Die philosophische Therese - Jean-Baptiste Boyer - E-Book

Die philosophische Therese E-Book

Jean-Baptiste Boyer

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Beschreibung

Thérèse philosophe, ist ein 1748 erschienener französischer Roman und gilt als eines der bedeutendsten libertinen Werke des 18. Jahrhunderts. Als Verfasser wird Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d'Argens vermutet. Die Geschichte der Thérèse ist die der Abkehr von der Autorität der christlichen Kirche, hin zur Position der radikalen atheistischen Aufklärung eines Julien Offray de La Mettrie. In der Handlung des Romans wechseln sexuelle Aktivitäten der Hauptfiguren mit Diskussionen über philosophische Fragen ab, die sie zu höherer Erkenntnis führen. Der Text spiegelt damit - bei aller Vereinfachung - eine zentrale aufklärerische These wider: In der Natur gibt es nichts moralisch Böses, und eine vernünftige Sittlichkeit beruht nicht auf der Verleugnung der natürlichen Regungen, sondern dem Versuch, sie zu verstehen. (aus wikipedia.de)

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Die philosophische Therese

oder Beiträge zur Geschichte des Paters Dirrag und des Fräuleins Eradice

Jean-Baptiste Boyer, Marquis d'Argens

Inhalt:

Jean Baptiste Boyer d'Argens – Biografie und Bibliografie

Die philosophische Therese

Die philosophische Therese , Jean-Baptiste Boyer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849606336

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Jean Baptiste Boyer d'Argens – Biografie und Bibliografie

Philosoph. Schriftsteller, geb. 24. Juni 1704 zu Air in der Provence, gest. 11. Jan. 1771 unweit Toulon, trat schon früh in den Militärdienst, ward 1734 bei der Belagerung von Kehl verwundet und durch einen Sturz dienstunfähig, nahm seinen Abschied und ging, von seinem Vater enterbt, nach Holland. Hier erschienen seine »Lettres chinoises« (Haag 1739, 5 Bde.; deutsch, Frankf. a. M. 1768–1771), »Lettres cabalistiques« (Haag 1741, 6 Bde.; deutsch, Leipz. 1773–77, 8 Bde.) und »Lettres juives« (am besten Par. 1766; deutsch. Berl. 1770–1783, 6 Bde.), welche die Aufmerksamkeit Friedrichs II. dermaßen erregten, dass er den Verfasser zu sich einlud und 1744 zum Direktor der philosophischen Klasse der Akademie zu Berlin ernannte. Bald war A. der tägliche Gesellschafter des Königs, der ihn seines freimütigen Charakters wegen hochschätzte; vgl. »Correspondance entre Frederic II et le marquis d'A.« (Königsb. u. Par. 1798; deutsch, Königsb. 1798). 1769 kehrte A. nach Frankreich zurück. Er schrieb in der Weise der französischen Freigeister skeptisch, dabei witzig und mit Geschmack, war aber in seinen Urteilen schwankend. Geringen Wert haben seine Romane, in deren einem (»Mémoires et lettres de Mr. le marquis d'A.«, 1735) er seine Liebeshändel erzählt. Bedeutender sind seine »Mémoires secrets de la république des lettres« (Haag 1737), die dann späterhin als »Histoire de l'esprit humain« (Berl. 1765–1768, 14 Bde.) erschienen. In andern Schriften zeigte er sich als erfahrener Kunstkenner u.a. Auch übersetzte er Julians Fragmente wider die Christen, die er ausführlich kommentierte (»Défense du paganisme«, Berl. 1764).

Die philosophische Therese

I.

