Die Schneeflockenmelodie - Anna Liebig - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Schneeflockenmelodie E-Book

Anna Liebig

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn die Schneeflocken tanzen, bin ich immer bei dir …

Nina weiß nicht mehr weiter. Ballett ist ihr Leben, doch ihr Traum, eines Tages eine berühmte Tänzerin wie ihre geliebte Großmutter Maria zu werden, droht zu zerplatzen. Als Maria aufgrund ihrer voranschreitenden Demenz auch noch in ein Heim gebracht werden muss, scheint Ninas Kraft am Ende. Doch dann fällt der jungen Frau eine Schatulle mit einer alten Spieluhr und einem Notizbuch in die Hände. Diese offenbaren ihr nicht nur die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe zwischen einer Tänzerin und einem einfachen Spieluhrenmacher, sondern führen sie auch zu ihrem eigenen Glück…

Ein Roman wie ein Adventskalender: Jeden Tag ein Kapitel, das die Wartezeit auf das Weihnachtsfest versüßt – berührend, herzenswarm und voller Winterzauber!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Nina weiß nicht mehr weiter. Ballett ist ihr Leben, doch ihr Traum, eines Tages eine berühmte Tänzerin wie ihre geliebte Großmutter Maria zu werden, droht zu zerplatzen. Als Maria aufgrund ihrer vorschreitenden Demenz dann auch noch in ein Heim gebracht werden muss, scheint Ninas Kraft am Ende. Doch dann fällt der jungen Frau eine alte Schatulle mit einer Spieluhr und einem Notizbuch in die Hände. Diese offenbaren ihr nicht nur die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe zwischen einer Tänzerin und einem einfachen Spieluhrenmacher, sondern führen sie auch zu ihrem eigenen Glück …

Autorin

Anna Liebig ist das Pseudonym von Nicole Steyer, einer erfolgreichen Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus. Bereits mit acht Jahren begann sie, Geschichten zu erfinden und niederzuschreiben. Ihre beiden Romane »Das Winterkarussell« und »Die Schneeflockenmelodie« sind Liebeserklärungen an die schönste Zeit des Jahres: Weihnachten.

Weitere Informationen unter: www.literatur-steyer.de

Von Anna Liebig bereits erschienen

Das Winterkarussell

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet

ANNALIEBIG

Die Schnee FlockenMelodie

Roman

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 HannoverRedaktion: Matthias TeitingUmschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.deDN · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-27957-8V001www.blanvalet.de

»Wir leben für den Tanz, schweben im Licht der Scheinwerfer über die Bühne, zaubern die perfekte Illusion und erschaffen Märchen.Alles andere ist gleichgültig und liegt im Schatten.«

1. Kapitel

Wiesbaden, Dezember 1938

Ich weiß nicht recht«, sagte Gerda. »Sollen wir da wirklich reingehen? Wir werden bestimmt Ärger bekommen, wenn sie uns erwischen. Am Ende krieg ich dann nix vom Christkind. Und ich hätte doch so gern eine von den Puppen mit den Schlafaugen.«

»Dann lassen wir uns eben nicht erwischen«, sagte Maria. »Jetzt sei kein Hasenfuß.« Sie stieß Gerda in die Seite. »Was soll passieren? Wenn es dumm läuft, dann setzen sie uns vor die Tür. Deine Mama wird bestimmt nichts davon erfahren. Du willst doch auch zu gern wissen, wie es da drin aussieht. Und vielleicht sehen wir eine der wunderschönen Tänzerinnen.« Marias Gesichtsausdruck bekam etwas Schwärmerisches. »Das wäre zu schön.«

Die beiden sechsjährigen Mädchen standen an einem der Bühneneingänge des Wiesbadener Staatstheaters. Sie waren in warme Wintermäntel gehüllt, mit Pudelmützen auf den Köpfen, denn es war bitterkalt und schneite leicht. Maria wusste, dass im Theater heute Abend das Weihnachtsmärchen Der Nussknacker aufgeführt wurde. Überall in der Stadt hingen Plakate, und es hatte auch in der Zeitung gestanden. Sie wäre so gern in die Vorstellung gegangen, aber ihre Eltern erlaubten es nicht. In der Apotheke gebe es zu viel zu tun. Für einen Theaterbesuch bleibe keine Zeit. So war es immer. Maria kannte die Entschuldigungen schon zur Genüge.

»Also gut«, gab Gerda nach. »Ich will ja auch mal gucken. Vielleicht können wir sogar auf die Bühne gehen. Das wäre doch was. Dann würden wir uns wie richtige Schauspieler fühlen.«

Maria legte mit klopfendem Herzen ihre Hand auf die Türklinke, und erfreulicherweise war nicht abgeschlossen. Im Inneren kam die Ernüchterung. Es empfing sie ein dunkler Flur, der muffig roch und von kalten Neonlampen erhellt wurde.

»Also, das habe ich mir aber anders vorgestellt«, sagte Gerda und rümpfte die Nase. »Wo ist denn der ganze Luxus? Angeblich soll das hier doch alles voller Gold und rotem Samt sein. Das hat Lieselotte so erzählt.«

»Aber doch nicht hier, du Dummerchen«, antwortete Maria. »Das ist für die Zuschauer so. Wir sind hinter den Ku…« Sie unterbrach sich. »Ach, mir fällt das Wort nicht ein. Also, halt da, wo es nicht so schick ist. Die können hier doch nicht überall Gold und Samt haben. Das wäre viel zu teuer. Komm.« Sie bedeutete Gerda, ihr zu folgen. »Wir gehen mal hier lang. Irgendwo wird diese Bühne schon sein.«

Sie folgten dem Gang, bogen um eine Ecke, liefen eine Treppe nach oben und huschten einen weiteren grauen Flur entlang. Hier war nun Musik zu hören.

»Hörst du das?«, fragte Maria. »Wir sind bestimmt nah dran.«

Sie öffneten eine Tür und befanden sich plötzlich im Auditorium des Großen Hauses. Beiden Mädchen stand ob der Pracht der Mund offen. »Hier also sind das ganze Gold und der rote Samt«, sagte Gerda mit Ehrfurcht in der Stimme.

»Und die Bühne«, fügte Maria hinzu. »Sieh nur, wie schön sie ist.«

Die Musik war verstummt. Der Zuschauerraum war beinahe komplett leer. Nur in einer der vorderen Reihen saßen einige Leute. Die Bühnenlichter waren an, ein riesiger gemalter Weihnachtsbaum diente als Kulisse. Tänzer in Uniformen standen an den Seiten in Reih und Glied. Eine Ballerina in einem wunderschönen, strahlend weißen Tutu mit einem tellerförmigen Rock betrat die Bühne und stellte sich in der Mitte in Position. Das weiße Oberteil war silbern durchwirkt, ihr dunkles Haar war hochgesteckt, sie trug eine Krone mit funkelnden Kristallen. Sie begann, erst ohne Musik zu tanzen, dann setzte diese irgendwann ein und erinnerte an einen Glöckchenklang, wunderschön und weihnachtlich. Die Ballerina bewegte sich grazil und elegant. Es schien, als würde sie schweben. Jeder Schritt war mit Bedacht gesetzt, jede Handbewegung passend und elegant. Sie ging auf die Spitzen, drehte Pirouetten und lächelte einnehmend.

Maria beobachtete sie mit großen Augen und saugte jede ihrer Bewegungen regelrecht auf. So wie die Ballerina wollte sie sein. Eine zierliche Frau in einem weißen Kostüm mit funkelnder Krone auf dem Kopf, die wie eine Zauberfee über die Bühne schwebte und alles und jeden um sich herum in ihren Bann zog.

