtest.« Sie blickte in den kleinen, schmalen Spiegel neben einem Bücherregal, das eine bunte Kollektion zerlesener Kinderbücher enthielt, und zuckte beim Anblick des Chaos, das die morgendlichen Ereignisse mit ihrer teuren Frisur angerichtet hatten, gequält zusammen.

»Gott schütze mich vor den Produkten meiner eigenen Gene«, meinte Mike grinsend.

Tess raffte ihre Prada-Tasche, ihre schwarze Jacke und Rock von Comme des Garçon zusammen und hielt sie den Mädchen zur Begutachtung hin. Die Teile hatten ein Vermögen gekostet, aber sie waren es wert. »Was meint ihr?« fragte sie. »Das werde ich heute abend tragen.«

Jo überlegte kurz und sagte: »Bei einer etwas älteren Frau würde ein schwarzer Rock ein wenig fehl am Platze wirken. Und bei einer weniger selbstbewußten Frau könnte man einen lila Lippenstift für ... Wie heißt das Wort, Molly?«

»Für nuttig halten?« erwiderte Molly und kicherte, dabei errötete sie ein wenig.

»Das ist es, nuttig. Ein tolles Wort, Moll.«

Mike grinste wieder. »Du siehst fabelhaft aus. Ein echter Hammer. Hör nicht auf diese beiden Modeopfer. Ich mag den exzentrischen Look.«

»Ah«, stöhnte Tess und blickte um Hilfe flehend zum Himmel. »Exzentrisch. Tausend Dank.« Ein verschwörerisches Lächeln huschte über die Gesichter der anderen drei. »Macht euch für die Schule fertig, ihr beiden«, befahl sie, dann hakte sie Mike unter, bugsierte ihn aus dem Zimmer und flüsterte: »Du siehst beschissen aus. Hast du in der vergangenen Nacht irgendwann ein Auge zugetan? Nimm den Vormittag frei; nichts ist so wichtig. Wenn du dich zu sehr unter Druck setzt, brichst du am Ende wieder zusammen. Denk an die Mädchen. Sie haben es seit Annes Tod wirklich nicht leicht.«

Er nickte müde. Aber er wußte, er würde hingehen. Er konnte es nicht ertragen, allein zu Hause zu bleiben. »Habe ich später Zwillings-Dienst?« fragte er.

»Nein. Ich hole sie von der Schule ab«, erwiderte Tess. »Sei nur gegen sechs wieder zurück.«

»Der geheimnisvolle Fremde?« wollte er wissen.

»Da ich genau weiß, wer er ist, wie kann er da ein Fremder sein? Und die Antwort lautet: ja. Sei pünktlich zu Hause, sonst erzähle ich den Mädchen, ihr Vater hätte sie an einen Kamelhändler verhökert.«

»Und ich erzähle ihnen, daß ihre Tante eine dumme Kuh ist, die ihren Vater herumkommandiert, als wäre er gerade erst vier Jahre alt.«

»Möchten Sie sich etwa beklagen, Dr. Davenport? Wollen Sie, daß ich wieder in mein eigenes Haus zurückkehre?«

Mike umarmte sie. »Du weißt, daß ich ohne dich total verloren wäre.«

»Ich weiß«, sagte Tess, wobei ihre Stimme durch Mikes Hemd gedämpft wurde. »Du denkst, ich bin eine Kreuzung zwischen Mutter Teresa und Albert Schweitzer. Komm heute nur nicht zu spät, sonst verwandle ich mich in Margaret Thatcher.« Sie warf einen mißbilligenden Blick auf die dünnen Arme ihres Bruders. Obgleich er sich hauptsächlich von Kartoffelchips, Schokolade und Coca-Cola ernährte, war er viel zu mager. Seine sanften blauen Augen waren durch den Mangel an Schlaf gerötet, und sein ausdrucksvolles Gesicht mit der leicht schiefen Nase – er hatte sie sich bei dem Verkehrsunfall gebrochen, bei dem seine Frau. den Tod gefunden hatte – und den hohen Wangenknochen erschien Tess bleicher als sonst. »Wie war dein Abendessen gestern mit der Drachenkönigin?« Sie meinte damit Mikes Freundin, Jane Hume.

