Im Land Wu - Claude Peiffer - E-Book

Im Land Wu E-Book

Claude Peiffer

0,0

Beschreibung

Um den ungerechten Bündnisplanungen des Dorfrates und ihren Eltern zu entkommen, verlassen vier fast erwachsene Jugendliche ihre Heimat mit einem Fischerboot. Begleitet auf ihrer Reise über den Großen Teich werden sie von einem alten Eremiten, dem ein mysteriöses Buch seinen kurz bevorstehenden Tod verkündet hat. Auf der Suche nach Spuren der Vergangenheit reisen Caidian Meroth, Sinusi Khana, die Bandreso-Zwillinge Nele und Nila sowie Hosin Rowitsch gemeinsam in das unbekannte Land Wu. Hier hoffen sie, mithilfe der geheimnisvollen Mutter des Ursprungs und deren goldenen Vasallen mehr über die Entstehung ihres Dorfes Aman zu erfahren. Doch nichts ist so, wie es scheint. Das müssen die jungen Abenteurer schnell und schmerzlich erkennen. Konfrontiert mit der unrühmlichen Geschichte ihres Volkes, müssen die Amanen einen tragischen Verlust hinnehmen. Damit ihr Dorf überleben kann, müssen sie einen völlig unbekannten Weg gehen, der sie an die Grenzen ihres Verstandes bringt. Dabei dringen die jungen Leute in eine aufregende Welt vor, die jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt und von unheimlichen Wesen bewohnt wird, die ihnen weit überlegen sind. Wird es Caidian Meroth und seinen hübschen Begleiterinnen gelingen, diesen Weg unbeschadet hinter sich zu lassen? Wird die Gabe der Zwillinge weiterhin hilfreich sein oder gar Verderben bringen? Und welche Gefahren lauern in der zweiten Welt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 282

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Das Vergessen geschichtlicher Ereignisse ist ein schwerer Fehler. Doch Vorsicht, diese beinhalten nicht immer eine objektive Wahrnehmung.“

Ail Panek, erster Bürgermeister von Aman

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 13: Auf hoher See

25. Tag des Frühlings im Jahre 150 der Gründung von Aman

27. Tag des Frühlings im Jahre 150 der Gründung von Aman

Kapitel 14: Flussaufwärts

28. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

29. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 15: Leuchtturm mit Refugium

29. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 16: Die Mutter des Ursprungs

Vergangenheit, 8. Tag des Winters im Jahre 3 nach der Gründung von Aman

9. Tag des Winters im Jahre 3 nach der Gründung von Aman

37. Tag des Frühlings im Jahre 7 nach der Gründung von Aman

12. Tag des Winters im Jahre 15 nach der Gründung von Aman

14. Tag des Winters im Jahre 15 nach der Gründung von Aman

81. Tag des Sommers im Jahre 18 nach der Gründung von Aman

22. Tag des Sommers im Jahre 82 nach der Gründung von Aman

3. Tag des Frühlings im Jahre 100 nach der Gründung von Aman

Kapitel 17: Rätselhafte Clausura

30. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 18: Geheimnisvolle Vergangenheit

30. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

40. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 19: Zwischenspiel Aman

41. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

42. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

56. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

3. Tag des Herbsts im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

12. Tag des Herbsts im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

12. Tag des Herbsts im Jahre 151 nach der Gründung von Aman

21. Tag des Winters im Jahre 152 nach der Gründung von Aman

31. Tag des Frühlings im Jahre 154 nach der Gründung von Aman

Kapitel 20: An Bord der Amusgan

43. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 21: Geheimnisse rund um die Arche

43. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Kapitel 22: Überfordert

14. Tag des Herbsts im Jahre 151 nach der Gründung von Aman

Kapitel 13

Auf hoher See

25. Tag des Frühlings im Jahre 150 der Gründung von Aman

„Getrocknete Algen?“

„Deine Mutter verabreicht sie hauptsächlich zur Bekämpfung von Morgenübelkeit bei schwangeren Frauen!“

„Ich bin seekrank!“, beschwerte sich Caidian Meroth mit grünlichem Gesicht. „Nicht schwanger!“

Sinusi Khana hielt ihm ein offenes Leinensäckchen mit getrockneten, fein geschnittenen, bräunlichen Blättchen unter die Nase. Caidian schnupperte vorsichtig daran. Angewidert von einem penetranten Geruch zog er seinen Kopf zurück.

„Das stinkt nach totem Fisch!“, meckerte er weiter.

„Und du möchtest ein Mann sein?“, machte sich Nele über ihn lustig.

„Du benimmst dich eher wie ein kleines Kind!“, fügte Nila spöttisch hinzu.

Caidian ließ sich erst gar nicht auf die frotzelnden Kommentare der blonden Bandreso-Zwillinge ein. Was hatte er sich nur dabei gedacht, auf seiner Suche nach dem Land Wu ausgerechnet drei jungen Frauen mitzunehmen? Zugegeben, sie waren jede für sich einzigartig und er konnte auf ihre Hilfe nicht verzichten. Er bedauerte seine Entscheidung nicht, aber manchmal gingen sie ihm schon auf die Nerven.

Von Hosin konnte er bei dieser Konstellation keine große Unterstützung erwarten. Jedes Mal, wenn sich die drei auf ihn einschossen, hielt sich der alte Mann dezent im Hintergrund. Manchmal kam Meroth der Verdacht, Rowitsch würde sich köstlich über ihr pubertäres Geplänkel amüsieren. Vielleicht erinnerten sie ihn an seine eigene Jugendzeit, in der er noch sorgenfrei in Aman leben durfte.

„Los, nimm schon!“, ließ Sinusi nicht locker.