Wie, Herr Graf, Sie wünschen allen Ernstes, daß ich meine Geschichte schreibe? Sie wünschen, daß ich die mystischen Vorgänge schildere, die sich zwischen Fräulein Eradice und dem hochwürdigen Vater Dirrag abspielten? Daß ich Ihnen von den Abenteuern der Frau C. mit dem Abbé T. erzähle? Sie verlangen von einem Mädchen, das niemals etwas geschrieben hat, eine ausführliche Beschreibung, wozu eine systematische Anordnung des Stoffes nötig ist? Sie wünschen ein Gemälde, worauf die Vorgänge, von denen ich Ihnen erzählt habe oder die wir selber mit erlebt haben, mit dem ganzen Zauber der Wollust dargestellt sind? Und Sie wünschen zugleich, daß die metaphysischen Betrachtungen mit ihrer vollen Kraft wiedergegeben werden? Wahrhaftig, mein lieber Graf, dies scheint mir über meine Kräfte zu gehen. Übrigens war Eradice meine Freundin, und Pater Dirrag war mein Beichtvater; ich schulde der Frau C. und dem Abbé T. Gefühle der Dankbarkeit. Soll ich das Vertrauen von Leuten täuschen, gegen die ich die größten Verpflichtungen habe? Denn die Handlungen der einen und die weisen Betrachtungen der anderen haben mir allmählich die Augen geöffnet und mich über die Vorurteile der Jugend aufgeklärt. Aber, sagen Sie, das Beispiel und die Belehrung haben Sie glücklich gemacht – warum wollen Sie nicht versuchen, durch Beispiel und Belehrung auch zum Glücke Ihrer Mitmenschen beizutragen? Welche Furcht hält Sie ab, Wahrheiten niederzuschreiben, die nur dem Nutzen der menschlichen Gesellschaft dienen können?

Nun, mein lieber Wohltäter, so widerstehe ich denn nicht länger: Ich werde schreiben; denkende Menschen werden die Mängel meines Stiles um meiner Aufrichtigkeit willen mir verzeihen, und aus Dummköpfen mache ich mir nicht viel. Nein, Ihre zärtliche Therese wird Ihnen niemals einen Wunsch abschlagen; Sie werden von ihrer zartesten Kindheit an in alle Falten ihres Herzens sehen; ihre ganze Seele wird sich vor Ihnen entfalten in der genauen Beschreibung der kleinen Abenteuer, die sie sozusagen ohne ihr Zutun Schritt für Schritt zum Gipfelpunkt der Wollust geführt haben.

Törichte Menschen! Ihr glaubt es in eurer Macht zu haben, die Leidenschaften zu ersticken, die die Natur euch eingepflanzt hat! Nein, sie sind Gottes Werk! Ihr wollt diese Leidenschaften zerstören, sie in gewisse enge Grenzen bannen. Wahnsinnige! Ihr gebt euch also für neue Schöpfer aus, die mächtiger sein wollen als der alte? Werdet ihr denn niemals sehen, daß alles so ist, wie es sein muß, und daß alles gut ist? Daß alles von Gott ist und nicht von euch, und daß einen Gedanken zu schaffen ebenso schwierig ist wie die Erschaffung eines Armes oder eines Auges?

Mein Lebenslauf ist ein unbestreitbarer Beweis dieser Wahrheiten. Seit meiner zartesten Kindheit hat man mir stets Liebe zur Tugend und Abscheu vor dem Laster gepredigt. Man sagte zu mir: Du wirst nur in dem Maße glücklich sein, wie du die christlichen und moralischen Tugenden übst. Alles was sich davon entfernt, ist Laster; das Laster zieht dir Verachtung zu und die Verachtung erzeugt als natürliche Folgen Scham und Gewissensbisse. – Von der Trefflichkeit dieser Lehren überzeugt, habe ich bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren mich ehrlich bemüht, nach diesen Grundsätzen zu leben. Sie werden sehen, wie weit mir dieses gelungen ist.