»Jane ist kein Drachen, Tess. Warum kannst du zu ihr nicht etwas netter sein?«

»Weil sie die Mädchen herablassend behandelt.«

Mikes Schultern sackten ein wenig herab, und er verzog das Gesicht. »Ich habe es irgendwie völlig verkorkst.«

»Was meinst du mit ,›irgendwie‹?«

»Ein dringender Anruf kam aus Sierra Leone. Jane war noch nicht da. Sie hatte angerufen und Bescheid gesagt, sie käme fünf Minuten später. Ich hab' den Anruf angenommen und ...«

Tess schlug sich in gespieltem Entsetzen mit der Hand auf den Mund. »Du hast doch nicht etwa ...?«

»Doch, ich habe. Ich bin ganz automatisch in den Wagen gestiegen und habe völlig vergessen, ihr eine Nachricht zu hinterlassen.«

»Hast du seitdem mit ihr gesprochen?«

Sein Blick wich dem ihren aus. »Es war ziemlich spät, als ich das erste Gespräch mit Sierra Leone beendete.«

»Feigling.« Tess massierte seine Arme. »Ich bin froh, daß nicht ich mit dir ausgehe. Ich hätte dich wahrscheinlich schon längst umgebracht.«

Eine Stimme drang aus dem Arbeitszimmer der Zwillinge. »Dad, Jo sagt, daß Gott eine Frau ist. Aber kann denn etwas, das nicht existiert, ein Geschlecht haben?«

»Viel Glück, Genius«, meinte Tess grinsend und ging nach oben ins Bett.

Kapitel 6

Zur Mittagszeit saß Fernandez in dem heruntergekommenen Biergarten des »King Hal's Inn«, einer schmuddeligen Arbeiterkneipe an der Ecke Primrose Hill und Regent's Park Road, deren einziger Pluspunkt der Blick auf den Primrose Hill Park war. Der Aprilnachmittag war heiß und verlockend, und Fernandez war froh, daß er dieses Land nicht während einer seiner endlos langweiligen Jahreszeiten besuchte. In der Ferne, über den spärlichen, verschwommenen Bäumen, konnte er die Satellitenschüsseln erkennen, die den British Telecom Tower krönten – das sichtbare Wahrzeichen einer Welt, die besessen war von Information und Kommunikation. Nun, dies hier ist eine Angelegenheit, die sie nicht erfahren dürfen, dachte er.

Er trank Tomatensaft und wartete geduldig auf den Mann, der für den Erfolg seines Plans lebenswichtig war. Während er ein graues Eichhörnchen dabei beobachtete, wie es einen braunen Baumstamm hinaufkletterte, ging ihm durch den Kopf, daß England früher einmal von roten Eichhörnchen bevölkert worden war. Die grauen Einwanderer hatten sie jedoch gnadenlos ausgerottet und ihnen eine ökologische Nische verweigert. Die Natur gestattet den Schwachen nicht zu überleben, dachte er. Nur die Starken bestehen.

Durch die Doppeltüren, die in das dunkle Innere des Pubs führten, verfolgte Fernandez, wie Alan Wilkins zur Bar watschelte und ein Glas Bier bestellte. Wie konnte sich jemand nur so gehenlassen und derart aus dem Leim gehen? Hundert Kilogramm Fett. Vielleicht mußte er zwanghaft den warmen fleischlichen Genüssen frönen, um auf diese Weise seine vielen Stunden unter den Toten zu verarbeiten. Wer konnte schon etwas Schönes dabei finden, sich mit kalter Haut abzugeben?