2. Kapitel

Frankfurt am Main, 12. November 2010

Die Maschine setzte auf dem im Dunkeln liegenden Rollfeld auf. Die unzähligen Lichter des Frankfurter Flughafens spiegelten sich in vielen Pfützen. Nina blickte aus dem Fenster, an dem Regentropfen hinunterliefen. Autos, Gepäckwagen und Busse fuhren hin und her, niemand im Flugzeug sah sich bemüßigt, dem Kapitän Beifall für die perfekte Landung zu spenden. Ihr Sitznachbar, ein unangenehm riechender Geselle um die fünfzig, nieste kräftig und putzte sich danach die Nase mit einem karierten Stofftaschentuch. Er trötete wie ein Elefant. Nach dem Einsteigen hätte sich Nina am liebsten einen anderen Sitzplatz gesucht, denn eine Erkältung konnte sie weiß Gott nicht gebrauchen. Leider war die Maschine bis auf den letzten Platz besetzt gewesen, weshalb sie neben der müffelnden Bazillenschleuder hatte ausharren müssen – die ihr zudem ihre halbe Lebensgeschichte erzählte. So wusste Nina jetzt, dass sein Name Andreas Kohlmann war, er geschäftlich in Russland zu tun gehabt hatte, seine Frau Katharina hieß und er drei Töchter hatte, allesamt wunderschöne und kluge Mädchen, die es im Leben einmal weit bringen würden. Er wohnte in der schönen Wetterau, trank gern Apfelwein und war Handkäs mit Musik gegenüber nicht abgeneigt. Ganz ähnlich wie dieses hessische Gericht, es bestand aus Käse mit vielen Zwiebeln, roch er auch selbst. Was immer er vor dem Abflug gegessen hatte.

Es wurde durchgesagt, dass die Passagiere auf ihren Sitzplätzen ausharren sollten, bis das Flugzeug den endgültigen Halteplatz eingenommen hätte. Es hielten sich nicht alle an diese Anweisung, erste Reisende standen auf und öffneten die Klappen der Handgepäckfächer. Ninas Blick wanderte erneut auf das Rollfeld. Nun war sie also wieder in Deutschland.

Sie kam gerade aus St. Petersburg. Der russischen Metropole, die niemals zu schlafen schien und mit geschichtsträchtigen Bauten wie dem Winterpalast beeindruckte. Ninas Ensemble war in einem Haus an einem der unzähligen Kanäle untergebracht gewesen, die die Stadt durchzogen. Verwunschen hatte der Wasserlauf ausgesehen, von herbstlich bunt verfärbten Bäumen umrandet, zwischen denen oftmals Nebel hing. In den letzten Tagen hatte der Winter Einzug gehalten, oftmals hatte es viele Stunden am Tag geschneit. Nina liebte den Flockenwirbel. Nur leider hatte sie ihn nicht wirklich genießen oder länger betrachten können. Der Tagesablauf einer Primaballerina war eng getaktet. Proben am Tag, Auftritte am Abend. Freizeit gab es nur selten.

Das Jahr war an ihr vorübergeflogen, genauso wie die Metropolen dieser Welt. Paris, Mailand, der Broadway in New York, London. Überall hatte sie den sterbenden Schwan gegeben. Und nun war es vorbei. Schwanensee war Geschichte, jedenfalls vorerst. Ihr Ensemble war für die Aufführung des diesjährigen Weihnachtsmärchens im Wiesbadener Staatstheater gebucht worden. Der Nussknacker sollte es sein. Sie kannte das Stück in- und auswendig und hatte schon mehrfach die Hauptrolle, die Clara, getanzt. Sie mochte die bunte Geschichte und die Musik von Tschaikowski, die durch ihre Bildhaftigkeit, ihre Fantasie und ihre Prägnanz bestach. Das Märchen zauberte jedes Jahr zu Weihnachten bunte Bilder auf die Bühne und brachte Kinderaugen zum Leuchten. Und Wiesbaden bedeutete, nach Hause zu kommen. Normalerweise freute sie sich darüber. Doch dieses Mal war alles anders. Und sie wusste noch nicht, wie sie mit den Veränderungen umgehen sollte, die das Leben außerhalb der schillernden Bühnenwelt neuerdings mit sich brachte. Sie wusste nicht, ob sie dafür bereit war.

Sie öffnete die Tür des alten, in der Wiesbadener Beethovenstraße gelegenen Stadthauses, das um die Jahrhundertwende erbaut worden war und mit seinen Türmchen und Erkern wie ein verwunschenes Schloss erschien. In der Beethovenstraße standen nur solche Häuser, umgeben von weitläufigen Gartengrundstücken. Hier erahnte man den Glanz vergangener Tage, als Wiesbaden noch die große Kurstadt gewesen war und der Kaiser höchstpersönlich der Stadt am Rhein die Ehre erwiesen hatte.

Die alte Holztür knarrte wie gewohnt, im Treppenhaus empfing Nina eine sonderbare Geruchsmischung, die sie nicht so recht deuten konnte. Reinigungsmittel, vermischt mit Kocharomen. War da etwas angebrannt? Sie drückte auf den Lichtschalter, und das kalte Deckenlicht sprang an. Es waren kugelige Lampen aus den Sechzigerjahren. Der Boden war schwarz-weiß gefliest, das hölzerne Geländer musste mal wieder poliert werden. Ihr Blick wanderte kurz zu der Tür im Erdgeschoss. Unter der Klingel stand auf einem Messingschild der Name E. Kohl. Das Schild war neu. Wer die Person wohl war? In dem Haus befanden sich drei Wohneinheiten. Eine im Erdgeschoss, eine im ersten Stock, weitläufig mit sechs Zimmern, wo sie aufgewachsen war, und dann gab es noch das oberste Stockwerk, in dem seit vielen Jahren Eduard Merlinger wohnte, ein alter Freund der Familie, Theaterregisseur und Liebhaber der Oper. Unzählige Stücke hatte er während seiner Zeit am Staatstheater inszeniert, doch inzwischen genoss der alte Herr, er war im letzten Jahr fünfundachtzig geworden, seinen wohlverdienten Ruhestand. Geheiratet hatte er nie, und Nina kannte den Grund dafür. Zeit seines Lebens hatte er sich zu Männern hingezogen gefühlt. Sie würde dem alten Charmeur bald einen Besuch abstatten müssen. Dann würden sie bei einer Tasse Früchtetee mit Honig zusammensitzen, und er würde von den alten Zeiten erzählen, als er als junger Mann ans Theater kam und ihn der Zauber einer Welt gefangen nahm, der ihn zeit seines Lebens begleiten würde. Darauf freute sie sich schon. Niemand konnte so herrlich komisch und mit einem Augenzwinkern vom Theater erzählen wie Eduard Merlinger.

Sie lief die Treppe nach oben und schloss die Wohnungstür auf. Im Inneren empfingen sie Dunkelheit und abgestandene, staubige Luft. Sie schaltete das Licht an. Die Wohnung hatte einen langen Flur, der mit Fischgrätenparkett ausgelegt war. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren zwei Kommoden, auf einer von ihnen stand das Telefon, daneben lag ein in Leder gebundenes Adressbuch. Gleich bei der Eingangstür befand sich ein aus dunklem Holz gefertigter Garderobenständer, an den Nina ihren Mantel hängte. Sie nahm ihren Koffer auf und betrachtete, während sie den Flur hinunterlief, die vielen Fotografien, die in den unterschiedlichsten Rahmen und Größen an den Wänden hingen und einzig und allein eine Person zeigten. Ihre Großmutter in jungen Jahren, als sie noch eine erfolgreiche Primaballerina gewesen war. Beinahe alle Aufnahmen waren schwarz-weiß. Zu sehen war Maria meist in einem Bühnenkostüm, hübsch zurechtgemacht, auch Schwanensee war darunter.

