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Dr. Ralph Skuban

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Beschreibung

Der bekannte Yoga-Experte Ralph Skuban erklärt in diesem die uralte Yoga-Lehre des Sankhya für die Menschen der heutigen Zeit, mit ihren aktuellen Problemen und Bedürfnissen. Dabei verbindet er seine Interpretation auf geniale Weise mit der spirituellen Literatur aus den verschiedensten Kulturen. Sein Anliegen ist es zu zeigen, dass diese für den Yoga grundlegende Philosophie nicht nur zeitlos, sondern vor allem Ausdruck eines universellen Wissens ist. In der Jahrtausende alten indischen Philosophie, die die Basis für den Yoga bildet, gibt es ein vielschichtiges Konzept von der Psychologie des Menschen. Der zentrale Punkt ist die Selbstverwirklichung. Daneben enthält Sankhya eine Schöpfungslehre, ein psychologisch-spirituelles Modell des Menschen und eine Philosophie der Befreiung. Nicht umsonst ist diese Weisheitslehre die Grundlage auch der "Yoga-Sutren" des Patanjali und der ayurvedischen Heilkunst. Anschaulich, begrifflich genau und stets mit Bezug zu heute entschlüsselt Ralph Skuban in diesem Standardwerk diese reiche Tradition. Wer dieser Lehre folgt, begibt sich auf eine ebenso intellektuelle wie praktische Reise. "Erst wenn wir erkennen, wer wir nicht sind, können wir unser innerstes Wesen entdecken und Freiheit erlangen."

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Dr. Ralph Skuban

Die Psychologie des Yoga

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Über dieses Buch

Der bekannte Yoga-Experte Ralph Skuban erklärt die uralte Yoga-Lehre des Sankhya für die Menschen der heutigen Zeit, mit ihren aktuellen Problemen und Bedürfnissen. Dabei verbindet er seine Interpretation auf geniale Weise mit der spirituellen Literatur aus den verschiedensten Kulturen. Sein Anliegen ist es, zu zeigen, dass diese für den Yoga grundlegende Philosophie nicht nur zeitlos, sondern vor allem Ausdruck eines universellen Wissens ist.

Erst wenn wir erkennen, wer wir nicht sind, können wir unser innerstes Wesen entdecken und Freiheit erlangen. In der jahrtausendealten indischen Philosophie, die die Basis für den Yoga bildet, gibt es ein vielschichtiges Konzept von der Psychologie des Menschen. Der zentrale Punkt ist die Selbstverwirklichung. Daneben enthält Sankhya eine Schöpfungslehre, ein psychologisch-spirituelles Modell des Menschen und eine Philosophie der Befreiung. Nicht umsonst ist diese Weisheitslehre die Grundlage auch der Yogasutren des Patanjali und der ayurvedischen Heilkunst. Anschaulich, begrifflich genau und stets mit Bezug zu heute entschlüsselt Ralph Skuban diese reiche Tradition. Wer dieser Lehre folgt, begibt sich auf eine ebenso intellektuelle wie praktische Reise.

Inhaltsübersicht

Widmung

Einführerndes Zitat

Vorwort

Einführung

Kapila, der rote Zauberer

Schöpfungslehre und spirituelle Psychologie

Praktische Philosophie

Die Psychologie des Yoga

Negative Räume

Drei Arten von Duhkha

Spirituelle Blindheit

Ein Gedankenexperiment zur Selbsterforschung

Von der Unterscheidung der Grundprinzipien

Ursache und Wirkung

Die Logik der Ewigkeit

Michelangelo und David

Die zwei Gesichter von Prakriti

Das erste Gesicht von Prakriti: reines Potenzial

Das zweite Gesicht von Prakriti: die Welt

Die Erde – so klein wie ein Reiskorn

Purusha

Der scheinbar Gefangene

Der Purusha-Beweis

Der Lahme und die Blinde

Warum nur, Purusha, warum?

Das reine Bewusstsein »befreien«

Die drei Gunas

»Mag ich, mag ich nicht, ist mir egal«

Sattva, Rajas und Tamas

Von »guten« und »schlechten« Gunas

Was ist Geist?

Begriffsverwirrung im westlichen Denken

Antahkarana, das »innere Organ«

Manas, die äußere Ebene des Geistes

Ahamkara, das Ego

Buddhi, die innere Ebene des Geistes

Das psychologische Herzstück des Sankhya: Buddhi und die Bhavas

Chitta, die Datenbank

Das innere Organ im Überblick

Äußeres Organ, inneres Organ und die Zeit

Der Geist und die Vitalkräfte

Wie gelangen wir zu Wissen?

Die Welt im Spiegel des Geistes

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Meditation und Soheit

Feiner Stoff, grober Stoff

Wie kommt das Pferd in meinen Kopf?

Die grobstofflichen Elemente

Die feinstofflichen Elemente

Schöpfung und Heimkehr

Die Entfaltung des Kosmos aus der Quelle

Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

Die 25 Tattvas – eine Zusammenschau

Der feinstoffliche Körper

Die außerkörperliche Erfahrung

Gott und andere Probleme

Kein Platz für Gott?

Eine Welt voller Purushas

Anhang

Die Sankhya Karika

Glossar

Literatur

Danksagung

Für meinen Bruder Jürgen

Früh schon legte er seinen Mantel ab.

Die Augen schauen,

doch sie können es nicht sehen.

Die Ohren hören,

doch sie können es nicht hören.

Die Hände greifen,

doch sie können es nicht berühren.

Jenseits der Sinne liegt das Große Eine – unsichtbar, unhörbar, unfassbar.1

Laotse Tao Te King (500v.Chr.)