Vorher hatte Fernandez per E-Mail Photos und detaillierte Informationen über Leute erhalten, die beim Sicherheitsdienst und in der Leichenhalle arbeiteten. Wilkins war der geeignete Kandidat für sein Vorhaben: ein ehemaliger Soldat, der sich im vergangenen Jahr zur Ruhe gesetzt hatte und zweimal wegen Alkohols am Arbeitsplatz verwarnt worden war. Ausgerüstet mit dieser Information hatte Fernandez einen von Wilkins' Kollegen angerufen und erklärt, er wäre ein alter Kumpel aus der Army und hielte sich nur zwei Tage in der Stadt auf. Ob die Möglichkeit für einen Überraschungsbesuch bestünde? Er erfuhr unter dem Siegel »strengster Verschwiegenheit«, daß Wilkins vor seiner Spätschicht gern einen »Kurzen« im »King Hal's« nahm.

Fernandez betrat die muffige, schummrige Bar, näherte sich Wilkins und fragte mit dem Akzent der englischen Oberklasse: »Entschuldigen Sie. Sind Sie nicht Alan Wilkins? Früher Sergeant Wilkins?«

Der massige Mann trank einen Schluck von seinem Guinness und betrachtete Fernandez prüfend. »Kenne ich Sie?« fragte er.

»Nein. Aber ich kenne Sie. Jeder, der zum Regiment gehörte, kennt Sie. Ihr Gesicht ist berühmt.«

»Wann waren Sie bei den Guards?« fragte Wilkins.

»Ach, das ist schon lange her. Aber ich habe von ihrer Rettungsmission gehört. Wie viele von unseren Jungs haben Sie nach der Explosion der Landmine aus dem brennenden Wagen geholt?«

Wilkins verzog bitter und gequält das Gesicht bei der Erinnerung an diesen Vorfall. Er war froh, die Army hinter sich zu haben, und erschauerte noch immer beim Anblick des zerfließenden Gesichts eines Neunzehnjährigen. Er arbeitete zwischen den Toten, weil er die Angst der Lebenden nicht mehr länger ertragen konnte.

»Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Als eine Art Dankeschön. Einer der Männer, die Sie herausgeholt haben, war der Sohn eines sehr guten Freundes.«

Wilkins schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Ich muß zur Arbeit.«

Fernandez wandte sich an einen glatzköpfigen blassen Barkeeper, der eine zerschlissene karierte Weste trug, und sagte: »Bekomme ich einen doppelten Scotch für meinen Freund? Sie trinken doch Scotch, Sergeant Wilkins?«

Fernandez erkannte an den geplatzten Äderchen um Wilkins Nase, daß er harte Drinks bevorzugte. Es ist nur ein kurzer Weg vom Kriegshelden zum Verlierer – wie ich selbst nur zu gut weiß, dachte er. Er sah, wie Wilkins den Drink verstohlen betrachtete, und konnte die Gier des anderen Mannes deutlich spüren. Auch Fernandez war nach seinem Abschied vom Militär für eine Zeit von dem angenehmen Vergessen, das der Alkohol bot, abhängig gewesen. Nun war er wieder stark.

»Na ja, danke, klar. Aber nur den einen.«

»Setzen Sie sich doch«; Fernandez deutete auf eine Nische mit einem Tisch, auf dem ein überquellender Aschenbecher und die Reste einer aufgewärmten Sheperd's Pie standen. »Ich bringe das Glas rüber.« Kurz darauf, während Wilkins sein Glas leerte, fragte Fernandez: »Was treiben Sie denn so zur Zeit?«

Nach drei weiteren schnellen doppelten Scotch konnte Fernandez sehen, daß Wilkins ziemlich benebelt war und in seinem warmen kleinen Büro neben den Leichen ziemlich bald einschlafen würde, und zwar fest genug, um von Uzelacs Verschwinden nichts zu bemerken. Als das dritte Glas geleert war, schüttelte Wilkins Fernandez' Hand, stand auf und marschierte zum Ausgang. Fernandez rekonstruierte in Gedanken den Lageplan der Leichenhalle und prägte sich den Zeitplan der Wachgänge ein. Wilkins war sehr redselig gewesen, nachdem der Alkohol seine Hemmungen weitgehend beseitigt hatte.