Eines der Bilder stach jedoch hervor. Sie trug darauf nur ihr schwarzes Trainingskostüm, darüber eine helle, dünne Wickeljacke, ihr dunkles Haar zu dem üblichen Dutt am Hinterkopf gebunden. Sie saß auf dem Boden eines Tanzsaals, das rechte Bein aufgestellt, den Blick auf die Kamera gerichtet. Sie lächelte nicht, ihre Miene war ernst, und in ihren großen hellen Augen lag ein besonderer Ausdruck. War es Traurigkeit oder Tragik? Was war ihr an diesem Tag durch den Kopf gegangen? Wie alt mochte sie gewesen sein, als diese Aufnahme gemacht wurde? Nicht älter als zwanzig vermutlich. Obwohl es schwer einzuschätzen war, denn durch ihre Zierlichkeit wirkte sie beinahe kindlich. Mit achtzehn hatte sie ihre erste Hauptrolle getanzt, war ein gefeierter Star in ganz Europa gewesen. Studiert hatte sie an der Bolschoi-Ballettschule in Moskau. Die Akademie galt als die prestigereichste der Welt. Vielleicht war die Aufnahme dort entstanden.

Ihre Großmutter hatte Nina gedrängt, sich ebenfalls an der Akademie zu bewerben. Doch das hatte sie nicht getan. Warum, wusste Nina nicht genau. Vielleicht war es die Angst vor dem Versagen gewesen, wegen der sie eine Bewerbung in Moskau niemals in Erwägung gezogen hatte. Ihre Großmutter war dort angenommen worden, sie war die perfekte Ballerina gewesen. In ihrer Welt hatte es niemals Schwäche geben dürfen. Wer wankt, verliert. Geradestehen, Haltung bewahren und immer an sich selbst arbeiten. Das waren ihre Grundsätze gewesen. Nina wusste nicht, wie oft sie sie ihr gepredigt hatte. Und nun war alles anders. Die junge Frau auf dem Bild war nur noch eine Erinnerung an eine vergangene Zeit.

Ihre Großmutter war ins Wanken geraten. Sie stand nicht mehr, so wie sie es ihr Leben lang getan hatte, an der Ballettstange, um ihre Übungen zu machen. Selbst mit über siebzig Jahren hatte sie dabei wie ein graziler Schwan gewirkt. Stattdessen vergaß sie nun die Welt um sich herum, vergaß, dass sie einst ein gefeierter Star gewesen war, und wusste oftmals nicht mehr, was für ein Tag war. Langsam hatte sich das Vergessen angeschlichen. Sie hatte dagegen angekämpft, doch es hatte sich nicht aufhalten lassen.

Nina konnte nicht sagen, ob sie ihre Großmutter so liebte, wie eine Enkelin es tun sollte. Maria Lehmann war nicht das Idealbild einer liebenden Großmutter gewesen. Trotzdem hatte es zwischen ihnen eine ganz eigene Art von Bindung gegeben. Ihr Miteinander fand an der Ballettstange statt, und die immer gleichen Abläufe hatten Nina Halt gegeben. Mit einem Lächeln auf den Lippen hatte ihre Großmutter stets ihre Haltung korrigiert, manchmal hatten sie gelacht, wenn etwas schiefging. Es waren kleine Augenblicke des Glücks in einer Welt gewesen, die nur ihnen gehörte. Als Nina ihre erste Hauptrolle im Kinderballett erhalten hatte, war ihre Oma vor Stolz fast geplatzt, und sie hatte stundenlang mit ihr geprobt, bis auch die letzte Pirouette saß. Ihre Anerkennung war es gewesen, nach der Nina jahrelang wie eine Ertrinkende lechzte. Ihre Leitsätze waren es, die sie auch heute noch antrieben und die sie zu der Primaballerina gemacht hatten, die sie war.

Nina ging weiter, betrat das Zimmer am Ende des Flurs und knipste das Licht an. Das vertraute gelbe Leuchten der an der Decke hängenden Papierlampe erhellte den Raum. Ihr Kinderzimmer, in dem sie so viele Jahre verbracht und das sich nicht verändert hatte. Es war im Landhausstil eingerichtet. Es standen vor allem Kiefernmöbel darin. Ihr Schreibtisch, auf dem ihre Stifte in der blauen Aufbewahrungsbox steckten. Unter der Schreibunterlage warteten noch immer die vielen Zettel, ihre alten Notizen sowie ein Bild ihrer Lieblingspopgruppe, die so ziemlich jedes Mädchen gegen Ende der Neunzigerjahre angehimmelt hatte. In der Mitte des Raumes lag der vertraute bunte Flickenteppich. In dem Bücherregal über ihrem Bett standen ihre Hanni-und-Nanni- und Fünf-Freunde-Bücher. Wieder waren es Tanzbilder, die an den Wänden hingen. Die Vierjährige, die stolz im ersten Theaterstück der Ballettschule einen Pilz hatte darstellen dürfen, die Zehnjährige, die ihrer erste Hauptrolle in Aschenputtel tanzte, in einem grauen, abgerissenen Kostüm. Sie sah sich als Fünfzehnjährige an einem Strand. Es war in Frankreich gewesen, die Côte d’Azur. Und als hätte es genau in diesem Moment eine Gedankenübertragung gegeben, klingelte plötzlich das Handy in ihrer Tasche. Sie holt es heraus. »Mama« stand auf dem Display. Sie hob ab, und sogleich erklang die stets etwas hektische Stimme ihrer Mutter.

»Nina, Liebes. Bist du schon in Wiesbaden? Claude meinte, du würdest erst morgen fliegen. Aber ich war mir ganz sicher, dass das heute war. Ich hatte mir den Termin extra aufgeschrieben, aber der Zettel ist mal wieder verloren gegangen. Wie ist es in der Wohnung? Ich wollte eigentlich noch die Kisten packen. Aber ich bin nicht mehr dazu gekommen. Könntest du vielleicht die Maklerin anrufen? Die Frau ist einfach nie erreichbar und ruft auch nicht zurück. Wenn sie weiterhin so unzuverlässig ist, suche ich mir eine andere Immobilienagentur, es gibt die Büros ja wie Sand am Meer, und eine Altbauwohnung in dieser Lage in Wiesbaden wird doch wahrlich nicht so schwer zu verkaufen sein. Was sagst du, Claude? Stimmt ja. Ich soll fragen, wie es in Russland war. Du warst in Moskau, oder? Hast du Putin gesehen? Ja, ich weiß, Claude. Den Russen kann man nicht trauen. Aber der Kalte Krieg ist doch längst vorbei. Ach, du kennst ihn doch. Immer diese Politik. Wie lief es so?«

»Ich bin schon zu Hause«, beantwortete Nina in einer kurzen Atempause ihrer Mutter rasch die erste Frage. »Ich stehe in meinem Zimmer. Und ich war nicht in Moskau, sondern in St. Petersburg. Und Putin hab ich nicht gesehen. Es lief hervorragend, stets ausverkauftes Haus, und wir sind mit besonderer Herzlichkeit aufgenommen worden.«