Vorwort

von Anna Trökes

Der Yoga ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Fast jeder Mensch in der westlichen Welt kennt ihn, und sehr viele sind mit der Übungspraxis des Yoga in Berührung gekommen. Sie haben erfahren, dass die Yoga-Übungen – die Asanas – einen Wandlungsprozess auf der körperlichen Ebene eingeleitet haben: Sie finden zu mehr Kraft und Beweglichkeit, haben weniger Schmerzen und können besser entspannen. Bei einigen führt nun diese Übungspraxis, die im Körper beginnt und ganz gezielt den Atem mit einbezieht, zu dem Gewahrsein, dass auch ihr Geist und ihre Seele in diesen Prozess mit einbezogen werden wollen. Sie merken, dass der Yoga sie auch auf einer psychischen Ebene erreicht, ja, dass er sogar am besten als ein MIND-BODY-Prozess zu beschreiben ist.

Ein Mensch, der sich wirklich auf diesen Übungsweg einlässt, beginnt Erfahrungen damit zu machen, dass in ihm Potenziale ruhen, die er mit den Mitteln des Yoga zur Entfaltung bringen kann. Und das größte Potenzial, das wir gemäß den Lehren des Yoga zu entfalten vermögen, ist unser eigener, innerster Wesenskern, unser SELBST.

Ralph Skuban beschreibt, wie wir erkennen lernen, dass »der Mensch ein körperliches, geistiges und transzendentes Wesen ist: ein Wesen, das mit beiden Füßen auf der Erde steht, mit Herz und Geist in ihr lebt, doch dessen innerster Kern spiritueller Natur ist«.

Als solch ein Mensch begegnet uns auch Ralph Skuban selbst.

Mit seiner Psychologie des Yoga schenkt er der Yogawelt ein Buch, das einen Erkenntnisweg aufzeigt, der »ganz im Konkreten, im ganz Offensichtlichen und Lebenspraktischen gegründet ist«.

Dieser Erkenntnisweg ist der des Sankhya.

Die Sankhya-Lehre liegt fast allen Strömungen der Yoga-Philosophie zugrunde. Sie ist eine Philosophie, die in sich eine erstaunliche Logik und Stringenz aufweist, die aber kaum jemand in ihrer Komplexität versteht. Lesen wir nur die Texte, so bleibt sie uns fremd, mehr noch, in ihrer Strenge können sie uns sogar abstoßen.

Ralph Skuban schafft nun mit diesem Buch für mich etwas absolut Bemerkenswertes: Er macht mir die Sichtweise des Sankhya verständlich und gibt einer Lehre, die ich bis dahin immer als regelrecht »blutleer« empfunden hatte, plötzlich ein Herz. Ein lebendiges, fühlendes, pulsierendes Herz!

Das ist nur möglich, weil Skuban den Sankhya offensichtlich vom Herzen her zu verstehen gelernt hat. So wird es möglich, dass er daraus wahrhaft eine »Psychologie des Yoga« entwickelt, die ungemein ansprechend, berührend und – wie alle Yoga-Philosophie – überraschend zeitlos ist.

Ralph Skuban übersetzt den uralten Text der Sankhya Karika von Kapila für die Menschen der heutigen Zeit, mit ihren aktuellen Problemen und Bedürfnissen. Dabei verbindet er seine Interpretation auf geniale Weise mit Werken spiritueller Literatur aus den verschiedensten Kulturen, sodass wir begreifen, dass der Sankhya nicht nur zeitlos, sondern vor allem Ausdruck eines universellen Wissens ist.

Da ich selbst die Lektüre dieses Buches als so außerordentlich bereichernd und inspirierend empfunden habe, wünsche ich ihm eine weite Verbreitung.

 

Danke an Ralph Skuban für dieses besondere Buch!

 

Namasté

Anna Trökes

Einführung

Wie die Tänzerin ihren Tanz beendet, wenn das Publikum sie gesehen hat, so beendet die Schöpfung ihr Wirken, wenn sie sich dem inneren Licht offenbart hat.2

Sankhya Karika von Ishvarah Krishna (um 400n.Chr.)

Kapila, der rote Zauberer

In der Bhagavad Gita, der wohl meistverehrten Schrift Indiens, bittet der Bogenschütze Arjuna seinen Lehrer Krishna um eine Offenbarung: Er will wissen, wie das Höchste oder Gott sich in der Welt zeigt. Krishna antwortet:

Alles, was majestätisch ist, schön oder stark:

Wisse sicher, dass ein Teil meiner Macht dessen Quelle ist.3

Dann benennt Krishna heilige Orte, Gottheiten und Wesen, in deren Einzigartigkeit, Größe und Vollkommenheit sich Gottes Gegenwart ausdrückt – es ist eine wahre Hall of Fame des Höchsten. Nur wenige Menschen haben dort ihren Ehrenplatz, darunter auch ein alter Weiser. Krishna sagt:

Unter den Weisen bin ich Kapila.4

Was ist so ungewöhnlich an diesem Menschen namens Kapila, dass Krishna von ihm sagt, Gottes Größe drücke sich durch ihn aus? Die Antwort lautet: Es ist Sankhya, jene spirituelle Philosophie und Psychologie, die wir Kapilas Genie verdanken. Sie wurde zur Grundlage der wichtigsten Schriften Indiens: Ohne Kapilas Sankhya gäbe es nicht das Mahabharata, Indiens größtes Epos. Es gäbe nicht die Bhagavad Gita, die nach der Bibel und dem Tao Te King die meistgelesene Schrift der Welt ist. Auch Patanjalis Yogasutra, die grundlegende Schrift des Yoga, wäre nie geschrieben worden. Und das gilt für viele weitere Schriften. Auch Ayurveda, das traditionelle indische Medizinsystem, lebt ganz aus dem Geist des Sankhya. Sie alle hätten nie das Licht der Welt erblickt, wenn es Kapila nicht gegeben hätte.