Als er über den schmalen Weg aus rissigem Beton in den Primrose Hill Park spazierte, genoß Fernandez das Vogelgezwitscher, während sich ein schläfriger, verträumter englischer Nachmittag auf die roten Klinkerbauten herabsenkte, die eine Seite des Parks säumten. In einem verglasten Wintergarten konnte er eine Mutter und ihre drei kleinen Kinder beobachten, die offenbar über irgendeinen Scherz lachten. Wenn ihr doch nur wüßtet, vor welchem Schicksal ich euch heute nacht bewahre, dachte er. Ihr würdet mir ein Denkmal aufstellen.

Sein elektronischer Organizer teilte ihm mit, daß eine Nachricht von der Company eingegangen war, und er holte sie per Tastendruck auf den Bildschirm.

Uzelac dem Tode nahe. Blut-, Urin- und Hautproben wurden entnommen. Sie müssen schnellstens entfernt werden. Sie dürfen nicht in der Obhut des Krankenhauses bleiben.

Wo sind sie deponiert? gab er die Frage ein.

Blut und Urin im Hämatologischen Labor im siebten Stock. Zimmer siebenhundertneununddreißig. Die Kulturen sollen in das Büro von Dr. Mike Davenport gebracht werden.

Weiß Dr. Davenport, was er kriegt?

Nein. Davenport hat den Patienten bis jetzt noch nicht gesehen. Sorgen Sie dafür, daß es dabei bleibt.

Kapitel 7

Mike hielt sich in einer dunklen Kabine am Ende eines langgestreckten Raums mit Blick auf die Eisenbahnschienen auf. Die Luftfeuchtigkeit vermittelte ihm das Gefühl, als stünde er in einer Schüssel warmer Suppe. Die Hitze, die von den Maschinen abgestrahlt wurde, bewirkte in Verbindung mit der steigenden Außentemperatur, daß dem Personal die Kleider am Rücken klebten. Die anderen drei Personen, die mit ihm zusammenarbeiteten, hatten sich bis auf Shorts und T-Shirts ausgezogen. Es waren keine anderen Geräusche zu hören als das leise Summen der Maschinen, während Mikes studentische Hilfskräfte sich auf die Kulturen oder Seren konzentrierten.

Mike betrachtete Photographien und summte geistesabwesend die ersten Takte des Rolling Stones-Songs Brown Sugar. Er beschäftigte sich mit einem hochvirulenten Bazillus, der im Augenblick in Shanghai sein Unwesen trieb. Er betrachtete eine pulsierende hundertfünfundzwanzigtausendfach vergrößerte Welt von aggressiven, stachligen, stabförmigen Lebewesen, die darauf brannten, der Enge ihrer Insel zu entfliehen. Das Telefon neben ihm klingelte, und er nahm sofort den Hörer ab.

»Mike?« ertönte eine Stimme.

»Oh, hi, Jack. Wie steht's?«

»Ich habe hier unten etwas Unheimliches«, sagte Jack Lim. »Ich möchte, daß Sie sich das mal ansehen.«

»Wie unheimlich? Blutmäßig unheimlich?«

»Was weiß ich? Keine nennenswerten Blutungen, aber eine Menge anderes Zeug, das ich mir nicht erklären kann.«

»Viral oder bakteriell?« fragte Mike.

»Das weiß ich auch noch nicht. Ich habe die Kulturen zu Ihren Leuten geschickt, damit sie sich das Ganze einmal vornehmen. Kommen Sie runter. Was wir hier haben, wird Sie interessieren.«

Mike sog zwischen den Zähnen die Luft ein, trat nervös von einem Fuß auf den anderen und beobachtete eine Fliege, die an der Wand hochkrabbelte. »Ich weiß nicht.« Mike wollte ablehnen. »Ich habe hier oben eine Menge zu tun. Die WHO wartet dringend auf einen Bericht über einen bösartigen hochvirulenten Bazillus, der bis jetzt in Shanghai dreißig Leute getötet hat.«

»Kommen Sie, Mike. Das kostet Sie höchstens fünf Minuten. Nicht mehr.« Jack klang verwirrt. Es paßte gar nicht zu Mike, sich eine ungewöhnliche Virusinfektion entgehen zu lassen.« Ich lege großen Wert auf Ihr Urteil.« Seine Stimme klang drängend, und Mike wußte, daß Jack jede abschlägige Antwort lediglich als Eröffnungsargument betrachtete, über das man diskutieren konnte.

