Die Revolution des Mondes - Andrea Camilleri - E-Book

Die Revolution des Mondes E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Als 1677 in Sizilien der Vizekönig an Herzverfettung stirbt, reiben sich die Staatsräte die Hände: endlich sich nach Herzenslust bereichern! Doch sie haben nicht mit der jungen Witwe gerechnet, der unfassbar schönen Eleonora de Moura. Zielstrebig besteigt sie den Thron, und einen Monat lang lehrt sie die Höflinge, die korrupten Adeligen und Pfaffen das Fürchten. Sie hilft den Armen und setzt Reformen durch. Schon feiert das Volk sie als Retterin – da wird sie vom König abberufen. Camilleris neuer Roman erzählt von einer vergessenen Revolutionärin und davon, wie, für einen kurzen Moment in der Geschichte, das Gute möglich schien. In der Vergangenheit des Romans spiegelt sich das Italien der Gegenwart und Camilleris dringende Empfehlung: Lasst die Frauen an die Macht!

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Seitenzahl: 295

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Nagel & Kimche E-Book

Andrea Camilleri

DIE REVOLUTION

DES MONDES

Roman

Aus dem Sizilianischen

von Karin Krieger

Nagel & Kimche

Titel der Originalausgabe: La rivoluzione della luna

© 2013 Sellerio Editore, Palermo

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer, Lowlypaper, München unter Verwendung eines Gemäldes von Francesco Montemezzano, Portrait of a Lady Said to be of the Contarini Family © Bridgeman Art Library

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN 978-3-312-00624-3

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Rosetta

INHALT

Erstes Kapitel

Der Vizekönig eröffnet die Sitzung,

doch jemand anders beendet sie

Zweites Kapitel

Der kurze Tag des Ruhms

für den Stadthauptmann

Drittes Kapitel

Donna Eleonora wird Vizekönigin und

erobert mit einigen Ausnahmen alle Herzen

Viertes Kapitel

Donna Eleonora führt den Vorsitz

des Heiligen Königlichen Rates und

erregt jedermanns Missfallen

Fünftes Kapitel

Es herrscht Krieg zwischen Donna Eleonora

und den Ratsherren

Sechstes Kapitel

Das «Barmherzige Werk für vom Laster

bedrohte Jungfrauen»

Siebtes Kapitel

Donna Eleonora feuert einen Kanonenschuss ab

und gewinnt den Krieg

Achtes Kapitel

Der Generalvisitator trifft ein,

ist jedoch nicht Peyró

Neuntes Kapitel

Don Alterios Qualen und die Misere

des Fürsten von Ficarazzi

Zehntes Kapitel

Ein denkwürdiger Sonntag

Elftes Kapitel

Don Angels Geist erscheint und

richtet großen Schaden an

Zwölftes Kapitel

Prozessionen, Gefechte, sprechende Tote,

Geister und noch mehr

Dreizehntes Kapitel

Donna Eleonora und ihre Gesetze

Vierzehntes Kapitel

Es sieht schlecht aus für den Bischof

Fünfzehntes Kapitel

Turro Mendoza holt zum Gegenschlag aus

Sechzehntes Kapitel

Das Spiel ist nun aus

Siebzehntes Kapitel

Einmal kommt alles ans Licht

Achtzehntes Kapitel

Ein weder glückliches noch trauriges Ende

Nachbemerkung des Autors

Erstes Kapitel

DER VIZEKÖNIG ERÖFFNET

DIE SITZUNG, DOCH JEMAND

ANDERS BEENDET SIE

Die Sitzung des Heiligen Königlichen Rates, die der Vizekönig Don Angel de Guzmán, Marqués von Castel Rodrigo, an jedem Mittwochmorgen Schlag zehn Uhr im Palast eröffnete, begann auch an diesem Tag, dem 3. September des Jahres 1677, wie üblich nach einem streng festgelegten Reglement.

Zunächst hatten fünf Dienstmädchen, nachdem sie die Fenster zum Lüften geöffnet hatten, von sechs bis acht Uhr den Boden gefegt und gewischt und die Möbel im Saal abgestaubt und poliert.

Die Lehnstühle der sechs Ratsherren waren jeweils zu dreien links und rechts des großen goldenen Thrones angeordnet, der Ihren Majestäten, den Königen von Spanien, vorbehalten war, denen sich allerdings nie die Gelegenheit geboten hatte, ihren Allerwertesten darauf zu postieren, weil keiner von ihnen je geruht hatte, sich auf die Insel zu bemühen.

Der Thron stand oberhalb von sechs hohen Stufen, auf denen ein dicker roter Teppich lag.

Auf der rechten Seite des Thrones, doch etwas versetzt und um drei Stufen niedriger, die ebenfalls mit einem roten Teppich bedeckt waren, befand sich ein weniger großer und weniger goldener Thron für den Vizekönig. Vier Schritte entfernt vom letzten der drei Lehnstühle auf der linken Seite stand ein großer Tisch mit zwei Stühlen. Das waren die Plätze des Hofnotars und des Ratsschreibers.

An der Wand hinter dem Königsthron hing ein riesiges Porträt Seiner Majestät, König Karls, das ihn von Kopf bis Fuß, doch vierfach vergrößert zeigte. Neben dem Bild prangte ein riesiges Kruzifix aus Holz. Dem Schnitzer war Jesu Gesicht nicht so recht gelungen; anstatt es von Agonie und Schmerz erschüttert darzustellen, hatte er ihm einen erzürnten, ungehaltenen Ausdruck verliehen. Derart ungnädigen Blicken ausgesetzt, war den Ratsherren, von denen nicht einer ein reines Gewissen hatte, stets unbehaglich zumute, weshalb sie es vermieden, zum Kruzifix aufzuschauen.