Über Kapila als historische Person weiß man ebenso wenig wie über Patanjali, den Verfasser des Yogasutra. Sein Name bedeutet so viel wie: »roter Zauberer«.5 Was von ihm bekannt ist, das ist mehr Legende als historische Wahrheit. Kapila gilt als muni: ein Mensch, der zur Selbstverwirklichung fand. Oft wird er auch rishi genannt, wie jene Seher, denen sich das Höchste im Wort der Veden offenbart hat. Durch Meditation und Kontemplation zur Erleuchtung gelangt, soll er einst sein Wissen an seine Mutter weitergegeben haben: Der geniale Sohn lehrt also seine Eltern, nicht umgekehrt. In seiner umfassenden Enzyklopädie schreibt der indische Autor Vettam Mani über Kapila: »Kapila war ein großer Yogi. Die Lehre des Yoga gründet auf der Sankhya-Philosophie von Kapila. Seine Sankhya-Lehre […] beinhaltet den exakten Yogaweg der Meditation. Sie gibt dir jenes spirituelle Wissen, das deine Blindheit völlig beseitigt.«6

Dass wir so wenig über Kapila wissen, ist, so seltsam es klingen mag, sogar entlastend, denn so müssen wir uns nicht lange mit der Person und ihrer Geschichte, ihrem Herkommen, ihren Beweggründen und Besonderheiten aufhalten, sondern können uns ohne Umwege dem Inhalt seiner Lehre zuwenden. Es ist die Botschaft, die zählt, nicht so sehr der Botschafter. Wenn die Menschen sich zu sehr auf den Botschafter einer Wahrheit ausrichten, neigen sie dazu, aus ihm einen Gott zu machen und einen Verehrungskult zu entwickeln. Am traurigen Ende einer solchen Entwicklung steht nur allzu oft der blutige Streit über die Frage, wessen Gott denn der wahre sei. Kapila blieb dieses Schicksal zum Glück erspart. Kapilas Denken wurde von den Veden inspiriert, jenen uralten, göttlichen Offenbarungstexten, aus denen nahezu alle spirituellen Wege Indiens schöpfen. Und es war so einflussreich, dass es sogar auf diese zurückgewirkt hat: Einige der wichtigsten Upanishaden, der mystische Teil der Veden, sind direkt beeinflusst vom Sankhya, so zum Beispiel die berühmte Svetashvatara Upanishad: Sie ist eine Sankhya-Schrift durch und durch, und Kapila taucht darin sogar namentlich auf. In ihr findet sich zudem erstmals die Idee vom Rad des Lebens: Alle Wesen sind darauf gebunden und den Gesetzen von Geburt, Tod und Wiedergeburt so lange unterworfen, bis sie die wahre Natur ihres Seins erkennen. Solange dies nicht geschieht, durchleben wir immer wieder neue Existenzen und die vielen Probleme, die zu ihnen gehören. In den Worten der Svetashvatara Upanishad:

Das weite All ist ein Rad. Alle Wesen darauf sind Geburt, Tod und Wiedergeburt unterworfen. Fort und fort dreht es sich und hört niemals auf. Es ist das Rad Gottes.

Solange das individuelle Selbst denkt, es sei getrennt von Gott, wird es sich mit diesem Rad drehen, gefangen in der Gesetzmäßigkeit von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Doch erkennt es durch die Gnade Gottes seine Einheit mit ihm, dann dreht es sich nicht länger auf dem Rad.

Es erlangt Unsterblichkeit.7

Das Rad des Lebens heißt in der Sanskritsprache bhavachakra, das heißt wörtlich »Rad der Zustände«. Gemeint sind die Zustände unseres Bewusstseins. Es ist, wenn man so will, ein spirituell-psychologisches Rad. Und wie Kapila von acht Bewusstseinszuständen oder bhavas spricht, von denen noch ausführlich die Rede sein wird, so finden sich im Rad des Lebens acht Speichen. Zwar verbinden die meisten Menschen das Lebensrad mit der Lehre Buddhas, doch war er ebenfalls stark vom Sankhya geprägt. Wie gut passt doch dazu, dass die nordindische (und heute in Nepal liegende) Geburtsstadt Buddhas den Namen Kapilavastu trägt, das heißt übersetzt: die Wohnstatt Kapilas. Auch der Buddhismus ruht also auf dem Sankhya-Yoga. Bhavachakra ist Kapilas Rad.

Schöpfungslehre und spirituelle Psychologie

Die wichtigste Inspirationsquelle Kapilas ist der Nasadiya, der Schöpfungsmythos des Rigveda, dem ältesten vedischen Text überhaupt. Dort heißt es:

Da war nicht Sein noch Nicht-Sein.

Da waren kein Raum und kein Himmel darüber.

Wer brachte Bewegung, wo und für wen?

Gab es da Wasser von grundloser Tiefe?

Es gab nicht Tod, noch Unsterblichkeit.

Kein Zeichen der Unterscheidung von Tag und Nacht.

Das Eine atmete ohne Atem aus eigenem Antrieb.

Nichts Anderes war als das Eine.

Im Anfang war Dunkelheit von Dunkelheit verborgen.

Nicht unterschieden – alles Wasser.

Das Eine, die Kraft des Lebens, von Leere verhüllt:

Es stieg auf durch Tapas, die Kraft der Hitze.8

Dieses »Urmeer« oder die »Urflut« ist ein Bild für den Zustand vor der Schöpfung, das wir ganz ähnlich auch von anderen Kulturen und aus der Genesis, dem Schöpfungsbericht der Bibel, kennen: Es ist sozusagen ein »schöpfungs-psychologischer Archetyp«. Das Urmeer heißt in der Sankhya-Philosophie avyakta prakriti: die nicht-geschaffene oder nicht-manifeste Urnatur. Sie ist die Wurzel, aus der der Baum des Lebens wächst. Wir könnten sie, moderner gewendet, auch reines Schöpfungspotenzial nennen. Dieses Buch wird sich in einem eigenen Kapitel noch genau damit beschäftigen. Doch hier schon so viel: Am Anfang der Zeit, noch vor der Schöpfung, ruht das Potenzial in völliger Stille und in totalem Gleichgewicht – bis purusha, die Kraft reinen Bewusstseins, auf sie einwirkt und so die Schöpfung in Gang setzt. Es ist gleichsam, als würde Gott sagen: »Es werde!« Beginnend mit purusha und avyakta prakriti entfaltet die Sankhya-Philosophie dann 25 Elemente oder tattvas und präsentiert uns ein vollständiges Bild der Welt, das vom feinstofflichsten Sein bis hin zur grobstofflichen Materie reicht. Es spannt damit den Bogen von der Transzendenz über den menschlichen Geist bis hin zur greifbaren Welt.