»Das freut mich«, antwortete ihre Mutter. »Und ich bin ja so erleichtert, dass dich deine Arbeit nun nach Wiesbaden führt. Da kannst du dich jetzt um die Auflösung des Haushalts kümmern. Ruf bitte gleich morgen die Maklerin an. So kann das nicht weitergehen.«

»Wie geht es euch?«, fragte Nina, das Thema wechselnd. Die Planung ihrer Mutter, den Wohnungsverkauf betreffend, gefiel ihr gar nicht. »Wie ist das Wetter in Frankreich?«

»Sonnig und mild«, antwortete ihre Mutter, die Gabriele Mercier hieß und bereits seit über zwanzig Jahren in Südfrankreich lebte. Offiziell bezeichnete sie sich als Lebenskünstlerin. Sie war das genaue Gegenteil ihrer Mutter, mit der sie sich nie verstanden hatte. Flattrig, undiszipliniert und verträumt. Nicht lebensfähig, hatte Maria öfter gesagt. Sie lebte ihr chaotisches Leben in einem alten Haus im Nirgendwo, umgeben von Pinienbäumen und Lavendel, gemeinsam mit Claude, einem in die Jahre gekommenen Schauspieler, der seit einer gefühlten Ewigkeit an seinen Memoiren arbeitete.

Nina hatte anfangs darunter gelitten, keine Mutter wie die anderen Kinder zu haben. Sie war stets eine Lebefrau gewesen, die ihre einzige Tochter als Last empfand. Sie war in die falschen Kreise geraten, hatte Drogen genommen, es folgten mehrere Aufenthalte in Entzugskliniken. Immerhin diesen Spuk hatte sie hinter sich gelassen. Und in der Altbauwohnung ihrer Mutter in Wiesbaden wuchs Nina, ihr einziges Kind, zu einer von ihrer Großmutter geformten Primaballerina heran, die es erst in den letzten Jahren geschafft hatte, ein halbwegs gutes Verhältnis zu dem Menschen aufzubauen, der sie in die Welt gesetzt hatte.

»Wie schön«, antwortete Nina. »Hier in Wiesbaden regnet es, aber es ist nicht sonderlich kalt. Gewöhnliches Herbstwetter, wie ich es kenne. In St. Petersburg hat es in den letzten Tagen sogar geschneit.«

»Liegt das nicht ganz im Norden?«, fragte Gabi. »Also quasi schon halb in Sibirien? Ach, egal. Mit Russland kenne ich mich nicht aus.«

Es entstand eine kurze Pause. Sie schienen beide nicht zu wissen, worüber gesprochen werden sollte. Solche Situationen kamen häufiger vor. Nina wusste, dass ihre Mutter nichts vom Ballett hören wollte. Da ihr ganzes Leben jedoch daraus bestand, gestaltete es sich schwierig ein anderes Gesprächsthema zu finden.

»Wann besuchst du Oma? Sie wartet bestimmt schon auf dich.«

Ob sie das tatsächlich tat? Erkannte sie ihre Enkeltochter überhaupt noch? Nina wusste, dass sie sich der Situation allmählich stellen musste. Wie würde ihre Großmutter sich verhalten? Wie sehr hatte die Demenz sie verändert? Ihr letztes Aufeinandertreffen lag Monate zurück. Früher war eine solche Zeitspanne gleichgültig gewesen. Wenn sie von einer ihrer Tourneen mit dem Ensemble nach Wiesbaden heimkehrte, hatte ihre Großmutter sie stets auf dieselbe Art begrüßt. Sie hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt, ihr ein Küsschen links, ein Küsschen rechts auf die Wange gegeben. Der Geruch von Chanel No. 5 war ihr in die Nase gestiegen. Sie waren jedes Mal zur Feier ihrer Rückkehr ins Café Maldaner gegangen, weil Maria es dort so hübsch fand. Eingerichtet wie ein Wiener Kaffeehaus erinnerte es ebenso wie die vielen Villen und Gründerzeithäuser an die glanzvollen Kaiserzeiten Wiesbadens. Nina hatte bei Milchkaffee, selbstverständlich ohne Kuchen, Bericht erstatten müssen und kein noch so kleines Detail auslassen dürfen. Diesen Besuch im Maldaner würde es dieses Mal nun nicht geben.

Nina wollte ihrer Mutter antworten, kam jedoch nicht mehr dazu, denn es hatte an der Tür geläutet.

»Da ist jemand an der Tür«, sagte sie. »Ich melde mich später noch mal.«

Sie legte auf, erleichtert darüber, Gabi die Antwort schuldig bleiben zu können. Die Vorstellung, ihre Großmutter in einem Altenheim vorzufinden, womöglich wie ein altes Mütterchen in einem abgewetzten Lehnstuhl, behagte ihr so gar nicht. Was war, wenn sie sie nicht erkennen würde? Nina schüttelte den Gedanken ab, ging zur Tür und öffnete. Davor stand eine rundliche Frau um die sechzig mit lockigem, blond gefärbtem Haar in einer ausgeleierten grauen Jogginghose und einem Sweatshirt mit der Aufschrift »Heute ist ein guter Tag«. Sie hielt eine Auflaufform in den Händen.

»Guten Tag«, grüßte sie fröhlich. »Hab ich also richtig gehört, und Sie sind angekommen. Ich bin Ihre neue Nachbarin. Else Kohl, mein Name. Nix für ungut, dass ich einfach so störe. Sie sind die Enkelin von der Frau Lehmann, nicht wahr? Ihre Frau Mama hatte mir bei ihrer Abreise den Termin aufgeschrieben. Da dachte ich: Kochste dem Mädel was Feines. So eine lange Reise macht doch hungrig, und diesen Flugzeugfraß isst man nur ungern. Ich glaub ja, das Zeugs besteht aus Pappe.« Sie amüsierte sich kichernd über ihren eigenen Witz. »Also, das hier wären echte schwäbische Krautwickel, natürlich mit ordentlich Speck dran. Ich hab sie schon vor einer Weile aus dem Ofen genommen, müssten also noch mal aufgewärmt werden.«

Sie hielt Nina die Auflaufform hin. Deren Inhalt reichte locker für eine fünfköpfige Familie. Vollkommen überrumpelt nahm sie das Essen mit einem Dankeschön entgegen.

»Das mit Ihrer Großmutter ist ja schon traurig. Ich hab sie nur kurz kennengelernt. Dann kam sie gleich ins Heim. Der Herr Merlinger von oben drüber kannte sie wohl besser. Sie war Tänzerin, hat er erzählt. Und immer noch ein so schmales Persönchen. Also bei mir haben die Wechseljahre voll zugeschlagen. Jedes Jahr ab fünfzig hat ein Kilo mehr auf die Hüften gebracht. Als Kind wäre ich auch gern Tänzerin geworden. Aber ich lauf wie ein Trampel. Da ist nicht viel mit Anmut.« Sie kicherte erneut und winkte ab. »Aber ich plappere und plappere. Dabei sind Sie gewiss müde von der langen Reise. Dann will ich Sie mal in Ruhe lassen, Kindchen. Und sollte etwas sein: Sie wissen, wo Sie mich finden. Und falls Ihnen ein schwarzer Kater zulaufen sollte – sein Name ist Nepomuk, und er kann recht aufdringlich werden. Wenn Sie Zeit finden, können Sie ja mal zu Kaffee und Kuchen vorbeikommen.«

Nina bedankte sich für den Auflauf, ihn nicht anzunehmen, empfand sie als Unhöflichkeit, und sie versicherte, die Einladung bald anzunehmen. Nachdem sie die Tür erleichtert hinter sich geschlossen hatte, verfrachtete sie die original schwäbischen Krautwickel mit extra viel Speck in die Küche. Hunger verspürte sie wie üblich keinen. Sie wollte gerade zurück in ihr Zimmer, um ihre Tasche auszupacken, als es erneut an der Tür läutete. Liebe Güte, dachte sie. Hier ist ja beinahe so viel Betrieb wie auf dem Flughafen. Als sie die Tür öffnete, stand Eduard Merlinger mit einer hölzernen Schatulle in den Händen vor ihr. Er trug eine abgewetzte braune Cordhose, dazu ein graues Hemd und eine beige Strickjacke. Sein Haar war noch voll und schlohweiß.