Mike atmete langsam aus. Er hatte immer noch gewisse Pflichten. Okay, ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.« Er verließ das Labor und öffnete die Tür zur Herrentoilette. Dort ging er zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er zitterte. Die Panikanfälle und die Erinnerung an die Wochen, in denen er im Koma gelegen hatte, wurden intensiver. Jedesmal, wenn er in die Isolierstation ging, wollte er sich am liebsten übergeben. Er kämpfte gegen die Galle, die in seiner Kehle hochstieg, erkannte, daß es keinen Sinn hatte, und betrat eine Kabine, um sein Frühstück herauszuwürgen. Als er das überstanden hatte, wusch er sich das Gesicht und spülte seinen Mund aus. Dann fuhr er mit dem Lift in die Vorhalle des Krankenhauses hinunter. Der fadenscheinige braune Teppich, der den alten edwardianischen Holzfußboden bedeckte, fühlte sich in der Hitze noch klebriger als sonst an.

Eine große schwarze Frau sortierte aus einem Karton Glückwunschkarten aus. Sie trug ein hellgrünes Kleid mit einem roten Phantasiemuster, das Mike an ihre kenianische Heimat erinnerte. Ihr Gesicht war breit und voller Mitgefühl. Jill Obudo begrüßte ihn, indem sie ihm zuwinkte. »Dr. Mike Davenport. Was soll es denn heute sein? Lassen Sie mich mal raten.« Sie holte einen großen Mars-Riegel aus einem Karton. Die schwarze Verpackung schien eine natürliche Verlängerung ihrer Hand zu sein.

»Treffer beim ersten Versuch, Jill.« Er grinste sie an und verschlang die Schokolade. Sie fühlte sich in seinem Mund groß, süß und wundervoll klebrig an, während er sie mit der Begeisterung des ersten Gastes auf einem Kindergeburtstag kaute und runterschluckte.

»Ich weiß nicht, wie Sie es schaffen, so schlank zu bleiben, Dr. Davenport. Wenn ich mir ansehe, welche Mengen an Süßigkeiten Sie in sich hineinstopfen. Ich wünschte, ich könnte nach Ihrer Diät leben.«

Lieber nicht, dachte Mike. »Wie geht es Ihrem Jungen? Wohnt er noch zu Hause?« fragte er, um das Thema zu wechseln. Jills Sohn Victor war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, eine Angelegenheit, die Mike ihr eines Tages entlockt hatte, als sie ungewöhnlich deprimiert gewirkt hatte.

»Mein Victor ist schon in Ordnung. Er ist eigentlich ein guter Junge. Er treibt sich nur mit den falschen Leuten herum.« Ihr Mund verzog sich traurig, und Mike konnte den Kummer und die Ratlosigkeit in ihren Augen sehen. »Er ist es nicht gewesen. Das hat er mir geschworen. So ein schlimmer Kerl ist mein Victor nicht. Er ist nicht gewalttätig.«

Mike legte eine Hand auf ihre Schulter. »Mit Ihnen als Mutter, wie könnte er? Passen Sie auf sich auf, Jill.«

»Und Sie auf sich«, erwiderte sie, während sie ihm die leere Verpackung abnahm und in den Abfalleimer neben sich fallen ließ.

Fünf Minuten später betrat Mike die Isolierstation, die über acht Plätze verfügte. Sie war der einzige mit einem ausreichenden Budget ausgestattete Teil des Centers und war mit chromblitzenden Maschinen, weißen Wänden und Bildern von Meerpanoramen ausgestattet. Überall sah man traurige afrikanische Gesichter. Diese Menschen wurden von der Einwanderungsbehörde eingewiesen, sobald sie aus Westafrika kamen und auch nur leichte Erkältungssymptome aufwiesen.

