Die Pläne der Mächtigen - Claude Peiffer - E-Book

Die Pläne der Mächtigen E-Book

Claude Peiffer

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Beschreibung

April 34 DNW (Der Neuen Weltordnung)! Im Auftrag des Kartells kümmern sich Meroth Industries und weitere irdische Großkonzerne um die wirtschaftliche Eroberung des Sonnensystems. Der Ausbau der lunaren Werft wird vorangetrieben, erste Schritte zur Kolonisierung des Mars sowie weit entfernter Planeten werden umgesetzt. Zugleich trifft die terranische Raumflotte Vorbereitungen für ihren ersten interstellaren Krieg. Konkurrenzkämpfe zwischen den irdischen Großkonzernen und politische Intrigen sorgen dafür, dass sich der sagorische Botschafter-Roboter Veegun stärker in die Belange der Menschheit einmischt. Der langjährige Gönner und Vertraute der Terraner sieht sich gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die seinen Schützlingen nicht gefallen. In diesen lebhaften Zeiten macht die verbotene Neue Irdische Kirche weiter auf sich aufmerksam. Ihr Oberhaupt verfolgt Pläne, die sich mit denen des Kartells überschneiden. Für das Wohl seiner gläubigen Anhänger schickt er seine persönliche Killermaschine in den Einsatz. Diese Entscheidung trifft einen Mann besonders: Gordon Meroth! Der zweite Roman um die mächtige Meroth-Familie bringt dem Leser erste Erkenntnisse, aber auch weitere Geheimnisse, die nicht nur in die Vergangenheit ragen, sondern ebenso ein Teil der Zukunft sind.

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2022

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„Es gibt eine sehr einfache Religion. Diese braucht keine prächtigen Tempel und keine komplizierte Philosophie. Unser Gehirn und unser Herz sind unsere Tempel, unsere Freundlichkeit ist unsere Philosophie.

Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 7

Schwester Gabrielle

4. April 34 DNW (Der Neuen Weltordnung)

„Erinnerungen sind Teufelswerk!“, murmelte die ganz in Schwarz gekleidete Gestalt stumpfsinnig vor sich hin.

Sie hockte zitternd in einem spärlich beleuchteten Wartungsschacht, tief unter der Mondoberfläche. Ihre Arme umfassten ihre knochigen Knie. Ein paar braune Haarsträhnen lugten unter einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze hervor.

Schwester Gabrielle hatte bei ihrer Mission versagt!

Eindeutig!

Waren daran diese vagen Gedankenblitze schuld, die sie seit einigen Tagen plagten? Diese Bilder von Leid und Folter, die ihr beide zugefügt worden waren.

„Der Teufel ist böse!“

So hatten die Schwestern des Ersten Ordens es ihr in einprägsamen Predigten vermittelt.

War sie böse, weil sie sich an die vergessenen Jahre erinnerte?

„Du sollst nicht töten!“

So lautete das fünfte Gebot Gottes!

War sie böse, weil sie getötet hatte? War sie Teufelswerk?

Schwester Gabrielle fing an zu beten. Es half ihr beim Nachdenken. Es lenkte sie ab und hielt sie davon ab, sich zwischen zwei päpstlichen Befehlen an ihre Vergangenheit zu erinnern.

Nur der päpstliche Befehl zählte!

Für ihn lebte sie!

Sie gehorchte ihm bedingungslos!

Er brachte ihr Klarheit!

Wenn sie ihn ausführte, war sie Gottes einzigartiges Werkzeug.

Und Gott war gut!

Auch wenn er tötete!

Somit war auch sie gut, wenn sie in seinem Namen Leute umbrachte!

Dafür war sie schließlich erschaffen worden!

Seit der Beendigung ihrer Ausbildung war der päpstliche Befehl bereits mehrmals an sie ergangen. Sie hatte ihn stets erfolgreich ausgeführt und den verführerischen Satan in der Gestalt des Menschen vernichtet.

Aber diesmal war es ihr nicht gelungen!

Etwas Unbegreifliches hatte sie daran gehindert, ihr vom Teufel infiziertes Ziel zu beseitigen.

Nicht die Frau, die aufopfernd versucht hatte, die Satansbrut zu beschützen.

Nein!

Diese Ausgeburt der Hölle selbst hatte sie daran gehindert zu töten. Obwohl der Mann bewusstlos zu ihren Füßen gelegen hatte. Diese Kreatur des Fürsten der Finsternis trug eine sehr mächtige, übernatürliche Aura. Diese hatte sie dabei gestört, Gotteswerk zu vollenden. Eine Aura, die erst durch ihre Berührung entfacht worden war und den päpstlichen Befehl einfach so neutralisiert hatte.

Niemand konnte einen päpstlichen Befehl aufheben. Niemand außer dem Papst.

Sie musste zur Erde zurückkehren. Zu den Schwestern des Ersten Ordens. Nur die Nonnen konnten ihr helfen zu verstehen, was ihr widerfahren war. Sie verdrängte ihre Zweifel an ihrer Fähigkeit und machte sich auf den Weg.

*

„… die Frage lautet: Wie werden sich die übrigen Kartellräte verhalten? Sie können diesen klaren Sachverhalt nicht einfach abstreiten, auf sich beruhen lassen oder gar totschweigen. Nein, meine lieben Zuschauer! Diesem hinterhältigen Verräter, der das fundamentale Gedankengut der Republik allein mit seiner Präsenz gefährdet, gehört der Prozess gemacht. Und bei der Last der Beweise und der Schwere des Verbrechens kann das Urteil nur ein Schuldspruch sein. Ich plädiere für eine öffentliche Hinrichtung. Aber diese Entscheidung wird selbstverständlich von den Räten getroffen. Ich werde diese ungeheuerliche Affäre weiterhin verfolgen und Sie auf dem Laufenden halten. Ihr Niki van Dengscht von The Voice, der Stimme der Republik!“

„Abschalten!“, befahl Allison Cross beunruhigt.

Die holografisch präsentierte Nachrichtensendung erlosch.