Doch Kapila hat mehr vor, als uns nur die Schöpfung zu erklären und ihre Elemente aufzuzählen. Ein Sankhya-Lehrer namens Pancasikha sagte vor langer Zeit: »Wer die 25 tattvas kennt […], der erlangt die Erlösung, darüber besteht kein Zweifel.«9 Sankhya will den Menschen zur Erkenntnis seines innersten Wesens führen, zum inneren Licht reinen Gewahrseins, das ungeboren und unsterblich ist. Dies zu erkennen ist das höchste Ziel, das Menschen sich stecken können.

Zu erfahren, wer oder was wir in Wahrheit sind, verlangt, dass wir erkennen, wer oder was wir nicht sind: nämlich Körper, Denken und Fühlen, die ganze Vielheit der aus tattvas zusammengesetzten relativen Wirklichkeit. Diesen Erkenntnisprozess nennt man viyoga, das Lösen falscher Identifikationen oder das Kappen der mentalen Seile, die uns an die vergängliche Welt mit ihren oft so schmerzhaften Erfahrungen binden, eine Bindung, die auch samyoga genannt wird. Sankhya strebt nicht weniger an als eine komplette mentale Neuausrichtung, die zugleich eine Anbindung an die Kraft des Höchsten ist. »Anbinden« oder »anschirren«, das heißt in der Sanskritsprache: yoga. Viyoga also beendet samyoga und führt schließlich zu yoga, dem unsagbaren Bewusstseinszustand vollkommenen inneren Friedens.

Sankhya erklärt uns die Schöpfung. Und es entwirft zugleich ein mehrdimensionales Bild vom Menschen: Es zeigt ihn als körperliches, geistiges und transzendentes Wesen: ein Wesen, das mit beiden Füßen auf der Erde steht, mit Herz und Geist in ihr lebt, doch dessen innerster Kern spiritueller Natur ist. So ist die Sankhya-Philosophie sogar drei in einem: eine Schöpfungslehre, ein psychologisches Modell vom Menschen und eine Philosophie der Befreiung. Diese Mehrdimensionalität findet sich übrigens im Wort Sankhya selbst wieder: Sprechen wir es mit einem kurzen a, dann heißt es Aufzählung und erinnert uns an die verschiedenen Elemente der Schöpfung und den Aufbau der Welt. Wenn wir das a jedoch lang sprechen, dann meint Sankhya so viel wie absolutes Wissen oder vollkommene Erkenntnis – Erkenntnis, die befreit.

Praktische Philosophie

Kapila lebte etwa um 600 vor Christus. Damit ist Sankhya nicht nur das älteste geschlossene philosophische System Indiens, sondern wahrscheinlich sogar das älteste der Menschheit überhaupt. Nur ein einziger Text ist überliefert, der Kapilas Philosophie geschlossen und vollständig darlegt. Dies ist die Sankhya Karika (im Folgenden Karika genannt), die jedoch erst im 6. Jahrhundert nach Christus – also mehr als tausend Jahre nach Kapila – von einem Mann namens Ishvarah Krishna verfasst wurde. Der Stand der Sankhya-Wissenschaft, wie in der Karika formuliert, gilt auch als klassisches Sankhya.

Die Karika ist eine dichte Zusammenfassung der Prinzipien dieser Philosophie. Ihre 72 Verse (die im Anhang zu diesem Buch in vollständiger Übertragung vorliegen) sind aus sich selbst heraus kaum verständlich, sondern hochgradig erklärungsbedürftig. Das ist ganz typisch für die alte Lehrtradition Indiens. Die knappen Lehrsprüche oder sutras der Schriften wurden auswendig gelernt und dienten Lehrern wie Schülern als Leitfaden und Erinnerungshilfe, an der man sich in Lehre und Studium orientierte und über die man immer wieder nachdachte und meditierte.

Vielleicht liegt es an der augenscheinlichen Komplexität der Sankhya-Philosophie, dass ihr nicht eine so große Popularität zuteilwurde wie dem später entstandenen Yogasutra von Patanjali, der in vollen Zügen aus Kapilas Denken schöpfte. Die meisten Menschen, die sich mit Yoga beschäftigen, haben schon von Patanjali gehört, haben vielleicht auch ein paar grundlegende Kenntnisse in seiner Schrift. Doch deren Fundament, die Sankhya-Philosophie, ist nahezu unbekannt geblieben. Das Yogasutra verstehen zu wollen, ohne etwas von Sankhya zu wissen, ist ein wenig so, als würde man ein Haus auf zu weichem Boden bauen: eine wackelige Angelegenheit. Anders als Sankhya, das im Wesentlichen ein Weg des »höheren Denkens« ist, hat Patanjali einen eher praktischen Zugang zum Thema Yoga: Er stellt eine Vielzahl von ganz konkreten Methoden vor, die den spirituell Suchenden auf seinem Weg unterstützen. Freilich bleibt sein Text ohne das Wissen um die wichtigsten Elemente des Sankhya dennoch in weiten Teilen kryptisch.