Durch die Fenster von Platz vier konnte Mike sehen, wie Jack den neuen Patienten untersuchte. Er hielt inne und wehrte sich gegen den spontanen Drang wegzulaufen; er fühlte sich so hilflos, daß er sich am liebsten einfach hingesetzt und gesagt hätte: Das nicht mehr, bitte, nicht mehr das! Er atmete tief durch. Komm schon, trieb er sich an. Es wird nicht wieder passieren. Du mußt nur vorsichtig sein. Nachdem er sich einen Mundschutz umgebunden und die Hände geschrubbt hatte, ging er zu einem Kollegen hinein. »Wie geht es ihm?«

»Ich habe Antiemetica eingesetzt, um den Brechreiz zu dämpfen, und ich habe die Blutungen unter Kontrolle gebracht. Aber dieser Mann hat mit Sicherheit einen Kampf mit etwas ziemlich Unangenehmem hinter sich.«

»Gibt es schon Testergebnisse?«

»Nein. Wir arbeiten zur Zeit daran. Ich erwarte die ersten Daten in ein paar Stunden.«

»Petechien?« Mike suchte nach den verräterischen winzigen blutroten Pünktchen auf der Haut, die auf subkutane Blutungen und die Möglichkeit eines hämorrhagischen Fiebers hinwiesen.

»Seltsamerweise nein. Das war auch mein erster Verdacht«, erwiderte Jack, »aber an seinem Oberkörper und an der Zunge sind keinerlei Anzeichen dafür zu sehen.«

»Wo war er?« fragte Mike.

»Niemand weiß etwas über ihn. Bis auf die Tatsache, daß er von einer blonden Frau in die Notaufnahme gebracht wurde. Die Frau verschwand anschließend, ohne ihren Namen oder ihre Adresse zu hinterlassen.«

»Kopfschmerzen? Rückenschmerzen?«

Jack berichtete, daß der Sanitäter der Ambulanz, der ihn hereingebracht hatte, erzählt hatte, der Patient habe einen verwirrten Eindruck gemacht. Er habe nicht gewußt, wer oder wo er war, und er habe gezittert und gebebt und ein gespenstisches Grinsen im Gesicht gehabt. Er schien außerdem unter starken Leibschmerzen und Lähmungserscheinungen zu leiden. Während er Mike einen Computerausdruck zeigte, fügte Jack hinzu: »Und zu allem Übel scheint der arme Teufel auch noch eine Art Lungenentzündung zu haben.«

Mike betrachtete Palowskys bläulich angelaufene Lippen und warf dann einen Blick auf den Herzmonitor. »Bradykardie?«

»Die Herzfrequenz ist ein bißchen langsam, aber es ist nichts Katastrophales.«

»Was sind denn bis jetzt die schlimmsten Symptome?«

»Magenblutungen, heftiges – und ich meine sehr heftiges – Zittern und dieser gespenstische Gesichtsausdruck«, erwiderte Jack.

»Und was vermuten Sie?« fragte Mike.

»Sie wissen, daß ich niemals Vermutungen anstelle, Mike. Das ist die Aufgabe von euch Viren-Cowboys.«

»Keine Blutungen im Bereich der Iris«, stellte Mike fest. »Keine roten Flecken. Ganz sicher ist das keiner von unseren bekannteren viralen Freunden.« Er schaute in das gerötete Gesicht des Mannes.

Jack schüttelte den Kopf. »Bei dem hier reicht es nicht, zwei und zwei zusammenzuzählen. Damit kommen wir nicht weiter.«

Mike blickte zu den Schwestern, die sich um Palowsky kümmerten. Beide trugen ebenfalls einen Mundschutz. »Welche Schwester hat ihn aufgenommen?« fragte er.

Jack sah ihn nicht an, sondern vervollständigte betont konzentriert die Aufzeichnungen auf dem Krankenblatt und antwortete dann: »Tess.«

Für einen Moment herrschte Schweigen.

»Hat sie einen Mundschutz getragen?«

»Nein.«

Mike lief ein Schauer über den Rücken, aber er bemühte sich, sich unter Kontrolle zu halten. Beruhige dich, dachte er, es ist wahrscheinlich nichts Hämorrhagisches. »Sehen wir uns mal die Tests an«, meinte er.

