Das Blut der weißen Pferde - Herbert Schida - E-Book

Das Blut der weißen Pferde E-Book

Herbert Schida

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Beschreibung

Die Thüringer hatten im Jahre 529 die Franken in der Nähe des heutigen Eisenach besiegt. So mancher Krieger wurde im Kampf verwundet oder getötet. In vielen Sippen lagen Freud und Leid eng beieinander. Herwald, der Sippenälteste von Rodewin, weilt nun in Walhall und sein ältester Sohn Harald wurde schwer verwundet. In Zukunft soll es zwischen den Franken und den Thüringern ein lange währendes Friedensbündnis geben. Geiseln werden ausgetauscht. Im Geheimen schmiedet der Frankenkönig Theuderich jedoch bereits neue Angriffspläne. Hartwig, Herwalds zweiter Sohn, kommt als Geisel an den fränkischen Königshof und lernt dort viel Neues kennen. Er erfährt, dass die Franken einen erneuten Angriff auf seine Heimat planen. Mit dem Bruder von Radegunde, die später die Heilige genannt wird, flieht er aus Reims und warnt die Thüringer. 531 kam es zur großen Schlacht an der Unstrut, bei der die Thüringer unterlagen.

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Seitenzahl: 599

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bedanken möchte ich mich bei Ursula und Heinrich Jung, Manuela Schida-Taudes und meiner Frau Reinhild, die mich bei der Entstehung der Neuauflage des vorliegenden Romans unterstützten.

Inhalt

1. Wahl des Gaugrafen

2. Freyas Insel

3. Der fränkische Hof

4. Götterburg

5. Godehild

6. Die Geiseln

7. Theudeberts Rückkehr

8. Die Schamanin

9. Grimmiger Winter

10. Sachsenangriff

11. Verwaltungsreform

12. Angriffspläne

13. Falkengewänder

14. Entscheidungsschlacht

15. Umbruch

16. Thronfolge

17. Sonnenwende

Anlagen

Mittelthüringen um 531 (Karte)

.

Personen in den Sippenverbänden

Personennamen

.

Reich der Franken um 530 (Karte)

Zeittafel (380 bis 533)

Besetztes Thür. Königreich um 532 (Karte

)...

Kleines Wörter-Lexikon

Verwandtschaftliche Beziehungen

Frühe Merowingerkönige

Autorenportrait

Historische Romane der Thüringen Saga

Karte von Mittelthüringen um 531

1. Wahl des Gaugrafen

Silbern glänzte der Reif auf den Wiesen und die Morgenkälte drang durch die Kleidung. Hartwig, ein Sohn des im Krieg gegen die Franken gefallenen Gaugrafen von Rodewin, war mit seinem Sklaven Sigu schon kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um ein Stück Wild zu erlegen. Als Morgenmensch liebte er es, den Tag sehr früh zu beginnen. Wenn er lange vor den anderen auf den Beinen war, hatte er das Gefühl, ihnen voraus zu sein. Auf der Burg des Königs Herminafrid war das Jagen eine seiner liebsten Beschäftigungen. Die beiden Prinzen Amalafred und Baldur, mit denen er fast den ganzen Tag zusammen verbrachte, waren Langschläfer und sie konnten dieser Neigung ihres Freundes nichts abgewinnen.

Eine Stunde von der Burg entfernt gab es eine Waldlichtung, die regelmäßig von Rehwild aufgesucht wurde und wo Hartwig schon öfter Jagdglück hatte. Hier versteckte er sich mit Sigu, seinem Sklaven, am Rande des Unterholzes und wartete geduldig. Mit den ersten Sonnenstrahlen waren die Rehe zu sehen. Vorsichtig traten sie aus dem geschützten Dickicht des Waldes, stets auf der Hut, bevor sie langsam weiter gingen und dabei ästen. Der Wind stand gut und er hatte seinen Standort so gewählt, dass die Tiere keine Witterung aufnehmen konnten.

Da kam eines der Rehe nah heran. Er spannte den Bogen und der Pfeil zischte durch die Luft. Es war ein guter Schuss und das Tier fiel, in die Brust getroffen, nach wenigen Schritten zu Boden. Die übrigen Rehe jagten in wilder Flucht zurück in den Wald. Hartwig ging zu dem erlegten Reh und weidete es aus. Er packte es seinem Sklaven auf die Schultern und sie liefen zurück zur Burg.

Dies war ein Morgen, wie er ihn mochte, schönes Wetter, Morgensonne und Jagdglück. Er konnte sich nichts Schöneres in diesem Moment vorstellen. Auf dem Heimweg dachte er daran, wie er vor vielen Jahren mit seinem Vater oder manchmal mit seinem großen Bruder Harald frühmorgens in der Umgebung von Rodewin jagen ging. Dies war jetzt nicht mehr möglich. Sein Vater starb im Krieg gegen die Franken und sein Bruder Harald verlor dabei ein Bein und wird wohl nie mehr zur Jagd gehen können. Das alles passierte erst vor wenigen Monden, eine Zeit, in der sich so viel im Thüringer Königreich ereignete.

Jetzt lebte Hartwig auf der Herminaburg, dem Königssitz der Thüringer. Er war der Gefährte von Baldur, dem Neffen des Königs Herminafrid. Der Prinz und seine Schwester Radegunde kamen nach dem Tod ihres Vaters Bertachar in die Obhut ihres Onkels, der nun alleiniger König des großen Thüringer Reiches war. Es erstreckte sich vom Norden des Harzes bis zur Donau und von der Elbe bis zur Werra. Nach dem Sieg gegen die Franken, kam im Westen noch das Gebiet zwischen Werra und Fulda hinzu.

Hartwigs Braut Elke lebte bei ihrem Vater, dem Gaugraf Weibel vom Elbkniegau. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und sehnte sich nach ihr. Die Hochzeit war zwischen den beiden Vätern für das kommende Jahr vereinbart worden und sein zukünftiger Schwiegervater Weibel wollte ihm ein Stück Land in seinem Gau schenken. Dann könnte er jedoch nicht bei Baldur auf der Herminaburg, dessen Gefolgsmann er war, sein. Was sollte er tun?

Am Burghof war schon reges Leben. Alle gingen ihrem Tagwerk nach. Sigu lieferte das erlegte Reh in der Küche ab und bekam von der dicken Köchin einen süßen Brei zum Frühstück vorgesetzt. Er konnte sich hier am Königshof nicht beklagen, denn sein Herr brauchte seine Dienste nur selten und so machte er sich in der Küche nützlich. Hier gab es immer viel zu tun und er übernahm gern die schweren Arbeiten, wie das Heranschaffen des Wassers oder Spalten des Brennholzes.

Die Herrschaften schliefen noch und Hartwig sah vor dem gemeinsamen Frühstück nach den Pferden. In den Ställen waren die weißen Rösser in separaten Boxen untergebracht. Sein Hengst hatte auch eine eigene Box. Er wieherte, als er zu ihm kam. Sigu hatte ihn schon gestriegelt, bevor sie gemeinsam zur Jagd gingen. Das edle Tier war ein Geschenk seines Vaters für die bestandene Jungkriegerprüfung. Es leckte an seiner Hand und scharrte leicht mit den Vorderhufen.

„Heute werde ich mit dir wieder ein wenig ausreiten, damit du mir im Stall nicht verrottest“, sprach er in ruhigem Ton und der Hengst schien ihn zu verstehen und nickte heftig mit dem Kopf.

Es war Zeit, zur Essentafel zu gehen und das gemeinsame Frühstück einzunehmen. Die Königin saß mit ihrer Tochter und Radegunde schon am Tisch. Als der König kam, fragte er mürrisch, warum Amalafred und Baldur noch nicht anwesend waren.

„Die haben bestimmt wieder verschlafen“, meinte die Tochter und kicherte in die vorgehaltene Hand.

„Was gibt es da zu lachen?“, schalt sie ihr Vater. Sofort verstummte sie und blickte nach unten.

„Kennst du den Grund für ihre Verspätung?“, wollte ihr Vater noch von ihr wissen. Sie traute sich nichts zu sagen.

In dem Moment kamen Amalafred und Baldur in den Raum.

„Warum kommt ihr zu spät zum Frühstück?“, schnarrte Herminafrid sie an.

„Entschuldige Vater, wir waren noch in der Kapelle zur Morgenandacht“, antwortete sein Sohn Amalafred.

„Die könntet ihr nach dem Frühstück verrichten oder entsprechend früher aufstehen.“

Irgendwie war der König an diesem Morgen missgelaunt. Vielleicht hatte er schlecht geschlafen oder Ärger mit dem Bau seiner neuen Burg gehabt. Allen war klar, dass es besser wäre, ihn an diesem Tag nicht zu reizen.

Das Essen wurde aufgetragen und keiner sprach mehr ein Wort. Der König sah in die Runde und zuletzt blickte er Hartwig an.

„Ich habe gestern Nachricht von deinem Bruder erhalten, er bittet dich zu ihm. Es steht die Wahl zum Gaugrafen des Oberwipgaus an und da möchte er dich gern dabeihaben. Du kannst also heute schon abreisen.“

Hartwig versuchte seine übermäßige Freude zu unterdrücken.