Kaum waren die Dienstmädchen gegangen, war der Hofschmied Alizio Cannaruto gekommen, dem die Aufgabe oblag, das komplett unter dem vergoldeten Holz verborgene Eisengerüst zu überprüfen, von dem der Kleine Thron des Vizekönigs gestützt wurde, den dieser sich als Ersatz für den zuvor verwendeten eigens hatte anfertigen lassen müssen.

Kaum war der Hofschmied gegangen, war der Oberste Vermesser, Gaspano Inzolia, mit zwei Gehilfen gekommen. Der Vermesser hatte sich vergewissert, dass alle Stühle exakt in Reih und Glied standen und keiner auch nur einen Millimeter zu weit nach vorn oder nach hinten gerückt war. Schon die kleinste Verschiebung eines Stuhles konnte die Empfindlichkeit der Ratsherren reizen und womöglich als Zeichen der Gnade oder der Ungnade des Vizekönigs missdeutet werden oder aber als Zeichen des Hochmuts eines der Ratsmitglieder und somit ernste und langanhaltende Folgen in Form von Zwietracht, Streitereien und sogar Mord und Totschlag nach sich ziehen.

Um Viertel zehn waren die zwei großen Flügel der goldenen Saaltür von den Ersten Lakaien Foti und Miccichè feierlich geöffnet worden, die sich dann kerzengerade gegenüberstanden und sich vor jedem Ratsherren verneigten, der zwischen ihnen hindurchging und sich auf seinen Platz setzte.

Aufgeblasen, in prunkvollen Kleidern und ohne auf die Verbeugung der Lakaien zu achten, waren in der Rangfolge ihrer Stellung innerhalb des Heiligen Königlichen Rates einer nach dem anderen erschienen: Seine Exzellenz Don Rutilio Turro Mendoza, Bischof von Palermo; Don Giustino Aliquò, Fürst von Ficarazzi und Stadthauptmann; Don Alterio Pignato, Herzog von Batticani und Oberster Schatzmeister; Don Severino Lomascio, Marchese von Roccalumera und Königlicher Richter; Don Arcangelo Laferla, Graf von Naso und Großadmiral, und schließlich Don Cono Giallombardo, Baron von Pachino und Oberster Verwalter.

Dann war der Hofnotar Don Gerlando Musumarra eingetreten und nach ihm der Ratsschreiber Don Ernesto Rutè.

Nun waren die beiden Ersten Lakaien zum Ersten Kammerdiener des Vizekönigs gegangen und hatten gemeldet, alle Ratsmitglieder seien versammelt und warteten hinter der geschlossenen Tür geflissentlich darauf, dass Seine Exzellenz Don Angel erscheine.

Inzwischen war es halb zehn.

Der Vizekönig, Marqués Don Angel de Guzmán, hatte, als er knapp zwei Jahre zuvor in Palermo an Land gegangen war, jedermann aus zwei Gründen in Erstaunen versetzt.

Der erste war sein jugendliches Alter, hatte er doch noch nicht die dreißig erreicht, und soweit man in Sizilien zurückdenken konnte, hatte es nie einen Vizekönig unter fünfzig gegeben.

Der zweite war seine große Magerkeit, an Don Angel war nicht ein Gramm Fett, seine Haut saß ihm direkt auf den Knochen, und er wog allenfalls etwas mehr als dreißig Kilo. Ein kräftiger Windstoß hätte ihn durch die Luft gewirbelt wie ein dürres Blatt.

Er war allein nach Palermo gekommen, doch einen Monat später traf eines Nachts mit dem Schiff auch seine Gemahlin Donna Eleonora di Mora ein, die zwar Spanierin, doch sizilianischer Herkunft und zudem seit ihrem elften Lebensjahr Waise war. Man hatte sie damals in ein Kloster gesteckt, wo sie Unterricht erhielt, unter anderem in Italienisch, und das sie erst im heiratsfähigen Alter wieder verließ. Don Angel und Eleonora waren ein frischgebackenes Ehepaar, sie hatten erst drei Monate zuvor geheiratet. Über Donna Eleonora war sogleich zu erfahren, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt und von bestürzender Schönheit war, doch niemand hatte Gelegenheit, bestürzt zu sein, weil niemand Gelegenheit hatte, ihrer ansichtig zu werden. Donna Eleonora hielt sich nämlich seit ihrer Ankunft stets zurückgezogen in den Privatgemächern des Palastes auf, umsorgt von vier Zofen, die sie aus Spanien mitgebracht hatte.

Einen Monat nach dem Eintreffen seiner Gemahlin hatte Don Angel unter den zunächst erstaunten und dann zunehmend entgeisterten Blicken des Hofes begonnen sich zu verformen.

Dies äußerte sich anfangs in dem rasanten Wachstum seines Bauches und nur seines Bauches, so dass Don Angel, dessen übrige Körperpartien spindeldürr blieben, innerhalb einer Woche das exakte Ebenbild einer Schwangeren im neunten Monat war.

Dann griff die Fettheit rasch auf seine Arme, Hände, Beine und Füße über. Zuletzt befiel sie sein Gesicht. Aus der Mondsichel, die es gewesen war, wurde ein Vollmond.

In weniger als sechs Monaten wog Don Angel neunzig Kilo, nach weiteren sechs Monaten kam er auf einhundertfünfzig. Und nun schien sich sein Tonnengewicht auf einhundertneunzig eingepegelt zu haben. Ein Elefant.

Und nichts, rein gar nichts, konnte diese Entwicklung aufhalten. Der königliche Leibarzt Don Serafino Gustaloca hatte nach vielen Besuchen und abermaligen Besuchen, nach einem Tasten hier und einem Befühlen dort, nach unzähligen Versuchen mit den verschiedensten Arzneien, nach Aderlässen und Abführmitteln, die Hoffnung aufgegeben und hilflos die Arme ausgebreitet.