Die schwarzhäutige Frau stand am Steuerrad der Flosse. Sie achtete darauf, nicht vom Kurs abzukommen. Die Zwillinge hatten sich links und rechts von ihr postiert.

Caidian nahm ihr das Säckchen aus der Hand. Vorsichtig griff er mit Daumen und Zeigefinger hinein und zog ein paar der zerbrechlichen Algenblättchen hervor. Schnell steckte er sich diese in den Mund.

„Zufrieden?“, knurrte er widerstrebend.

„Schön langsam kauen!“, riet ihm Sinusi. „Die Blätter müssen sich gut mit deinem Speichel vermischen, damit sich ihre Wirkstoffe richtig entfalten können.“

„Ja! Ja!“, murmelte Meroth erschöpft vor sich hin und schwankte hinüber zur Backbord-Reling. Von dort aus konnte er wenigstens gleich ins Meer kotzen, wenn es ihm wieder übel wurde.

Seit sie vorgestern in See gestochen waren, hatte er kaum ein Auge zugemacht. Gegessen hatte er nur ein Stück trockenes Brot und einen Apfel. Mehr behielt er zurzeit nicht in seinem Magen. Dabei war das Meer ruhig. Es wehte nur ein leichtes Lüftchen, das gerade ausreichte, die Segel der Flosse zu füllen. Schnell kamen sie nicht voran.

Wenn Caidian seinen Berechnungen und der primitiven Darstellung einer Karte aus dem mysteriösen Buch über das Land Wu trauen konnte, hatten sie gerade mal die Hälfte der Strecke auf dem Großen Teich zurückgelegt. Mit ein wenig Glück würden sie übermorgen gegen Mittag die fremde Küste erreichen. Es sei denn, der Wind würde zunehmen und sie jagten keinen Hirngespinsten hinterher.

Caidian blickte hinab auf das dunkelblaue Meer.

Zu seinem Erstaunen musste er sich beim Anblick des Wassers nicht übergeben. Nur ein leichtes Gefühl der Übelkeit keimte in ihm auf. Er konnte es überwinden und atmete tief ein. Meroth blickte hoch und hielt sein Gesicht in die wärmende Sonne. Der stetige Geruch der See erschien ihm diesmal nicht mehr so unangenehm. Im Gegenteil! Die frische Luft war wohltuend.

„Das ekelhafte Zeug wirkt tatsächlich!“, murmelte er leise vor sich hin.

Er warf Sinusi einen dankbaren Blick zu. Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln.

Zur Sicherheit steckte er sich eine weitere Portion der Algenblättchen in den Mund. Während er artig kaute, starrte er das Säckchen in seiner Hand fragend an.

„Warum nimmt Sinusi eigentlich ein Mittel gegen Morgenübelkeit bei schwangeren Frauen mit auf die Reise?“, wunderte er sich.

Schlagartig wirbelten die absurdesten Gedanken durch seinen Kopf. Plante sie etwa …

„Unsinn!“, versuchte er sich selbst zu überzeugen. „Sie ist schließlich nicht Caressa!“

Er dachte kurz an die Frau seines verstorbenen Freundes, die sein Kind unter ihrem Herzen trug. Eine tragische Geschichte voll von Ängsten, Eifersucht, Gewalt und Intrigen. Schnell verdrängte er die Erinnerungen an dieses furchtbare Erlebnis wieder, versuchte nicht weiter an sein ungeborenes Kind zu denken, das – laut einer Vision der Zwillinge – ein Junge werden sollte.

Meroth verschnürte das Säckchen und steckte es in seine rechte Hosentasche. Er würde es Sinusi bei Gelegenheit zurückgeben. Vorsichtig schlenderte er an der Reling entlang zum Bug der Flosse, wo Hosin sich am Anker des Schiffes zu schaffen machte.

„Na, mein Junge!“, begrüßte ihn der alte Amane kameradschaftlich. „Setzen dir die Mädels nicht zu sehr zu?“

„Sie können manchmal schon sehr anstrengend sein!“, erwiderte Caidian ehrlich.

Er blickte hinüber zum Ruderstand, wo sich ihre Begleiterinnen angeregt unterhielten.

„Aber irgendwie gefallen mir ihre Sticheleien auch.“

„Das hat etwas mit Zuneigung zu tun, mein Junge!“, grinste Hosin vielsagend.

„Gut, dass du das Wort Liebe nicht verwendest hast!“

„Es ist manchmal nur ein kleiner Schritt von Zuneigung bis hin zur großen Liebe!“

„Ich bin nicht der Richtige für Sinusi!“, sprach Caidian das aus, worauf Hosin zaghaft hindeutete. „Und die Zwillinge sind sich selbst bestimmt.“

„Sinusi macht sich aber immer noch Hoffnungen.“

„Ich weiß!“, seufzte Caidian.

Er zuckte mit den Schultern.

„Aber was soll ich tun? Ich habe bereits mehrmals mit ihr über dieses leidige Thema und meinen Gefühle, die ich ihr gegenüber habe, gesprochen. Sie versicherte mir stets mich zu verstehen, machte mir aber gleichzeitig klar, dass sie ihre Empfindungen für mich nicht so einfach abstellen könnte. Wir werden ja sehen, wohin das führen wird.“

Rowitsch beendete seine Arbeit am Anker.

„Und was ist mit der geheimnisvollen, fremden Schönheit aus der Vision der Zwillinge?“, erkundigte sich Hosin.