„Ich danke dir mein König, aber ich hätte noch eine Bitte.“

„Was möchtest du? Sprich!“

„Dürfte mich Baldur begleiten? Meine Sippe würde ihn gern einmal wiedersehen.“

„Die Bitte ist dir gewährt. Doch bleibt nicht länger weg, als es sein muss. Mein Sohn Amalafred kann auch mit euch ziehen und sehen, wie man auf dem Lande lebt.“ Herminafrid stand auf und ging eilig aus dem Raum. Alle schienen aufzuatmen. Der König war ein cholerischer Mann und wenn er schlechte Laune hatte, versuchte ihm jeder auszuweichen.

Die drei jungen Männer freuten sich sehr, dass sie für ein paar Tage verreisen durften. Sie gingen in ihre Kemenate und packten ein paar Dinge für die Reise ein. Die Königin gab Hartwig ein kleines verschnürtes Bündel und bat es seiner Mutter zu geben.

Eilig ritten die drei aus dem Burgtor in Richtung Rodewin. Sie wählten den kürzesten Weg, damit sie noch vor dem Dunkelwerden dort ankommen konnten.

An einem Bach machten sie gegen Mittag Rast und verzehrten ihren Reiseproviant, den die dicke Köchin mitgegeben hatte. Als Amalafred sein Pferd an das Bachufer zum Tränken führte, sprach Baldur ganz leise zu Hartwig.

„Das war eine prima Idee, dass du den König gefragt hast, ob ich dich begleiten darf. Aber von mir und Ursula darfst du Amalafred nichts verraten. Möglicherweise verplappert er sich bei seiner Mutter und ich könnte großen Ärger bekommen.“

„Natürlich werde ich nichts sagen. Du kannst doch allein nach Alfenheim reiten und Amalafred bleibt so lange bei mir in Rodewin.“

„Es ist das Beste, wenn wir es so machen. Ich werde ihm sagen, dass ich einen alten Freund dort besuchen will.“

„Das geht schon in Ordnung“, beruhigte ihn Hartwig. Amalafred kam zurück und war bereit, weiter zu reiten. Von den dreien war er der Jüngste und im Sattel nicht so ausdauernd, wie Baldur und sein Freund. Oft fragte er, ob sie eine kurze Pause machen könnten, doch die anderen beiden drängten ihn durchzuhalten.

Am späten Nachmittag erreichten sie völlig entkräftet Rodewin. Der Ritt war sehr anstrengend, auch für Baldur und Hartwig, die vor der Schlacht gegen die Franken als Meldereiter ähnliche Strecken im Tagesritt bewältigen mussten und daher solche Strapazen kannten.

Die Wiedersehensfreude war bei allen groß. Als Amalafred von seinem Hengst abstieg, konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Jaros und Siegbert halfen ihm ins Haus zu kommen, damit er sich dort an den Tisch setzen und ein wenig ausruhen konnte. Die anderen beiden mussten erst einmal erzählen, wie es ihnen am Hof des Königs Herminafrid erging. In den schönsten Farben schmückten sie das Leben dort aus, dass alle bis auf Harald aus dem Staunen nicht herauskamen.

Der Sippenälteste Harald wusste, dass nicht alles, was golden glänzt, wirklich Gold war. Er hatte Herminafrid kennengelernt und vermutete, dass es bestimmt nicht leicht war, mit ihm unter einem Dach zu leben. Doch das behielt er für sich. Die Zuhörer würden sich über das echte Burgleben ohnehin keine rechten Vorstellungen machen können.

Waltraut, Hartwigs Mutter, hatte das Abendessen aufgetragen und alle langten, nach Haralds Dank an die Götter für das reichliche Mahl, eilig mit ihren Holzlöffeln in die großen Schüsseln mit Haferbrei. Amalafred traute sich nicht, da ihm diese Tischgewohnheiten fremd waren. Der Hausherr munterte ihn auf, ungeniert zuzulangen. Zögernd tat es der Prinz. Der Brei schmeckte ihm besser, als er aussah. Waltraut hatte ihn mit etwas Honig gesüßt, der üblicherweise als Medizin und für die Herstellung des Mets, einem leicht alkoholischen Getränk, verwendet wurde.

Nach dem Essen mussten Hartwig und Amalafred von dem Leben am Königshof weitererzählen. Bei Met und einem bierähnlichen Getränk dauerte das noch lange an. Dann wurden die ersten von der Müdigkeit überwältigt und ihre Augen fielen zu. Als Harald das bemerkte, beendete er die Fragestunde und alle suchten ihre Schlafstätten auf.

Hartwig und seine Freunde sollten in seinem Haus wohnen. So konnten sie dort noch ein wenig über die Dinge sprechen, die Harald interessierten. Das Haus war sehr geräumig. Er lebte hier mit seiner Frau Heidrun, die wieder schwanger war, dem kleinen Sohn, der Sklavin Rosa, dem Knappen Roland und dem Schreiber, der ihn auf seinen Reisen durch das Thüringer Königreich begleitete. Harald hatte den großen Raum für die Stallung in mehrere Einzelräume unterteilen und wohnlich herrichten lassen. Hier lebten auch sein Knappe und der Schreiber. Die nicht genutzten Räume dienten als Unterkunft für Besucher und als Lager.

Den Sippenältesten Harald interessierte besonders, ob Herminafrid nach der siegreichen Schlacht Nachrichten aus dem Frankenreich erhielt. Viel konnte Amalafred hierzu nicht sagen. Sein Vater besprach die meisten Staatsangelegenheiten nur mit dem Reichskanzler. Von einer Nachricht aus dem Frankenland hatte er noch nichts vernommen. Es war ihm unangenehm, dass er Haralds Fragen nicht ausreichend beantworten konnte. Nervös zupfte er an der Fibel seines Gewandes.

„Im Übrigen scheinen meinem Vater solche Dinge nicht mehr zu interessieren“, meinte er.

„Wieso das?“, fragte der Hausherr erstaunt zurück.

„Er ist nur noch mit dem Bau der neuen Königsburg befasst und die Staatsgeschäfte überlässt er allein seinen Beamten. Ich habe einmal ein Gespräch zwischen dem Kanzler und seinem Sekretär belauscht und gehört, dass beide sehr besorgt sind, wie der Neubau finanziert werden soll. Durch eine Verwaltungsreform im gesamten Königreich hofft man nun mehr Steuern eintreiben zu können.“

„Das habe ich mir gedacht, dass es einmal so kommen wird. Die Eigenständigkeit der kleinen Gaue im Mittelreich waren Herminafrid immer ein Dorn im Auge. Zu gern hätte er dies abgeschafft und nun versucht er es über eine Verwaltungsreform. Gibt es denn schon Pläne, wie diese aussehen soll.“

„Der Kanzler sprach davon, dass mehrere der kleinen Gaue in große zusammengefasst werden und dort ein Königsbeamter die Interessen des Reiches wahrnimmt.“

„Das war vorauszusehen. Auf diese Art gelingt es dem König die Macht der Gaugrafen zu schwächen und die Zentralgewalt zu stärken.“

„Was bedeutet das für unseren Gau?“, wollte Hartwig wissen.

„So genau kann man das nicht sagen. Wahrscheinlich wird zum Reichsthing im Herbst auf der Tretenburg darüber gesprochen. Der Vorteil für den König läge wohl auf der Hand.“

Der Schreiber war da anderer Meinung. Es lag wohl daran, dass er in seiner Jugend im ehemals römischen Verwaltungsgebiet aufwuchs. So erklärte er:

„Es kann aber für die kleinen Gaue auch ein Vorteil sein, da viele Entscheidungen durch den Beamten des Königs in dem Zentrum der Großgaue getroffen werden können. Man spart sich dann die weiten Wege zum Königshof und so manches dürfte schneller erledigt werden.“

„Das mag schon sein“, warf Harald mürrisch ein.

„Es wird wohl auf die Person ankommen, die an die Spitze der Großgaue gestellt wird.“

„So ist es. Da aber diese Person ein Reichsbeamter ist, wird nur der König darüber befinden, wer den Posten einnimmt. Wenn dieser dann nicht die Interessen des Reiches vertritt, kann er ihn jederzeit wieder absetzen. Für das Reich ist das die beste Lösung.“

Harald, war noch nicht davon überzeugt. Er sah durch diese Entwicklung die Eigenständigkeit der kleinen Gaue gefährdet.

In zwei Tagen sollte im Oberwipgau ein neuer Gaugraf gewählt werden. Soweit man zurückdenken konnte, kam dieser aus seiner Sippe und alle waren damit zufrieden. Es war schon fast wie ein erbliches Recht. Nach dem Tod von Herwald, war anzunehmen, dass einer seiner Söhne mit dieser Aufgabe betraut werden würde.

In der Regel kam der älteste Sohn dafür in Frage, wenn er geeignet erschien. Bei der letzten Wahl des Gaugrafen hatte man sich für Herwald entschieden, obwohl er jünger als sein Bruder Alwin war. Doch Herwald galt als der Intelligentere und Umsichtigere von ihnen.