Auch der großartige spanische Arzt, ein Ausbund an Gelehrsamkeit, der von König Karl entsandt worden war, konnte nichts anderes tun.

Selbst wenn der Vizekönig eine ganze Woche lang keinen Bissen aß und nicht einmal einen Tropfen Wasser trank, nahm er weiter zu wie ein Mastschwein.

Der Hofschneider, Artemio Savatteri, verdiente sich in kürzester Zeit eine goldene Nase. Er brauchte vier Gehilfen, weil die gesamte Garderobe des Vizekönigs allwöchentlich komplett erneuert werden musste.

Um neun Uhr fünfunddreißig wurde die Tür bis zum Anschlag geöffnet und Don Angel aus den Händen der beiden Kammerdiener, die ihm beim Ankleiden behilflich gewesen waren, in die Hände der zwei Lakaien übergeben. Don Angel hakte sich bei Foti und Miccichè ein und begann, auf sie gestützt, den Ratssaal anzusteuern.

Das Gehen fiel ihm nicht leicht. Wollte er einen Schritt tun, konnte er wegen seiner dicken Schenkel den Fuß nicht vorsetzen, wie es natürlich gewesen wäre, sondern musste zunächst das ganze Bein zur Seite bewegen, um dann den Fuß nach vorn zu schieben.

Dadurch verlor sein Körper jedoch das Gleichgewicht, geriet ins Wanken und lastete auf dem vorderen Bein, weshalb derjenige, der ihn auf dieser Seite stützte, in der Verfassung sein musste, das ganze Gewicht dieses Fleischbergs zu halten. Hätte er unglücklicherweise die Balance verloren, hätte ihn der auf ihn fallende Vizekönig zerquetscht.

Als Don Angel an der Saaltür erschien, erhoben sich alle Ratsmitglieder, legten mit einer tiefen Verbeugung ihre rechte Hand aufs Herz und warteten darauf, dass der Vizekönig auf dem Kleinen Thron Platz nahm, damit sie sich wieder setzen konnten.

Doch Don Angel blieb eine Weile an der Tür stehen und rang nach Luft. In dem allgemeinen Schweigen klang sein Schnaufen geradeso wie ein mächtiger, langsam aufgezogener Blasebalg. Dann setzte er seinen Gang fort, der weniger einem schlichten Fußmarsch als vielmehr dem Schlingern eines Schiffes glich, das rollend und stampfend durch schwere See zog.

Das Schlimmste, aber, kam erst noch.

Die Erklimmung der drei Stufen zum Kleinen Thron stand bevor.

Die tatkräftige Unterstützung der zwei Lakaien oblag dem Hofnotar Musumarra und dem Schreiber Rutè, die herbeieilten, um die Plätze von Foti und Miccichè einzunehmen.

An der untersten der drei Stufen kauerte Foti nieder, packte Don Angels linken Fuß mit beiden Händen, hievte ihn ächzend hoch, schob ihn nach vorn und stellte ihn wieder auf den Boden.

Dadurch kippte der ganze Körper des Vizekönigs allerdings gefährlich nach hinten, so dass Miccichè ihn, damit er nicht umfiel, mit ausgestreckten Armen, mit seinem nach vorn geneigten Körper und mit fest in den Boden gerammten Füßen als Gegengewicht von hinten stützte. Dann stellten sich auch der Hofnotar und der Schreiber hinter Don Angel, und sie schoben so lange, bis er die erste Stufe erklommen hatte.

Nachdem Don Angel genug Zeit gehabt hatte, um den Blasebalg kräftiger auseinanderzuziehen und eine Weile zu verschnaufen, wiederholte sich die Prozedur in genau der gleichen Weise vor der zweiten und vor der dritten Stufe.

Schließlich krachten die einhundertneunzig Kilo Fleisch Schlag zehn Uhr auf den Kleinen Thron, dessen eiserne Verstärkung noch einige Minuten nachbebte.

Die Eröffnung der Sitzung verzögerte sich noch etwas, da der gesamte Rat wie gebannt auf Don Angels gigantisches Doppelkinn starrte, das durch die von der Eisenverstärkung übertragenen Vibrationen ebenfalls noch eine Zeitlang weiterzitterte wie Wackelpudding.

Als das Beben des Doppelkinns aufhörte, machte Don Angel dem Hofnotar ein Zeichen, und Don Gerlando Musumarra erhob sich, erklärte die Ratssitzung im Namen des Vizekönigs für eröffnet und setzte sich wieder. Nun stand der Schreiber auf und bat um die Erlaubnis, die zur Debatte stehenden Fragen zu verlesen.

Der Vizekönig wandte sich zum leeren Thron des Königs.

Er hatte die Angewohnheit, dies jedes Mal zu tun, bevor er eine Antwort gab, ganz als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er lediglich das Sprachrohr des Willens Seiner Majestät sei.

Doch diesmal hörte er gar nicht auf, zum Thron zu starren, und gab dem Schreiber keine Antwort.

Welcher, da er sogleich bemerkte, dass Don Angel ihn nicht gehört hatte, nach einem ratsuchenden Blick zum Hofnotar seine Frage wiederholte.

Die Antwort blieb aus. Don Angel regte sich nicht, das Gesicht zum Thron gewandt.

Er galt als ein guter Vizekönig, aber im letzten Monat war er mit seinen Gedanken nicht mehr so recht bei der Sache gewesen. Er hatte sich von Anfang an als ein ehrlicher Mann erwiesen, der die Gesetze und die Menschen respektierte, stets bereit, Ungerechtigkeit und Vorteilsnahme, Anmaßung und Willkür zu bekämpfen. Dann hatte er die Zügel gelockert, und nun tanzten ihm die Ratsherren auf dem Kopf herum.