„Die bereitet mir zurzeit am wenigsten Kopfzerbrechen!“, behauptete Caidian nachdenklich. „Ich mache mir mehr Sorgen um Nele und Nila.“

„Es ist unheimlich, wie sich ihre Gabe in den letzten Wochen ent wickelt hat!“, äußerte sich Rowitsch mit Bedacht. „Das macht mir richtig Angst!“

„Verständlich!“, beurteilte Meroth seine Aussage. „Das furchtbare Erlebnis mit deiner Schwägerin hat deutlich gezeigt, wie gefährlich ihre Visionen sein können. Nicht nur für die Zwillinge selbst, sondern ebenso für die Personen, die sie auf einer ihrer geistigen Abenteuer begleiten. Ob nun gewollt oder nicht!“

„Die Schwestern müssen lernen, ihre Fähigkeiten rasch in den Griff zu bekommen“, knurrte Hosin Rowitsch in seinen grauen Bart hinein, den er mittlerweile nicht mehr so lang und verwildert trug wie noch zu den Zeiten, die er unfreiwillig als Verstoßener im Laubwald verbracht hatte.

„Ich glaube schon, dass ihnen das irgendwann gelingen wird“, äußerte sich Caidian zuversichtlich. „Ihre Gabe entwickelt sich nur viel zu rasant. Zuerst konnten sie nur das Wetter vorhersagen. Es folgten Visionen, die das persönliche Schicksal einiger der Dorfbewohner betrafen, und erreichte bis jetzt seinen Höhepunkt, mit diesen merkwürdigen Abstechern in die Zukunft, bei denen man in einen Scheintod fallen, wenn nicht sogar sterben konnte.

Irgendwie erhärtet sich bei mir der Verdacht, dass dies erst der Anfang ist. Es graut mir davor verfolgen zu müssen, wie Nele und Nila sich zu etwas entwickeln, das normale Amanen nicht mehr begreifen können.“

„Und du ihnen somit nicht mehr beistehen könntest!“, erkannte Hosin Rowitsch das Dilemma seines jungen Freundes. „Du fürchtest, sie könnten auf Grund ihres Talentes von dem normalen Dorfleben ausgeschlossen werden. Bedenke dabei, dass ihre geistige Entwicklung nicht in deiner Verantwortung liegt.

Außerdem sind die Zwillinge lange nicht so zerbrechlich, wie es den Anschein haben mag. Gut, sie sind gerade erst zu jungen Frauen herangewachsen, doch ihr Verstand ist bereits viel reifer, viel weitgereister, als wir es uns vorstellen können. Die Mädchen sind etwas Besonderes, mein Junge! Eine Ausnahme der Evolution! Sie werden für die Zukunft unseres Volkes noch von großer Bedeutung sein. Da bin ich mir sicher!“

Caidian nickte stumm und fuhr sich mit beiden Händen durch sein wuscheliges, schwarzes Haar. Er wusste natürlich, dass Hosin Recht hatte. Die Weisheit des alten Mannes überraschte ihn immer wieder. Meroth war froh, dass Rowitsch sich dazu entschlossen hatte, sie auf ihrem Abenteuer in das vor ihnen liegende Unbekannte zu begleiten.

„Vielleicht erfahren wir am Ziel unserer Reise mehr über ihre Fähigkeiten.“

„Von der Mutter des Ursprungs!“, hakte Hosin nach. „Glaubst du wirklich, dass diese Frau noch am Leben ist? Sie müsste mittlerweile fast schon zweihundert Jahre alt sein.“

„Sie lebt! Das spüre ich deutlich! Kin Wu ist am Leben! Sie wird uns …“

Caidian stockte!

Aufgeregt deutete er aufs Meer!

„Siehst du den großen, dunklen Fleck dort drüben?“, fragte er Hosin.

Meroth streckte den Arm aus und zeigte auf eine gut fünf Meter vom Schiff entfernte Stelle auf der Wasseroberfläche. Sie war fast so groß wie die Flosse.

„Was ist das? Sieht so aus, als würde es das Schiff begleiten.“

Rowitsch kniff die Augen zusammen.

„Ich würde mal vermuten, ein Bewohner des Großen Teiches!“

„Von dieser Größe?“, wunderte sich Caidian. „Der wäre etwa fünfmal größer als ein ausgewachsener Shaki.“

„Wer weiß, welche sonderbaren Wesen der Große Teich alles beherbergt?“, gab der alte Mann beinahe ehrfürchtig von sich. „Ich hoffe nur, dieser Gigant wird nicht zu neugierig. Er könnte dem Schiff gefährlich werden.“

Caidian versuchte Sinusi auf den dunklen Schatten aufmerksam zu machen. In diesem Moment tauchte der Koloss aus dem Wasser auf. Eine mächtige Fontäne schoss aus dem vorderen Teil seines grauen Körpers hervor.

Sinusi reagierte sofort und ließ die Flosse nach Steuerbord abdrehen.

Durch den unerwarteten Schwung dieser Aktion verlor Hosin das Gleichgewicht und stürzte über die Reling. Caidian hörte die Zwillinge panisch aufschreien, kümmerte sich aber nicht um sie. Er blickte über das Geländer des Schiffes. Einen halben Meter unter dem Deck, mit den Unterbeinen im Wasser, hing Rowitsch. Der alte Mann hielt sich krampfhaft mit beiden Händen an einer Ausbuchtung in der Schiffswand fest. Meroth erkannte sofort, dass er ihn nicht mit seinen Händen erreichen konnte. Er sah sich nach einem Seil in seiner Nähe um, entdeckte die Lotleine, ergriff sie und ließ sie vorsichtig zu Hosin hinab.

Rowitsch schnappte nach dem rettenden Tau. Erst beim dritten Versuch erwischte er es.

Caidian versuchte ihn hinaufzuziehen, was sich als schwieriger erwies als erwartet. Zum Glück kamen ihm die Zwillinge zu Hilfe. Mit gemeinsamen Kräften gelang es ihnen, Hosin zurück an Bord zu hieven.