Bei der kommenden Wahl wäre Harald der Geeignetste von den drei Brüdern. Er hatte die Erfahrung, dieses Amt gewissenhaft, wie sein Vater, auszuüben und die Sippenältesten vom Oberwipgau schätzten ihn sehr. Doch ein Problem gab es. Er hatte eine schwere Kriegsverletzung und war in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt. Niemand konnte sagen, ob er die Aufgaben des Gaugrafen in der Zukunft wahrnehmen konnte.

Harald wusste es selbst nicht. Der Stumpf seines abgeschlagenen linken Beins war inzwischen gut verheilt und er versuchte mit Krücken zu laufen. Das Reiten ging schon einigermaßen.

Doch wie würden die Sippenältesten das einschätzen. Würden sie ihm dennoch zutrauen das Amt des Gaugrafen auszuüben?

Die Entscheidung war ungewiss. Aus diesem Grund bat er Hartwig zu kommen. Vielleicht wäre er bereit dieses Amt anzunehmen, wenn man sich gegen ihn entscheiden würde. Sein jüngerer Bruder war sehr überrascht über dieses Ansinnen. Er hatte noch nie an eine solche Möglichkeit gedacht und es war nicht das, was er sich für seine Zukunft einmal vorstellte. Sein Ziel war, heldenhafte Taten zu vollbringen, um sich einen Platz in Walhall zu sichern und ein Stück von der Welt zu sehen.

Der Tag der Neuwahl war gekommen. Alle Sippenältesten und Krieger des Oberwipgaus waren am Thingplatz erschienen, um einen neuen Gaugrafen aus ihren Reihen zu wählen. Es kamen viele Zuschauer, die außerhalb des Kreises der Versammelten standen und von weitem das Geschehen betrachteten.

Harald war mit seinem Knappen, Hartwig, Baldur und Amalafred zeitig auf dem Versammlungsplatz angekommen. Der Knappe half ihm vom Pferd und gab ihm seine Krücken. Ohne Hilfe stakte Harald zu einem großen flachen Stein, der inmitten des Versammlungsplatzes lag und setzte sich darauf. Die eintreffenden Männer kamen zu ihm und begrüßten ihn freundlich. Sie erkundigten sich nach seinem Befinden und waren erfreut, dass er sich schon wieder selbständig bewegen konnte und die Wunde gut verheilt war. Ulrich, der Sippenälteste aus Alfenheim, war der älteste Krieger am Thingplatz und leitete die Versammlung und die Wahl. Er würdigte zunächst die großen Verdienste des gefallenen Gaugrafen Herwald für die Gemeinschaft.

„Er war mir immer ein guter Freund und wir hatten in vielen Schlachten Seite an Seite gekämpft. Nun ist sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen und er weilt in Walhall, genießt den himmlischen Met und Schweinebraten.“

Es gab viele Hochrufe und Ulrich mahnte zur Ruhe.

„Durch seinen Tod haben wir jedoch leider unseren Gaugrafen verloren und es wird nicht leicht sein, diese Lücke zu schließen. Zum Glück hat er uns drei Söhne hinterlassen, die ihm an Tapferkeit und Umsicht in nichts nachstehen. Sein ältester Sohn Harald hat sich in zwei Schlachten gut bewährt und unseren Gau zu hohem Ansehen verholfen. Ihn schlage ich als neuen Gaugrafen vor.“

Es gab starken Beifall. Damit hatte Harald nicht gerechnet. Er sah überrascht in die umstehende Männerschar und überlegte, was er jetzt dazu sagen sollte.

„Ich freue mich, dass ihr mich zu diesem ehrenvollen Amt vorschlagt, obwohl ich doch eine erhebliche Verletzung habe und möglicherweise nicht mit dem Schwert voran in die nächste Schlacht reiten kann.“

„Das mag wohl sein“, meinte ein alter Krieger, „aber du hast das Zeug zu einem Gaugrafen und wir vertrauen dir.“

Wieder gab es starken Beifall. Nachdem es ruhiger wurde, fuhr Ulrich fort: „Mit dem Reisen zum Reichsthing kannst du einen deiner Brüder damit beauftragen, dass er dich vertritt. Wie wir hörten, lebt einer bereits am Königshof und so kann er unsere Interessen jederzeit dort wahrnehmen.“

Alle sahen zu Hartwig. Der nickte zustimmend.

Ulrich hob die Hand, und zeigte damit an, dass er weitersprechen wollte.

„Obwohl es so aussieht, dass sich alle schon für Harald entschieden haben, will ich trotzdem noch fragen, ob es einen anderen Vorschlag für die Wahl des Gaugrafen gibt.“

Alle schwiegen.

Doch auf einmal meldete sich Raimund, der Sippenälteste aus Heyloh, zu Wort.

„Es sieht so aus, als wäre ich der Einzige, der gewisse Bedenken hat. Richtig ist, dass Herwald uns immer ein sehr guter Gaugraf war und solange wir denken können, hatte einer aus seiner Sippe dieses Amt inne. Das war so, muss aber nicht immer sein.“

„Was meinst du damit, rede nicht um den heißen Brei herum und sag, was du denkst“, forderte ihn Ulrich barsch auf.

„Ich spreche schon, wenn ich nicht unterbrochen werde.“

Er sah gespannt in die Menge, doch alle schwiegen und sahen ihn böse an.

„Harald hat selbst gesagt, dass ihn seine Verwundung in der Bewegung einschränkt und obendrein ist er noch sehr jung und hat keine großen Lebenserfahrungen. Deshalb schlage ich mich als neuen Gaugrafen vor.“

Lautes Murren war zu hören. Dann sprach Ulrich: „Jeder von Euch kann Vorschläge machen, das ist sein gutes altes Recht und so soll es für alle Zeiten bleiben. Gibt es noch jemand, der Gaugraf werden will, so soll er es jetzt sagen.“

Es gab keine weitere Meldung.

„Wenn es keinen weiteren Vorschlag gibt, sollen die Sippenältesten durch Hochheben ihres Schwertes ihre Entscheidung bekunden. Wer für die Wahl des Heyloher Sippenältesten Raimund als Gaugraf ist, der hebe jetzt sein Schwert in die Höhe.“

Keine Klinge war zu sehen. In den Reihen der Versammelten gab es Gelächter und ein paar Spottworte. Ulrich forderte zur Ruhe auf.

„Wer für Harald ist, der hebe jetzt sein Schwert.“

Alle streckten ihre Arme mit der Waffe in der Hand, in die Höhe. Raimund tat es auch, nachdem er von einem Krieger aus seiner Sippe einen Stoß in die Seite abbekam. Damit war alles entschieden.

Es wurde wieder laut unter den Versammelten und Ulrich hatte Mühe sie zum Schweigen zu bringen.

„Mit dieser Wahl ist Harald unser neuer Gaugraf und wir, die Sippenältesten, geloben ihm vor allen Kriegern unseres Gaues die Treue und den Gehorsam. Er wird uns immerfort ein gerechter Gaugraf sein.“

Als erstes gingen die Sippenältesten zu Harald und drückten ihm die Hand. Danach hielt er eine kurze Ansprache.

„Sippenälteste, Krieger, Volk vom Oberwipgau und Gäste. Ich danke euch für das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt und ich verspreche hier, euch nicht zu enttäuschen. Wir sind wohl ein sehr kleiner Gau im Thüringer Königreich, aber nicht so unbedeutend, wie mancher denken mag. Hohen Besuch haben wir unter uns. Es sind die Prinzen Amalafred, der Sohn unseres Königs Herminafrid und sein Cousin Baldur, der Sohn des verstorbenen Königs Bertachar.“

Harald zeigte mit seiner Hand in deren Richtung und alle sahen zu ihnen und diskutierten aufgeregt.

„Wir wollen den Prinzen die Ehre erweisen, die ihnen zusteht und sie bitten, zu mir zu kommen.“

Der Kreis der Versammelten öffnete sich. Amalafred und Baldur schritten langsam zu Harald und stellten sich neben ihn.

„Als Dank für die Wahl und zu Ehren der Prinzen lade ich euch alle zu mir nach Rodewin auf einen Becher Met ein.“

Es gab laute Hochrufe und Harald stieg mit Hilfe seines Knappen, aufs Pferd. Die meisten der Anwesenden folgten ihm nach Rodewin. Hartwig war vorausgeritten und kündete die große Kriegerschar dort an.

Heidrun ließ schnell Tische und Bänke im Hof aufstellen und Met aus dem Lager holen. Für den kleinen Hunger bereitete sie Schmalzbrote vor. Das Fett hatte sie selbst hergestellt. Sie machte es aus geräuchertem Speck. Den ließ sie in einem Tiegel aus und gab viel Zwiebeln und Gewürzkräuter hinzu. Das Schmalz konnte nach dem Erkalten viele Tage aufgehoben werden, ohne dass es ranzig wurde.

Am Hof wurde es laut. Harald und sein Gefolge trafen in Rodewin ein. Sie stiegen von ihren Pferden und nahmen auf den Bänken, die auf dem Hof aufgestellt waren, Platz. Nachdem jeder saß und einen vollen Becher Met vor sich hatte, hielt Harald noch eine kurze Willkommensrede.