Dies war gewiss seiner Krankheit geschuldet, doch womöglich auch einem Gerücht, das seit einiger Zeit unter den Vornehmen des Rates kursierte. Das Gerücht besagte, die Krankheit habe Don Angels sämtliche Körperteile lymphatisch anschwellen lassen, nur einen nicht, ausgerechnet jenen, der den Mann von der Frau unterscheidet und der, gemessen an den neuen Dimensionen der übrigen, nahezu unauffindbar geworden sei, eine Stecknadel im Heuhaufen. Die arme Donna Eleonora, raunten böse Zungen, sei durch die unfreiwillige Enthaltsamkeit ausgesprochen wortkarg und schwermütig geworden, und auch Don Angel leide sehr unter der Situation.

Als die Antwort das zweite Mal ausblieb, sahen sich die Ratsherren verlegen an.

Was tun?

Durfte man die Frage ein drittes Mal stellen? War es statthaft, den stummen Diskurs zwischen dem Vizekönig und Seiner Majestät zu stören? Nein, das war nicht statthaft. Aber konnte man denn den ganzen Vormittag damit verplempern, den Vizekönig anzustarren, der seinerseits den leeren Thron des Königs anstarrte?

Nach fünf Minuten Stille stand der Fürst von Ficarazzi auf, der in seiner Eigenschaft als Stadthauptmann gleich hinter dem Vizekönig rangierte, und ging auf den Kleinen Thron zu.

Da der Fürst um einiges kleiner als normal war, wenn auch immer noch größer als ein Zwerg, musste er alle drei Stufen hinaufsteigen, um auf Augenhöhe mit Don Angel zu gelangen. Dort sah er, dass der Vizekönig sein Gesicht zwar dem Thron zugewandt hatte, seine Augen jedoch stumpf waren, sie schauten ins Nichts oder vielleicht auf etwas, was so weit entfernt war, dass es ebenso gut war wie das Nichts. Der Fürst von Ficarazzi hielt erschrocken inne und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte.

Doch der Vizekönig bemerkte ihn. Zunächst machte er eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen, dann nahmen seine Augen langsam das Gesicht des Fürsten ins Visier. Welcher sich, als er diesen Blick auf sich spürte, duckte und schleunigst auf seinen Platz zurückkehrte.

Don Angel schaute in die Runde, wie um zu begreifen, wo er war, und wie nach einem sehr tiefen Schlaf. Als er den Schreiber so dastehen sah, warf er ihm einen fragenden Blick zu.

Da stellte der Schreiber seine Frage zum dritten Mal.

Don Angel schaute kurz zum königlichen Thron hinüber und erteilte mit einem Wink die erbetene Erlaubnis. Alle atmeten auf. Die Sitzung nahm nun ihren Lauf wie sonst auch.

Der Schreiber erklärte, die erste Angelegenheit, die zu besprechen sei, betreffe den Streit zwischen dem Bischof von Catania und dem Bischof von Messina um zwei Testamente der Baronin von Forza d’Agro, von denen das eine besagte, sie vermache alles der Kirche von Messina, und das andere, sie vermache alles der Kirche von Catania. Beide Bischöfe hätten sich an den Rat gewandt, um recht zu bekommen, und eine schnelle Antwort sei vonnöten.

Der Vizekönig schaute zunächst zum Thron und dann zum Erzbischof Turro Mendoza.

Der erhob sich mit einem listigen Lächeln. Es gab niemanden im Saal, der nicht schon gewusst hätte, was der Bischof sagen würde. Allen waren die Gefechte bekannt, die sich Turro Mendoza und Gioacchino Ribet, Bischof von Catania, schon seit Jahren lieferten.

Dieser Krieg wurde mit Gerüchten, Unterstellungen, vagen Anspielungen und Verleumdungen geführt. Ribet hatte das Gerücht in Umlauf gebracht, Turro Mendoza treibe «Unzucht» mit den Messdienern, und Turro Mendoza hatte mit der Geschichte pariert, Ribet habe eine Nonne geschwängert und sie dann ermorden lassen, um einen Skandal zu verhindern.

Der Bischof von Palermo war ein kleiner Fettkloß und hatte eine Stimme, die bis nach Cefalù zu hören war, wenn er von der Kanzel predigte. Er gab nicht Wörter von sich, er feuerte Kanonenschüsse ab. Gioacchino Ribet sei ein skrupelloser Gauner, erklärte er, und das Testament, das der Kirche von Catania die Erbschaft zuerkannte, sei offenkundig gefälscht. Er versicherte, er habe gründliche Nachforschungen anstellen lassen und verfüge über Beweise für seine Behauptung.

Der Vizekönig fragte die Anwesenden, ob sie etwas dazu zu sagen hätten.

Niemand gab einen Mucks von sich. Da erklärte Don Angel nach einem Blick zum königlichen Thron, die Sache sei zugunsten des Bischofs von Messina entschieden.

Der Schreiber erhob sich abermals und verlas den zweiten Punkt, der zu besprechen war. Es handelte sich um eine recht heikle Geschichte. Diversen anonymen Hinweisen zufolge landete von den Steuerzahlungen der Einwohner von Bivona gerade einmal die Hälfte in der Staatskasse, denn die andere Hälfte stecke sich der Steuereintreiber in die eigene Tasche. Dieser war kein Geringerer als der Marchese Aurelio Spanò von Puntamezza, ein steinreicher Potentat, den man nicht vor den Kopf stoßen durfte, indem man ihm Misstrauen entgegenbrachte.

Während sich der Vizekönig zum königlichen Thron wandte, schickte sich der Oberste Verwalter, Don Cono Giallombardo, der für die Steuerangelegenheiten zuständig war, an, das Wort zu ergreifen.

Und wie bereits beim Bischof gab es wieder niemanden, der nicht schon gewusst hätte, was Don Cono sagen würde.