»Die Dame«, sagte er mit seinem üblichen schmeichelnden Unterton in der Stimme. »Es freut mich, dass du wieder in heimatliche Gefilde gefunden hast. Ist schön, dass die Hauptrolle im diesjährigen Weihnachtsmärchen ein Wiesbadener Mädel tanzen wird. Ich überlege, es mir anzusehen. Ich war schon immer ein großer Freund von Tschaikowski.« Er zwinkerte ihr zu und grinste.

»Eduard. Wie schön.« Nina umarmte den alten Herrn freudig. Wie gewohnt verströmte er den Geruch von Pfefferminz, der von seinem Schnupftabak herrührte. »Möchtest du reinkommen?«, fragte sie. »Hunger? Zufällig hätte ich Krautwickel im Angebot.«

»Vielleicht ein andermal«, antwortete er. »Ich hab gleich noch Termine. Du weißt doch. Mittwochabend ist immer mein Bridgeabend, und ich möchte die Mädels nicht warten lassen. Das wäre äußerst unhöflich. Aber zuvor möchte ich noch etwas erledigen. Ich habe dich vorhin ankommen sehen, und die Schatulle steht schon eine Weile auf meiner Kommode. Ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, sie dir doch früher zu geben. Maria wollte, dass du sie erst nach ihrem Tod erhältst. Aber wir wissen beide, dass sie ohne die Leidenschaft des Tanzes nicht mehr dieselbe ist. Ich hab sie neulich in dem Heim besucht. Es war, es ist …« Er suchte nach Worten, und es entstand ein Moment der Stille. Schimmerten da Tränen in seinen Augen? »Sie saß in diesem Aufenthaltsraum in einem alten Lehnstuhl vor dem Fernseher und starrte vor sich hin. Sie hat mich nicht mehr erkannt. Sie hat eine der Pflegerinnen gefragt, was ich von ihr wollte. Ich musste gehen, ich habe den Anblick nicht ertragen.«

Nina spürte, wie ihr ein Kloß in den Hals stieg, und sie schluckte.

»Ich weiß, es ist so zwischen Tür und Angel. Aber die Kiste war lang genug bei mir. Sie gehört zu dir. Ich weiß nicht, was darin ist. Sie war schlau genug, den Schlüssel vor mir zu verstecken. Sie kennt mich zu gut.«

Er hielt ihr die hölzerne Schatulle hin, und Nina nahm sie mit zittrigen Händen entgegen.

Nachdem er gegangen war, saß Nina im Schneidersitz auf ihrem Bett vor der Schatulle. Das Holz war poliert und mit Intarsien verziert, die drei Ballerinen zeigten. Mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen strich Nina darüber. Eine solche Schatulle konnte nur ihrer Großmutter gehören. In ihren Händen hielt sie einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun wusste sie, für was er gedacht war. Maria hatte ihn ihr an einer Kette zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt und gesagt, dass der Zeitpunkt kommen werde, an dem er zum Einsatz kam. Es war also so weit. Doch was, wenn ihr der Inhalt der Schatulle nicht gefiel? Ihre Großmutter hatte geglaubt, sie wäre tot, wenn Nina sie öffnete. Durfte sie es dann jetzt überhaupt schon? Und hatte Eduard überhaupt recht, wenn er sagte, sie sei nicht mehr dieselbe?

Vielleicht eher nicht. Ihre Oma vergaß viele Dinge, doch die Ballerina, die sie all die Jahre gewesen war, war tief in ihrem Inneren verwurzelt. Auch eine Krankheit wie die Demenz würde es nicht schaffen, sie zu vertreiben. Oder war Nina zu blauäugig? Eduard hatte, im Gegensatz zu ihr, die sie die meiste Zeit über auf Tournee gewesen war, Marias geistigen Verfall miterlebt, als Vertrauter und Nachbar. Sie selbst wusste nichts. Sie war nicht da gewesen, als ihre Großmutter immer vergesslicher wurde und ihre Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben Verantwortung übernehmen und sich kümmern musste. Ihre Erzählungen am Telefon hatten geschmerzt. Im Januar war Maria im Sommerkleid in den Bus gestiegen, um nach Bierstadt zu fahren – ohne zu wissen, was sie dort eigentlich wollte. In der Drogerie hatte sie weinend gestanden, weil sie vergessen hatte, weshalb sie dort war. Schreiend hatte sie im Keller gestanden. Es war der Rückweg zur Treppe gewesen, der ihr entfallen war. Nina hatte nicht miterlebt, wie der Umzug ihrer Großmutter ins Heim vonstattengegangen war. Der Sozialdienst war informiert worden. Mama war angereist, hatte sämtliche Dokumente unterzeichnet. Wenigstens darum hatte sie sich nun gekümmert.

Nina steckte den Schlüssel mit klopfendem Herzen ins Schloss, drehte ihn um und öffnete den Deckel. Der Inhalt erstaunte sie. Es war eine Spieluhr, die sie heraushob. Eine Ballerina, aus feinstem Porzellan gearbeitet. Ihr Haar war weiß, Blumen zierten ihr Dekolleté, ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, ihre Augen geschlossen. Sie hielt ihre Arme in die Höhe und neigte sich leicht zur Seite. Ihren weißen Rock zierten silberne, funkelnde Schneeflocken. Nina zog sie auf. Die Ballerina begann, sich im Kreis zu drehen, und es erklang die Melodie von Leise rieselt der Schnee.

Was war diese Spieluhr wunderschön und einzigartig! Das Wunderwerk eines Künstlers, der sich hervorragend darauf verstand, den Zauber einer Ballerina für die Ewigkeit einzufangen. In der Schatulle befand sich jedoch nicht nur die Figur. Es lagen auch ein verschlossener Briefumschlag darin, auf dem ihr Name stand, und ein abgegriffen aussehendes Buch mit einem weinroten Ledereinband. Nina schlug es auf. Sie erkannte die Handschrift ihrer Großmutter sofort. Sie las das Datum und wunderte sich. Der Text war im Jahr 1970 verfasst worden. Jahre, bevor sie selbst zur Welt gekommen war. Seltsam. Warum sollte sie dieses Buch bekommen? Sie öffnete den Brief und blickte auf das Datum. Maria hatte ihn vor einem Jahr an Heiligabend geschrieben.

»Meine liebe Nina,

wenn Du das hier liest, bin ich nicht mehr bei Dir.«

Nina ließ den Brief sinken. Sollte sie wirklich weiterlesen? Oder wäre das nicht doch eine Art Verrat? Immerhin war ihre Oma noch am Leben. Sie hatte lediglich die Welt um sich herum vergessen. In Ninas Augen traten Tränen. Sie fehlte ihr. Die gemeinsamen Gespräche, ihr Zuhören. Niemals wieder würden sie gemeinsam an einer Ballettstange stehen. Sie betrachtete die mit blauer Tinte geschriebenen Zeilen und konnte nicht anders, als weiterzulesen.