„Danke!“, keuchte Rowitsch erschöpft. „Das war knapp! Hätte nicht viel gefehlt und ich wäre Fischfutter gewesen. Bin wohl nicht mehr so standfest wie früher.“

„Deine Zeit ist eben noch nicht gekommen!“, machte Caidian eine Anspielung auf eine der geheimnisvollen Textpassagen, die das Buch über das Land Wu ihnen offenbart hatte. „Geh unter Deck und legt dich etwas hin. Ich löse Sinusi am Ruder ab. Sie soll mal nach dir sehen.“

„Ich bin in Ordnung!“, versicherte ihm Rowitsch.

„Keinen Widerspruch!“

„Aye, Kapitän!“, grinste Hosin matt. „Aber was ist mit unserem Begleiter?“

Caidian blickte sich um.

Das Meer war ruhig und das Ungeheuer verschwunden.

„Scheint abgetaucht zu sein!“, antwortete Caidian und hoffte, dem war auch so. „Helft Hosin in seine Kabine!“, bat er die Zwillinge.

„Hosin ist so weit in Ordnung!“, teilte Sinusi ihren Freunden mit. „Er hat sich nur ein paar leichte Prellungen geholt. Wenn er es in den nächsten Tagen etwas ruhiger angeht, wird er bald wieder fit sein.“

Sie löse Caidian am Ruderstand ab.

„Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht“, berichtete sie weiter. „Er wird wohl ein paar Stunden schlafen. Danach kann er die Nachtwache übernehmen.“

„Gut!“ nickte Caidian zufrieden.

„Was war das für ein Monster?“, wollte Nele von der Fischertochter wissen.

„Gibt es noch andere solche schrecklichen Ungetüme im Großen Teich?“, fragte Nila.

„Wahrscheinlich!“, antwortete Sinusi Khana unsicher.

Sie berührte kurz die juckende Stelle über ihrer linken Brust, wo Maso sie, beim Versuch sie zu vergewaltigen, verletzt hatte. Die Wunde heilte gut, jedoch würde eine Narbe zurückbleiben

„Als ich noch klein war, erzählte mir mein Vater eine Geschichte von zwei riesigen Kreaturen, die in den Tiefen des Großen Teiches leben würden. Er nannte sie einen Wal und einen Kraken. Was wir vorhin sahen, war nach seinen Beschreibungen ein Wal. Und glaubt mir, auf die Begegnung mit einem achtarmigen Kraken wollt ihr alle verzichten.“

Während Sinusi ihren Freunden die spannende und sehr fantasievolle Geschichte ihres Vaters erzählte, steuerte das Schiff gemächlich seinem Ziel entgegen.

27. Tag des Frühlings im Jahre 150 der Gründung von Aman

Müde betraten die Bandreso-Zwillinge ihre gemeinsame Kabine auf dem Unterdeck der Flosse, wo sie einen unerwarteten Gast vorfanden.

Caidian lag in ihrem Bett und schlief. Dabei schnarchte er leise vor sich hin. Das dünne, gräuliche Leinentuch unter dem er lag, bedeckte nur spärlich seinen schlanken, muskulösen Körper.

Fahles Mondlicht fiel durch das ovale Bullauge auf die Koje. Es reichte aus, um den nackten Leib des jungen Mannes schimmern zu lassen, wie der auf Hochglanz polierte Stoßzahn eines ausgewachsenen Waldschweins.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Nele Bandreso flüsternd ihre Schwester.

„Keine Ahnung!“, antwortete Nila ebenso leise.

„Er scheint unter der Decke vollkommen nackt zu sein“, bemerkte Nele mit leicht beklemmender Stimme.

Eine seltsame Erregung überkam sie.

Ein Gefühl, das sie an die körperlichen Intimitäten erinnerte, die sie mit ihrer Zwillingsschwester teilte.

Nila schien Ähnliches zu spüren.

„Er muss sofort raus aus unserem Bett! Und zwar schnell!“, bestimmte sie strikt.

Es klang jedoch nicht sehr überzeugend.

Vorsichtig griff Nila nach dem Laken. Langsam zog sie es von dem Eindringling runter. Der drehte sich dabei auf den Rücken und präsentierte den Mädchen seine ganze Männlichkeit.

Nele und Nila hielten sich an ihren Händen fest.

Sekundenlang starrten sie bewegungslos auf ihren nächtlichen Besucher. Noch nie zuvor hatten sie einen nackten Mann gesehen. Sie musterten jedes Teil seines Körpers sehr genau.

Wie von selbst glitten ihre dünnen Nachthemden an ihren schlanken Körpern herab. Nur noch mit knappen Unterhosen bekleidet, schritten sie gemeinsam auf ihr Bett zu. Vorsichtig ließen sie sich links und rechts neben Caidian nieder.

„Das ist nicht richtig!“, versuchte Nele sich und ihre Schwester von dem abzuhalten, was gleich passieren würde. „Wenn Sinusi davon erfährt, bringt sie uns um!“

„Ich weiß!“, gab ihre Schwester beschämt von sich. „Aber ich kann mich nicht zügeln. Das Verlangen in mir, ihn anzufassen, ist übermächtig.“

Gleichzeitig berührte jeweils eine Hand der Zwillinge die festen Oberschenkel des Mannes.

„Was ist los?“, stöhnte Caidian müde auf.

Er rieb sich seine vom Schlaf verklebten Augen und blickte die Zwillinge verwirrt an.

„Was soll das?“, fragte er verwundert.

Etwas bestimmter und klarer fügte er hinzu:

„Ich dachte, ihr wäret nicht an Jungs interessiert.“

Und fast schon gebieterisch ermahnte er sie:

„Ihr dürft das nicht tun!“

Caidian wollte aufstehen, doch die beiden Mädchen hielten ihn davon ab. Zufrieden bemerkten sie, wie er interessiert ihre kleinen Brüste begutachtete.