Es war allgemein bekannt, dass Griselia, Don Conos schöne Lieblingsnichte, der er sehr zugetan war, die Geliebte von Tancredi Spanò war, dem ersten Sohn des Marchese von Puntamezza. Und jedermann wusste, dass das Wort des Mädchens dem Obersten Verwalter Befehl war.

Welcher, als er an der Reihe war, erklärte, die anonymen Briefe seien eine Schande, man dürfe ihnen keinerlei Beachtung schenken, sie wollten nur das Ansehen eines für seine Rechtschaffenheit bekannten Mannes beschmutzen, und der unverkennbar tadellose Ruf des Marchese von Puntamezza stehe außer Frage.

Niemand rührte sich. Der Vizekönig sah zum königlichen Thron hinüber und erklärte, die Sache sei es nicht wert, vom Rat erörtert zu werden, weshalb sie hinter die anderen zurücktreten müsse, die noch zu besprechen seien.

Die dritte Angelegenheit, die der Schreiber ansprach, betraf die «Gloriosa», ein Schlachtschiff, das, kaum dass es vom Stapel gelassen und erstmals in See gestochen war, auf eine Klippe aufgelaufen und gesunken war, wobei fünfzehn Seeleute ihr Leben verloren hatten. Der Kapitän der «Gloriosa», Aloisio Putifarre, sah die Unglücksursache darin, dass das Ruder dem Befehl des Steuermanns nicht gehorcht habe, weil das Schiff auf der Werft von Messina mangelhaft gebaut worden sei, man habe an Material gespart. Der Werftmeister dagegen behauptete, die Schuld liege einzig und allein bei Putifarre, der oft und gern zur Flasche greife.

Nach einem Blick zum königlichen Thron erteilte der Vizekönig dem Großadmiral Don Arcangelo Laferla, Graf von Naso, das Wort.

Der Graf hätte den Mund gar nicht aufmachen müssen, wussten doch alle, dass der Werftmeister aus Messina schon seit vielen Jahren gemeinsame Sache mit ihm machte.

Daher sah sich der arme Kapitän Aloisio Putifarre im Handumdrehen als der einzige Verantwortliche für das Unglück degradiert, aus der Marine geworfen und in den Kerker gesperrt.

Wieder war der Schreiber aufgestanden, doch Don Angel winkte ihn diesmal zu sich. Der Schreiber blieb vor den drei Stufen stehen. Der Vizekönig bedeutete ihm mit einer Handbewegung heraufzukommen, und als der Schreiber in seiner Reichweite war, raunte er ihm etwas ins Ohr.

Hastig lief der Schreiber aus dem Saal. Nach einer Weile kehrte er zurück, gefolgt von Foti, der einen Paravent unter dem Arm trug, und von Miccichè, der einen mit einem weißen Tuch bedeckten Nachttopf in der Hand hielt.

Im vergangenen Monat war es bereits zwei Mal vorgekommen, dass Don Angel plötzlich ein dringendes Bedürfnis erledigen musste, doch damit, vom Thron zu steigen, den Saal zu durchqueren, in seine Gemächer zu gelangen, auf das stille Örtchen zu gehen, zu pinkeln, zurückzukehren, erneut den Saal zu durchqueren und die drei Stufen zu erklimmen, hatte er mindestens eine Stunde vergeudet. Die vom Hofnotar gefundene und dem Vizekönig diskret untergeschobene Lösung war die beste.

Die beiden Diener stellten den Paravent vor den Kleinen Thron und verschwanden dahinter. In der Stille hörten alle das laute, mühsame Schnaufen des sich hochhievenden Vizekönigs und dann das Plätschern der Flüssigkeit, die in das Porzellangefäß spritzte. Das dauerte gut zehn Minuten. Dann endlich erschien Miccichè mit dem zugedeckten Nachttopf und verließ den Saal, gefolgt von Foti, der den Paravent wieder zusammengeklappt hatte.

Die Sitzung konnte weitergehen.

Doch sie ging nicht weiter.

Denn alle sahen, dass Don Angel nun mit weit aufgerissenen Augen dasaß und am ganzen Leib zitterte, so stark, dass sein Doppelkinn nach rechts und nach links schwang.

«In welchen Schwulitäten steckt er denn jetzt schon wieder?», überlegte besorgt der Hofnotar.

«Warum zittert er so?», fragte Don Alterio den Bischof.

«Vielleicht hat er das Bedürfnis, nun auch noch seinen Darm zu erleichtern», spekulierte Turro Mendoza kühn.

Ohne die Augen zu öffnen, sagte der Vizekönig:

«Mir ist kalt.»

Alle waren perplex. Kalt?! Am dritten September und bei einer Sonne, die noch mit der Hitze des Augusts brannte?

Der Schreiber lief eilig aus dem Saal, sprach mit Foti und Miccichè und kehrte auf seinen Platz zurück.

Don Cono Giallombardo fasste sich ein Herz, beugte sich zu Don Arcangelo Laferla und flüsterte ihm etwas zu. Um ganz sicher zu gehen, sprach er hinter vorgehaltener Hand.

«Wäre es nicht angeraten, Seine Majestät darüber in Kenntnis zu setzen, dass unser hochgeschätzter Vizekönig nicht bei guter Gesundheit ist?»

Don Arcangelo schaute ihn zweifelnd an.

«Ist das Euer Ernst, oder soll das ein Scherz sein?»

«Das ist mein Ernst.»

«Und dass es für uns alle das Beste wäre, wenn an Don Angels Stelle ein Vizekönig träte, der gesundheitlich auf der Höhe und bei kristallklarem Verstand ist?»

«Ach so», sagte Don Cono und beendete so das Gespräch.

Die beiden Lakaien kamen mit einer Decke in den Saal zurück und legten sie Don Angel über die Beine.

Welcher nach einer Weile dem Schreiber mit einer Geste das Wort erteilte.