Patanjalis Yogasutra mag praxisorientierter erscheinen als Kapilas Sankhya. Doch es wäre ein Fehler, die Sankhya-Philosophie deshalb als reine Theorie einzustufen, denn ihr Ziel ist ein zutiefst praktisches in einem existenziellen Sinne: Es geht ihr um die Heimkehr zu der Quelle, aus der wir alle kommen. Kapilas Thema ist die Selbstverwirklichung und damit die endgültige Befreiung des Menschen aus der prinzipiellen Leidhaftigkeit des Seins. So haben die Philosophie des Sankhya und die Praxis des Yoga dasselbe Ziel, mehr noch: Im Kern sind sie eins. Krishna sagt zu Arjuna:

Narren, nicht aber Weise, sagen, dass

Sankhya und Yoga verschieden wären.10

Weil das so ist, spricht Krishna auch vom Sankhya-Yoga. Manchmal nennt er es auch Jnana-Yoga, den Weg der Erkenntnis. Wenn hier übrigens immer wieder von Erkenntnis die Rede ist, sollten wir dabei im Hinterkopf behalten, dass dies nicht nur intellektuelle Erkenntnis meint, sondern eine Qualität, deren Tiefe nicht allein aus dem Denken kommt: Kapilas Denken weist über das Denken hinaus (so wie die Körperarbeit im Yoga über den Körper hinausweist). Sankhya sucht jnana – Erkenntnis in einem absoluten und existenziellen Sinne.

Sich mit Sankhya zu beschäftigen bedeutet deshalb aber nicht, dass man nur in abgehobenen geistigen Sphären weilen oder sich in verschrobenen intellektuellen Übungen verlieren würde. Ganz im Gegenteil: Selbst die erhabensten Prinzipien dieser Philosophie gründen in der konkreten Erfahrung, im ganz Offensichtlichen und Lebenspraktischen. Aus der jedermann zugänglichen und nachvollziehbaren Erfahrungswirklichkeit nämlich zieht Kapila seine Schlüsse. Und er entfaltet daraus ein logisches System, das bis an die Grenzen des Denkbaren und darüber hinaus führen will: zur Befreiung.

Wer nach Befreiung strebt, sucht offensichtlich etwas, das ihm gegenwärtig fehlt. Da muss doch noch mehr sein als dieses Hamsterrad, in dem alle immer schneller, wilder und rücksichtsloser nach immer mehr streben; etwas, das erhaben und unvergänglich ist, ein letztes Ziel, um dessentwillen alles ist, was ist, und geschieht, was geschieht. Wir können auch sagen: Es ist der mehr oder weniger stark empfundene Schmerz des Lebens, der die Menschen zu Suchern ihrer selbst werden lässt. Dieser Schmerz ist der Ausgangspunkt von Kapilas Forschen. Mit ihm beginnt die Psychologie des Yoga.

Die Psychologie des Yoga

Werde ganz leer, stille den ruhelosen Geist. Erst dann wirst du alles sehen: wie es sich aus der Leere entfaltet, wie alle Dinge blühen und tanzen in endloser Vielfalt.

Schließlich gehen sie wieder ein in die vollkommene Leere – ihre wahre Ruhestatt, ihre wahre Natur.11

Laotse Tao Te King

Negative Räume

Das Friedensevangelium der Essener beginnt mit einer Szene, die als Bild für die klassische Ausgangssituation des spirituellen Weges steht: Der Mensch, geplagt von Krankheit, Sorgen, Ängsten und vielen anderen Nöten, sucht nach anhaltender Befreiung von den Problemen, mit denen das Leben ihn immer wieder konfrontiert. Viele Kranke und Verkrüppelte begegnen dem Weisheitslehrer Jesus, und sie fragen ihn:12

»Wenn du alle Dinge weißt, sag uns, warum leiden wir dann unter diesen schweren Plagen […] Meister, heile uns, so dass auch wir stark werden und nicht länger in diesem Elend leben müssen! Wir wissen, dass es in deiner Macht steht, alle Krankheiten zu heilen.« Jesus antwortet: »Glücklich seid ihr, dass ihr nach der Wahrheit dürstet, denn ich werde euch sättigen mit dem Brot der Weisheit. Glücklich seid ihr, dass ihr anklopft, denn ich werde euch das Tor zum Leben öffnen.«

Das Tor des Lebens führt nach innen, zur »Mutter«, wie Jesus in diesem Text sagt. Er könnte genauso gut »Vater« oder auch »Kosmos« sagen, denn auf Aramäisch, der Muttersprache Jesu, wird alles das in nur einem einzigen Wort ausgedrückt: ABWUN. Die befreiende und heilende Wahrheit, will er damit sagen, ist in uns selbst, in jedem Einzelnen: »Eure Mutter ist in euch, und ihr seid in ihr.«

Die kurze Szene aus der Schrift der Essener steht symbolisch für den Ausgangspunkt und das Ziel jedes spirituellen Weges: für den Wunsch, den Schmerz des Lebens endgültig zu überwinden. Das Mittel dazu ist, zur Weisheit durchzudringen, zur »Mutter«, die in uns allen lebt. Das ist der Weg der Erkenntnis oder Gnosis (ein altgriechischer Begriff, der dem Sanskritwort jnana entlehnt ist). Es ist der Weg des Sankhya-Yoga. Und er beginnt mit dem Wort duhkha.

Duhkha wird meistens mit »Leid« übersetzt. Das transponiert freilich nicht die Weite, die dem Wort eigen ist. Von der wörtlichen Bedeutung her meint es den »negativen Raum«, das Schmerzhafte also, das sich im Geist und Körper aller Wesen immer wieder und unausweichlich Raum schafft, dort Platz greift. Das beginnt bereits bei der kleinsten Unzufriedenheit: dem Unmut, der sich breitmachen kann, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, oder bekommen, was wir nicht wollen. Und es umfasst ein Spektrum, an dessen Ende das »schlimmste vorstellbare Leid« stehen kann, wie die Bhagavad Gita es formuliert. Duhkha ist, wenn das Essen im Restaurant nicht die gewohnte Qualität hat. Duhkha ist, wenn wir unsere Interessen im Beziehungsgefüge mit anderen nicht so durchsetzen können, wie wir uns das vorstellen. Eine Erkältung ist duhkha, Krebs ist duhkha. Duhkha ist Ärger und Groll ebenso wie Sorge und Angst. Unfälle sind duhkha, Naturkatastrophen sind duhkha. Verlust bedeutet duhkha: sei es ein geschätzter Gegenstand, Geld, der Arbeitsplatz, unser Lebenspartner oder unsere Gesundheit. Das spirituelle Sehnen, seelisches Heimweh – sogar das ist duhkha. Duhkha bedeutet für jeden etwas anderes, und jeder erfährt es immer wieder auf vielfältige und einzigartige Weise im Leben.