Im hämatologischen Labor herrschte eine lethargische Atmosphäre, da die abgestrahlte Wärme von den Computern und Geräten die Hitze des trockenen, windstillen Abends noch verstärkte. Die drei Männer und zwei Frauen im Labor waren verschwitzt, zerzaust und sehnten sich nach dem Feierabend. In leichte Baumwollkleidung gehüllt, verabschiedeten sie sich und gingen zur Tür. Terry Smith, der Chef der Abteilung, hatte eine hellrote Nase, von der sich die Haut in weißlichen Schuppen abschälte.

»Mein Gott, Terry«, sagte Mike. »Auf den ersten Blick würde ich meinen, du hast Lepra.«

»Sehr lustig, Davenport.« Terry grinste seinen Freund an. »Ich hab' mir am Wochenende einen leichten Sonnenbrand geholt. Nach einem Bier zuviel bin ich auf der Wiese eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, hatte ich das Gefühl, ich wäre gegrillt worden.«

»Das Wetter ist schlimm«, stellte Jack fest. »Ich wünschte, es würde bald mal regnen.«

»Was ist Regen?« Terry blickte sehnsüchtig zum Himmel.

»Haben wir schon Palowskys Ergebnisse?« fragte Mike.

Terry nickte und reichte Mike einen dicken Schnellhefter. Die Tests zeigten, daß Palowsky Anzeichen für Infektionen der Nieren und des Blasenbereichs aufwies.

»Was ist mit der Lymphozytose?« fragte Jack, während er die Resultate überflog und nach einer Erhöhung der Lymphozytenzahl suchte, die auf eine akute Entzündung hingewiesen hätte.

Terry suchte auf seinem Schreibtisch nach einer Reihe anderer Ergebnisse. Auf den Gleisen draußen sah Mike die Dächer zweier stehender Pendlerzüge und hatte Mitleid mit den armen Fahrgästen. Um diese Zeit, mitten in der Rushhour, waren die Züge vollgestopft mit überhitzten Leibern, die zu eng zusammengepfercht waren. Seine Zeit in Bolivien und in Sierra Leone hatte ihn gegen Hitze und große Menschenmassen abgehärtet. Aber London war für ein solches Wetter nicht geschaffen – oder genauer: Die Londoner waren es nicht. Sie hatten nicht die nötige Geduld.

»Er hat eine infektiöse Lungenentzündung«, sagte Terry.

»Das kann nicht alles sein«, erwiderte Mike. »Solche Symptome hat man nicht bei einer Lungenentzündung. Da muß es noch mehr geben.«

»Nun, ich kann nichts anderes finden.«

»Dann müssen wir weitere Tests machen. Mein Gott«, sagte Mike, als sein Blick auf die Wanduhr fiel, »wie die Zeit vergeht! Es ist schon halb sieben. Tess bringt mich um. Sie will heute ausgehen, und ich komme zu spät.« Er bat Terry, die Kulturen und das Blutserum in sein Labor zu schicken, und versprach, sich alles am nächsten Morgen anzusehen. Er bemerkte nicht den interessierten Ausdruck in Jacks Augen, ehe sie Schluß machten. »In der Zwischenzeit«, sagte er, »sollten wir die Polizei bitten, unseren Mann zu überprüfen. Wir müssen wissen, ob er in Übersee war. Und wer mit ihm Kontakt hatte, seit er das Land betreten hat.« Er schaute wieder auf die Krankenkarte. »Palowsky klingt polnisch, nicht wahr? Hört mal nach, ob sie bei der Einwanderungsbehörde etwas über ihn wissen.« Mit diesen Worten verließ er im Laufschritt das Labor.

Mike dachte noch immer über den Fall nach, als er die geflickten Stufen der Krankenhausverwaltung auf die Straße hinunterging. Während er den Berg hinaufmarschierte, bemerkte er nicht den hochgewachsenen, militärisch wirkenden grauhaarigen Mann mit den grüblerischen Augen und dem attraktiven Gesicht, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einer Hauswand lehnte.