Ich bin in der Provinz Vencerop geboren. Mein Vater war ein guter Bürgersmann, ein Kaufmann in dem hübschen Städtchen * * *, wo alles Lust und Freude atmet; die Galanterie scheint das einzige zu sein, wofür die dortige Gesellschaft Interesse hat. Man liebt, sobald man zu denken beginnt und man denkt nur zu dem Zweck, sich die Wonnen der Liebe leichter zu verschaffen. Meine Mutter verband mit der Lebhaftigkeit der Frauen ihrer Heimatprovinz, die der Provinz Vencerop benachbart ist, das glückliche Temperament einer sinnlichen Venceropalin. Meine Eltern lebten sparsam von ihren bescheidenen Renten und von dem Ertrage ihres kleinen Geschäftes. Durch ihre Arbeit änderte sich nichts an dem Stande ihres Vermögens; denn mein Vater bezahlte eine junge Witwe, die in der Nähe unseres Hauses einen Laden hielt, meine Mutter aber wurde von ihrem Liebhaber bezahlt, einem sehr reichen Edelmann, der die Güte hatte, meinen Vater mit seiner Freundschaft zu beehren. Alles ging in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich: Man wußte auf beiden Seiten, woran man war, und niemals hat eine Ehe den Eindruck größerer Einigkeit gemacht.

Nachdem zehn Jahre in so löblicher Eintracht verflossen waren, wurde meine Mutter schwanger; sie brachte mich zur Welt. Meine Geburt verursachte ihr ein Leiden, das vielleicht schrecklicher für sie war, als sogar der Tod gewesen wäre: Durch eine heftige Bewegung beim Kreißen entstand ein Riß, der sie in die traurige Notwendigkeit versetzte, für immer auf jene Freuden zu verzichten, denen ich mein Dasein verdanke.

Alles änderte sich jetzt in meinem Elternhause. Meine Mutter wurde fromm. Die eifrigen Besuche des Herrn Marquis, der seinen Abschied erhielt, hörten auf, und dafür kam der Pater Guardian der Kapuziner. Das Zärtlichkeitsbedürfnis meiner Mutter wechselte nun den Gegenstand: Sie gab aus Notwendigkeit von nun an Gott, was sie bis dahin aus Neigung und Temperament dem Marquis gegeben hatte.

Mein Vater starb, als ich noch in der Wiege lag. Meine Mutter zog aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen nach der berühmten Hafenstadt Volnot. Die galanteste Frau war zur keuschesten, vielleicht auch tugendhaftesten geworden, die jemals gelebt.

Ich war kaum sieben Jahre alt, als meine zärtliche Mutter in ihrer unaufhörlichen Sorge um meine Gesundheit und um meine Erziehung bemerkte, daß ich zusehends abmagerte. Ein geschickter Arzt wurde gerufen und wegen meiner Krankheit befragt. Ich hatte einen unstillbaren Hunger, aber kein Fieber und keine Schmerzen; trotzdem schwand meine Lebhaftigkeit dahin, und meine Beine vermochten mich kaum noch zu tragen. Meine Mutter fürchtete für mein Leben; sie ließ mich keinen Augenblick von ihrer Seite, und ich mußte in ihrem Bett schlafen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie eines Nachts bemerkte, daß ich im Schlaf die Hand auf jenem Körperteil hatte, der uns von den Männern unterscheidet, und daß ich durch ein sanftes Reiben mir Genüsse verschaffte, die unter Mädchen von fünfzehn Jahren gang und gäbe sind, die aber einem Mädchen von sieben Jahren nicht bekannt zu sein pflegen. Meine Mutter wollte kaum ihren Augen trauen, leise hob sie Decke und Bettlaken hoch; sie holte die Lampe, die in dem Zimmer brannte, und wartete als kluge und erfahrene Frau die weitere Entwicklung ab. Es kam, wie es kommen mußte: Ich bewegte mich hin und her, ich zitterte, und – der Genuß erweckte mich.