In der Yoga-Philosophie tragen auch positive Erfahrungen die Essenz von duhkha in sich: Selbst das Schönste vergeht irgendwann, es kann unerfreuliche Nebenwirkungen haben oder verliert einfach seine Anziehungskraft. Die wunderbarsten Momente verfliegen. Auf das rauschende Fest am Abend folgt der Kater am Morgen. Und selbst die größte Liebe kann verblühen wie eine Blume im Spätsommer. Doch auch wenn alles immer nur wunderbar wäre: Am Ende wartet der physische Tod – der schmerzhafte bardo, wie die buddhistische Tradition es nennt. Er ist unausweichlich. Bardo heißt »Zwischenzustand«, ein Übergang also. Und Übergänge sind schwierig, krisenhaft, denn sie verlangen das Loslassen des Alten, um zum Neuen zu gelangen. Im Stehen kann man nicht stolpern, beim Gehen schon: Es ist der Moment, in dem das Körpergewicht von einem Bein zum anderen wechselt, der die größte Gefahr in sich trägt – und zugleich die einzige Möglichkeit voranzukommen.

Wir können jedenfalls sagen: Die positiven Räume liegen Tür an Tür mit den negativen. Positiv und Negativ sind ein trautes Paar, das immer Hand in Hand geht. Der berühmte österreichische Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989), jener Mann, der mit den Graugänsen schwamm, sagte einmal trocken: »Es ist unvermeidlich, daß alle Freude mit Leid bezahlt wird.«13 Der positive Raum reimt sich im Sanskrit übrigens auf den negativen: Sukha wird duhkha. Von sukha kommt auch das deutsche Wort Zucker (englisch sugar, französisch sucre); zu viel davon macht bekanntlich krank.

Positiv und Negativ gewinnen ihren ganzen Sinn erst vom jeweiligen Gegenüber, weil ein jedes relativ zum anderen steht. Sukha und duhkha sind unauflöslich miteinander verwoben, sie sind das Zuckerbrot und die Peitsche des Lebens. Das Tao Te King sagt:

Jeder erkennt das Schöne nur wegen des Hässlichen. Jeder erkennt das Gute nur wegen des Bösen.

Leben und Tod werden gemeinsam geboren. Das Schwierige und das Einfache,

das Lange und das Kurze, das Hohe und das Tiefe – alle existieren sie zusammen.

Klang und Stille verschmelzen in eins,

Vorher und Nachher kommen gemeinsam ans Ziel.14

Duhkha ist ein Natur- oder Schöpfungsprinzip, dem nichts und niemand entgehen kann. Vom Bakterium zum Elefanten, von der Amöbe zum Wal, von der einfachsten Lebensform bis hin zum Menschen: Jedes Wesen zieht bestimmte angenehme Zustände vor und versucht gleichzeitig, weniger angenehme zu vermeiden. Es ist ein universales Naturprinzip. Im Schmerz, im Wunsch seiner Vermeidung und schließlichen Überwindung: Darin sind alle Wesen der Welt sich gleich. Der englische Geistliche Humphrey Primatt (1725–1780) sagte einmal: »Schmerz ist Schmerz, er mag Menschen oder Tieren zugefügt werden, und das Geschöpf, das ihn leidet, es mag Mensch oder Tier sein, wenn es das Elend desselben fühlt, leidet, so lange er dauert, ein Übel.«15 Es ist diese grundlegende Erkenntnis – das Bewusstsein um die Leidensfähigkeit des anderen –, aus der Mitgefühl erwachsen kann. So stellt Ishvarah Krishna, der Verfasser der Karika, an den Anfang seines Buches diesen Gruß an Kapila:

Aus Mitgefühl für die Welt, die im Ozean des Nicht-Wissens versinkt, hast du, Kapila, ein Boot in Gestalt der Sankhya-Philosophie gebaut, mit dem man diesen Ozean überqueren kann.

Drei Arten von Duhkha

Gleich das erste sutra der Karika formuliert die problematische Ausgangslage des Menschen:

Die drei Arten des Leidens lassen im Menschen den Wunsch entstehen, Mittel zu deren Heilung zu finden. Zu behaupten, die Suche danach sei unnötig, weil es doch gewöhnliche Heilmittel gebe [zum Beispiel medizinische Therapien u.a.], ist nicht richtig, denn diese wirken weder dauerhaft noch umfassend.

Die Karika benennt drei Arten des Leidens. Jede Schwierigkeit des Lebens, wie klein oder groß auch immer, lässt sich darunter subsumieren:

Inneres Leiden (adhyatmika) meint alle körperlichen und geistigen Funktionseinschränkungen oder Krankheiten, auch schmerzhafte Gefühle: Liebeskummer, Traurigkeit, Depressionen, Ärger, Zorn, Sorgen, Angst, Neid, Eifersucht und vieles, vieles mehr – eben alles Pathologische und nicht Hilfreiche, das aus unserem Körper-Geist-Komplex heraus entsteht. Gemeint ist jeder negative Raum, der sich aus uns selbst heraus entwickelt.