„Aufhören!“, stöhnte Meroth leise.

Lauter, fast schon befehlend sagte er:

„Verdammt! Raus aus meinem Kopf! Wacht auf! Ihr träumt nur!“

Erschrocken fuhren die Zwillinge aus dem Schlaf hoch, den sie aneinandergekuschelt absolviert hatten.

„Caidian, was tust du hier?“, fragten sie ängstlich ihren Freund, der halb nackt vor ihrem Bett stand.

„Die bessere Frage lautet wohl: Was treibt ihr hier?“, verlangte er besorgt nach einer Antwort und starrte sie weiter an, bevor er verlegen seinen Blick von den nackten Oberkörpern der Zwillinge abwandte.

„Ich dachte, ich hätte einen erotischen Traum von euch, bis ich aufwachte und bemerkte, dass ich gar nicht träumte, sondern eure Träume sich in meinen Kopf verirrt hatten. Wie ist das möglich? Ist das eine weitere Gabe von euch, die ihr bisher vor uns verheimlicht habt?“

Schamhaft zogen die Mädchen das Bettlaken über ihre entblößten Brüste.

„Wir wissen es nicht!“, suchten sie peinlich berührt nach einer Erklärung. „Das ist alles sehr irritierend! Einen solchen Traum hatten wir noch nie. Und du hast alles miterlebt?“

„Und zwar sehr intensiv! Eine ziemlich heiße Angelegenheit, muss ich gestehen!“, versuchte Caidian die Situation mit Humor aufzulockern, erreichte damit aber genau das Gegenteil.

„Wir wollten das nicht!“, meinte Nele weinerlich.

Nele und Nila Bandreso

„Bestimmt nicht!“, versicherte ihm auch Nila. „Wir mögen dich, aber nicht auf diese Art.“

„Es tut uns leid!“, sagten sie gemeinsam.

„Schon gut!“, winkte Caidian lässig ab.

In seinem Innern war er jedoch genauso verwirrt wie die Zwillinge. Die anhaltende Erektion in seiner Unterhose, dem einzigen Kleidungsstück, das er trug, sprach Bände. Zum Glück schienen Nele und Nila seine Unpässlichkeit nicht zu bemerken.

Meroth stellte fest, dass sich seine Gefühle zu ihnen schlagartig verändert hatten. Ihre Berührungen, selbst wenn sie nur in seinem Kopf stattgefunden hatten, zeigten Wirkung. Sie hatten eine Barriere zwischen ihnen eingerissen und eine Flut von ziemlich eindeutigen Gefühlen in seinem Kopf hinterlassen, die er wohl so schnell nicht vergessen würde.

Ob Nele und Nila Ähnliches verspürten?

Hatten sie seine Sinne mit ihrem Traum wirklich unbewusst beeinflusst?

Würde sich dieses emotionale Chaos in seinem Kopf wieder beruhigen?

Caidian setzte sich zu ihnen aufs Bett.

Unsicher wichen die Zwillinge vor ihm zurück.

„Was tun wir nun?“, fragte er einfühlsam. „Wir müssen uns mit dieser Angelegenheit auseinandersetzen. Das war ja offensichtlich keine eurer üblichen Vorahnungen.“

„Nein!“, stimmten Nele und Nila ihm zu. „Bestimmt nicht! Wir sind über diesen Vorfall genauso schockiert wie du. Aber wir können dir versichern, dass wir nicht das geringste sexuelle Interesse an dir haben.“

„Ich hingegen muss gestehen, meine körperliche Begierde für euch wurde durch dieses Erlebnis geweckt“, offenbarte Caidian den Zwillingen vorsichtig. „Es fällt mir schwer, euch das genau zu erklären. Ist wahrscheinlich etwas Psychologisches. So ein Männerding. Versteht ihr?“

Nele und Nila nickten eifrig.

Caidian glaubte nicht, dass sie verstanden hatten, was er ihnen mitteilen wollte. Wie konnten sie auch, er verstand es ja selbst nicht. Dennoch mussten sie versuchen, das Erlebte zu verarbeiten.

„Am vernünftigsten wird es wohl sein, wir legen uns wieder hin und versuchen weiterzuschlafen“, schlug Caidian den Mädchen vor. „Wenn möglich, ohne zu träumen. Befassen wir uns lieber morgen früh mit dieser Angelegenheit. Bis dahin haben wir hoffentlich wieder einen klaren Kopf.

Gute Nacht, ihr beiden!“

Meroth erhob sich von der Bettkante und verließ beinahe fluchtartig die Kabine.

„Hast du bemerkt, wie sehr seine Unterhose ausgebeult war?“, fragte Nele ihre Schwester.

„Er hatte eine Erektion! Wegen uns! Fürchterlich!“, gab Nila ihre Erkenntnis wimmernd kund. „Wir sind schuld an seinen sexuellen Empfindungen. Was für eine Demütigung!“

„Ach, so schlimm ist die Sache auch nicht“, versuchte Nele sie zu besänftigen. „Es ist sicher nicht seine erste Erektion. Wenn ich sehe, wie er den ganzen Tag über auf Sinusis Titten und ihren strammen Arsch glotzt, weiß er bestimmt auch, was er damit anfangen soll.“

„Nele!“, fuhr Nila ihre Schwester entsetzt an. „Wie redest du über unseren Freund?“

„Aber es stimmt doch!“, verteidigte sich Nele. „Er wäre der erste Mann, der sich nicht auf diese Weise befriedigen würde. Vor allem in seinem Alter. Denk doch nur an Maso, diesen Dreckskerl! Oder seinen kleinen versauten Bruder.“

„Du sollst nicht schlecht über Tote sprechen, lehrt das Buch der Vernunft.“

„Wie auch immer!“, wandte sich Nele ihrem Kissen zu. „Lass uns schlafen. Ich hoffe bloß, Caidian benutzt uns nicht als Wichsvorlage.“

Ein entwürdigender Gedanke, der Nila nur schwer Schlaf finden ließ.