„Ihr Freund Niki hat eine ziemlich große Klappe, Mr Meroth“, gab Lieutenant Sandrine Prune ihre geringschätzige Meinung über den Journalisten kund.

Damit sprach die 27-jährige Soldatin der Republic Space Force exakt das aus, was Allison dachte. Und die Frau hatte Meroth noch mehr zu sagen:

„Ist Ihnen aufgefallen, wie dezent er Sie aus allem herausgehalten hat? Hauptbelastungszeuge Gordon Meroth, der bei seinen Recherchen zur Übernahme der Spacecraft Agency sowie der Earth Trading Fleet auf Ungereimtheiten stieß, hat diese pflichtgemäß bei der Republic Police gemeldet. Warum hat dieser asoziale Mensch Ihnen nicht gleich eine Zielscheibe für diese verrückten Bastarde auf die Brust gemalt?“

„Van Dengscht befolgt nur meine Anweisungen!“, verteidigte Gordon den Medienmann vor der Kritik seiner Leibwächterin. „Und da Sie für meine Sicherheit verantwortlich sind, kann mir ja nichts passieren! Schließlich sind Sie die erste Person, die es mit dem Schwarzen Geist aufnehmen konnte. Das haben bisher nicht einmal die Agenten des Jalars geschafft.“

„Ich habe Sie nicht vor der Attentäterin gerettet, Mr Meroth.“

„Warum sind Sie davon so überzeugt, Lieutenant?

„Etwas hat das Mädchen davon abgehalten Sie zu töten“, behauptete Prune. „Das habe ich während unseres kurzen Kampfes bereits bemerkt. Und es ist ebenfalls deutlich auf den Überwachungsaufnahmen zu erkennen.“

„Vielleicht unterschätzen Sie nur Ihr Können, Sandrine!“

„Mitnichten!“, hielt Lieutenant Prune an ihrer Aussage fest.

Gordon Meroth war kein Dummkopf.

Er wusste, dass die Frau recht hatte. Er selbst hatte das Bildmaterial mehrmals geprüft und von Experten analysieren lassen. Der Schwarze Geist hatte eindeutig versucht ihn zu töten. Warum es ihm nicht gelungen war, konnte mit Hilfe der Aufnahmen nicht geklärt werden. Und das gab Gordon zu denken.

„Ich stimme dem Lieutenant zu!“, ließ die blonde Allison Cross ihren Freund wissen.

Die Blicke der beiden Frauen trafen sich kurz.

Allison tat sich schwer damit, sich an die ständige, fast schon intime Nähe der Soldatin zu Gordon zu gewöhnen. Die brünette Sandrine war eine ansehnliche Frau und nur ein gutes Jahr älter als sie selbst. Außerdem besaß sie eine sehr feminine Ausstrahlung, die dadurch verstärkt wurde, dass Gordon von der Soldatin verlangte, Zivil anstelle einer Uniform zu tragen. Gleichzeitig war Allison froh über ihre Anwesenheit. Schließlich hatte Prune ihren Liebsten vor dem Schwarzen Geist gerettet.

„Du gehst ein zu hohes Risiko ein, Gordon!“, versuchte Allison ihn ein weiteres Mal auf die Gefahren hinzuweisen, denen er sich neuerdings fast täglich aussetzte. „Selbst wenn das Kartell auf deiner Seite steht. Cyrus Stellumo hat zweifellos mächtige Freunde unter den Angehörigen der Neuen Irdischen Kirche. Die werden seine Hinrichtung sicherlich rächen. Schließlich ist er in seiner Funktion als Kardinal Per Petersen nicht nur ein kleiner Gläubiger, sondern einer der Strippenzieher dieser Sekte.“

„Das ist mir durchaus bewusst!“, winkte Gordon ab.

Er erhob sich aus seinem Sessel, schritt um seinen Arbeitstisch herum auf Allison zu und nahm sie zärtlich in seine Arme.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Alles wird gut! Das Kartell verlangt nur, dass ich beim Prozess gegen den Kardinal aussage und bei seiner Hinrichtung anwesend bin. Dem muss ich Folge leisten. In der Umgebung der Räte droht mir aber keine Gefahr. Es wird da nur so von Agenten des Jalars und Beamten der Republic Police wimmeln. Außerdem wird Lieutenant Prune mir nicht von der Seite weichen.“

„Sie sollten die Sorgen Ihrer Freundin ernst nehmen, Mr Meroth“, entgegnete ihm Sandrine warnend. „Wäre ich das Kartell, würde ich Sie als Köder benutzen, um die religiösen Fanatiker aus ihren Löchern hervorzulocken. Dazu bietet sich die öffentliche Hinrichtung geradezu an. Natürlich werden nur unwichtige Anhänger der NIK versuchen, das Leben des Kardinals zu retten. Die mächtigen Anführer im Hintergrund machen sich nicht einmal für einen der Ihren die Finger schmutzig. Der Schwarze Geist wird erneut in Erscheinung treten. Entweder um den Kardinal zu retten oder um Sie töten. Oder beides! Vor allem geht es der NIK jedoch um die globale Aufmerksamkeit, die ihr beim Anschlag auf der Lebenspaktzeremonie Ihres Bruders verwehrt wurde.“

„Sie sind ja eine richtige Expertin für religiösen Terrorismus“, äußerte sich Gordon sarkastisch. „Aber ich stimme Ihnen zu! Darum werden wir beide uns nicht ungeschützt zur Schau stellen.

Sigrun!“, verständigte Meroth seine Assistentin über das Kom-System seines Büros. „Wären Sie bitte so nett, uns den Koffer zu bringen? Danke!“

Ein paar Sekunden später gesellte sich Miss Svensdottir zu ihnen. In ihrer Hand hielt sie einen gebrauchsüblichen Aktenkoffer. Sie überreichte Gordon das kleine Gepäckstück und entfernte sich wieder.