„Krieger des Oberwipgaus. Bevor ich weiterspreche, sollt ihr erst einmal eure Kehlen ölen mit dem Met aus meinen Kannen. Ich danke euch nochmals für das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt. Dies ist mein erster Schluck als Gaugraf.“

Alle riefen begeistert dreimal seinen Namen und tranken ihren Becher in einem Zuge leer. Danach setzte Harald seine Rede fort: „Es wird euch interessieren, wie es im Oberwipgau weitergehen soll. Ich kann euch schon eines sagen, dass ich versuchen werde, alles so wie bei meinem Vater beizubehalten.“

Begeisternd schlugen einige mit ihren Handflächen auf die Tische.

„Nach dem großen Sieg gegen die Franken, an denen ihr alle teilgenommen habt, scheint nun eine langanhaltende Zeit des Friedens zu folgen. Die meisten werden sich darüber freuen. Doch ich selbst glaube nicht daran.“ Überrascht sahen sie ihn an.

„Wieso denkst du das nicht?“, rief einer der Krieger.

„Die Franken sind unsere stärksten Nachbarn und versuchen schon seit vielen Jahren das Thüringer Königreich zu erobern. Selbst wenn wir sie besiegen, ist das noch kein Ende. Sie probieren es immer wieder und irgendwann wird es ihnen gelingen, wenn wir nicht gewappnet bleiben. Daher denke ich, dass wir uns nicht auf die faule Haut legen dürfen und mit unseren Kampfübungen fortfahren müssen, wie wir das in den letzten zwei Jahren getan haben.“

„König Herminafrid hat aber noch nichts von einem bevorstehenden Krieg gegen die Franken gesagt“, meinte Ulrich.

„Wir waren zu der Ehrung auf der Tretenburg und da hatte der König zu uns gesprochen und gemeint, dass nun unsere Waffen für lange Zeit ruhen können.“

Harald antwortete: „Unser König ist ein Mann des Friedens und so schlecht, wie die Franken sind, kann er gar nicht denken. Es ist nur meine Meinung, doch bin ich mir da ganz sicher. In den letzten beiden Jahren habe ich mich viel mit diesem Volk beschäftigt und ich denke, dass sie schon in wenigen Jahren unsere Westgrenze erneut überschreiten werden. Doch dann werden sie ein riesiges Heer mit sich führen, wie wir es noch nie gesehen haben.“

„Ich denke doch, dass der König mit den Franken einen Friedensvertrag abschließt und dann ist Ruhe für alle Zeit“, meinte Ulrich.

„Ihr werdet es sehen, es wird keinen Vertrag geben und Ruhe werden wir keine haben.“

„Das sind keine guten Aussichten, die du uns da nennst“, sprach Ulrich, „doch was können wir allein ausrichten, wenn die Franken kommen?“

„Es ist richtig, dass wir allein nicht viel tun können. Deshalb müssen wir unsere Wehrbereitschaft verstärken.“

„Wie soll das aussehen?“, wollte einer der Krieger wissen.

„Wie ich schon sagte, müssen wir unsere Kampfübungen fortsetzen. Da ich das selbst nicht übernehmen kann, soll einer von euch das tun. Wer sich dafür geeignet hält, der hebe seine Hand.“

Nach einer längeren Diskussion untereinander hoben vier Männer ihre Hand hoch.

„Das ist gut, dass ihr euch meldet. Wir können nun durch eine Wahl oder einen Wettstreit den Truppführer ermitteln.“

Wieder wurde laut diskutiert.

Harald ermahnte zur Ruhe.

„Wer dafür ist, dass wir einen Wettstreit ausführen, der zeige dies an.“

Die meisten Krieger streckten ihre Arme hoch. Das war eindeutig.

„Wir werden also am nächsten Vollmondtag mit dem Wettstreit beginnen und den Besten ermitteln. Ihr sollt mit Pfeil, Speer und der Axt ins Ziel treffen und das zu Fuß und zu Pferd. Wer als Sieger dabei hervorgeht, soll Truppführer des Oberwipgaus sein.“

Die Begeisterung über den bevorstehenden Wettkampf war bei allen groß und Harald hatte Mühe, wieder Ruhe zu schaffen.

„Ich bin noch nicht fertig. Eine weitere Möglichkeit uns gegen die Franken zu wappnen ist, unseren Schutz zu erhöhen.“

„Was meinst du damit?“, riefen gleich einige Ungeduldige.

„Das will ich euch sagen. Gehen wir einmal davon aus, dass die Franken in ein paar Jahren mit einem riesigen Kriegsheer in unser Land einfallen und uns besiegen. Was würden sie dann tun?“

Alle sahen verdutzt zu Harald. Nach einer Weile fuhr er fort: „Sie würden natürlich brandschatzen und rauben. Kreuz und quer würden sie bis zum einbrechenden Winter durch unser Land ziehen und dort, wo sie hinkommen, ist dann nichts mehr, wie es war. Die einzige Möglichkeit zum Überleben ist unauffindbar zu sein. Würden wir im Gebirge, in einem der unzugänglichen Täler oder in den sumpfigen Flussauen leben, wären wir von der Natur genügend geschützt, denn keiner würde sich dorthin wagen. Aber wir leben nun einmal hier und auswandern wollen wir nicht. Deshalb müssen wir unseren Gau zu einer natürlichen Festung ausbauen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Ulrich ungläubig und die anderen nickten ihm bestätigend zu.

„Wir leben hier wie in einem riesigen Becken. Im Westen liegen die Rinsberge und im Norden sind auch Berge. Im Osten und Süden haben wir Sumpfgebiete. Es sind nicht mehr als zehn Wege, die in unseren Gau führen. Wenn fremde Krieger durch unser Reich ziehen, so wählen sie die bekannten Handelsrouten, um schnell und sicher voranzukommen. Dort, wo kein Weg hinführt, ist normalerweise nichts zu holen. Also werden wir die Anzahl der Zugänge zu unserem Gau verringern und die Grenzen mit Dornenhecken unzugänglich machen. Somit findet kein Franke hierher und wir könnten dann möglicherweise überleben und unser Gut retten. Wir machen es wie die Igel, an die keiner leicht herankommen kann, ohne sich zu stechen.“

„Schaden kann es nicht, wenn wir unser Gebiet so absichern, ganz gleich, ob es einen Krieg gibt, oder nicht. Wir haben alle unsere Siedlungen mit Zäunen und Mauern gegen die Wölfe und Bären geschützt. Warum sollen wir nicht auch den ganzen Gau vor den Franken sicher machen können“, meinte Ulrich.

Es meldeten sich noch viele zu Wort und es gab verschiedene Vorschläge, was man tun könnte. Harald gefiel, dass sich alle Gedanken darüber machten und mithelfen wollten. Er dachte daran, dass diese gemeinsame Unternehmung die Sippen im Gau noch weiter zusammenrücken ließe. Kleine Streitereien zwischen ihnen würden schnell ein Ende finden. Es gab nun einen gemeinsamen äußeren Feind, die Franken, und deshalb musste man zusammenhalten, wie Pech und Schwefel. Die Diskussion darüber hielt noch lange an. Einigen Kriegern wurde die Zunge schwer durch den reichlichen Met und das würzige Bier. So verabschiedeten sich die meisten am späten Nachmittag, um rechtzeitig vor dem Dunkelwerden noch zu Hause anzukommen.

Harald war mit diesem Tag sehr zufrieden. Er hatte alles erreicht, was er sich wünschte. Dass man ihn zum Gaugrafen wählt, das hatte er gehofft. Er war sich dessen jedoch nicht sicher. Nun konnte er sich der Absicherung des Gaus widmen. Die Idee dafür hatte er schon lange. Sie kam ihm vor vielen Monden auf seinen Reisen durch das Thüringer Königreich. Hier konnte er sehen, dass die Zufahrten zu manchen Gauen im Gebirge und in den sumpfigen Auen sehr beschwerlich waren. Wenn es schon für ihn nicht leicht war, bei bestem Wetter und mit ortskundigen Führern dorthin zu gelangen, wie schwer musste es für einen Krieger aus einem fremden Reich sein. Diese so geschützten Gaue waren wie eine Festung und für einen Feind ein zu hohes Risiko, dort einzudringen.

Für den nächsten Tag hatte sich Hartwig vorgenommen, mit Baldur zur Entenjagd an den Eichelsee zu gehen und er fragte Amalafred, ob er mitkommen wollte. Hocherfreut sagte der Prinz zu.

Die Nacht war sehr kurz für die kleine Jagdgesellschaft, denn sie brachen schon im Morgengrauen auf. Sie nahmen Haralds Hund mit, der zum Aufspüren von Enten abgerichtet war.

Nach kurzer Zeit erreichten sie den Eichelsee und gingen auf einem Wildpfad zu einer freien Wasserstelle im Schilfgürtel. Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich am Horizont. Der Hund stand wie versteinert am Ufer und beobachtete aufmerksam die Wasseroberfläche. Die drei Jäger legten Pfeile auf die Bögen und warteten ganz ruhig. Da, auf einmal wurde der Hund aufgeregt und sie ließen ihn laufen. Sogleich sprang er ins Schilfdickicht und war verschwunden.

Hartwig deutete mit seinen Fingern in die Richtung, wo er die Enten erwartete. Es war immer noch still. Auf einmal schwammen aus dem Schilf ein paar Entenpärchen, genau auf die Wasserstelle vor ihnen zu.