Don Ernesto Rutè stand auf und begann:

«Da wäre nun eine Bittschrift des Prosekutors von Castrogiovanni …»

«Hä?», unterbrach ihn Don Angel.

Der Schreiber räusperte sich und hüstelte, dann wiederholte er mit erhobener Stimme:

«Es geht um die Bittschrift des …»

«Hä?», fragte Don Angel noch einmal.

War er taub geworden?

Der Schreiber holte tief Luft, öffnete den Mund …

«Hä?», machte Don Angel erneut, noch bevor der andere gesprochen hatte.

Da begriffen alle, dass dies keine Frage von Taubheit war. Der Vizekönig wandte sich an jemanden, dessen Worte er nicht verstand und der sich mit Sicherheit nicht im Saal befand. Dann riss Don Angel wie vor einem großen Wunder die Augen auf und wandte den Kopf ganz langsam zum königlichen Thron.

Einige Minuten verstrichen.

Zweites Kapitel

DER KURZE TAG DES

RUHMS FÜR DEN

STADTHAUPTMANN

Die Ratsherren berieten sich schweigend, indem sie lediglich Blicke wechselten und mit kaum merklichen Kopfbewegungen ja und nein andeuteten. Sie kamen alle zum selben Ergebnis. Also stand der Stadthauptmann auf, ging zum Thron, stieg die drei Stufen hoch und gelangte auf eine Höhe mit Don Angel. Der Vizekönig saß reglos und noch immer mit weit aufgerissenen Augen da, doch beklommen stellte der Stadthauptmann sogleich fest, dass diese Augen nicht mehr imstande waren, noch irgendetwas zu sehen. Über den Pupillen schien ein durchsichtiger Schleier zu liegen, hauchdünn, nahezu aus Luft, doch fester als Eisen, und der trennte den Vizekönig nun für immer von der Welt der Lebenden.

Um sich zu vergewissern, streckte der Fürst von Ficarazzi langsam die Hand aus und tippte mit der Spitze seines Zeigefingers sacht an die Nasenspitze des Vizekönigs, ganz als fürchtete er sich, mit dem Fleisch des anderen in Berührung zu kommen.

Keine Reaktion.

Da wurde er energischer, und unter diesem Druck kippte Don Angels Kopf wie der einer Puppe leicht nach hinten.

Kein Zweifel.

Auf dem Kleinen Thron saß eine Leiche.

«Ich glaube, er ist tot», sagte der Fürst von Ficarazzi kleinlaut.

Die Ratsherren erstarrten zu Salzsäulen.

Der erste, der sich aus dieser allgemeinen Erstarrung wieder aufrappelte, war der Hofnotar, der aufsprang und rief:

«Wir brauchen sofort den Leibarzt, damit wir feststellen können …»

«Einen Scheißdreck werden wir feststellen!», gab der Fürst von Ficarazzi zurück, der inzwischen seine Fassung wiedergewonnen hatte.

Aus dieser Situation ließ sich ein gewaltiger Vorteil ziehen.

Der Hofnotar starrte den Stadthauptmann verwirrt an. Warum wollte der denn keine Bestätigung?

«Aber es wäre doch angebracht …», beharrte er.

«Was verstehen wir denn schon von Don Angels Krankheit?», schnitt ihm der Fürst das Wort ab. «Möglich, dass wir ihn für tot halten, und dabei ist er nur ohnmächtig, oder er schläft. Falls er aufwacht und als erstes den Arzt sieht, missdeutet er unseren Eifer vielleicht als den Wunsch, ihn tot zu sehen.»

«Und was machen wir jetzt?», fragte der Bischof.

Auf diese Frage hatte der Fürst nur gewartet.

«Ich schlage vor, mit der Sitzung fortzufahren, als wäre nichts geschehen. Danach rufen wir den Leibarzt, falls Don Angel bis dahin kein Lebenszeichen von sich gegeben hat.»

«Aber woher sollen wir wissen, ob der Vizekönig mit dem einverstanden ist, was Ihr beschlossen habt?», erkundigte sich der Hofnotar zweifelnd.

«Wer schweigt, stimmt zu», warf der Erzbischof ein, der ein Meister der Finessen war und den Plan des Fürsten durchschaut hatte.

Der Hofnotar erwiderte nichts.

In den folgenden anderthalb Stunden regelten die Ratsherren nicht nur ihre eigenen Geschäftchen, sondern auch die ihrer Verwandten, ihrer Freunde und der Freundesfreunde. Ganze Lehen gingen mit königlichen Urkunden von einem Adelshaus auf ein anderes über, noch ungeklärte Erbschaften landeten dort, wo es der Testamentsverfasser niemals für möglich gehalten hätte, Häuser und Grundbesitz wurden plötzlich landesherrliches Eigentum, Leute mit dem Gewissen eines Wolfs wurden zu Treuhändern der Justiz und der Güter der Krone ernannt, zum Vormund steinreicher Waisen und zu Verwaltern gewaltiger Konkurse. Zu guter Letzt wurde eine satte Halbjahresspende genehmigt, um die der fünfzigjährige Don Simone Trecca, Marchese della Trigonella, für ein Barmherziges Werk ersucht hatte, das er ein Jahr zuvor auf eigene Kosten gegründet hatte.

Dann erhoben sich der Hofnotar und der Ratsschreiber und gingen zum Stadthauptmann, der eine mit dem großen Register in der Hand, in dem alle verabschiedeten Beschlüsse verzeichnet waren, der andere mit Tinte und Feder.

«Die Unterschrift», sagte der Hofnotar.

«Jetzt noch nicht. Das wäre gegen Recht und Gesetz», wehrte der Stadthauptmann sie ab.

Während die beiden auf ihren Platz zurückkehrten, wandte er sich an die anderen Ratsherren.