Meroth öffnete den gesicherten Handkoffer, indem er in die in den Griff eingebaute Linse starrte. Ein grüner Lichtstrahl scannte die Iris seines rechten Auges. Mit einem dumpfen Zischen löste sich die Verriegelung. Gordon klappte das obere Teil des Koffers hoch. Zwei elegante, aber unterschiedlich aussehende Riemen mit breiten Schnallen in eingelegten Hartgummipolstern waren zu erkennen. Er nahm beide Gürtel heraus und reichte einen davon Lieutenant Prune, die ihn fragend ansah. Er bat sie um etwas Geduld und schnallte den anderen Riemen um seine Taille.

„Bitte schießen Sie auf mich, Sandrine!“, forderte Gordon seine Leibwächterin auf.

„Bist du verrückt geworden?“, stellte sich Allison schützend vor ihn.

„Keine Angst!“, schob Gordon sie sanft beiseite. „Mir passiert nichts! Lieutenant!“

Zu Allisons Entsetzen griff Lieutenant Prune ohne zu zögern nach ihrer Waffe, die sie am Bauch unter ihrer knappen Oberbekleidung versteckt hielt. Sie richtete sie auf Gordon und drückte gleich mehrmals ab. Drei fingerlange Impulsgeschosse rasten mit fast dreitausend Metern pro Sekunde auf Meroth zu. Sie verpufften wirkungslos an kleinen, gelblich schimmernden Energiefeldern, die an ihren Zielen aufflackerten.

„Beeindruckend!“, gab Lieutenant Prune anerkennend und ein wenig neidisch zu. „So etwas haben wir bei der Raumflotte nicht! Könnten wir aber im kommenden Krieg gegen die Flisser sicherlich gut gebrauchen.“

„Dazu hat Meroth Industries diese Körperschutzschirme ja entwickelt“, teilte ihr Gordon mit. „Wir gehen demnächst damit in Produktion. Eine kleine Aufmerksamkeit meines Vaters an die Admiralität.“

„Was halten diese so modisch gestylten Accessoires denn aus?“, fragte Sandrine neugierig.

„Nun, einem Impulsgeschütz eines Jägers würde ich mich nicht damit in den Weg stellen. Dem Beschuss aus zwei bis drei Gewehren der Infanterie halten die Schirme aber einige Sekunden lang stand. Ebenso einem Schuss aus einem bewaffneten Gleiter oder der Explosion einer Sprengfalle. Danach müssen ihre Energiezellen jedoch wieder aufgeladen beziehungsweise ausgewechselt werden. Die technischen Details finden Sie allesamt in der Gebrauchsanleitung, die ich soeben an Ihr Multikom übermittelt habe.“

Lieutenant Prune nickte zufrieden.

„Hat der Jalar den Kardinal überhaupt verhört?“, lenkte Allison von dem militärischen Kram ab. Ihr war all dieses Zeug zuwider. Ob es nun schützen oder vernichten sollte.

„Er ist doch bestimmt im Besitz von Informationen, mit deren Hilfe die Verantwortlichen der Neuen Irdischen Kirche aufgespürt und ausgelöscht werden könnten.“

„Ein Verhör wäre sinnlos!“, antwortete ihr Gordon. „Kartellräte sind gegen jede Art von physischen oder psychischen Verhören immunisiert. Dafür benötigen die Räte meine Aussage. Die ist medienwirksamer als all das ganze Beweismaterial.“

„Wird die NIK nicht versuchen, dich bereits vor deinem Auftritt beim Prozess zu töten?“, ließ Allison nicht locker.

„Dieses Vorgehen der Terroristen wäre unspektakulärer und ist daher eher unwahrscheinlich“, erwiderte Lieutenant Prune. „Wie schon gesagt: Es geht der NIK um Aufmerksamkeit.“

*

Das dunkelhaarige Mädchen mit dem blassen Gesicht stach aus der Gruppe der vom Mond eintreffenden Reisenden kaum hervor. Es trug eine gängige Schuluniform, bestehend aus einem grauen Rock, einer grauen Weste, einer weißen Bluse, dunkelblauen Strümpfen und grauen Schuhen. Der in ihrem linken Unterarm implantierte ID-Chip wies sie als Luisa Crespo aus.

Luisa war nur mit leichtem Handgepäck unterwegs. Dank einer Sonderreiseerlaubnis ihrer Schule passierte sie die Kontrollen an dem kleinen Raumhafen der Metropole Lissabon ohne Schwierigkeiten. Sie trödelte nicht lange herum, sondern ging auf direktem Wege zu einer der Abfahrtstationen des städtischen Rohrbahnsystems. Ein Zug brachte sie vom Almada Spaceport aus über die gut zwei Kilometer lange Brücke der Vernunft auf die andere Seite des Flusses Tejo, wo die durchsichtigen Vakuumröhren nach Osten hin abbogen. Nach etwa acht Kilometern erreichte die Bahn ihre Endstation. Diese befand sich in einem eher schäbigen Viertel kurz vor der Stadtgrenze.

Luisa stieg aus, verließ über eine Rolltreppe die Bahnstation und folgte dem Lauf einer Straße, vorbei an den schmutzigen Wohnungen der Unterschicht.

Nachdem die Arbeiten an den Metropolen kurz vor der Einführung der Neuen Zeitrechnung abgeschlossen waren, besaßen diese nur noch sehr wenig von ihrem ehemaligen Aussehen. Sie waren nach den Wünschen des Kartells angepasst, effektiver und moderner geworden. Einige hatte es besonders hart getroffen.

Wie zum Beispiel Lissabon, bei der nur noch der Name der Stadt übriggeblieben war. Alles andere war ausradiert worden, so als hätte die Metropole nie eine Geschichte mit kulturellen Besonderheiten gehabt.

Diese verbrecherische Neugestaltung machte einem Teil der Bevölkerung des neuen Lissabons schwer zu schaffen. Vor der Großen Säuberung lebten in ganz Portugal etwa zwölf Millionen Menschen. Drei Millionen davon hatten überlebt. Allesamt fanden sie in Lissabon eine neue Heimat. In einer Stadt, die ihnen völlig fremd erschien und deren Menschen größtenteils ihrer nationalen Identität beraubt worden waren.