Mit gemischten Gefühlen verließ Meroth die Kabine der Bandreso-Zwillinge. Es war mitten in der Nacht und er war müde. So ein Tag auf See war aufregender und anstrengender, als er es sich vorgestellt hatte. Ganz anders als ein Tag auf der Farm seines Vaters.

Dabei hatte er eigentlich nicht viel zu tun gehabt. Die meisten Arbeiten hatten Sinusi und Hosin erledigt. Sogar die Zwillinge hatten mehr vollbracht als er.

Dank Sinusis Medizin hatte er die letzten beiden Tage gut überstanden. Die anfängliche Übelkeit war fast vergessen. Sein Magen verarbeitete wieder Nahrung und die grünliche Bleiche war aus seinem Gesicht verschwunden.

Bevor Caidian es sich wieder in seiner Koje gemütlich machen wollte, brauchte er noch etwas frische Luft. Er stieg hinauf aufs Deck und sah sich nach Hosin um.

Rowitsch hielt am arretierten Ruder Wache. Das sollte er jedenfalls. Der alte Amane lag – mit dem Rücken gegen zwei Fässer gelehnt – hinter dem Speichenrad und war eingenickt.

Meroth ließ ihn schlafen.

Es war windstill und die Flosse bewegte sich kaum von der Stelle.

Da sie noch Stunden von der angeblich vor ihnen liegenden Küste entfernt waren, sah Caidian keine Gefahr für sich, seine Begleiter oder das Schiff. Er würde Hosin wecken, wenn er wieder unter Deck gehen würde.

Die Sache mit Nele und Nila ließ ihm keine Ruhe.

Verunsichert schlenderte er hinüber zur Reling.

Die Emotionen, die von den Zwillingen in seinem Kopf ausgelöst worden waren, gaben ihm einiges zum Nachdenken. Er fühlte sich benutzt. Gleichzeitig spürte er ein starkes sexuelles Verlangen nach den beiden Mädchen. Ein Verlangen, das ihm vorher fremd gewesen war und sich nun in sein Gedächtnis eingebrannt hatte.

Würde er es je wieder loswerden?

„Hypnotisiert!“, erinnerte er sich an ein Wort, einen Zustand, auf den er einmal in einem Buch aus der Schulbibliothek gestoßen war. Konnte er so die neue Fähigkeit der Zwillinge bezeichnen?

Caidian blickte über das ruhige Meer. Noch spendete der untergehende Mond im Westen etwas Licht. Er verfolgte den Lauf des unerreichbaren Erdtrabanten, bis er am Horizont verschwand.

„Warum konnten Sorgen nicht einfach so verschwinden wie der Mond und die Gestirne am Nachthimmel?“, sinnierte er. „Weil auch sie am nächsten Abend unverändert zurückkommen würden!“, gab er sich selbst die Antwort.

Ohne den Mond war die Nacht dunkler geworden. Die zählbaren Sterne am tiefschwarzen Firmament spendeten kaum Licht. Etwas weiter südlich von der Stelle, wo der Mond gerade untergetaucht war, fiel Caidian ein blaues Leuchten auf. Er dachte sich zunächst nichts dabei. Erst als das Leuchten in einem wiederkehrenden Rhythmus auftrat, nahm sein Interesse daran zu.

Er ging hinüber zu Hosin und weckte ihn durch einen sanften Tritt gegen die Beine.

„Bin voll wach!“, schreckte Rowitsch in die Höhe.

„Keine Panik!“, beruhigte ihn Caidian und half ihm hoch. „Es ist alles in Ordnung! Ich muss dir bloß was zeigen!“

Meroth deutete hinaus aufs Meer.

Hosins Augen folgten seinem Arm, brauchten aber eine Weile, bis sie das schwache Leuchten am Horizont aufspürten.

„Was ist das?“, fragte er.

„Ich glaube, dort liegt unser Ziel!“, teilte Caidian ihm seine Vermutung mit. „Das Leuchten ist wahrscheinlich eine Art Lockruf. Ein Signal, das uns den Weg zeigen soll.“

„Ist das nicht etwas weit hergeholt?“, gähnte Hosin Rowitsch skeptisch.

„Wieso? Denk doch nur an das Buch über das Land Wu! Ist das nicht ein ähnlicher Lockruf?“

„Der Vergleich hinkt!“, ließ Hosin nicht locker. „Aber wir sollten dennoch Sinusi wecken. Wenn du dieses Licht ansteuern möchtest, sollte sie wenigstens wissen, wo es zu finden ist.“

„Ich hole sie!“, sagte Caidian und verschwand unter Deck.

„Sinusi, bitte, wach auf!“

„Caidian!“, fuhr die schwarzhäutige Frau aus ihrem Schlaf hoch. Sie griff nach ihrer Decke. „Ist etwas passiert? Gibt es ein Problem mit der Flosse? Zieht ein Sturm auf?“

„Nein, nein! Beruhige dich! Es gibt keine Probleme“, versicherte Meroth ihr. „Ich muss dir bloß was zeigen! Ich habe ein seltsames Leuchten am Horizont entdeckt.“

„Jetzt?“, knurrte Sinusi Khana schlaftrunken. „Es ist mitten in der Nacht!“

„Es scheint mir wichtig! Hat wahrscheinlich etwas mit unserem Reiseziel zu tun!“

„Wahrscheinlich?“

„Komm schon! Das musst du mit eigenen Augen sehen!“

„Also gut!“, schüttelte Sinusi ihren Kopf.