«Vorerst denke ich, je weniger Leute von dem Zustand erfahren, in dem sich der Vizekönig befindet, desto besser. Trotzdem sollte der Schreiber den Leibarzt holen und ihm sagen, dass Don Angel ohnmächtig ist, doch ohne großes Tamtam, damit die Leute nicht argwöhnisch werden.»

Sein Ton war gebieterisch.

Es war bekannt, dass beim plötzlichen Ableben des Vizekönigs der Stadthauptmann nach dem Gesetz provisorisch dessen Platz einnahm. Und so lange im Amt blieb, bis der neue Vizekönig aus Spanien eintraf.

Der Leibarzt, dem der Schreiber gesagt hatte, Don Angel leide unter einem Schwächeanfall, fand die Ratsherren allesamt mit besorgten Gesichtern am unteren Ende der drei Stufen versammelt vor.

«Wann ist das passiert?», wollte er wissen.

«Eine Minute bevor der Schreiber zu Euch kam, um Euch zu holen. Wir haben keine Zeit verloren», sagte der Stadthauptmann.

Der Leibarzt stieg die drei Stufen hoch und sah sofort, dass nichts mehr zu tun war.

Er hörte das Herz des Vizekönigs ab, fühlte dessen Puls, legte sein Ohr an dessen Mund und schüttelte traurig den Kopf.

«Er ist nicht ohnmächtig, er ist tot», sagte er zu den Ratsherren. «Es war wohl das Herz, das hat das viele Fett nicht mehr verkraftet.»

Der Leibarzt staunte nicht schlecht über die Wirkung seiner Worte. In einer herzzerreißenden, ihn tief anrührenden Szene gaben sich die Ratsherren ihrem Schmerz hin. Der Bischof streckte die Arme gen Himmel und kniete zum Gebet nieder, der Fürst von Ficarazzi vergrub sein Gesicht in den Händen, der Herzog von Batticani brach in rückhaltloses Schluchzen aus, der Marchese von Roccalumera und der Graf von Naso lagen sich in den Armen und sprachen sich gegenseitig Trost zu, während Baron von Pachino todunglücklich murmelte:

«Was für ein unfassbares Unglück! Was für ein unwiderbringlicher Verlust!»

Dann sagte der noch sichtlich erschütterte Fürst von Ficarazzi, bedauerlicherweise komme Seiner Exzellenz, dem Bischof, die Aufgabe zu, der Gemahlin Don Angels die traurige Nachricht zu überbringen, verbunden mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes und des tiefempfundenen Beileids der Ratsmitglieder.

Als der Bischof gegangen war, wies der Fürst den Ratsschreiber an, dem Hauptmann der Wachen mitzuteilen, dass sämtliche Fremden, die sich im Palast aufhielten, auf der Stelle hinausgeworfen werden müssten, und trug ihm ferner auf, schleunigst den Oberzeremonienmeister zu holen.

Als dieser eintraf, flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Der Oberzeremonienmeister ging und besah sich den Leichnam aus der Nähe, kratzte sich zweifelnd am Hinterkopf, kam zurück und sprach lange ins Ohr des Stadthauptmanns. Der schüttelte zunächst den Kopf, breitete aber schließlich die Arme aus und sagte:

«Wenn es gar nicht anders geht …»

Eine Viertelstunde später kehrte der Oberzeremonienmeister in Begleitung von sechs Dienern zurück, allesamt junge, kräftige Burschen, die an langen Stangen das Prozessionsgestell der heiligen Rosalia trugen, das sich in der Kapelle befunden hatte. Die Statue der Heiligen hatte man abgenommen und auf den Boden der Sakristei gelegt.

Die sechs Diener setzten das Gestell vor den drei Stufen ab, stiegen hinauf, hievten Don Angels Leichnam mit einiger Mühe hoch und legten ihn auf die Trage. Dann sagten sie im Chor: «Hau ruck!», schulterten die Stangen mit dem Gestell und verließen den Saal, während sich alle Anwesenden bis zum Boden verneigten.

Der Leibarzt fragte, ob er nun gehen dürfe. Bevor der Fürst ihm antwortete, stieg dieser langsam die drei Stufen hoch und wollte sich auf den nun vakanten Thron des Toten setzen. Doch er erwies sich als zu hoch für ihn. Der Fürst versuchte mit aller Kraft, sich mit den Händen auf die Sitzfläche hochzuziehen, schaffte es aber nicht.

Da sagte der Leibarzt:

«Wenn Eure Exzellenz erlauben …»

Da er ein stattlicher Mann war, schob er seine Hände unter die Achseln des Fürsten, hob ihn hoch und setzte ihn wie ein Kleinkind auf den Thron.

Die Füße des Stadthauptmanns baumelten drei Handbreit über dem Boden in der Luft. Der Thron war ihm doch ein paar Nummern zu groß.

Nun, da er saß, sagte er: «Ihr könnt gehen.»

Der Leibarzt verneigte sich und verließ den Saal.

«Laut Gesetz vertrete ich ab sofort den Vizekönig. Erweist mir Eure Reverenz, wie es üblich ist», befahl der Stadthauptmann.

«Seine Exzellenz, der Bischof, fehlt», bemerkte der Hofnotar.

«Wir machen trotzdem weiter», gab der Fürst zurück.

Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Denn niemand hatte Lust, dem Fürsten von Ficarazzi seine Reverenz zu erweisen, der zwar, nun ja, der Stadthauptmann war, doch nach der treffenden Definition des Bischofs immer noch ein aufgeblasener Furz blieb. Trotzdem musste man sich fügen. Der Herzog von Batticani stand auf, blieb vor den drei Stufen stehen, setzte das linke Knie auf den Boden, legte die rechte Hand aufs Herz, neigte den Kopf, erhob sich wieder und kehrte an seinen Platz zurück. Die anderen taten es ihm nach.

Dem Fürsten wurde der Thron zu eng, er kam sich nun vor wie ein Riese.