Am schlimmsten hatte es die Außenbezirke der Metropole getroffen. Hier lungerten nutzlose Soldaten der ehemaligen Schutztruppe herum und eine langsam steigende Zahl von Angehörigen des unteren Staatsdienstes.

Einer der schäbigen Soldaten, an denen Luisa Crespo vorbeischritt, rief ihr eine unsittliche Bemerkung zu. Sie ignorierte ihn einfach. Ihr Ziel war der Platz am Ende der Straße, wo einst ein bekanntes Design- und Mode museum gestanden hatte. Jetzt befand sich dort nur noch eine staatliche Bezirksschule für die zweite Bildungsstufe.

Am Eingang des Gebäudes wurde Luisas ID erneut gescannt. Das Mädchen betrat die Schule und ging wie in Trance an den verlassenen Sälen vorbei. Nur in wenigen davon wurde unterrichtet. Billige Arbeitskräfte brauchten keine überflüssige Bildung. Manche der in diesem Bezirk lebenden Kinder schlossen nicht einmal die sechsjährige erste Bildungsstufe ab. Als nutzlose Ware abgestempelt, verschwanden die Versager der Gesellschaft früh in den Rohstoffminen im Asteroidengürtel. Ein Schicksal, das Luisa nicht kümmerte.

Sie erreichte eine abgesicherte Stahltür am Ende des Flurs. Ein blauleuchtender Körperscan tastete sie ab. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Luisa betrat die vor ihr liegende Transportkapsel.

„Konvent!“, sagte sie leise.

Die Kapsel setzte sich in Bewegung. Fuhr hinab in die Tiefe. Luisa wusste nicht, wie tief unter der Erde sich der Konvent der Schwestern des Ersten Ordens befand. Sie brauchte es auch nicht zu wissen. Es ging sie nichts an.

Nach etwa einer halben Minute hielt der Fahrstuhl an. Eine Nonne in einem violetten Leibgewand, über das ein schwarzes Schulterkleid fiel, nahm das Mädchen in Empfang. Sie führte Luisa ins Skriptorium der Priorin Martha, der ehrwürdigen Dienerin Gottes, die der Konvent des Ersten Ordens leitete.

Schweigend reichte ihr die Nonne eine Schwesterntracht.

Luisa zog sich um und wurde zur Schwester Gabrielle, einem einfachen Ordensmitglied.

Die Nonne wies sie an, zu warten.

Sie nahm es billigend in Kauf. Die Priorin ließ sich gerne Zeit. Die alte Frau war der Meinung, das wirke einschüchternd. Niemand konnte Schwester Gabrielle einschüchtern. Höchstens der Papst, dem sie gehörte.

Nach etwa zwanzig Minuten erschien die Priorin. Im Gegensatz zu der Nonne, die Schwester Gabrielle hergeführt hatte, trug die Priorin keine violette Haube. Ihr graues langes Haar lag offen auf ihren schmalen Schultern.

Schwester Gabrielle konnte ihr ansehen, dass sie verärgert war. Das hatte sie erwartete! Ebenso eine Strafe für ihr Versagen. Doch diese blieb aus!

„Was ist passiert, mein Kind?“, fragte Priorin Martha mit gnädiger Stimme.

Schwester Gabrielle blickte in ihr faltenreiches Gesicht. Himmelblaue Augen fixierten sie.

„Nun rede schon!“

„Ich konnte ihn nicht töten!“

„Das ist mir bekannt! Das Warum aber nicht!“

„Er trug eine heilige Aura!“

„Das ist Unsinn!“, sprach die Nonne übermäßig laut. „Kein Mensch besitzt eine heilige Aura! Nur dem Sohn Gottes war eine solche vergönnt. Und selbst ihn hat sie nicht vor dem Tode geschützt.“

„Er ist aber auferstanden von den Toten!“

„Das sind Legenden aus einer längst vergessenen Zeit“, winkte die Priorin barsch ab. „Darüber solltest du nicht nachdenken. Deine Pflichten sind andere. Zu deinem Glück darf ich nicht über dich richten. Der Heilige Vater persönlich wird sich um deine Bestrafung kümmern. Er erwartet dich bereits.“

Priorin Martha rief nach der Nonne.

„Schwester Angelika wird dich zu ihm bringen! Wahrscheinlich gibt es ein Problem mit deiner Konditionierung.“

„Konditionierung!“, murmelte Schwester Gabrielle kaum hörbar vor sich hin.

Dieses Wort bedeutete Schmerzen.

*

Der Weg zu den Gemächern des Papstes führte weiter hinab in die Tiefe.

„Näher hin zur Hölle!“, brach eine entfernte, sehr schmerzhafte Erinnerung in Schwester Gabrielle hervor.

Die kindlich wirkende Frau mit der knabenhaften Figur verdrängte diesen absurden Gedanken sofort. Er kam Gotteslästerung gleich!

Mit gesenktem Kopf stand Schwester Angelika neben ihr. Die junge Dienerin Gottes vermied es, sie anzusehen. Sie fürchtete sich vor ihr, vor dem, was Gabrielle darstellte. Und sie hatte Angst vor einer Begegnung mit dem Heiligen Vater, wie unwahrscheinlich diese auch für sie sein mochte.

Schwester Gabrielle erinnerte sich an ihren letzten Besuch bei dem höchsten Würdenträger der Neuen Irdischen Kirche. Erst vor zwei Wochen hatte Papst Jean-René Dolleresch sie zu sich gerufen. Nicht um sie mit einem päpstlichen Befehl zu segnen. Nein, der wurde ihr vom Heiligen Geist direkt in ihr Bewusstsein übermittelt.

Der Pontifex Maximus hatte ihren seelischen Beistand benötigt und sie hatte ihm, ohne zu zögern, ihren Körper zur Verfügung gestellt. Es war ihre Pflicht, die Bedürfnisse des Heiligen Vaters zu befriedigen. Dazu war sie schließlich erschaffen worden. Dazu, und um zu töten.

Der Fahrstuhl hielt an.

Schwester Angelika zuckte zusammen.