In der ersten Aufregung schalt meine Mutter mich tüchtig aus; sie fragte mich, wo ich die Greuel gelernt hätte, die sie soeben beobachtet hätte. Ich antwortete ihr weinend, ich wüßte nicht, was ich ihr zu Leide getan hätte, und ich wüßte nicht, was sie mit den von ihr gebrauchten Ausdrücken »unanständige Berührung«, »Schamlosigkeit« und »Todsünde« sagen wollte. Die Naivität meiner Antworten überzeugte sie von meiner Unschuld. Ich schlief wieder ein. Von neuem begann ich mich zu kitzeln, von neuem schalt meine Mutter mich aus. Nachdem sie mich mehrere Nächte aufmerksam beobachtet hatte, bezweifelte sie nicht mehr, daß die Stärke meiner Sinnlichkeit mich trieb, im Schlafe zu tun, woran so viele arme Nonnen im Wachen Trost finden. Meine Mutter beschloß, mir die Hände eng zusammenzubinden, so daß es mir unmöglich war, meine nächtlichen Unterhaltungen noch weiterhin fortzusetzen.

Bald hatte ich meine Gesundheit und frühere Kraft wiedererlangt. Ich legte die übliche Gewohnheit ab, aber meine Sinnlichkeit wurde immer größer. Im Alter von neun oder zehn Jahren verspürte ich eine seltsame Unruhe, fühlte ich Begierden, deren Ziel ich nicht kannte. Mit anderen kleinen Mädchen und Knaben meines Alters war ich oft auf einem Dachboden beisammen. Dort trieben wir unsere kleinen Spiele. Einer von uns wurde zum Schulmeister erwählt; das geringste Vergehen wurde mit dem Stock bestraft. Die Knaben ließen ihre Höschen herunter, die Mädchen hoben Röckchen und Hemdchen hoch. Wir betrachteten uns gegenseitig aufmerksam; fünf oder sechs kleine Popochen wurden eins nach dem andern bewundert, gestreichelt und gepeitscht. Die Gnigni der Knaben, wie wir es nannten, waren ein Spielzeug für uns; hundertmal streichelten wir sie mit den Fingern, nahmen sie in die Hand, machten Püppchen daraus und küßten das kleine Instrument, von dessen Gebrauch und Wert wir gar keine Ahnung hatten. Dann kamen unsere Popochen dran. Auch sie wurden geküßt. Nur um den Mittelpunkt aller Freuden kümmerte niemand sich. Woher kam diese Vernachlässigung? Ich weiß es nicht. Aber so waren unsere Spiele; die einfache Natur leitete sie, ich schildere sie der Wahrheit gemäß.

Nachdem ich mich zwei Jahre lang diesen unschuldigen Ausschweifungen hingegeben hatte, brachte meine Mutter mich in ein Kloster; ich war damals ungefähr elf Jahre alt. Die erste Sorge der Oberin war, mich auf meine erste Beichte vorzubereiten. Ich trat ohne Furcht vor dieses Gericht, denn ich hatte keine Gewissensbisse. Dem alten Guardian der Kapuziner, der das Gewissen meiner Mutter beriet und auch mir die Beichte abhörte, sagte ich alle die dummen kleinen Sünden eines Mädchens meines Alters. Nachdem ich alle Fehler eingestanden hatte, deren ich schuldig zu sein glaubte, sagte der gute Vater zu mir: Du wirst eines Tages eine Heilige sein, wenn du wie bisher die von deiner Mutter dir eingeflößten Grundsätze der Tugend befolgst. Vor allen Dingen höre niemals auf den Teufel des Fleisches! Ich bin der Beichtvater deiner Mutter; was sie mir von deiner Neigung zur Unkeuschheit, dem gemeinsten aller Laster, erzählte, hatte mich ernstlich beunruhigt. Ich freue mich herzlich, daß sie sich geirrt hat. Die Krankheit, an der du vor vier Jahren littest, hatte sie auf diesen Gedanken gebracht; ohne ihre treue Sorge, mein liebes Kind, wärest du verloren gewesen an Leib und Seele. Ja, ich bin jetzt gewiß, daß deine Bewegungen, die sie beobachtete, unfreiwillig waren, und ich bin überzeugt, daß der Schluß, den sie daraus auf dein Seelenheil zog, irrig war.