Äußeres Leiden (adhibhautika), die zweite Form von duhkha, entspringt der Tatsache, dass wir relationale Wesen sind, mit der äußeren Welt also vielfach in Beziehung treten: Der Streit mit dem Nachbarn, der Stich einer Biene, die Zehe, mit der wir gegen die Türschwelle stoßen, der Krieg zwischen Staaten, all das ist von außen bewirktes duhkha.

Höhere Gewalt sind Erdbeben, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche und so weiter – die ganze Armada an Problemen, vor die uns die Natur stellen kann. Gelegentlich fällt uns schon mal der Himmel auf den Kopf: Deshalb nennt man die höhere Gewalt im Sanskrit auch adhidaivika, was wörtlich so viel heißt wie »göttlichen Ursprungs«.

Wir dürfen annehmen, dass Kapila sich noch nicht vorstellen konnte, dass der Mensch eines Tages so massiv in die Natur hineinwirken würde, wie er das mittlerweile tut, sodass heute Dinge geschehen, die zu seiner Zeit nur als adhidaivika, als göttlich verursacht, vorstellbar waren: die Erderwärmung, das Ansteigen des Meeresspiegels, Überschwemmungen, Dürren, Luftverschmutzung, Hungerkatastrophen, Artensterben und so weiter. Was einst allein in Form von höherer Gewalt denkbar war, führt die Spezies Mensch heute selbst herbei. Und so müssten wir duhkhatraya, die drei Arten des Leidens, eigentlich durch eine vierte ergänzen: die vom Menschen ausgelöste Zerstörung der Erde. Sie bringt allen Wesen Leid, auch uns selbst: Wir ernten die Folgen dessen, was wir säen, weil wir als biologische Wesen ein Teil von Gaia sind, des großen »Biotops Erde«. Alles ist eins. Ein altes indisches Weisheitswort sagt: »Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und erwacht im Menschen.« Ich will zugeben: Beim letzten Teil bin ich mir nicht ganz so sicher, nicht so optimistisch. Schwingt in diesem Sprichwort schon die Selbstüberhöhung? Wie steht es um das Erwachen des heutigen Menschen?

Spirituelle Blindheit

Die Menschen haben zwar Strategien und Technologien entwickelt, um die Probleme des Lebens in den Griff zu bekommen: Gegen Überschwemmungen sichern uns Dämme, gegen die Kälte Öl, Kohle und Gas, bei Depressionen helfen vielleicht ein Therapeut oder Antidepressiva, und gegen den Schmerz nehmen wir Tabletten ein. Doch was der Mensch in der äußeren Welt auch erfinden oder unternehmen mag: Letztlich spielt es keine Rolle, sagt Sankhya. Denn alle Heilmittel, Therapien, Schutzmechanismen und Technologien, alles das hilft bestenfalls teilweise und vorübergehend, um duhkha zu mindern, nicht aber dauerhaft und umfassend: Der beste Damm schützt nicht vor jener Flut, die der Ingenieur nicht eingeplant hat. Aller Politik der Welt ist es bis heute nicht gelungen, dem Menschen dauerhaften Frieden zu bringen. Selbst das modernste Heilmittel schützt uns nicht sicher vor Krankheit, schon gar nicht vor jener, die wir noch nicht kennen. Und nichts von alledem bewahrt uns vor dem scheinbar größten Übel überhaupt: dem physische-n Tod und dem damit verbundenen Leid.

Nichts wirkt dauerhaft gegen duhkha, weil nichts das Problem an seiner Wurzel packt. Diese Wurzel nennt man in Indien avidya, was so viel heißt wie »nicht sehen, blind sein«. Die Sankhya-Philosophie sagt dazu auch tamas, die Dunkelheit.16 Blind oder in der Dunkelheit sein: Das besagt, dass wir nicht um die eigentlich unbegrenzte und spirituelle Natur unseres wirklichen Wesens wissen. Wir fühlen nicht unseren unsterblichen, inneren Kern, das reine Bewusstsein, das alle Erfahrungen überhaupt erst ermöglicht: purusha oder das innere Licht. Purusha liegt jenseits des kleinen Ego-Ichs und heißt wörtlich: »der oder das, was in uns wohnt«. Avidya ist die Wurzel, der alles Leid entspringt. Im Yogasutra definiert Patanjali es so:

Die wahre Natur unseres Seins nicht zu verstehen, meint: das Nicht-Selbst für das Selbst zu halten. Es bedeutet, das Unreine mit dem Reinen, das Vergängliche mit dem Ewigen und das Glück mit dem Schmerz zu verwechseln.17

Ein Gedankenexperiment zur Selbsterforschung

Was genau meinen Patanjali und Kapila eigentlich, wenn sie von spiritueller Blindheit sprechen? Ein kleines Gedankenexperiment kann zu klarerem Verständnis verhelfen:

Stellen wir uns vor, jemand würde uns fragen: »Wer bist du?« Wir könnten zum Beispiel so antworten: »Mein Name ist … ich wohne in … mein Beruf ist … ich bin so und so alt … ich denke, dass … meine Meinung ist … ich besitze dies und das … ich kenne diese und jene Leute … ich bin verheiratet mit … meine Lieblingsfarbe ist … mein Sternzeichen ist … ich bin krankenversichert bei … und arbeite in der Firma soundso als … und so weiter und so fort. Natürlich gehört auch das dazu: »Schau hin: Ich bin dieser Körper, der da vor dir steht.« Freilich würde es seltsam wirken, wenn wir das Offensichtliche explizit erwähnten, dennoch sagen wir es unausgesprochen: »Ich bin der, den du da vor dir siehst – Mann oder Frau, schön oder hässlich, dick oder dünn, jung oder alt …«

Mit anderen Worten: Auf die Frage »Wer bist du?« antworten wir – je nach Situation – mit einem mehr oder weniger umfangreichen Bündel von Eigenschaften, Dingen, Gedanken, Geschichten und so weiter und verstehen sie als die »Bausteine«, die in der Gesamtheit das ausmachen, was wir dann »Ich« nennen. Unser Ich ist also nichts weiter als ein Flickenteppich aus Zuschreibungen – ein bloßes Konzept. Konzept kommt vom lateinischen concipere, das heißt: »zusammenziehen«. Das Ich ist eine Art Eintopf, ein zusammengeschustertes Etwas, ohne wirkliche Realität. Ist darunter irgendetwas Essenzielles zu finden, das sich nicht verändert, das ewig ist? Was im Eintopf macht den Eintopf zum Eintopf?