Die Tür des Lifts öffnete sich und ein warmer Luftzug blies den beiden Nonnen entgegen.

„Der Atem Gottes!“, flüsterte Schwester Angelika ehrfurchtsvoll. „Wir befinden uns auf heiligem Boden!“

Schwester Gabrielle war nicht ganz so gläubig.

Aufgrund ihrer vierzehn Jahre langen Ausbildung hatte sie dieses Phänomen gleich bei ihrem ersten Besuch in der Domäne des Heiligen Vaters als das entlarvt, was es war. Eine technische Spielerei, die nur installiert worden war, um gläubige Gäste oder Ordensmitglieder einzuschüchtern.

Wie aus dem Nichts tauchte ein päpstlicher Diener am Ende des vor ihnen liegenden Korridors auf. Der kahlköpfige Mann mittleren Alters trug ein rotes Leibgewand mit einem silbernen Zingulum. Er kam ihnen zügigen Schrittes entgegen.

„Ab hier übernehme ich!“, gab er schroff kund und bat Schwester Gabrielle mit einer Armbewegung, ihm zu folgen.

Der Mann führte sie durch mehrere Korridore und die päpstlichen Gemächer, direkt zum Schlafgemach des Heiligen Vaters. Unterwegs war ihre Identität wie üblich durch weitere Körperscans mehrmals überprüft worden.

„Warte hier!“, ordnete der Glaubensbruder an und zog sich zurück.

Schwester Gabrielle bewegte sich nicht von der Stelle. Sie kannte diesen in rötlichen Tönen gehaltenen Raum nur zu gut. Nichts hatte sich in den letzten Jahren hier verändert. Ebenso wenig ihr eigenes Aussehen.

Eine kleine Tür, die zu dem angrenzenden Bad führte, öffnete sich und der Heilige Vater kam herein. Nackt, wie sein angeblicher Gott ihn erschaffenen hatte.

„Wie mir berichtet wurde, hast du versagt!“

Seine Worte lösten in Schwester Gabrielle Scham und Traurigkeit aus. Aber nicht so intensiv wie früher, wenn sie ihn in seinen Augen enttäuscht hatte.

Das überraschte sie!

Dafür überkam sie ein anderes, ein neues Gefühl.

Ekel!

Sie ekelte sich vor dem 82-jährigen Greis. Vor dessen aufgedunsenem Gesicht, seinen schwabbligen Armen, seinen dicken Wurstfingern, den gnomhaften Beinen und dem fetten Bauch. Über den kleinen Wurm, der darunter hervorlugte, dachte sie erst gar nicht nach.

„Zieh dich aus!“, befahl ihr Ziehvater und legte sich auf das breite Bett mit den seidenen rosafarbenen Laken.

Er streckte seine Beine von sich und beobachtete zufrieden, wie sich die immerwährende junge Blume vor ihm entblätterte. Der Heilige Vater spielte an seinem Penis, der dank einiger chemischen Stimulanzen schnell erigierte.

„Bist du bereit, Gott zu empfangen?“

Schwester Gabrielle nickte halbherzig. Sie näherte sich zögernd dem alten Mann und setzte sich auf seine Beine.

Der Heilige Vater blickte sie abwartend an. Sie rührte sich nicht. Er griff nach ihren mädchenhaften kleinen Brüsten. Zwickte Gabrielle in beide Nippel.

Keine Reaktion!

„Nun gut!“, meinte er verärgert, drehte das Zeichen am päpstlichen Ring an seiner linken Hand und Schwester Gabrielle brach über ihm zusammen.

„Roland!“, schrie er aufgebracht nach seinem Diener.

Er schob das bewusstlose Mädchen rücksichtslos von sich runter. Gabrielle landete mit einem dumpfen Laut auf dem marmorierten Fußboden.

„Eure Heiligkeit haben gerufen?“, trat sein persönlicher Diener ins Schlafgemach seines Herrn, der die Bettdecke über seinen nackten Leib zog.

„Bring dieses nutzlose Stück Fleisch zu den Nonnen ins Labor! Sie sollen sie wieder in Ordnung bringen.“

„Sehr wohl, Euer Gnaden!“, bestätigte der Lakai, legte sich das nackte Mädchen über die Schultern und verließ den Raum.

„Eine heilige Aura!“, murmelte Papst Dolleresch vor sich hin.

Er schlug die Bettdecke zurück, quälte sich mühsam aus dem Bett und ging ins Badezimmer, wo ein weiterer Diener ihn erwartete und beim Ankleiden half.

„Soll ich wirklich glauben, dass Gott meine Bemühungen um seine minderwertigen Kreaturen hier auf Erden nicht schätzt?“, sprach er zu sich selbst. „Mit welchem teuflischen Plan möchten mich die Schergen des Kartells diesmal ködern? Mit einem der gottlosen Meroths? Lächerlich! Wenn die Räte wüssten, wer mir zu Seite steht, würden sie mich in Ruhe lassen.“

Etwas lauter fügte er hinzu:

„Die Kirche auf Erden wird untergehen. Auferstehen wird das Reich Gottes auf einer neuen Welt! Meiner Welt!“

*

Erneut erinnerte sie sich an ihre Vergangenheit.

Wie schon nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf dem Mond waren es nur winzige Bruchstücke. Einige davon war sie in der Lage zusammenzufügen. Und immer spielten in diesen Erinnerungen bestimmte Schwestern des Ersten Ordens eine Rolle. Jene zwölf Frauen, aus deren Erbmaterial sie erschaffen worden war.

Schwester Gabrielle öffnete ihre Augen. Sie lag an Hand- und Fußgelenken angeschnallt auf einem kalten Metalltisch, den sie nur zu gut kannte. Ein grelles Licht strahlte von der Decke auf sie herab. Es blendete sie nicht. Ihre Augen gewöhnten sich rasch daran.

„Sie ist wach!“, hörte sie eine weibliche Stimme neben sich.

„Gut! Das positronische Interface anschließen!“, befahl eine andere Frau.

Schwester Gabrielle spürte, wie das kleine kantige Interface in die Schnittstelle an ihren Nacken eingeführt wurde.