Sie blickte Caidian ungeduldig an.

„Würdest du bitte draußen auf mich warten! Ich schlafe nackt und möchte mir was anziehen. Wenn möglich ohne glotzenden Zuschauer!“

„Natürlich!“, murmelte Meroth verlegen und stolperte aus der schwach beleuchteten Kabine.

„Du könntest mit deiner Vermutung recht haben!“

Sinusi beobachtete mit Interesse das blaue, scheinbar kreisende Leuchten am nordwestlichen Nachthimmel.

„In einer der Bücher, die du mir freundlicherweise vor unserer Abfahrt aufgezwungen hast“, erinnerte sie Caidian, „las ich einen Artikel über Leuchttürme, die unkundigen Seefahrern den Weg zu einem Hafen zeigten oder sie vor Untiefen warnen sollten.“

„Untiefen?“, brummte Hosin besorgt. „Wenn uns das Leuchten nun gerade in eine solche hineinführt?“

„Möglich wäre es!“, gab Caidian zu. „Ich glaube aber nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen.“

„Ich ebenso wenig!“, schloss sich Sinusi ihm an. „Warum sollte uns jemand mit einem geheimnisvollen Buch hierherlocken und uns dann mit Hilfe eines Leuchtturms an der Küste zerschellen lassen?“

„Genau!“, freute sich Caidian über ihre Zustimmung.

„Meinetwegen!“, gab sich Hosin Rowitsch geschlagen.

„Gut! Ich werde den Kurs leicht korrigieren und wieder schlafen gehen. Hosin, du überwachst weiterhin unsere Fahrt.“

„Aye, aye Kapitän!“, gab sich Rowitsch pflichtbewusst. Er deutete auf Caidian. „Und diese Landratte hier kannst du gleich mit runternehmen.“

Sinusi blickte Meroth fragend an.

„Was treibst du eigentlich hier oben? Solltest du nicht längst im Bett liegen und schlafen?“

„Ein lange Geschichte!“, antwortete er ihr zögernd. „Lass uns morgen früh darüber reden!“

Sinusi blickte wie versteinert an ihren Freunden vorbei.

Ihr Herz pochte wild.

Sie hatte die erklärenden Worte von Caidian und den Bandreso-Zwillingen vernommen. Ebenso ihre Entschuldigungen. Doch es fiel ihr schwer, das Gehörte zu verarbeiten. Sie fühlte sich betrogen. So, als ob ihr jemand etwas Wertvolles weggenommen hatte, das sie unbedingt zum Leben brauchte und das nur ihr gehörte.

„Du musst das verstehen!“, versuchte Nele sie weiter von der Harmlosigkeit des Vorfalls zu überzeugen. „Keiner von uns trägt daran eine Schuld.“

„Es war nur ein Traum!“, fügte Nila hinzu.

„Außerdem ist ja nichts passiert!“, half ihnen Caidian bei den Rechtfertigungen aus.

„Genau!“, stimmte Sinusi ihm leise zu.

Ihr trauriger Blick sagte jedoch etwas anders.

„Reden wir nicht mehr drüber! Kümmern wir uns besser wieder ums Schiff. Es kommt Wind auf. Mit ein wenig Glück erreichen wir schon heute Abend die fremde Küste.“

Sie verließ den notdürftig aufgestellten Frühstückstisch und ging hinüber zum Ruderstand.

„Sie scheint es einigermaßen gelassen aufzunehmen!“, glaubte Nele.

„Sie ist mir zu ruhig!“, entgegnete Nila.

„Na, ich weiß nicht!“, kratze sich Caidian am Hinterkopf. „Da kommt bestimmt noch Ärger auf mich zu.“

„Kennt ihr den Begriff Meditation, Mädchen?“, wechselte Hosin das leidige Thema.

Die Zwillinge schüttelten den Kopf.

„Einfach ausgedrückt“, fuhr Rowitsch fort, „sind das eine Reihe von Atemübungen, die einem dabei helfen sollen, mit Körper und Geist ins Gleichgewicht zu kommen.“

„Das hast du bestimmt aus einem der Bücher aus der Schulbibliothek?“, vermutete Nele.

Hosin nickte.

„Ich kann euch ein paar der einfacheren Übungen zeigen. Vielleicht helfen die euch dabei, eure Gabe zu kontrollieren.“

„Schaden können sie jedenfalls nicht!“, zuckte Nila mit den Schultern. „Und Zeit haben wir ja genügend!“

„Die müsst ihr auch mitbringen!“, lächelte Hosin wissend. „Meditieren lernt man nicht über Nacht.“

„Apropos Nacht!“, sagte Nele in einem Ton, der einen leichten Protest enthielt. „Nächstes Mal holt ihr uns, wenn ihr so etwas Aufregendes wie dieses blaue Leuchten entdeckt.“

„Geht klar!“, versprach Caidian den Zwillingen.

Kapitel 14

Flussaufwärts

28. Tag des Frühlings im Jahre 150 nach der Gründung von Aman

Am frühen Nachmittag kam die Küste in Sicht. Sie tauchte plötzlich hinter einer leichten Nebelwand auf, durch die Sinusi das Schiff mit achtsamen Augen geführt hatte.

„Sind wir am Ziel angelangt?“, fragte Nele gespannt.

„Ist dies das Land Wu?“ wollte Nila wissen.

„Ich nehme es an!“, äußerte sich Meroth mit Bedacht.

Den neugierigen Amanen an Bord der Flosse bot sich der Anblick eines schmalen steinigen Strands, gefolgt von einer leicht höher gelegenen, üppigen Vegetationslandschaft.