»Du wunderst Dich gewiss darüber, weshalb Du von mir eine Ballerina-Spieluhr erhältst. Ich hütete sie wie einen Schatz, ebenso wie die Geschichte, die diese Spieluhr umgibt. Manchmal kommt es mir vor, als wäre dies alles in einem anderen Leben geschehen. Ich weiß nicht mehr, warum ich vor einigen Jahren auf die Idee gekommen bin, die Geschehnisse von damals aufzuschreiben. Zu notieren, was in jener Zeit nach Katinkas Tod geschah, als ich nicht mehr weiterwusste und glaubte, niemals wieder richtig tanzen zu können. Als dieses wunderbare Gefühl der Erfüllung in meinem Inneren fort war. Du weißt, was ich meine. Nur Tänzerinnen wissen, von welchem Zauber die Rede ist. Ich glaube, ich habe diese Geschichte auch deshalb aufgeschrieben, weil sie die Wahrheit erzählt. Und sie sollte nicht für immer verborgen bleiben, sondern irgendwann ans Licht kommen. Ich hoffe, Du wirst mich dafür nicht verurteilen.

Ich liebe Dich, meine Kleine. Ich habe es, so glaube ich, nicht oft genug gesagt. Und ich bin stolz auf Dich.

Deine

Oma Maria

3. Kapitel

Wiesbaden, 25. November 1956

Maria saß in ihrer Garderobe des Wiesbadener Staatstheaters vor einem mit vielen Lampen umgebenen Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie war blass, ihre hellgrauen, großen Augen waren von langen Wimpern umrandet, ihre Wangen schmal, ihr Hals wirkte wie der eines Schwans. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Sie schien zerbrechlich, ihre Haut wie Porzellan. So sollte eine Ballerina aussehen. Zierlich, fast schon kindlich, ohne weibliche Rundungen. Heute lag jedoch Traurigkeit in ihrem Blick, sie fühlte sich leer und ausgebrannt.

Die Nachmittagsproben waren gerade zu Ende gegangen. In diesem Jahr stand wieder einmal Der Nussknacker auf dem Programm für das Weihnachtsmärchen. Sie mochte das Stück, spielte gern die Rolle der Clara in Tschaikowskis bunter Welt der Fantasie. Doch eben war sie unachtsam gewesen und von George, dem Choreografen des Ensembles, zurechtgewiesen worden. Sie wusste, warum ihr der Fehler passiert war, und spürte die aufsteigenden Tränen. Ihr Blick wanderte zu der auf ihrem Tisch stehenden Fotografie, die sie gemeinsam mit Katinka Federowna zeigte. Ihrer Lehrmeisterin und Freundin, ihrer Wegbegleiterin, die von der ersten Sekunde ihres Daseins als Ballerina an ihrer Seite gestanden und ihr Sicherheit vermittelt hatte. Die Aufnahme war während ihrer Ausbildung an der renommierten Bolschoi-Ballettschule in Moskau entstanden. Dort war Katinka Ausbilderin gewesen. Sie sah nicht wie eine Frau von Mitte vierzig aus, eher wie ein junges Mädchen. Jedoch täuschte der äußerliche Eindruck. Ihre Stimme war hart – wie sie selbst. Sie duldete keine Schwäche, ihre Regeln waren strenger als die der anderen Ausbilder. Wer in ihrem Kurs bestehen wollte, kannte nur ein Wort: Disziplin. Es gab nur den Tanz. An etwas anderes durfte nicht gedacht werden. Wer ein Privatleben mit Freunden wollte oder gar von der Liebe träumte, war bei ihr fehl am Platz. Maria hatte viele scheitern sehen. Mädchen, die weinend aus dem Tanzsaal rannten, die sich die Seele aus dem Leib kotzten, um dem strengen Gewichtsprotokoll gerecht zu werden. Die russischen Winter waren kalt und grau, sie hatte sich häufig einsam in dieser von Perfektion bestimmten Welt gefühlt. Katinka hatte sie wie Dreck behandelt, sie gequält und schikaniert. Sie hatte härter und länger arbeiten müssen als alle anderen Ballettschülerinnen. Katinka hatte etwas in ihr gesehen. »Du hast Talent«, hatte sie beim ersten Vortanzen zu ihr gesagt. »Vergeude es nicht.«

Der harte russische Akzent in ihrer Stimme, ihre immer gleichen Anweisungen, ihr Blick, der keine Milde zuließ. Wie hatte sie sie lieben lernen können? Oder hatte sie Katinka nicht schon immer geliebt? Vom ersten Moment an. Sie war der schöne Schwan gewesen, der Maria hatte sein wollen. Sie war die Ballerina gewesen, die sich dezent verneigte und ihr, dem kleinen Mädchen, das sich heimlich ins Theater gestohlen hatte, zulächelte. Es war das erste Lächeln, das sie ihr geschenkt hatte, lange hatte sie auf ein weiteres warten müssen.

Doch es war geschehen, und sie waren zu einer Einheit geworden. Maria hatte manchmal das Gefühl gehabt, Katinka kenne sie besser als sie sich selbst. Jeder Schritt, jede Geste, jede Stimmung. Es schien, als würde sie in ihr wie in einem offenen Buch lesen. Katinka kannte sie besser als ihre eigene Mutter – die Frau, die gemeinsam mit ihrem Vater tagein, tagaus in der Apotheke am Wiesbadener Luisenplatz gestanden hatte. Das Haus war im Krieg kaputtgegangen, ihr Vater in den Ardennen gefallen. Die vielen Schicksalsschläge hatte ihre Mutter nur schwer verkraftet. Sie war verbittert gewesen und hatte sich von der Welt zurückgezogen. Doch Maria hatte leben wollen und nach Kriegsende die Stille in der Trümmerwohnung kaum ausgehalten.

Maria war vierzehn Jahre alt gewesen, hatte den Kopf voller Träume. Alle Versuche, ihre Mutter wieder ins Leben zurückzuholen, waren gescheitert. Sie hatte sie angefleht, geschüttelt, geschrien, den Kopf in ihren Schoß gelegt und geweint. Doch Annemarie Lehmann reagierte nicht. Sie blieb eine vom Krieg gebrochene Frau. Russland war Marias Ausweg gewesen. Ihr Weg in ein selbstbestimmtes und freies Leben, das ihr eine Tante, sie war selbst Tänzerin und kannte Marias Talent, mit guten Kontakten ermöglichte. Die Tante kümmerte sich um ihre Mutter, nahm sie zu sich in ihr Haus am Rhein in Eltville. Und kurz darauf waren Wiesbaden, der Bombenhagel und die Angst vor der Zukunft weit weg, in Moskau zählte nur noch das Ballett, ihre größte Leidenschaft. Katinka gab ihr in dieser Zeit den Halt, den sie in Wiesbaden durch den Verlust ihres Elternhauses verloren hatte.