«Bringt mir das Register für die Unterschrift», befahl er.

Jetzt war sein Name genauso viel wert wie der des Königs von Spanien.

Für einen Moment verspürte er so etwas wie einen leichten Taumel.

Der zweite Zeremonienmeister hatte Bischof Turro Mendoza zu den Gemächern des Vizekönigs gebracht, hatte ihn, nachdem er Donna Eleonoras Kammerzofe benachrichtigt hatte, im Vorzimmer in einen Sessel verfrachtet und sich verabschiedet.

Der Bischof hatte gewartet und gewartet, bis er vergessen hatte, dass er wartete, und begann ausführlich seinen Gedanken an den Chor der Messdiener nachzuhängen, dem er ein sehr spezielles Interesse entgegenbrachte. Endlich öffnete sich die Tür und Donna Eleonora erschien.

Der Bischof erhob sich, musste sich aber gleich wieder setzen, da seine Beine ihren Dienst versagten. Er hatte damit gerechnet, dass er sich, wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, einer bildschönen Frau gegenübersehen würde, doch nun musste er erkennen, dass seiner Phantasie Grenzen gesetzt waren.

Die junge Frau, die ihn in der Erwartung anschaute, dass er etwas sagte, hatte schwarzes Haar, war hochgewachsen, schlank, elegant und auf spanische Art gekleidet. Selbst der beste Maler auf Erden hätte sie nicht so malen können, wie sie war. Und was für Augen! Groß und tintenschwarz, ähnelten sie einer dunklen, furchterregenden Nacht, in der sich bis in alle Ewigkeit zu verlieren man sich jedoch überglücklich geschätzt hätte.

Endlich gelang es dem Bischof aufzustehen, er öffnete den Mund.

Doch eine Handbewegung Donna Eleonoras, mit zarten, unendlich langen, wohlgeformten Fingern, bremste ihn.

«Ist er muerto?»

Woher konnte sie das wissen?

Der Bischof war jedenfalls verwirrt, denn in Donna Eleonoras Frage lagen weder Angst noch Schmerz, gar nichts, es war eine einfache Frage, nichts weiter. Als ginge es um den Tod eines Hundes und nicht um den ihres Gemahls.

«Ja, er ist tot», antwortete er. «Und im Namen des Rates möchte ich …»

Donna Eleonora wiederholte ihre Handbewegung.

«Hat man ihn matado?»

Derselbe Tonfall wie zuvor. Aber was, um alles in der Welt, dachte diese Frau denn von den Ratsherren? Glaubte sie wirklich, Don Angel sei abgeschlachtet worden wie ein Stier in der Arena? In aller Öffentlichkeit? Nun ja, wenn es sich um einen einsamen Ort gehandelt hätte und das auch noch nachts, tja dann, vielleicht …

«Der Vizekönig ist eines natürlichen Todes gestorben. Der Herr hat ihn zu sich gerufen», sagte er.

«Ich bitte Euch, dem Stadthauptmann auszurichten, dass ich ihn sprechen muss, ahora mismo, sofort.»

Dann, nachdem sie kaum merklich den Kopf zum Gruß gesenkt hatte, wandte ihm Donna Eleonora ohne ein weiteres Wort und ohne auch nur die kleinste Regung zu zeigen, den Rücken zu, öffnete die Tür und verschwand.

Der Bischof war wie vom Donner gerührt. Woraus war diese Frau bloß gemacht? Aus Stein?

Was für eine Seele verbarg sich hinter diesen abgrundtief schwarzen Augen?

Da fiel ihm ein, dass Donna Eleonora seit ihrer Ankunft noch nie nach einem Beichtvater verlangt hatte. Bedauerlich. Hätte sie sich einen Priester als Seelsorger genommen, hätte er garantiert mehr über diese Frau erfahren können, die ihm so viel Unbehagen bereitete.

«Zum Glück bleibt sie ja nicht mehr lange», dachte er, als er das Vorzimmer verließ.

Auf dem Flur traf er auf die Bahre mit dem Leichnam des Vizekönigs, der gerade in seine Gemächer getragen wurde.

Als der Bischof den Ratssaal betrat, sah er, dass bereits alle gegangen waren. Er wollte schon kehrtmachen, als eine Stimme ihn zurückhielt.

«Wo wollt Ihr denn hin? Ich warte hier auf Euch.»

Er drehte sich um. Der Stadthauptmann saß auf dem Kleinen Thron, war aber auf diese Entfernung nur schwer zu erkennen. Er sah aus wie ein Wurm auf dem Stamm eines Olivenbaums. Der Bischof trat näher.

«Ihr seid der einzige, der mir noch nicht seine Reverenz erwiesen hat.»

Der Bischof kniete flüchtig nieder und stand wieder auf.

«Habt Ihr der Witwe Bescheid gesagt?»

«Ja.»

«Gut. Der Heilige Königliche Rat tritt heute Nachmittag um fünf zusammen. Wir müssen über die Trauerfeierlichkeiten nachdenken, sie müssen grandios sein und des großen Mannes würdig, der Don Angel gewesen ist.»

«Ach, da fällt mir ein», bemerkte der Bischof, «Donna Eleonora wünscht Euch zu sprechen.»

«Ist sie so schön, wie man sich erzählt?»

Der Bischof schüttelte den Kopf.

«Es gibt keine Worte, die sie beschreiben könnten.»

«Gut, ich gehe nach dem Essen zu ihr.»

«Sie sagte, sie will Euch sofort sehen.»

«Ja doch, ist ja gut», sagte der Stadthauptmann ärgerlich.

Der Bischof ging hinaus. Zu Lebzeiten des Vizekönigs hätte sich der Stadthauptmann beeilt. Doch so, wie die Dinge jetzt lagen, sollte Donna Eleonora begreifen, wer hier das Sagen hatte.