Alle drei schossen geschwind ihre Pfeile ab. Die Enten versuchten eilig zu entfliehen und flatterten in geringer Höhe über dem Wasser davon. Zwei Enten waren getroffen. Amalafred stieg in das nur kniehohe Wasser, um seine Jagdbeute zu holen. Hartwig ließ sich seine Ente vom Hund bringen.

„Willst du es noch einmal versuchen?“, fragte er Baldur.

„Nein, ich glaube das hat keinen Zweck mehr. Die meisten sind im Schilfgürtel aufgestiegen und am jenseitigen Ufer gelandet. Wir müssten um den großen See herumlaufen, um in Schussweite zu kommen, doch das wäre zu weit.“

„Na gut, wie du willst. So können wir gleich wieder nach Hause gehen, wenn Amalafred seine Ente gefunden hat. Wo ist er denn nur geblieben?“

Amalafred war im Schilf verschwunden und suchte angestrengt nach dem getroffenen Vogel. Der Pfeil war jedoch nur in den Flügel eingedrungen und das verletzte Tier suchte im Schilf Schutz. Hartwig schickte den Hund nach, um die Ente zu finden. Der stöberte sie bald auf und Amalafred konnte sie mit den Händen greifen.

Mit seiner noch lebenden Jagdbeute stieg er aus dem Wasser.

„Du musst sie töten“, sagte Baldur.

„Das kann ich nicht“, entgegnete der Prinz.

„Wieso nicht, du hast sie doch mit dem Pfeil getroffen?“

„Es ist etwas anderes, ein Tier aus der Ferne zu erlegen.“

„Das verstehe ich nicht!“, sagte Hartwig mürrisch, griff nach der Ente und schnitt ihr mit seinem Gürtelmesser die Kehle durch.

Zu seinen Füßen sah er Blut.

„Was ist das?“ fragte er überrascht, „das kann doch nicht alles von der Ente sein.“

Jetzt blickten alle auf den Boden.

„Amalafred, du bist es, der so stark am Bein blutet. Du hast dich bestimmt im Schilf geschnitten. Lass mich sehen!“

Amalafred hob seinen Fuß und das Blut tropfte langsam zu Boden.

„Das ist eine große Schnittwunde an deiner Fußsohle. Damit kannst du unmöglich gehen. Baldur und ich werden dich erst einmal aus dem Schilf tragen.“

Sie legten ihre Hände kreuzweise zusammen und bildeten einen Tragesitz. Vorsichtig setzte sich Amalafred darauf. So brachten sie ihn aus der Schilfzone heraus. Auf der Wiese angekommen, legten sie ihn auf den Boden und besahen sich die Wunde genauer. Sie war noch voller Schlamm und dazwischen sickerte das Blut durch.

„Hoffentlich bekommt er keine Blutvergiftung, sonst müssen wir ihm noch das Bein abtrennen“, meinte Baldur scherzhaft.

„Du hast Recht. Ich weiß, was wir tun können“, sagte Hartwig und suchte im Gras ein paar Blätter Spitzwegerich. Die zerknitterte er in der Hand, nahm sie in den Mund, als wollte er sie kauen und legte sie dann auf die Wunde. Von seinem Hemd riss er den Saum ab und verband damit Amalafreds Fuß. Die beiden Prinzen schauten ihrem Freund bewundernd zu, wie gekonnt er das machte.

„Wir werden unseren Verwundeten jetzt zu der Hütte des Kräuterweibs tragen, die hier am See wohnt und sich mit allerlei Krankheiten gut auskennt. Sie hat bestimmt eine Heilsalbe.“

Hartwig packte Amalafred wie einen Getreidesack auf den Rücken und Baldur nahm alle Köcher und Bögen. So gingen sie zu der Hütte der Kräuterfrau. Vor ihrer Tür war eine Bank, auf die er ihn absetzte.

„Hallo, ist da wer?“, rief er und klopfte an die Holztür. Alles blieb ruhig. Nochmals schlug er mit den Fäusten dagegen, doch es rührte sich nichts.

„Vielleicht ist niemand da“, meinte Baldur.

„Das glaube ich nicht, aber sonderbar ist es schon“, sagte Hartwig und lief um das Haus herum. Als er wieder an der Tür anlangte, klopfte er abermals und legte sein Ohr an die grob behauenen Bretter.

„Ich glaube jetzt hat sich etwas da drinnen bewegt“

„Ich kann nichts hören, du bildest es dir bestimmt nur ein“, meinte Baldur, „es ist besser, wenn wir gehen und Amalafred nach Hause tragen.“

„Das ist aber eine ganz schöne Strecke und sehr leicht ist er nicht gerade.“

„Du wirst das schon schaffen, so gut wie du gebaut bist“, meinte sein Freund und musste dabei lächeln.

„Allein packe ich das nicht, wir müssten uns dann schon abwechseln.“

„Dann ist es besser, wir lassen ihn hier zurück und holen unsere Pferde.“

„Ihr könnt mich doch nicht allein lassen“, rief der Prinz. Hartwig bemerkte die Angst in seinen Worten und er tat ihm leid.

„Sei ohne Sorge, wir lassen dich nicht hier. Entweder nehmen wir dich mit, oder ich gehe allein nach Rodewin und hole unsere Pferde.“

Aus dem Hausinneren war jetzt ein Knarren zu hören, als wenn eine Holzbank verschoben wurde. Langsam öffnete sich die Tür um einen schmalen Spalt und eine junge Frau schaute verschlafen auf die drei Frühaufsteher.

„Was wollt ihr so zeitig am Morgen bei uns?“, fragte sie verwundert.

„Unser Freund hat sich bei der Entenjagd am Fuß verletzt und kann nicht mehr gehen. Wir wollten deine Mutter fragen, ob sie ihm helfen kann“, antwortete Hartwig.

„Sie ist nicht da und sucht um diese Zeit Kräuter und Pilze im Wald. Ich weiß nicht, wann sie zurück sein wird.“

„Können wir hier auf sie warten?“, fragte er die junge Frau.

„Das könnt ihr“, sprach sie und verriegelte von innen wieder die Tür.

„Jetzt heißt es möglicherweise lange ausharren. Vielleicht sollten wir den Verwundeten nun doch allein hier, in der Obhut der hübschen Maid lassen und unsere Pferde holen? Was meinst du dazu, Amalafred.“

„Gut, aber bleibt nicht zu lange weg und bringt etwas zu Essen mit. Ich bin fast am Verhungern.“

Hartwig und Baldur liefen eilig auf dem Feldweg in Richtung Rodewin. Amalafred saß auf der Bank vor dem Haus und hatte seinen verletzten Fuß hochgelegt. Die aufgehende Sonne schien ihm ins Gesicht und wärmte ihn auf. Die Tür der Hütte öffnete sich abermals und die junge Frau kam heraus und hatte eine Holzschale in der Hand.

„Hier nimm diesen heißen Tee, damit du nicht frierst“, meinte sie und reichte ihm die Schale.

Amalafred nippte ganz vorsichtig daran. Das Getränk schmeckte angenehm nach Waldbeeren. Die Frau sah ihn an und sagte: „Ich heiße Ferun und wie heißt du?“

„Amalafred“, antwortete er kurz.

„Was ist dir denn passiert?“

„Ich habe mich im Schilf verletzt und es hat ein wenig geblutet.“

„Zeig es mir, vielleicht kann ich dir helfen.“

Er hob seinen Fuß und wollte den Lappen entfernen.

„Lass nur, ich mache das selbst“, sagte sie und setzte sich auf die andere Bankseite. Sie wickelte den verknoteten und blutdurchtränkten Stoffstreifen auf und besah sich die Fußsohle.

„Das sieht nicht gut aus“, meinte sie. „Die Wunde ist groß und muss erst einmal gründlich gereinigt werden.“

Sie blickte zur Haustür und rief: „Helga, bringe mir heißes Wasser.“

Zu Amalafred gewandt sagte sie leise: „Helga ist meine jüngere Schwester.“

Wortlos sah er sie an.

„Du redest wohl nicht gern, weil du nichts sagst, oder hast du starke Schmerzen.“

„Es sind die Schmerzen“, meinte er und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Das Lächeln schien sie versöhnt zu haben, denn sie fuhr mit dem Erzählen fort.

„Ich lebe hier mit meiner Schwester Helga und der Mutter, die man die Kräuterfee nennt. Du warst bestimmt noch nie hier, denn an dich hätte ich mich bestimmt erinnert.“

„Es ist sehr schön an diesem See. Wo ist denn dein Vater?“

„Der ist lange tot. Er starb an einer Erkältung. Wir lebten schon immer im Wald, denn er war Köhler. Als er starb, wollte meine Mutter nicht mehr zu ihrer Sippe zurück und blieb hier. Sie kennt sich gut mit Kräutern aus und hilft denen, die eine Medizin benötigen.“

„Sammelst du selbst welche?“, wollte Amalafred wissen.

„Ich kenne die meisten Heilpflanzen, aber mit meiner Mutter kann ich mich noch lange nicht messen. Sie sucht ständig nach neuen Rezepturen und probiert alles vorher an sich selbst aus.“

Inzwischen kam Helga mit einem Holzeimer.