Als ihre Mutter starb, war Maria gerade neunzehn und hatte ihren ersten großen Erfolg in London gefeiert. Sie hatte die Julia in Romeo und Julia getanzt. Katinka hatte sie damals zu der Beerdigung auf dem Wiesbadener Nordfriedhof begleitet. Es war der dreiundzwanzigste Dezember gewesen, und es hatte in dicken weißen Flocken geschneit. Menschen standen vor dem offenen Grab, die Maria nicht kannte, es kam ihr vor, als gehörte sie nicht zu dieser Trauergruppe. Die auf sie gerichteten Blicke der in dunkle Mäntel gehüllten Menschen gingen ihr durch und durch. Maria glaubte zu wissen, was sie dachten. Da ist sie: die einzige Tochter, die nie da war. Die sich nicht gekümmert hatte, das selbstsüchtige Mädchen, das so anders war als die anderen jungen Frauen, die alle nur eines wollten: sich verlieben, heiraten und Kinder bekommen. Aber was wussten die Leute schon von ihrem Familienleben? Tief in ihrem Inneren hatte Maria viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit bewahrt. Früher hatten sie und ihre Eltern stets ihr erstes Eis gemeinsam in Biebrich bei einer Eisdiele am Rheinufer gekauft, und während sie es in der Sonne sitzend auf einer Bank aßen, hatten sie die Schiffe auf dem Rhein beobachtet. Danach waren sie oftmals im Biebricher Schlosspark spazieren gegangen und hatten sich an den vielen Narzissen in den Beeten und den blühenden Bäumen erfreut. Im Sommer hatten sie dort oftmals gepicknickt, und sie hatte mit ihrer Mutter Federball gespielt, gemeinsam gelacht. Zur Weihnachtszeit hatten sie stets für die Kundschaft der Apotheke Zimtsterne gebacken, und die Wohnung über dem Geschäft war dann von diesem einmaligen Duft erfüllt gewesen. Doch dann war der Krieg gekommen und hatte alles verändert. Eine seltsame Form von Traurigkeit hatte in ihrem Leben Einzug gehalten und sich nicht mehr vertreiben lassen.

Katinka führte Maria nach der Beerdigung vom Grab weg. Sie legte beschützend den Arm um sie, als sie durch die Gräberreihen davongingen. Aneinandergeschmiegt liefen sie durch die winterlichen Straßen Wiesbadens bis zum Staatstheater, das von den Kriegsschäden befreit in seiner ganzen Pracht vor ihnen stand. Es hatte sich angefühlt wie ein Nachhausekommen. »Hierhin gehörst du«, hatte Katinka damals zu ihr gesagt. »Das hier ist deine, unsere Welt. Dafür leben wir. Für die Bühne, den Beifall, den Tanz. Du hast dich für diesen Weg entschieden. Und wer ihn geht, blickt nicht zurück.«

Vor acht Wochen hatten sie Katinka auf dem Friedhof in Wiesbaden-Biebrich beerdigt. Es war ein grauer Tag gewesen, Nebel hatte zwischen den Grabsteinen und Bäumen gehangen und den Friedhof beinahe mystisch aussehen lassen. Hunderte waren gekommen, um von dem einstigen Bühnenstar Abschied zu nehmen. Von der Grande Dame ihrer Zunft, die durch einen Schlaganfall ganz plötzlich aus dem Leben gerissen worden war. Sie war fort und hatte Maria ohne jede Vorwarnung allein gelassen. Es fühlte sich wie Verrat an. Das war nicht vorgesehen. Verdammt noch mal! Die Tränen rannen über ihre Wangen, sie ballte die Fäuste. Katinka war ihr Vorbild gewesen, ihre stärkste Kritikerin. Sie war ihr zur Freundin geworden, zur Vertrauten. Sie waren dieselben Getriebenen. Süchtig nach dem perfekten Tanz, dem Scheinwerferlicht und dem Applaus des Publikums. Wie sollte es ohne sie weitergehen? Sie wischte ihre Tränen nicht fort.

Die Tür zu ihrer Garderobe öffnete sich, und George trat ein. Sie hatte gewusst, dass er kommen würde. Der erste Mann in ihrem Leben, für den sie etwas empfand. Er hatte als Assistent seit einer Weile an Katinkas Seite gestanden und war zehn Jahre älter als sie. Dunkelhaarig, große blaue Augen, kantiges Kinn. Vom ersten Augenblick an hatte George, er stammte aus der Grafschaft Kent im Süden Englands und hatte seine tänzerische Ausbildung in London erhalten, sie beeindruckt. Und nun war er ihr Choreograf, ihr Trainer und Verlobter. Doch konnte diese Verbindung gut gehen? Maria sah die Blicke der anderen, den Neid in den Augen ihrer Zweitbesetzung, Louisa Bernard. Eine Französin, blond und hübsch, zart wie ein Püppchen, doch als Konkurrentin war sie ernst zu nehmen. Maria durfte nicht nachgeben, sie musste stark bleiben. Ob das ohne Katinka gehen würde? Würde sie an Georges Seite dieselbe Höchstleistung bringen? Heute war es ihr nicht gelungen. Das wussten sie beide.

»Meine Schöne«, sagte er, trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Mach dir keine Gedanken wegen deines Fehltritts gerade eben. Wir wissen doch alle, wie sehr dich Katinkas Verlust schmerzt.«

Seine Stimme klang anders als eben auf der Bühne. Warm und tröstend, nicht kalt und befehlsartig. Er verstand sich darauf, die Arbeit und das Privatleben zu trennen. Katinka hatte das nie gekonnt. Maria auch nicht. Ihr einziger Antrieb im Leben war das Ballett, insofern war George der perfekte Partner für sie: Ihre Beziehung fand in dem gewohnten Rahmen statt. Er wusste, wie er sie zu nehmen und was er zu erwarten hatte. Manchmal allerdings fragte sie sich, ob es nicht eigentlich die Andersartigkeit war, die Liebende anzog. Oder war das nur auf der Bühne und in Filmen so? Liebte sie ihn wirklich? Oder gefiel ihr nur die Aufmerksamkeit des erfahrenen Mannes, der ihr mit all seinen Verführungskünsten den Hof machte?

Maria versteifte sich, richtete sich ein Stück auf und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Wir wissen beide, dass es keine Fehltritte geben darf. Ich kenne das Stück in- und auswendig, so etwas darf mir nicht passieren. Katinka würde es ebenso sehen. Ich werde mich beim nächsten Mal wieder besser konzentrieren.«

»Ich weiß, dass du das tun wirst«, antwortete er und betrachtete sie im Spiegel. »Aber es ist Katinka, die du verloren hast. Nicht irgendjemand. Hör auf, so streng mit dir zu sein.«

»Du willst das nicht begreifen, oder?«, fragte sie, stand auf und sah ihn herausfordernd an. Wie sehr sie es doch hasste, wenn er Verständnis zeigte, wo es unangebracht war. Wenn er zu weich wurde. Er hätte in diesem Moment ihr Choreograf sein sollen, nicht ihr Verlobter. Er hätte so wie Katinka sein sollen. Sie rügen, sie korrigieren und ihr aufzeigen sollen, was falsch war. »Es gibt keine Schwäche, keinen Moment der Unachtsamkeit. Auf der Bühne musst du immer perfekt sein. Deine privaten Befindlichkeiten haben dort nichts zu suchen. Weinen kannst du hinterher, wenn die Scheinwerfer erloschen sind und dich niemand sieht.« Ihre Stimme klang bitter.