Was mein Beichtiger mir sagte, beunruhigte mich, und ich fragte ihn, was ich denn nur getan hätte, daß meine Mutter einen so schlechten Begriff von mir bekommen hätte? Er sagte mir ohne Umstände in den deutlichsten Worten, was vorgefallen war und welche Maßregeln meine Mutter ergriffen hatte, um mir einen Fehler abzugewöhnen, dessen Folgen ich, wie er sagte, hoffentlich niemals kennenlernen würde.

Diese Worte erinnerten mich unwillkürlich an unsere bereits von mir erwähnten Unterhaltungen auf dem Dachboden. Meine Wangen bedeckten sich mit einer dunklen Röte, sprachlos senkte ich die Augen, und zum erstenmal glaubte ich in unseren Vergnügungen eine Sünde zu sehen. Der Pater fragte mich nach der Ursache meines Schweigens und meiner Traurigkeit; ich sagte ihm alles. Nun verlangte er alle Einzelheiten zu wissen. Die Unschuld meiner Ausdrücke, meine unbefangene Beschreibung unserer Stellungen und unserer Vergnügungen überzeugte ihn noch mehr von meiner Unschuld. Er tadelte diese Spiele, aber er tat es mit einer klugen Vorsicht, wie sie den Dienern der Kirche für gewöhnlich nicht eigen zu sein pflegt. Aber seine Ausdrücke bezeugten zur Genüge, welchen Begriff er sich von meinem Temperament machte. Fasten, Beten, Nachdenken und das Tragen eines Bußhemdes waren die Waffen, mit denen er mir fortan meine Leidenschaften zu bekämpfen befahl.

Berühre niemals, so sprach er zu mir, mit der Hand oder nur auch mit dem Blick deiner Augen jenen gemeinen Körperteil; er ist nichts anderes als der Apfel, der Adam verführt hat, er hat das Menschengeschlecht durch die erste Sünde in Verdammnis gestürzt. In ihm wohnt der Teufel, er ist sein Aufenthalt, sein Thron; lasse dich ja nicht durch diesen Feind Gottes und der Menschen überraschen. Die Natur wird bald diesen Körperteil mit häßlichen Haaren bedecken, gleich jenem Fell, das die wilden Tiere tragen, um durch diese Strafe anzuzeigen, daß du dich seiner schämen mußt, daß Dunkelheit und Vergessenheit sein Los sein müssen. Noch vorsichtiger hüte dich vor jenem Stück Fleisch der jungen Knaben deines Alters, woran ihr dort oben auf dem Dachboden euren Spaß gehabt habt. Dieses Stück Fleisch, meine Tochter, ist die Schlange, die unsere gemeinsame Mutter Eva in Versuchung führte. Laß niemals deine Blicke und Finger durch dieses ekelhafte Tier besudelt werden. Es würde dich stechen und früher oder später unfehlbar dich verschlingen!

Wie, hochwürdiger Vater, antwortete ich ganz aufgeregt, ist es möglich? Kann es eine Schlange sein, und ist es wirklich so gefährlich, wie Sie sagen? Ach, mir kam das Tier so sanft vor! Es hat keine von meinen Freundinnen gebissen; ich versichere Ihnen, es hatte nur einen ganz kleinen Mund und gar keine Zähne – ich habe es genau gesehen ...

Geh, mein Kind, unterbrach mein Beichtvater mich, glaube, was ich dir sage: Die Schlangen, die du vorwitzigerweise angefaßt hast, waren noch zu jung und zu klein, um das Unheil anzurichten, dessen sie fähig sind; aber sie werden länger und dicker, sie werden sich auf dich stürzen, und dann mußt du die Wirkung des Giftes fürchten, das sie mit einer Art von Wut zu verspritzen pflegen: es würde dir Leib und Seele vergiften.