„Hier ist das heiße Wasser“, sagte sie und sah Amalafred ins Gesicht und dann erst auf seinen verletzten Fuß. Als sich ihre Blicke begegneten, hatte er ein gar sonderbares Gefühl. Ihm schien das Blut in den Kopf zu steigen. Beide Frauen kümmerten sich nun um seine Wunde. Sie reinigten sie zuerst und Ferun sah nach, ob sich noch ein paar Schmutzreste darin befanden. Es war eine reine Fleischwunde, ein glatter Schnitt. Wahrscheinlich durch eine der vielen Teichmuscheln. Da er seine Schuhe ausgezogen hatte, bevor er ins Wasser stieg, war das leicht möglich.

„Wenn meine Mutter hier wäre, dann wüsste sie vielleicht einen Spruch für die schnelle Heilung und du könntest bald wieder auftreten“, meinte Helga.

„Kann sie denn zaubern?“

„Nicht so gut wie Odin oder Freya, aber ein bisschen schon.“

„Ich habe davon gehört, dass man mit einem Zauberspruch Pferde heilen kann.“

„Ja, Odin hat einmal das Fohlen von seinem Sohn Balder auf diese Weise gesund gemacht. Er sagte: ‚Knochen zu Knochen, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, so seien sie fest gefügt‘. Danach konnte das Tier wieder herumspringen. Aber wenn ich das sage, wird es dir bestimmt nicht helfen.“

„Du kannst es einmal versuchen, vielleicht gelingt es doch.“

Helga hielt ihre Hände über seinen verletzten Fuß und sprach dreimal den Zauberspruch.

„Hat sich die Wunde geschlossen?“, wollte Amalafred ungeduldig wissen.

Ferun besah sich die Schnittstelle und meinte: „Wie es aussieht, muss meine Schwester noch ein wenig mit dem Zaubern üben. Es hat sich gar nichts verändert.“

Helga betrachtete ihre Hände und schien verärgert, dass es nicht funktionierte.

Ferun drückte an der Wunde herum, die danach stärker blutete.

„Warum machst du das?“, fragte Amalafred verwundert.

„Das frische Blut spült den letzten Schmutz heraus und es kann sich dann besser neuer Grind bilden, der alles sauber verschließt“, sagte sie.

Amalafred betrachtete die Töchter der Kräuterfrau. Sie knieten vor ihm und versorgten bedächtig seinen Fuß. Beide waren älter als er und hübsch, wie er fand. Wenn sie sich nach vorn beugten, konnte er weit in den Ausschnitt sehen. Die einfachen Sackkleider aus derbem Stoff erlaubten einen Durchblick bis hinunter zu den Füßen. Bei jeder Bewegung wippten ihre Brüste hin und her und auf und ab. Am liebsten hätte er nach ihnen gefasst. Helga merkte wohl, wohin seine Augen starrten, doch ließ sie sich nichts anmerken. Ungeniert und unbefangen bot sie ihm weitere Einblicke. Als Ferun mit dem Verband fertig war, strich sie Amalafred über den Unterschenkel.

„Du hast sehr schöne Beine und die Haut ist so zart, wie bei einer Frau. Ein Bauersohn scheinst du nicht zu sein, denn die haben in deinem Alter schon Schwielen und Hornhaut. Wer bist du?“

„Ich komme von weit her, aus dem Oberreich und bin nur ein paar Tage zu Besuch in Rodewin.“

„In Rodewin?“, fragte Helga, „dort haben sie die herrlichen weißen Pferde. Manchmal kommen sie bei uns vorbei, wenn sie zu den Bergweiden ziehen. Das sieht immer sehr schön aus.“

„Ja, das sind sehr prächtige Tiere.“

„Hast du mit Pferden zu tun?“

„Ich bin Pferdeknecht beim König.“

„Da bist du richtig zu beneiden, dass du sie immer in deiner Nähe haben kannst“, meinte Helga.

Amalafred nickte. Wer er wirklich war, verschwieg er lieber. Als Pferdeknecht war er den beiden bestimmt lieber. Auf dem Weg sahen sie zwei Reiter und drei Pferde auf die Hütte zu kommen. Es waren seine Freunde. Sie sprangen von ihren Rössern und gingen zu der Holzbank.

„Wirst du reiten können Amalafred?“, fragte ihn Hartwig.

„Ja, es wird bestimmt gehen. Ich habe einen neuen Verband.“

Ferun bot den Ankömmlingen Tee an. Sie tranken einen kleinen Schluck und bedankten sich. Baldur hatte es eilig. Er wollte noch gern nach Alfenheim zu seiner Geliebten reiten. Vorsichtig halfen sie Amalafred auf das Pferd.

„Euer Freund kann morgen zu uns kommen, damit wir nach seiner Wunde sehen“, bot Ferun an.

„Das kann er gern tun“, meinte Hartwig und bedankte sich bei den beiden Frauen für die Hilfe. Er fragte sie, ob er ihnen eine der erlegten Enten als Dankeschön überlassen darf, doch sie winkten ab. Sie aßen kein Fleisch. Verwundert sahen die Männer die Frauen an und ritten davon.

2. Freyas Insel

In Rodewin gab es große Aufregung, als Hartwig mit Amalafred auf dem Rücken in das Haus von Harald trat. Jeder wollte wissen, was sich zugetragen hatte und ob es etwas Schlimmes wäre. Der Prinz erzählte von seinem Missgeschick bei dem Jagdausflug. Da nichts weiter passiert war, beruhigten sich alle schnell wieder.

Hartwig und Baldur ritten nach dem Frühstück weg, denn Baldur wollte seine Ursula, in Alfenheim besuchen und sein Freund sollte ihn begleiten. Lust hatte er keine, mitzukommen. Ihm gefiel es mehr, durch den Wald zu ziehen und zu jagen. Da er jedoch Prinz Baldur zur Gefolgschaft verpflichtet war, musste er sich seinem Wunsch fügen.

In Alfenheim waren alle zu Hause. Baldur fand bald eine Gelegenheit, um mit Ursula allein zu sein. Hartwig ging auf den Hof und hörte Lärm aus der Schmiede. Er lief hin, um nachzusehen. Ulrich und sein Sohn Udo standen am Amboss und hämmerten im Gleichtakt auf die Klinge eines Dolches. Das Feuer schürte der ehemalige Bergmann. Ulrich hatte ihn und seine Familie vor einiger Zeit in seine Sippe aufgenommen.

Hartwig konnte sich noch an das Unglück in der Bergleutesiedlung erinnern. Dort gab es einen starken Wassereinbruch in den Stollen und die meisten Bergleute sind danach fortgezogen. Der Bergmann, den Ulrich aufnahm, war seit vielen Jahren ein guter Freund von ihm und hatte sich schnell und gut in seine neue Arbeit als Schmiedegehilfe hineingefunden.

Eine Weile sah Hartwig den drei Männern bei der Arbeit zu und als sie eine Pause machten, fragte er sie, ob er mithelfen dürfe. Udo reichte ihm die Zange, in der ein glühendes Eisenstück eingeklemmt war.

„Lege es auf den Amboss und halte es fest!“

Ulrich schlug vorsichtig mit seinem Hammer auf das glühende Metallstück. Nur leicht verformte es sich. Nach einer Weile fragte er ihn, ob er selbst einmal zuschlagen wolle. Hartwig nickte. Udo reichte ihm einen leichten Hammer. Die Anstrengung war jedoch bedeutend größer, als die Zange zu halten und schon nach kurzer Zeit konnte er kaum noch den Hammer in die Höhe bringen. Die Schläge saßen dann nicht mehr so genau.

„Wir machen eine Pause und ich zeige dir ein besonderes Stück von mir“, sagte Ulrich und legte das noch immer heiße Eisen in das Schmiedefeuer zurück. Er ging zu einem Regal, auf dem verschiedene, bearbeitete Eisenstücke lagen. Unter anderen waren da ein paar Schwertklingen dabei.

„Hier habe ich es“, sprach er und reichte Hartwig das noch nicht ganz fertige Schwert.

„Es muss noch geschliffen werden und bekommt einen Griff aus Eschenholz. Sieh nur selbst, was das für eine Klinge ist. So etwas hast du bestimmt noch nie gesehen.“

Er nahm das Eisen in die Hände und betrachtete es.

„Ich kann nichts Besonderes daran erkennen“, sprach er und wippte es prüfend in der Hand.

„Na dann wollen wir einmal sehen, ob du das noch sagst, wenn wir die Klinge ausprobiert haben. Udo brachte eine Hanfkordel und er umwickelte damit das Griffstück. Dann gingen sie zu einem kleinen, armdicken Baum, der am Rande des Hofs stand. Udo holte mit dem Schwert aus und trennte mit einem Hieb den Baumstamm in Mannshöhe durch.

„Das war ein guter Streich“, sagte Hartwig anerkennend zu Udo.

„Das könnte ich auch mit einem anderen guten Schwert tun. Mit dem hier kann ich noch viel mehr.“

Er holte einen Topf aus getriebenem Kupferblech aus der Schmiede und stülpte ihn über den abgeschnittenen Baumstumpf. Dann hieb er mit dem neuen Schwert senkrecht auf den Boden des Topfes und zerschnitt ihn in der Mitte. Der Hieb war so gewaltig, dass der Stamm bis zum Fuß auseinanderbrach.