»Sie hat dich gut erzogen«, antwortete George und nickte anerkennend. »Aber so ist es nicht. Jedenfalls nicht immer. Manchmal tut es sogar gut, die Wut zu zeigen oder Freude, Traurigkeit. Meine besten Tänze habe ich in solchen Momenten abgeliefert. Ich habe den Schmerz über den Verlust meines Vaters aus mir herausgetanzt, und es war der beste Tanz meines Lebens. Katinka war eine gute Lehrmeisterin, aber sie war sehr hart zu sich selbst und zu der Welt um sich herum.«

»Mit dieser Härte ist sie zu dem geworden, was sie war«, antwortete Maria und sah ihn herausfordernd an. »Zu einer der weltweit erfolgreichsten Ballerinen, die niemals in Vergessenheit geraten wird. Ich will so sein wie sie. Ich will diese Perfektion erreichen. Und das geht nur mit Härte. Du musst dich selbst aufgeben, um die Eleganz zu finden, die du erreichen willst. So hat sie es zu mir gesagt. Tanz ist Schmerz und Glück zugleich. Dieses Gefühl, wenn man auf der Bühne steht und glaubt zu schweben. Es ist unbegreiflich schön, und die Begeisterung dieses Augenblicks überträgt sich auf das Publikum und erschafft die vollkommene Illusion. Und ich werde nicht nachlassen. Ich habe es ihr versprochen. Ich wollte wie sie sein. Immer schon.« In Marias Augen traten erneut Tränen.

»Ich weiß«, antwortete George. »Aber wir sind alle verschieden. Und eine Kopie wird niemals an das Original heranreichen. Das solltest du wissen.«

»Du denkst also, ich bin nicht gut genug«, antwortete sie. Ihr Ton war nun schnippisch.

»Du weißt, dass ich es so nicht gemeint habe«, antwortete er. »Wir wissen beide, dass du gut bist. Du würdest nicht die Hauptrolle dieses Stücks tanzen, wenn es anders wäre.«

»Wirklich?«, hakte sie nach. »Was ist, wenn du dich selbst belügst? Was ist, wenn die Gerüchteküche dort draußen recht hat und ich die Hauptrolle nur deshalb tanze, weil ich mit dir schlafe?«

»Wir wissen beide, dass das nicht wahr ist«, antwortete er. »Wir haben eine Abmachung. Du erinnerst dich? Keine Vorteile für dich aufgrund unserer Beziehung.« Er trat näher und legte die Arme um sie. Sie ließ seine Annäherung zu, doch ihr Blick war noch immer trotzig.

»Und es war dir schon immer egal, was die anderen sagen. Das sollte es auch jetzt sein. Ich liebe dich, Maria. Du hast Katinka längst übertrumpft. Eine Tänzerin braucht nicht nur Disziplin und Härte. Sie braucht auch Ausdruck und Gefühl im Blick. Sie ist nicht bloß eine perfekte Maschine, sondern auch eine Schauspielerin und muss Menschlichkeit zeigen können. Darin bist du besser, als Katinka es jemals gewesen ist. Und sie hat es gewusst. Sie hat diese Besonderheit erkannt. Sie hat es nie laut ausgesprochen. Aber ich hab es in ihrem Blick gesehen. Du füllst deine Rollen mit Lebendigkeit und Herz. Deshalb tanzt du die Hauptrolle und keine andere.«

Maria ließ zu, dass er sie an sich zog. Erneut rannen die Tränen über ihre Wangen. »Sie fehlt mir so sehr«, sagte sie.

»Ich weiß«, antwortete er und streichelte ihr über den Rücken. »Ich weiß.«

Eine Weile verharrten sie eng umschlungen, und Maria genoss seine Wärme und Nähe, die dafür sorgten, dass sie sich endgültig entspannte. Genau in dem Moment, als sie den Kopf heben und ihn küssen wollte, klopfte es an der Tür, und sie lösten die Umarmung. Rasch drehte sich Maria um und wischte sich die Tränen ab. Es war Susanne, eine der Tanztrainerinnen.

»George. Du musst rasch kommen. Marlene hat sich den Fuß verdreht. Es sieht nicht gut aus.«

»Das auch noch«, antwortete er und folgte Susanne aus dem Raum.

Maria blieb zurück. Sie hätte mitgehen sollen, um Anteilnahme an dem Kummer der Kollegin zu zeigen. Aber sie brachte es nicht fertig. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Die Bäume der benachbarten Parkanlage, die den Namen »Warmer Damm« trug, versanken im Nebel des Novembernachmittags. Es war den ganzen Tag über nicht richtig hell geworden. Doch trotz des grauen Wetters verspürte sie plötzlich die Sehnsucht, nach draußen zu gehen, durch den Park, vielleicht auch durch Wiesbadens Straßen und Gassen zu laufen. Für eine kurze Weile die Welt des Theaters hinter sich zu lassen und den normalen Alltag der Menschen auf den Straßen zu erleben, das würde ihr guttun. Sie begann, die Bänder ihrer Spitzenschuhe zu öffnen.

Wenig später lief sie in einen dunkelblauen, warmen Wollmantel gehüllt, einen passenden Filzhut auf dem Kopf und mit warmen Stiefeln an den Füßen die bereits festlich dekorierte Luisenstraße hinunter. In ganz Wiesbaden schmückten in diesem Jahr erstmals seit Kriegsende wieder echte Christbäume die gut gefüllten Geschäftsstraßen. Die Schaufenster der Läden waren weihnachtlich dekoriert. Unzählige kleine Kinder standen mit strahlenden Augen davor. Was es in den Schaufenstern der großen Kaufhäuser wie Hertie, Köster und Karstadt nicht alles zu bestaunen gab. Eine Eisenbahn, ein ferngelenktes Auto, die bezaubernde Puppe mit den Schlafaugen in dem niedlichen Blumenkleid.

Maria fand ein kleines Mädchen besonders niedlich. Es trug ein hübsches hellblaues Wollmäntelchen und eine passende Mütze mit Bommel auf dem Kopf. Ihre goldblonden Löckchen ringelten sich sanft um ihr rundes Gesicht. Wie ein Engel sah sie aus. Sie stand, an der Hand einer älteren Frau, vermutlich ihrer Großmutter, ganz dicht an der Schaufensterscheibe und betrachtete einen wuscheligen Teddybären mit einem Herzflicken auf dem Bauch, der niedliche dunkle Knopfaugen hatte. Vielleicht hatte sie ja Glück und das Christkind würde ihn ihr bringen.

Maria gefiel die zurückgekehrte Geschäftigkeit, die das Weihnachtsfest in der Stadt mit sich brachte. Als sie Kind war, hatte es in den Schaufenstern nur unverkäufliche Dekostücke zu bestaunen gegeben, die Regale in den Spielzeugläden waren leer gewesen, und von einem Weihnachtsbaum in der Stube hatten sie in den ersten Jahren nach dem Krieg nur träumen können. Ebenso von einem Weihnachtsmarkt, den sie nun erreichte. Er fand seit 1948 auf dem Luisenplatz statt und lockte die Besucher mit unzähligen Lichtern, Spielwaren, Süßigkeiten, Luftschaukeln, Karussells und allerlei Ständen mit Leckereien und Kunsthandwerk.

Sogleich hüllten sie die Düfte von gebratenen Mandeln und Bratwürsten ein. Katinka hatte solche Orte stets verabscheut. An jeder Ecke gab es Unmengen von deftigem Essen und Zuckerzeug. Wie scheußlich. Allgemein war Katinka keine Anhängerin des Weihnachtsfests gewesen. Vielleicht lag es daran, dass es ein Familienfest war und sie keine Familie gehabt hatte. Was genau mit ihren Eltern geschehen war, hatte sie Maria nie erzählt. Sie war bei ihrer Großmutter in Russland aufgewachsen, die ihr auch die Ballettausbildung finanziert hatte. Jahrelang war sie später als Ballerina in den Metropolen dieser Welt gewesen. New York, Mailand, London und natürlich Moskau. In Hotelzimmern war Weihnachten nicht besonders besinnlich. Das wusste auch Maria nur zu gut.