Kapitel 8

Li Danping spürte die scharfe Klinge eines offenen Rasiermessers an seiner Kehle und schloß genußvoll die Augen. Von einem Weißen rasiert zu werden war ein ganz besonderes Privileg, das er immer wieder begeistert auskostete.

»Das wär's, Sir.« Der knappe New Yorker Akzent des Mannes hatte die besorgte, flehende Qualität von jemandem, der an Mißbilligung von diesem speziellen Kunden gewöhnt war.

Li wartete zehn Sekunden, ehe er die Augen aufschlug. Er wollte, daß der Mann, der ihn rasierte, begriff, daß Li allein die Macht hatte, auch die geringsten Ereignisse zu beeinflussen. Dann blickte er in den schlichten, schwarz gerahmten quadratischen Spiegel, den der Friseur hochhielt, und inspizierte sein eigenes Gesicht. Jeder sagte ihm, daß er fünfzehn Jahre jünger aussah, als er war, nämlich sechzig. Obgleich er sich weigerte, solche Komplimente als etwas anderes zu betrachten denn als Katzbuckelei von Untergebenen, die geschickte Speichellecker waren, mußte er zugeben, daß die Schönheitschirurgie erfolgreich gewesen war. Er hatte das Gefühl, alt zu werden, nicht gerade genossen, und noch weniger hatten ihm die Spuren in seinem Gesicht gefallen. Jüngere Aspiranten umkreisten seinen Thron, während sie nach Anzeichen Ausschau hielten, daß seine Macht im Schwinden begriffen war oder daß die Company beabsichtigte, den Mann zu ersetzen, der sie zwölf Jahre geleitet hatte.

Er ließ den Blick durch sein geräumiges, rundes Büro schweifen, und ein Gefühl, daß dies sein natürliches Zuhause war, durchströmte ihn. An der Wand hingen die signierten und gerahmten Photos, die mit verschiedenen Gouverneuren und Bürgermeistern von New York aufgenommen worden waren. Sein Ehrendoktorhut der Universität von Colombo stand stolz zwischen schlichten eichenen Buchregalen, die Erstausgaben von P. G. Wodehouse enthielten, seinem liebsten englischen Schriftsteller. Seine Frau Sarah, groß und elegant, las ihm im Bett Plum vor, während er Glenfarcas Single Malt Whisky trank und sich an ihrer Haut weidete.

Auf seinem großen, schlichten Eschenholzschreibtisch, der in der Blüte des Modernismus der fünfziger Jahre von einem Architekten geschaffen worden war, der längst außer Mode gekommen war, lag ein fünfundzwanzig Zentimeter langer Dolch, der im siebzehnten Jahrhundert für einen Taipan geschmiedet worden war. Li strich mit den Fingern über den juwelenbesetzten Griff der Waffe und sah seinen ersten Assistenten an, Leonard Jacklin, dessen makelloses gutes Aussehen, dunkles Haar, maßgeschneiderte Londoner Anzüge und Schuhe ihm Zutritt zu jeder Gesellschaft verschafften. Diese Attribute wurden durch fünf Generationen Jacklin-Geld unterstützt. Wie schon oft fragte Li sich, ob reiche Jungs sich die Art von bohrendem Hunger vorstellen konnten, die ihn aus den Slums in Hongkong an die Spitze der Company getrieben hatte. Hatte Jacklin den raubtierhaften Instinkt für den Job? Oder war er nur jemand, für den der Tod eine von Computern inszenierte unpersönliche Angelegenheit darstellte? Elektronisch zu töten ist einfach.

Li war vorsichtig, was er Jacklin erzählte. Er gehörte zu der neuen Brut Männer in diesem Teil der Company und war einer der ersten, die keinen militärischen Hintergrund hatten. Wenn er die Methoden der Company verinnerlichte, könnte er noch hoch aufsteigen. Aber nicht auf meine Kosten, dachte Li.

Nachdem der Friseur sich unter Verbeugungen aus dem Raum entfernt hatte, um einhundert Dollar von Lis persönlichem Assistenten in Empfang zu nehmen, sagte Jacklin: »Fernandez hat sich gemeldet. Die Nachricht aus England ist positiv.«