„Das ist noch besser“, meinte Hartwig überrascht. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

Udo reichte ihm das Schwert und sie prüften die Schneide. Es war keine Einkerbung zu erkennen.

„Was habt ihr nur für einen Stahl verwendet?“, fragte er verwundert.

Ulrich grinste ihn vielsagend an.

„Was meinst du, Udo, wollen wir es ihm verraten?“

„Wenn er es keinem weitersagt, darf er es erfahren.“

Hartwig nickte.

Ulrich nahm das Schwert in die Hand und hielt es prüfend gegen die Sonne.

„Du wirst dich bestimmt noch an das Messer erinnern, das ich dir und Baldur einmal gezeigt habe. Es war ein Geschenk von Theoderich, dem König der Ostgoten. Die Oberfläche der Klinge schaute eigenartig aus. Es waren viele dünne wellenartige Streifen darauf zu sehen. Lange blieb mir das ein Rätsel. Als vor einem Mond ein alter Schmiedemeister vom Rynnestig bei mir war, zeigte ich ihm das Messer. Er hatte eine Idee und wir probierten sie gleich aus.“

„Was habt ihr denn gemacht?“

„Sei nicht so ungeduldig, du wirst es gleich erfahren“, entgegnete Ulrich schmunzelnd.

„Wir haben zwei alte Schwerter ausgesucht. Eines hatte viele Einkerbungen und es ließen sich mit einem Hammer leicht neue Kerben einschlagen. Das war ein sehr weicher Stahl. Das zweite Schwert hatte kaum Kerben, obwohl es oft verwendet wurde. Es war jedoch sehr spröde und ließ sich nicht biegen. Die beiden sehr unterschiedlichen Stahlklingen legten wir übereinander und verbanden sie durch wiederholtes Glühen und Hämmern. Dann haben wir sie immer wieder gefaltet und auf gleiche Weise zusammengeschmiedet. So hatten wir am Ende ein Stück mit sehr vielen Lagen des weichen und spröden Stahls das wir zu der Schwertklinge austrieben. Sie hat die Eigenschaften der früheren weichen und harten Klinge.“

„Die feinen wellenartigen Streifen kann ich nicht erkennen“, meinte Hartwig.

„Die sieht man erst, wenn die Klinge geschliffen und poliert ist.“

„So ein Schwert möchte ich haben, Ulrich. Kannst du mir eines fertigen?“

„Das wäre möglich, aber das dauert seine Zeit und du müsstest mir dabei helfen.“

„Das werde ich gern tun, können wir gleich damit anfangen?“

„Na gut, wenn es dir so wichtig ist, wollen wir sofort damit beginnen.“

Sie suchten zwei geeignete Altschwerter aus und der Bergmann schürte das Schmiedefeuer. Für Hartwig war die ungewohnte Arbeit sehr anstrengend und nach kurzer Zeit konnte er kaum noch den Arm heben. Er wechselte sich mit Udo ab und hielt die Schmiedestücke mit der Zange fest. Im gleichmäßigen Wechsel schlugen Ulrich und Udo mit ihren Hämmern auf die übereinander gelegten glühenden Schwertklingen und schmiedeten sie zusammen. Sie gönnten sich nur wenige Pausen. Am späten Nachmittag hörten sie auf. Es lag noch viel Arbeit vor ihnen und Hartwig versprach, am nächsten Tag wieder zu kommen und zu helfen.

Baldur war darüber sehr froh. Die Arbeit würde seinen Freund bestimmt ein paar Tage in der Schmiede in Anspruch nehmen und keinem fiele es in Rodewin auf, wenn er mit ihm jeden Tag nach Alfenheim ritt.

Am nächsten Morgen wollte Amalafred zur Hütte der Kräuterfrau, um nach seiner Wunde sehen zu lassen. Hartwig bot ihm an, dass sie zu dritt dorthin reiten könnten. Es war kein großer Umweg, um vom Eichelsee nach Alfenheim zu kommen. Sie standen zeitig auf, aßen hastig einen kalten Brei vom Vortag und ritten gleich los. Jeder von ihnen hatte es eilig, an sein Ziel zu kommen. Sie bogen nach dem dritten Waldteich links zum Eichelsee ab. Auf der Anhöhe konnten sie schon die Hütte der Kräuterfrau sehen. Als sie ankamen, öffnete sich die Tür und ein altes gebücktes Weib trat heraus.

„Die sieht wie eine Hexe aus“, sagte Baldur zu Hartwig mit verhaltener Stimme.

„Wer seid ihr?“, fragte die Alte.

„Ich bin Hartwig aus Rodewin und das sind meine Freunde Amalafred und Baldur.“

„Kommt ruhig näher und setzt euch auf die Bank!“

Die jungen Männer taten wie ihnen geheißen wurde. Die Frau rief nach ihren Töchtern und die brachten drei Schalen mit Tee. Sie schienen gerade erst aufgestanden zu sein, denn ihre Haare waren verstrubbelt.

„Ich habe gehört, was euch gestern passiert ist“, sprach sie und sah Amalafred in die Augen.

„Jetzt zeig mir deinen Fuß! Ich will mir die Wunde ansehen.“

Ihre Tochter Ferun trat hinzu und hob sein Bein hoch. Die Kräuterfrau löste den Verband und betrachtete die Wunde.

„Das ist fast verheilt! In ein paar Tagen wirst du wieder laufen können. Wenn ich dich so ansehe, erkenne ich, dass du keine gute Durchblutung hast. Du bist sehr blass im Gesicht, mein Junge.“

Amalafred blickte besorgt zu der Frau und fragte: „Kann ich etwas dagegen tun?“

„Das kannst du, doch es dauert seine Zeit. Zunächst würde ich dir zu ein paar Moorbädern und Abreibungen raten, damit das Blut wieder in Bewegung gerät.“

„Ich weiß nicht, wo man Moorbäder bekommen kann“, sagte Amalafred.

„Damit kann ich dir helfen, was du brauchst, gibt es bei mir. Die Behandlung dauert ein paar Tage.“

„Das ist mir recht, wenn es nur hilft.“ Amalafred sah fragend zu Hartwig.

„Wir können dich heute Nachmittag von hier abholen“, meinte er, denn er wollte endlich nach Alfenheim weiter reiten.

Die Frau sah ihn verwundert an und fragte: „Wieso habt ihr es so eilig?“

„Ulrich wartet auf uns. Er hilft mir ein Schwert zu schmieden.“

„Hast du so etwas schon einmal gemacht?“

„Gestern habe ich damit begonnen und nach ein paar Stunden konnte ich den Hammer nicht mehr anheben.“

„Das glaube ich dir. Zeig mir deine Handflächen!“ Zaghaft streckte Hartwig die Hände vor.

„Das habe ich mir gedacht“, sprach die Alte. Du hast schon Blasen, die bald aufgehen und schmerzen werden. Ich kann dir mit einer Salbe helfen. Die musst du morgens und abends einreiben, dann verheilen die Blasen schnell.“

Sie lief in die Hütte und kam mit einer kleinen Holzschale zurück. Hartwig bedankte sich bei ihr und rieb sich gleich die Handflächen damit ein. Die Salbe hatte eine kühlende Wirkung, was ihm sehr angenehm war. Dann verabschiedeten sich Hartwig und Baldur und ritten in Richtung Alfenheim weiter.

Amalafred sollte nun allein den ganzen Tag in der Obhut der drei Frauen bleiben. Er war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, der Behandlung mit den Moorbädern gleich zuzustimmen. Doch um in der Nähe der hübschen Töchter zu sein, nahm er dies gern auf sich und schaden würden ihm die Bäder bestimmt nicht. Die Frauen hatten irgendetwas in der Hütte zu tun und ließen sich lange nicht mehr sehen. Schon glaubte er, dass sie ihn draußen auf der Bank vergessen hatten, und er wollte sich bemerkbar machen. Da kam Helga mit einer Kanne Tee.

„Du musst heute viel trinken, denn das gehört zur Kur“, meinte sie verschmitzt.

„Warum lächelst du so vielsagend? Ist das eine unangenehme Behandlung, die ihr mit mir vorhabt?“, fragte er Helga.

„Nein, das nicht. Bisher haben alle die Behandlung überstanden und du wirst danach wie ein neuer Mensch wieder heimkönnen.“

Lachend lief sie in die Hütte zurück und die alte Frau ließ sich sehen. Sie hatte einen Lederbeutel in der Hand und setzte sich zu ihm auf die Bank.

„Mein Junge, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis es losgeht.“

„Kannst du mir sagen was passiert?“

„Sei nicht ungeduldig und entspanne dich. Am besten, du gehst zum See und angelst. Fische fangen beruhigt am besten.“

Sie griff in ihren Lederbeutel und holte ein paar Schnüre heraus an deren Enden kleine eiserne Drahthaken verknotet waren.