„Einschalten und Analyseprogramm starten!“

Gabrielle versuchte die Schmerzen so lange wie möglich zu ertragen. Sie wusste nicht, warum sie das tat.

Aus Gewohnheit? Aus Trotz?

Nach wenigen Sekunden verlor sie erneut das Bewusstsein.

*

„Wie ich soeben erfahren konnte, soll der abtrünnige Kartellrat Cyrus Stellumo bereits morgen um Punkt 12 Uhr mittags hingerichtet werden. Sein Prozess, dessen Ausgang somit schon feststeht, wird zwei Stunden früher im Administration-Tower der Metropole London stattfinden. Ob Stellumo auch in London hingerichtet wird, ist noch unklar. Fest steht jedoch, dass Gordon Meroth an dem Prozess und dieser öffentlichen Zurschaustellung teilnehmen wird. Der jüngste Spross von Harry Meroth wird dafür extra seine Arbeit auf dem Mond unterbrechen und zur Erde kommen.

Wenn Sie mehr über diesen aufstrebenden jungen Mann in Erfahrung bringen möchten, werfen Sie doch einen Blick auf unsere zwölfteilige Dokumentation über die irdischen Mega-Konzerne. Ihr Niki van Dengscht von The Voice, der Stimme der Republik!“

5. April 34 DNW (Der Neuen Weltordnung)

„Schwester Gabrielle?“

Eine sanfte, vertraute Stimme weckte sie.

Sie schlug die Augen auf und erkannte ihre Zelle. Ihr kleines, spartanisches Refugium im unterirdischen Kloster der Schwestern des Ersten Ordens.

Neben ihrem schmalen Holzbett stand Schwester Beatrice. Ihre Vertraute. Sie lächelte ihr freundlich, ja beinahe schon mütterlich zu.

„Es wird Zeit, Gabrielle! Du musst jetzt aufstehen! Dem päpstlichen Befehl gehorchen!“

Der Befehl!

Ihre Mission!

Sie erinnerte sich! Heute war ein wichtiger Tag.

Sie musste ein weiteres Mal gegen die Schergen des Teufels in den Kampf ziehen. Sie freute sich darauf. Es war so einfach Gutes zu tun. Sie besaß die Macht dazu und handelte im Auftrag des Heiligen Vaters, Gottes Stellvertreter auf Erden. Und Gott würde sie nie im Stich lassen.

Beatrice hatte ihr bereits frische Kleidung auf die unscheinbare Kommode neben der Tür gelegt. Ihr ID-Chip war upgedatet worden und alles, was sie für ihre Mission brauchen würde, wartete in einem Versteck in London auf sie.

Gut gelaunt schwang sich Schwester Gabrielle aus ihrem Bett. Ein aufregender Tag lag vor ihr.

Aus den Memoiren von Harry Meroth 2070 n. Chr.

Auf der Global-Strategy-Conference – wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, die vierte ihrer Art – machte ich nicht nur die Bekanntschaft mit Lady Gillian. Mit John Westing und Bailong Song demaskierten sich gleich zwei der damaligen Kartellräte vor den überraschten Teilnehmern der Konferenz.

Der distinguierte fünfzigjährige Brite behauptete, vor seiner Zeit als Kartellrat, eine langjährige Führungskraft eines britischen Mineralölunternehmens gewesen zu sein, das den Wandel der Zeit zu spät erkannt hatte und mittlerweile nicht mehr existierte. Spätere Nachforschungen meinerseits ergaben, dass Westing uns nicht belogen hatte. Demnach müsste er etwa dreimal so alt gewesen sein, als er zu dem Zeitpunkt ausgesehen hatte. Wenigstens!

Die etwas jüngere wirkende, aber genauso vornehme chinesische Dame, berichtete von einem ähnlichen Karriereverlauf. Sie kam aus der Versicherungsbranche und verriet uns, aktiv an der Zweiten Chinesischen Kulturrevolution beteiligt gewesen zu sein.

Diese ereignete sich einige Jahre nach den Olympischen Winterspielen 2022 von Peking und verhinderte den militärischen Einfall Chinas in Taiwan. Gleichzeitig läutete sie den Zerfall des Internationalen Olympischen Komitees mit seinen korrupten und geldgierigen Vorsitzenden ein. Aus den Olympischen Spielen wurden 2050 n. Chr. die Friedensspiele, die wiederum, mit der Einführung der neuen Zeitrechnung, in die Spiele der Metropolen umgetauft wurden.

Gealtert schien die energische Bailong Song in all den Jahren ebenfalls nicht.

War dies ein weiteres der großen Geheimnisse des Kartells? Die Überwindung des Todes? Oder wenigstens eine Verlängerung des Lebens?

Selbst heute noch, wo einige Menschen aus der Oberschicht über die sagorische Kryo-Tanks und ihre Wirkung Bescheid wissen, hatte noch keiner dieses Verfahren kopieren können. So blieb der Genuss einer solchen Behandlung nur einigen Mitgliedern des Inneren Kreises des Kartells sowie den zwölf Räten selbst vorbehalten.

Westing und Song hielten nach dieser spektakulären Einführung einen kurzen Rückblick auf die bis dahin vom Kartell erreichten Ziele. Mir wurde schnell bewusst, dass das Kartell eine Art globale Schattenregierung bildete, die im Begriff war, die Welt nicht nur technisch neu zu gestalten. Und ich würde daran beteiligt sein. Die Geburt eines neuen Zeitalters stand einer ahnungslosen Menschheit bevor.

Was die beiden Räte ihren staunenden Zuhörern preisgaben, gefiel mir sehr. Hauptsächlich ihre Kritik an den Weltreligionen und der Überbevölkerung hatten einiges für sich. Als sie zum Schluss ihres Auftrittes die Zukunftsvisionen des Kartells präsentierten, wusste ich, dass ich bei diesen Leuten genau richtig war.