Nach einigen anderen Lehren gleicher Art entließ der gute Pater mich in einem Zustande eigentümlicher Ratlosigkeit.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die Worte, die ich vernommen hatte, machten Eindruck auf meine Phantasie; aber der Gedanke an die hübsche Schlange wirkte viel tiefer als die Ermahnungen und Drohungen, die ich hatte anhören müssen. Trotzdem hielt ich ehrlich mein Versprechen; ich widerstand dem Antrieb meines Temperaments und wurde ein Muster von Tugend.

Welche Kämpfe, mein lieber Graf, habe ich bestehen müssen, bis ich fünfundzwanzig Jahre alt war und meine Mutter mich aus dem verdammten Kloster herausnahm! Ich war kaum sechzehn fahre alt, als mich infolge meiner Gedanken eine krankhafte Schwäche überfiel: Ich hatte deutlich zwei Leidenschaften in mir erkannt, die ich unmöglich miteinander versöhnen konnte. Einerseits hatte ich eine aufrichtige Liebe zu Gott; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm so zu dienen, wie man mir versicherte, daß er es verlangte. Andererseits fühlte ich heftige Begierden, ohne deren Ziel erraten zu können. Unaufhörlich sah ich das Bild der hübschen Schlange in meiner Seele; im Wachen wie im Schlafen war es, mir unbewußt, vorhanden. Zuweilen glaubte ich in meiner Aufregung, die Schlange in der Hand zu halten; ich streichelte sie, ich bewunderte ihre edle, stolze Haltung, ihre Festigkeit, obgleich ich noch nicht wußte, zu welchem Zweck diese dienen könnte. Mein Herz schlug mit erstaunlicher Schnelligkeit; auf dem Höhepunkt meiner Verzückung oder meines Traumes durchlief mich ein wollüstiges Zittern. Ich war beinahe besinnungslos. Der Apfel zog meine Hand an, mein Finger vertrat die Stelle der Schlange.

Erregt durch diese Vorgefühle der Wonne, war ich keines anderen Gedankens mehr fähig; hätte sich die Hölle vor meinen Augen auf getan, ich wäre nicht imstande gewesen, innezuhalten. Nutzlose Gewissensbisse! Ich versank ganz und gar in Wollust. Aber dann die Unruhe nachher! Fasten, Geißeln, Nachdenken waren meine Zuflucht; ich zerfloß in Tränen. Diese Mittel heilten mich allerdings von meiner Leidenschaft; aber sie zerstörten nicht nur meine Sinnlichkeit, sondern auch meine Gesundheit. Ich geriet schließlich in einen Zustand von Schwäche, der mich zusehends dem Grabe zuführte, bis endlich meine Mutter mich aus dem Kloster nahm. –

Antwortet mir, betrügerische oder unwissende Priester, die ihr nach eurem Belieben uns Verbrechen andichtet: Wer hatte die beiden Leidenschaften in mich gepflanzt, mit denen ich zu kämpfen hatte, Liebe zu Gott und Liebe zum fleischlichen Genuß? War es die Natur oder der Teufel? Entscheidet euch! Oder wagt ihr wirklich zu behaupten, daß der Teufel oder die Natur mächtiger seien als Gott? Wenn sie ihm untergeordnet sind, so mußte also Gott erlaubt haben, daß diese Leidenschaften in mir waren; dann war es sein Werk.

Aber, werdet ihr mir antworten, Gott hat dir die Vernunft gegeben, um dich aufzuklären.

Gewiß, aber nicht um meinen Willen zu bestimmen. Die Vernunft hat mich allerdings die beiden Leidenschaften bemerken lassen, durch die ich bewegt war. Durch sie habe ich später begriffen, daß ich diese beiden Leidenschaften in ihrer ganzen Gewalt von Gott habe, wie ich alles von Gott habe. Aber eben diese Vernunft, die mich aufklärte, gab mir keine Willenskraft.