„Ich werde mit meinen Töchtern frisches Moor stechen und Holz für das Feuer holen.“

Laut rief sie nach ihren Töchtern, die Amalafred helfen sollten auf den Steg hinter dem Haus zu gehen. Ferun brachte ihm einen langen Stab, auf den er sich beim Laufen stützen konnte und führte ihn behutsam zum Holzsteg. Der aus Baumstämmen gefertigte Steg war sehr schmal und führte durch das Schilf, bis zu einer offenen Stelle, von der man auf den ganzen See schauen konnte. Hier, am Ende des Stegs, setzte sich Amalafred nieder und ließ seine Beine über dem Wasser baumeln. Ferun hatte den Beutel mit dem Angelzeug neben ihn gelegt.

„Wenn wir wieder aus dem Moor zurück sind, sehe ich nach dir.“

„Ist schon gut“, sprach er und zog den Stock, auf den er sich gestützt hatte, zu sich heran.

Dabei stieß er versehentlich an den Beutel, der ins Wasser fiel.

„Sapperlot!“, rief er verärgert, „jetzt ist mir das Angelzeug ins Wasser gefallen.“

Er versuchte es mit dem Stock zu erreichen, doch dabei stieß er es immer weiter vom Steg weg.

„Was mach ich nur?“

Ferun war im ersten Moment auch ratlos. Sie dachte an die Schelte ihrer Mutter, wenn die Angelschnüre verloren gingen. Im Nu zog sie ihr Leinenkleid über den Kopf und stieg ins Wasser. Es reichte ihr bis kurz über die Taille. Eilig bewegte sie sich in die Richtung des Beutels, der immer weiter vom Ufer in Richtung zur Mitte des Sees trieb. Endlich konnte sie ihn fassen. Glücklich kehrte sie damit zum Steg zurück.

„Du bist ein großartiges Mädel, wie du das gemacht hast“, sagte Amalafred und half ihr aus dem Wasser. Er zog sein Oberhemd aus und reichte es Ferun.

„Damit kannst du dich abtrocknen, damit deine Mutter nichts merkt.“

Sie nahm das Hemd und wischte sich damit die Wassertropfen ab. Amalafred sah ihr dabei zu und erfreute sich am Anblick ihrer Bewegungen und der prallen wippenden Brüste. Es fiel ihr auf, dass er sie wie gebannt ansah.

„Gefalle ich dir?“, fragte sie beiläufig.

Wie aus einem Traum herausgerissen, schreckte er zusammen. Sein sonst so blasses Gesicht bekam Farbe. Das Blut schoss ihm in den Kopf und er fühlte, dass ihm heiß wurde. Etwas zögerlich antwortete er: „Du bist sehr schön. Deine Rundungen sind eine große Augenweide und ich würde gern darüberstreichen.“

„Das freut mich, dass ich dir gefalle. Wenn du willst, darfst du mich ganz kurz berühren.“

Sie setzte sich nackt neben ihn auf den Steg und er fasste mit einer Hand an ihre Brust. Wieder spürte er das Blut in seinem Kopf aufsteigen. Er strich vorsichtig über die eine und dann über die andere Brustwarze. Sie hoben sich dabei stark ab. Langsam zog sie seine Hand weg.

„Das genügt“, sprach sie, „ich muss jetzt eilig zu Mutter.“

„Vielleicht könntest du mir hier Gesellschaft leisten, das würde mir besser gefallen.“

„Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete sie trocken, stand auf und zog sich ihr Kleid über.

„Wenn wir zurück sind, sehe ich nach dir. Doch bis dahin musst du fleißig sein und ein paar Fische fangen. Pass auf, dass dir der Beutel nicht noch einmal ins Wasser fällt!“

Sie rannte auf dem Steg zurück zur Hütte und Amalafred sah ihr versonnen nach. Ferun war um einige Jahre älter als er, doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es schien sein Verlangen nach ihr noch zu verstärken. Er hob nun den Beutel auf und blickte hinein. Neben den Angelschnüren war noch eine kleine Holzschachtel drinnen, in der sich Regenwürmer für die Angelhaken befanden.

Damit ihm die Schnüre nicht aus Versehen ins Wasser fielen, band er das freie Ende an den Stock, der neben ihm lag, spießte die Würmer auf die Haken und warf sie ins Wasser. Eine Elle lang hinter den Haken befand sich noch ein leichtes Holzstück, das als Schwimmer diente. Dadurch bewegte sich der Wurm in der richtigen Höhe unter der Seeoberfläche und konnte von den Fischen gut gesehen werden. Fünf Schnüre schwammen nun im Wasser und warteten auf ihre Beute. Amalafreds Gedanken waren bei Ferun und er konnte sich gut ein kleines Techtelmechtel mit ihr vorstellen. Viel mehr dürfte dabei nicht herauskommen. Hartwig hatte ihm gesagt, dass die Töchter Dienerinnen der Göttin Freya sind. Solche Frauen geben ihre Liebesdienste für Geschenke her. Wenn das so ist, dann brauchte er sich keine Sorgen, wegen nachfolgender Komplikationen machen oder Gewissensbisse haben. Nur richtig verlieben durfte er sich nicht in sie, das wäre nicht gut. Amalafred blickte auf den See und versuchte seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken als auf die schöne Ferun, doch es gelang ihm nicht. Da, auf einmal bewegte sich eines der Holzstücke und versank im Wasser. Amalafred suchte hastig nach dem passenden Faden und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Eilig holte er die Schnur ein. Am Haken hing ein Fisch. Es war ein guter Fang. Er legte ihn neben sich zwischen die Holzbalken des Stegs und präparierte den Haken mit einem neuen Regenwurm.

Bis zur Mittagszeit hatte er fünf große Fische und ein paar kleine gefangen. Ferun kam zu ihm, um ihn abzuholen. Sie war erstaunt, welches Anglerglück er hatte.

„Da wird sich meine Mutter freuen und wir werden eine gute Fischsuppe zubereiten.“

Amalafred holte die Angelschnüre ein und verstaute sie ordentlich im Beutel. Ferun legte inzwischen alle Fische in einen Sack. Sie musste ihn allein tragen, denn Amalafred hatte mit sich selbst und der Stockstütze genug zu tun.

Als sie an der Hütte ankamen, war die Freude über den guten Fang groß. Helga begann die Fische auszunehmen und zu entschuppen. Ihre Mutter und Ferun kümmerten sich um das Moor. In Ledersäcken hatten sie die schwarze Erde zur Hütte getragen. Das musste sehr mühsam gewesen sein, dachte sich Amalafred. Er war mit in die Hütte gekommen und sah den Frauen bei ihrer Arbeit zu. Jede wusste, was sie zu tun hatte. Keine stand der anderen im Wege. In einem großen Kessel wurde die Moorerde erwärmt. Ferun rührte die schwarze Masse ständig um. Ihre Mutter nahm bestimmte Kräuter aus verschiedenen kleinen Weidenkörben und warf eine kleine Prise davon in den Kessel. Andere Kräuter gab sie in einen tönernen Topf und goss heißes Wasser darüber. Von diesem Tee nippte Amalafred nur, doch er war ihm zu bitter.

„Das schmeckt grausig. Muss ich das alles trinken?“ Die Alte sah ihn mit einem bösen Blick an.

„Ja, und kein Tropfen darf daneben gehen. Das ist nämlich ein Zaubertrank. Der wird dich von innen richtig beleben.“

Widerwillig schluckte Amalafred das bittere Zeug hinunter. Inzwischen hatte der schwarze Brei im Kessel die richtige Temperatur.

„Jetzt bekommst du gleich die Moorpackung“, sagte die Alte.

Sie wischte mit einem nassen Lappen über den großen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand und legte eine grobe dicke Wolldecke darüber. Ferun verteilte darauf den heißen Moorbrei.

„Jetzt kannst du dich ausziehen“, sagte sie zu Amalafred.

Unsicher und ein wenig verschämt entledigte er sich seiner Kleider und legte sich auf die Decke. Ferun goss ihm langsam den warmen Schlamm über den Körper und strich ihn mit den Händen breit. Amalafred musste seine Arme an den Köper legen und sie wickelte ihn mit der Wolldecke fest ein. Es dauerte nicht lange und ihm wurde heiß. Der Tee und die Moorpackung trieben den Schweiß aus allen Poren. Anfangs war das angenehm, doch als es ihm immer heißer wurde, wäre er am liebsten in den See zum Abkühlen gesprungen. Doch damit musste er noch eine Weile warten. Die alte Frau saß auf einem Schemel neben ihm und hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt. Dabei murmelte sie fortlaufend unverständliche Worte. Wozu das gut sein sollte, konnte er sich nicht erklären. Möglicherweise waren es Zaubersprüche oder etwas Ähnliches. Als die Wärme kaum noch auszuhalten war, hielt sie inne. Ferun kam hinzu und wickelte die Decke auf. Mit ihren Handkanten strich sie das Moor von seiner Haut. Dann half sie ihm auf den Steg zur Wasserstelle zu gehen. Hier stieg er vorsichtig in das kühle Nass und wusch den Schlamm von seinem Körper. Das kalte Wasser tat ihm sehr gut. Ferun wartete mit einer sauberen Wolldecke und hängte sie ihm über. Sie half ihm zurück zur Hütte zu gehen. Helga hatte inzwischen den Tisch gesäubert und ein neues Tuch auf der Tischplatte ausgebreitet.

„Leg dich wieder hin“, befahl ihm die Alte.