Anders gefragt: Was macht mich zu dem Menschen, der ich bin? Was davon kann ich weglassen und dann immer noch sagen, dass ich ich bin? Auf der körperlichen Ebene ist das noch relativ einfach: Wird mein Bein amputiert, dann ist der Rest von mir, der Körper mit nur noch einem Bein also, ganz bestimmt immer noch ich. Das amputierte Bein jedoch, das einmal ein Teil von mir war, gehört nun nicht mehr zu mir. Doch ich selbst bin immer noch das ganze Ich, auch dann, wenn mein Körper nicht mehr ganz ist. Selbst wenn man mir beide Arme und Beine nähme, so würde ich wohl immer noch sagen: Ich bin ich – ein Mensch eben, der einen Körper ohne Arme und Beine hat. Was ist mit meinen Erinnerungen, was, wenn sie alle wegfielen? Wir würden sagen: Mein vergangenes Leben mag zwar ausgelöscht sein, doch ich bin immer noch da. Was an mir ist also das, was ich bin? Was macht mein Ich zum Ich? Und wo ist die Grenze, an der ich aufhöre, ich zu sein? Wer bin ich? Wer oder was ist mein innerster Wesenskern, der nicht zugrunde geht, wenn ich Arme und Beine verliere … oder meine Erinnerungen … oder meine Gesundheit … meine Fähigkeit zu sprechen … oder was auch immer? Existiert da überhaupt so etwas wie ein Kern? Oder bin ich im Grunde nur eine atmende, denkende und fühlende Maschine, leidlich zusammengeflickt und bloß eine Zeit lang aktiv? Wenn ja: Was lässt diese Maschine denken, sie sei ein Ich? Und wie kommt es, dass sie atmen und fühlen, mit anderen Worten: leben kann?

Man kann das gut als eine wirklich lohnenswerte schriftliche Übung machen und alles aufschreiben, was einem auf die Frage »Was bin ich?« einfällt: Körper, Charakterzüge, Beziehungen, Hab und Gut, Gedanken, Gefühle und so weiter – das ganze Allerlei an Eigenschaften, Ideen und Dingen. Dann mag man sich fragen: Bin ich tatsächlich deshalb ich, weil ich eine Ansammlung all dessen bin, was ich da aufgeschrieben habe? Wer oder was war ich, bevor diese Eigenschaften ins Leben traten? Hätte ich nicht vor zwanzig Jahren ganz andere Dinge aufgelistet? Und wer oder was werde ich sein, wenn diese Dinge nicht mehr da sind? An welchem Punkt höre ich auf, ich selbst zu sein? Wann starb das Kind, das ich einmal war? Wann stirbt der, der ich jetzt bin, und wer werde ich dann sein? Wer oder was stellt diese Fragen?

Wenn man diese Selbsterforschung gewissenhaft durchführt, so viel ist sicher, wird man nichts an sich finden können, das nicht vergänglich ist. Alles, was man benennen kann, sind also nur vorübergehende, fragile und dauernd in Veränderung begriffene Aspekte. Für Kapila und Patanjali sind sie nur der äußere Ausdruck einer viel tieferen Wirklichkeit. Für diese Wirklichkeit erfanden die Menschen Tausende von Namen. Doch Namen, die sich sagen lassen, so lehrt der erste Vers des Tao Te King, sind nicht der wahre Name. Unser inneres Licht lässt sich ebenso wenig auf den Begriff bringen, wie ein Wort Gott zum Ausdruck bringen könnte. Das wissen und lehren alle Mystiker. Unter der Oberfläche aus Körper, Gedanken und Gefühlen liegt unser eigentliches Sein, die Essenz, vor deren Augen der »Film des Lebens« spielt, jenes Wesenhafte, das uns beatmet, inspiriert; jenes Etwas, das da war, bevor wir Person waren, und noch da sein wird, nachdem wir als Personen gegangen sein werden. Jesus spielt im Evangelium des Johannes genau auf dieses Unsagbare in uns an, wenn er sagt: »Bevor Abraham war, bin ich.«18 Ich bin also schon, bevor irgendjemand war. Die mich belebende Essenz war schon, bevor dieses kleine Ich ins Leben trat, an dessen Fäden tausend Dinge und Geschichten hängen. Die wahre Natur des Geistes ist ohne Zeit: Ewigkeit. Das Yoga-Vasistha, ein voluminöses Werk aus dem 11. Jahrhundert (das in seinem Umfang angeblich nur vom Mahabharata übertroffen wird), sagt:

Ein Mensch ist nichts als Bewusstsein.

Selbst wenn hundert Körper sterben, das Bewusstsein stirbt nicht.

Das Bewusstsein ist wie der Raum, doch es existiert, als wäre es der Körper.19

Kapilas Sankhya will den Menschen das Wissen an die Hand geben, um das Übel der negativen Räume an der Wurzel auszureißen. In lateinischer Sprache heißt Wurzel übrigens radix, daher kommt das Wort »radikal«. Sankhya geht es um absolutes Wissen und radikale Befreiung: Wenn wir doch nur wüssten, wer wir in Wahrheit sind, dann kämen wir weg vom äußeren Rand des Lebensrades, nach innen, zur Nabe, hinein in die Stille von ananda, der Energie reiner Glückseligkeit, die der Grund allen Seins ist. Das Tao Te King sagt: »Das Innere ist das Fundament des Äußeren, das Stille beherrscht das Ruhelose.«20

Von der Unterscheidung der Grundprinzipien