„Wir müssen uns mehr nördlichen halten!“, wandte sich Caidian an Sinusi, während das Schiff geradewegs auf das vor ihnen liegende Ufer zusteuerte. „Die Mündung der Temz müsste höher liegen.“

Wortlos änderte Sinusi den Kurs.

„Das Land sieht fruchtbar aus!“, erkannte Hosin fachmännisch. „Wäre ein guter Ort zum Siedeln.“

„Siedeln?“, horchte Caidian überrascht auf. „Warum sollte ein Amane auf diesen Gedanken kommen? Die Häuser in unserem Dorf sind nicht einmal zur Hälfe bewohnt. Außerdem gibt es Pläne für einen Ausbau von Aman, der mehreren zukünftigen Generationen ein Zuhause bieten wird. Hinzu kommt, dass wir rund um den Ort alles haben, was wir zum Leben benötigen.“

„Stimmt!“, musste Rowitsch eingestehen. „War nur so eine Idee.“

„Dennoch könnte jemand das unbekannte Land erforschen“, warf Nele ein.

„So was liegt dir doch im Blut, nicht wahr Caidian?“, beeilte sich Nila hinzuzufügen.

„Das wäre schon eine große Herausforderung“, überlegte Meroth. „Dennoch müsste es einen guten Grund dafür geben. Zum Beispiel einen Mangel an Rohstoffen in Aman. In dem Fall würde ich jedoch eher das nur teilweise erkundete Gebiet hinter dem Laubwald vorziehen. Liegt näher am Dorf. Doch vorerst braucht sich niemand über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Halten wir jetzt lieber Ausschau nach der Temz. Der Fluss müsste jeden Moment vor uns auftauchen.“

Es dauerte noch eine knappe Stunde, bis die breite Flussmündung vor ihnen erschien. Schweigen hatte die ruhige Fahrt der Flosse entlang der Küste begleitet. Eine ungewohnte Ruhe, die anhielt, während das Schiff vorsichtig den Fluss hinauffuhr.

Das Bett der Temz war breiter als das des heimatlichen Calls. Die Strömung hingegen deutlich schwächer. Die lehmigen Ufer waren mit hohem Schilf bestückt, teilweise auch steinig, vor allem in Küstennähe.

Der Wind hatte erneut nachgelassen.

Die Bandreso-Zwillinge hatten das Großsegel eingefahren und gesichert. Nur noch das kleinere Bugsegel trieb das Schiff voran.

Je tiefer die Flosse in das unbekannte Land Wu vordrang, desto angespannter wurde deren kleine Besatzung. Sinusi hielt das Schiff nahe dem rechten Ufer. Am Bug hielt Hosin Ausschau nach gefährlichen Untiefen.

Sinusi Khana

Caidian stand tatenlos neben der Steuerfrau und blickte gegen die tief stehende Sonne.

„Es wird wohl das Beste sein, beizeiten vor Anker zu gehen!“, schlug er vor.

Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach Steuerbord.

„Die kleine Bucht dort drüben sieht einladend aus.“

„Von mir aus!“, knurrte Sinusi, verstellte leicht das Ruder und ließ die Flosse sanft auf die angesprochene Stelle hinsegeln.

„Angenehmes Wetter für einen Frühlingstag!“, versuchte Caidian mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Er musterte sie kurz.

In ihren knappen Einteilershorts mit dem dünnen, offenherzigen Oberteil sah Sinusi ziemlich attraktiv aus. Viel erwachsener und weiblicher als die Bandreso-Zwillinge.

Die heilende Wunde über ihrer linken Brust fiel zwar ins Auge, stellte aber keinen Makel dar. Jedenfalls nicht für Caidian. Im Gegenteil.

Sinusi bemerkte seine eindeutigen Blicke.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte sie verächtlich und arretierte das Ruder. „Ich habe weitaus mehr zu bieten als Nele und Nila, nicht wahr? Aber das hast du sicher längst bemerkt!

Lass den Anker runter, Hosin!“, rief sie Rowitsch zu.

Der alte Amane winkte kurz und betätigte die Ankerwinde.

„Was soll das?“, hielt Caidian Meroth sie am Unterarm fest, als sie versuchte sich an ihm vorbeizuzwängen. „Was habe ich jetzt schon wieder verbrochen? Bist du etwa eifersüchtig?“

„Natürlich bin ich eifersüchtig!“, fuhr sie ihn aufgebracht an und riss sich los. „Du bist nicht ehrlich zu mir, spielst immer den Unnahbaren und plötzlich hegst du sexuelle Gefühle für die Zwillinge! Und zwar eindeutige, wie du selbst zugegeben hast!

Mir hast du aber stets versichert, dass du dich zu keiner von uns in der Art hingezogen fühltest. Dass du für so eine Beziehung noch gar nicht bereit wärst. Aber allein dadurch, wie du mich immer ansiehst, kann ich das nicht glauben. Hinzu kommt dein unrühmliches Abenteuer mit Caressa!“

„Du siehst das falsch!“, versuchte Caidian die Ruhe zu bewahren. „Ich habe nur gemeint, dass die beiden eine gewisse Anziehung auf mich ausüben würden“, versuchte Meroth ihr erneut zu erklären. „Und das auch wiederum nur, weil sie in meinem Kopf herumspukten. Und die Sache mit Caressa …“

„Alles fadenscheinige Ausreden!“, ließ Sinusi nicht locker. „ Gib es doch zu! Du fühlst dich zu den Zwillingen hingezogen. Das hast du selbst gesagt! Liebst du sie auch? Oder siehst du in ihnen nur Spielgefährtinnen fürs Bett?“