Die Erschaffung von hundert Metropolen rund um den Globus; die Industrialisierung des Mondes; Flüge mit Überlichtgeschwindigkeit zu weit entfernten Sternen; positronische Computer; unbegrenzte und umweltfreundliche Energie aus dem Hyperraum; unvorstellbare medizinische Möglichkeiten, die für eine Verbesserung der Lebensqualität sorgten; ein weltweiter sozialer Umbruch der Gesellschaft; eine globale Regierung ohne nationales Bewusstsein und vieles mehr.

Gestern stellten all diese Konzepte für mich noch weit entfernte Träume dar, heute lagen sie zum Greifen nahe.

Einige Tage nach meiner Rückkehr aus Peking erhielt ich überraschenden Besuch von Malcom Woodruff, dem Eigentümer von Future Tech. Ich verstand mich sofort blendend mit dem alten Mann. Der Amerikaner teilte mir mit, dass das Kartell sich für den Bau der Metropolen eine enge Zusammenarbeit zwischen Future Tech und Meroth Industries wünschte. Ich sollte mir die vom Kartell und Future Tech bereits ausgearbeiteten Pläne für die Umgestaltung der hundert Weltstädte anschauen und Vorschläge für die Logistik unterbreiten.

Dies weltweit auf hundert Mega-Baustellen gleichzeitig.

Dafür wurde mir weitere Unterstützung von der Spacecraft Agency angeboten, die für die Herstellung von flugfähigen Transportern auf der Basis von Antigravitations-Technologie verantwortlich war.

Was dem Anschein nach eine schier unlösbare Aufgabe darstellte, war für mich eine einmalige Gelegenheit, meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wobei das Kartell mir versprach, sich um alle bürokratischen Schwierigkeiten zu kümmern, die mir mit Sicherheit auf meinem Weg begegnen würden.

Ich erwarb für das Projekt ein geeignetes Transportunternehmen und tauschte dessen Fuhrpark vollständig gegen Produkte von SCA aus. Hierbei kam die Antigravitationstechnik zum ersten Mal öffentlich zum Einsatz. Sie revolutionierte den gesamten Bau- und Transportsektor, woran SCA und Meroth Industries Milliarden verdienten.

Anfang Februar reiste ich mit meiner eigenen Deivon erneut nach Asien. Diesmal nach Thailand, wo ich Vanida Anuwat, die Leiterin von Global Energy, traf, einer Firma, die der mächtigen Asia Group angehörte.

Global Energy war zuständig für den Bau von containergroßen Energie-Speicheranlagen und sogenannten Auffangstationen. Beides wurde in Fabrikanlagen in der Umgebung von Bangkok produziert. Diese Speicher sollten die Energie für die Schutzschirmaggregate liefern, die Meroth Industries gerade produzierte. Gleichzeitig erklärte mir Vanida Anuwat das Prinzip der Gewinnung von Energie aus dem Hyperraum, deren Transport aus dem Orbit zur Erde über eine Raumstation lief, die aus dem sagorischen Technologiepaket stammte.

Trotz aller Höflichkeit und Respekt, die mir bei Global Energy entgegengebracht wurden, nahm ich eine gewisse Feindseligkeit wahr. Diese richtete sich erstens gegen mich persönlich, da ich allem Anschein nach das neuste Ziehkind der Kartellräte war, und zweitens gegen Meroth Industries, einem aufsteigenden Konkurrenten im globalen Wettbewerb um die Gunst des Kartells.

Im Mai 2070 kamen meine Eltern bei einem Bürgeraufstand in London ums Leben. Die Bewohner protestierten gegen die geplante Deportierung aus ihrer Stadt, die zwecks der Umgestaltung von London in eine Metropole stattfinden sollte.

Was ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnte und erst Jahrzehnte später erfuhr, war die Tatsache, dass das Kartell für die Ermordung meiner Eltern verantwortlich war. Diese hatten nämlich durch Zufall in Erfahrung gebracht, dass ihr Sohn, zusammen mit einer gewissen Lisa Ann Sandstorm, meiner zukünftigen Frau, Teil eines Zuchtprogramms war, das dem Kartell hochbegabte und außergewöhnliche Kinder schenken sollte. Hätten meine Eltern mir damals davon berichtet, hätte ich ihnen wahrscheinlich nicht geglaubt.

Die Weltwirtschaft steckte seit dem ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Es fing mit dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine an. Dies machte vor allem der Europäischen Union schwer zu schaffen. Falsche politische und wirtschaftliche Entscheidungen beschleunigten zusehends den Untergang dieser Staatengemeinschaft und sorgten für eine weltweite Finanzkrise.

Während Europa auseinanderfiel, machten vom Kartell bevorzugte Firmen und Unternehmen weiterhin positiv auf sich aufmerksam. Dies kam vor allen den Materialzulieferern für die Metropolen zugute. Einige dieser Gesellschaften waren Zöglinge des Kartells, andere versuchten sich den neuen Bedingungen anzupassen, wurden aber meistens von der protegierten Konkurrenz geschluckt.

Die Stahlproduktion, die seit Jahrzehnten kaum noch positive Zahlen schrieb, ging plötzlich völlig neue Wege. Dabei machte die Taylor Cooperation, ein amerikanischer Stahlgigant, mit einer neuartigen Stahlmischung namens Sagor-Stahl auf sich aufmerksam. Dieses Produkt war achtmal belastbarer als herkömmlicher Stahl, bei einem Viertel des Gewichtes. Die Taylor Cooperation vermietete die Herstellungsrechte an andere Firmen und strich allein dadurch riesige Gewinne ein.

In den folgenden zwei Jahrzehnten glichen die hundert vom Kartell auserwählten Großstädte riesigen Baustellen. Millionen von Menschen wurden weit außerhalb dieser Städte in Notunterkünften umgesiedelt, ganze Stadtviertel einfach ausradiert.

Die Regierungen dieser Länder schauten der ganzen Angelegenheit kommentarlos zu, da Future Tech und Meroth Industries ihnen mit den neuen, modernen Metropolen mehr Sicherheit und Komfort für ihre Landsleute sowie eine billigere Energieversorgung versprachen.