Aber Gott hatte dir doch die Herrschaft über deinen Willen gelassen; du warst frei, dich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden.

Das ist ein reines Spiel mit Worten. Die Stärke dieses Willens und dieser augenblicklichen Freiheit entspricht nur der Stärke der Leidenschaften und Begierden, die uns treiben. Ich habe zum Beispiel anscheinend die Freiheit mich zu töten, mich aus dem Fenster zu stürzen. Keineswegs! Sobald die Liebe zum Leben stärker in mir ist als der Wunsch zu sterben, werde ich mich niemals töten.

Aber man ist doch gewiß der freie Herr, den Armen oder seinem mildherzigen Beichtvater hundert Goldstücke zu geben, die man in der Tasche hat.

Man ist's nicht. Wenn der Wunsch, sein Geld zu behalten stärker ist als der, eine unnütze Vergebung seiner Sünden zu erlangen, so wird man selbstverständlich sein Geld nicht hergeben. – Mit einem Wort, ein jeder kann sich selber überzeugen, daß die Vernunft nur dazu da ist, dem Menschen zu zeigen, wie stark sein Wunsch ist, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen, und wieviel Behagen oder Unbehagen ihm dies verursachen wird. Aus dieser von der Vernunft erlangten Kenntnis ergibt sich unser sogenannter Wille. Aber dieser Wille hängt vollkommen so von dem Grade unserer Leidenschaft oder unseres Wunsches ab, wie ein Gewicht von vier Pfund notwendigerweise die Schale einer Waage zum Sinken bringt, deren andere Schale nur durch ein Gewicht von zwei Pfund belastet wird.

Aber bin ich denn nicht mein freier Herr, beim Essen eine Flasche Burgunder oder eine Flasche Champagner zu trinken? Bin ich nicht mein freier Herr, in der großen Allee der Tuilerien oder auf der Terrasse der Feuillants spazierenzugehen?

Ich gebe zu, daß wir in allen Fällen, wo die Entscheidung unserer Seele völlig gleichgültig ist, wo unsere Wünsche, ob etwas so oder so ausfällt, sich das Gleichgewicht halten, diesen Mangel an Freiheit nicht bemerken können: In der Ferne bemerken wir eben die einzelnen Gegenstände nicht mehr. Aber treten wir diesen Gegenständen ein bißchen näher, so werden wir bald deutlich bemerken, daß die Handlungen unseres Lebens durch mechanische Gesetze bestimmt werden, und sobald wir eines dieser Gesetze kennen, werden wir sie alle kennen, denn die Natur handelt stets nach einem und demselben Grundsatz. – Sie setzen sich zu Tisch; man trägt Ihnen Austern auf, dies entscheidet Sie für den Champagner.

Aber, sagen Sie, ich hätte auch Burgunder wählen können. Es stand mir frei, dies zu tun.

Ich sage: Nein! Allerdings hätte ein anderer Beweggrund, eine andere Lust, die stärker gewesen wäre als die erste, Sie bewegen können, Burgunder zu trinken. Nun, in diesem Fall hätte eben diese zweite Lust Sie in Ihrer angeblichen Willensfreiheit gelenkt.

Sie treten in die Tuilerien ein und sehen auf der Terrasse der Feuillants eine Ihnen bekannte hübsche Frau. Sie entschließen sich, zu ihr zu gehen, es sei denn, daß ein anderer Grund Sie nach der großen Allee zieht, um dort Ihren Nutzen oder ein Vergnügen zu verfolgen. Aber, mag Ihre Wahl für diese oder jene Seite ausfallen, stets wird es ein Wunsch sein, der Sie mit unwiderstehlicher Gewalt veranlaßt, unabhängig von Ihrem Willen diesen oder jenen Entschluß zu fassen.