Hinzu kam, dass die USA, die völlig zerstrittene EU sowie China und Russland sich seit Jahrzehnten gegenseitig Hybridkriege lieferten und gleichzeitig einen nicht zu gewinnenden Kampf gegen die Gotteskrieger des Islams führten.

So nahm niemand von diesen Weltmächten davon Kenntnis, wie das Kartell an seinen bereits lange vor Baubeginn der Metropolen wirtschaftlichen Fäden zog, was schlussendlich dazu führte, dass jedes Land der Welt den Räten ausgeliefert war. Gleichzeitig wurden bereits jene Menschen beziehungsweise deren Nachkommen ausgesucht, die später einmal in der neuen, schöneren Welt des Kartells leben sollten.

Während ich vergeblich versuchte, mehr über die anderen, noch unbekannten Kartellräte in Erfahrung zu bringen, ging fernab dieser Baustellen die Menschheit langsam zu Grunde.

„Eigentlich dachte ich, wir hätten das hinter uns!“

„Wie bitte?“

Gordon schloss die Datei mit den privaten Aufzeichnungen seines Vaters. Der kleine holografische Bildschirm seines Multikoms erlosch augenblicklich. Fragend blickte er seine attraktive Leibwächterin an.

„Ihr kleiner Ausflug heute Morgen in aller Früh!“

„Ach das!“, kratzte sich Gordon verlegen über seinem rechten Ohr. „Ich war davon überzeugt, Sie hätten es nicht bemerkt!“

„Ich bin gut in meinem Job!“, behauptete Lieutenant Prune.

„Obwohl Sie mir nicht folgten?“, grinste Meroth lausbübisch.

Die junge Französin verlagerte ihr Gewicht in dem bequemen Sessel. Gordon kam nicht drum herum, ihren sportlichen Körper mit der ausgeprägten Oberweite zu mustern, was der Frau mit dem leicht kantigen Gesicht nicht verborgen blieb.

„Ich bin Ihnen gefolgt!“, verriet sie ihm. „Soweit es mir möglich war. Es erschien mir jedoch sinnlos, gegen die Abwehrmaßnahmen des Jalars vorzugehen. Ich hoffe, Sie haben nicht zu viele Geheimnisse dieser Art, Mr Meroth.“

„Nur ein paar!“, ließ Gordon sie wissen, wobei er sich fragte, wie sie herausgefunden hatte, dass seine kleine morgendliche Unternehmung etwas mit dem Jalar zu tun hatte. Er hielt es jedoch nicht für wichtig.

„Wir werden in drei Minuten landen!“, teilte der Pilot ihnen über die Bordsprechanlage mit.

Gordon blickte verträumt aus dem breiten Seitenfenster des fünfunddreißig Meter langen Schiffs. Über der Erde ging gerade die Sonne auf. Er hatte diesen Anblick schon öfters erlebt, bekam aber nie genug davon und wandte sich erst ab, als das Schiff in die Erdatmosphäre eintrat.

Dem Kartell schien einiges an seiner Sicherheit zu liegen, da sie ihm und Lieutenant Prune für ihre kurze Reise vom Mond zur Erde extra eine ihrer Kartell-Jachten zur Verfügung stellten.

„Ob sie auch da sein wird?“, fragte sich Gordon mit gemischten Gefühlen.

Natürlich kannte er die Antwort.

Schließlich war sie die Direktorin des Jalars. Ihr Erscheinen bei dem Prozess und der anschließenden Hinrichtung war Pflicht. Gordon hoffte nur, bei ihrem Anblick nicht gleich sein inneres Gleichgewicht zu verlieren.

„Bedrückt Sie etwas, Mr Meroth?“, fragte Sandrine mit besorgter Miene.

„Nein!“, antwortete Gordon, froh über ihre Ablenkung.

Er stand auf und kontrollierte den Sitz der modischen Schnalle seines Körperschutzschirms, den er als Hosengürtel unter dem frackähnlichen Jackett seines farngrünen Anzuges trug.

„Ich wünschte mir nur, dieses ganze Spektakel wäre bereits vorüber.“

Lieutenant Prune erhob sich ebenfalls.

Sie strich sich kurz über ihre dunkelbraune Hose aus Hotsan und richtete ihr ärmelloses, bordeauxrotes Top zurecht. Sie griff nach einer kurzen Jacke derselben Farbe und zog sie an.

„Vergessen Sie nicht, Ihren Gürtel anzulegen!“, erinnerte Meroth seine Leibwächterin. „Sind Sie eigentlich bewaffnet? Sie wissen doch, dass nur Agenten des Jalars innerhalb eines Administration-Towers eine Waffe tragen dürfen.“

„Ich bin eine Waffe!“, ließ Sandrine die Frage unbeantwortet, zog den angesprochenen Gürtel aus einer ihrer inneren Jackentaschen und legte ihn an.

„Und eine ziemlich scharfe!“, fügte Gordon in Gedanken hinzu, während Sandrine erhobenen Hauptes an ihm vorbeischritt und sich zur Schleuse begab.

„Junge, bist du noch ganz bei Trost? Du hast eine super Freundin, die voller Sorgen auf dem Mond auf deine Rückkehr wartet, und du denkst die ganze Zeit nur an andere Frauen.“

Die Kartell-Jacht ging auf einer der leicht bewaffneten Landeplattformen im oberen Fassadendrittel des Administration-Towers nieder. Ihre beiden Passagiere wurden von zwei in Schwarz gekleideten Jalar-Agenten in Empfang genommen. Sie führten ihre Gäste auf direktem Weg durch gesicherte Korridore zum Hauptgerichtssaal der Republic Justice.

Vor der Tür des halbkreisförmigen Saals kam es zu der Begegnung, die Meroth eigentlich vermeiden wollte.

„Gordon, meine Junge!“, unterbrach Lady Gillian ein Gespräch mit einem ihrer Agenten und trat Meroth entgegen.

Die schlanke Direktorin mit dem dichten nackenlangen hellblonden Haar schmiegte sich ungeniert an Meroth und küsste ihn auf beide Wangen. Die Frau mit dem Aussehen einer sehr rüstigen