Frau Glück und die Winterlichter - Anna Liebig - E-Book
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Frau Glück und die Winterlichter E-Book

Anna Liebig

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Beschreibung

Wenn die Winterlichter funkeln, ist das Glück nicht weit entfernt ...

Gerda Glücks Waschsalon kennt im Frankfurter Nordend jeder. Er ist ein kleines Idyll inmitten der hektischen Großstadt und vor allem zur Weihnachtszeit ein besonderer Ort, festlich geschmückt und beleuchtet von Hunderten Lichtern. Doch Gerda Glück ist eigentlich gar nicht glücklich. Denn sie träumt noch immer jeden Tag von der großen Liebe, die sie in einem eiskalten Winter verloren hat – damals, 1963, als sie noch jung war und mit dem Kopf voller Träume …

Ein Roman wie ein Adventskalender: Jeden Tag ein Kapitel, das die Wartezeit auf das Weihnachtsfest versüßt – berührend, herzenswarm und voller Winterzauber!

Weitere Romane von Anna Liebig:
Das Winterkarussell
Die Schneeflockenmelodie

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Buch

Gerda Glücks Waschsalon kennt im Frankfurter Nordend jeder. Er ist ein kleines Idyll inmitten der hektischen Großstadt und vor allem zur Weihnachtszeit ein besonderer Ort, festlich geschmückt und beleuchtet von Hunderten Lichtern. Doch Gerda Glück ist eigentlich gar nicht glücklich. Denn sie träumt noch immer jeden Tag von der großen Liebe, die sie in einem eiskalten Winter verloren hat – damals, 1963, als sie noch jung war und mit dem Kopf voller Träume …

Autorin

Anna Liebig ist das Pseudonym von Nicole Steyer, einer erfolgreichen Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus. Bereits mit acht Jahren begann sie, Geschichten zu erfinden und niederzuschreiben. Ihre Romane »Das Winterkarussell«, »Die Schneeflockenmelodie« und »Frau Glück und die Winterlichter« sind Liebeserklärungen an die schönste Zeit des Jahres: Weihnachten.

Weitere Informationen unter: www.literatur-steyer.de

Von Anna Liebig bereits erschienen

Das Winterkarussell · Die Schneeflockenmelodie

ANNA LIEBIG

Frau Glück und die Winterlichter

Roman

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Copyright © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

DK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29537-0V001

www.blanvalet.de

Prolog

Wenn man älter wird, sammeln sich die Erinnerungen an. Viele von ihnen verblassen, und mit der Zeit hat man das Gefühl, dass die Jahre miteinander verschwimmen. Man vermag nicht mehr zu sagen, was am siebzehnten Februar eines bestimmten Jahres geschehen ist, denn es gab so oft einen siebzehnten Februar. Doch manche Erinnerungen bleiben, sie haben sich im Herzen festgesetzt, sie sorgen für ein Lächeln auf den Lippen – manchmal auch für Traurigkeit. Gerda Glück, die gerade jetzt, in diesem Augenblick, am Fenster ihres Waschsalons im Frankfurter Nordend steht und verträumt den Schneeflocken zusieht, umgeben von ihren bunten und funkelnden Weihnachtslichtern, bewahrt solch besondere Erinnerungen in ihrem Herzen. Sie kennt jeden Tag dieser wenigen Wochen ihres Lebens, in denen sie lieben durfte, das genaue Datum – nichts verschwimmt zwischen den Jahren. Und sie spürt die Wehmut, während sein Geschenk, das Kettchen mit dem Herzanhänger, durch ihre Finger gleitet. So viele Jahre, Erinnerungen haben sich angesammelt, verschwommen oder ganz klar. Eine ist jedoch ausgeblieben. Die, von der sie träumte, die sie sich immer wieder vorstellte, von der sie wünschte, sie hätte sie für immer in sich speichern können mit Datum, dem Wetter, diesem unendlich berauschenden Gefühl von Glück, dem Kribbeln, das bis in die Zehenspitzen geht – mit allem, was dazugehört. Die Erinnerung an seine Rückkehr. Doch bisher ist sie ihr verwehrt geblieben.

1. Kapitel

23. November 2008

Gerda stand verdrießlich dreinschauend neben ihrem Haus- und Hof-Elektromeister, Uwe Kossmann, der eben eines seiner Werkzeuge zur Seite gelegt und ihr verkündet hatte, dass Rock Hudson nicht mehr hinzubekommen sei.

»Der alte Knabe hat einfach zu viele Jahre auf dem Buckel«, sagte er und klopfte auf die Waschmaschine.

»Ich hab mir schon so etwas gedacht«, antwortete Gerda und stieß einen Seufzer aus. »Er hat eine Weile so komische Geräusche von sich gegeben, die denen von Bill Ramsey ähnelten, kurz bevor er das Zeitliche gesegnet hat.«

Ihr Blick wanderte zu einer der gegenüberstehenden Waschmaschinen, auf der ein hübsches Spitzendeckchen lag.

»Obwohl ich sagen muss, dass die alten Hausgeräte meist besser durchhalten als die neuen«, erwiderte Uwe und wischte sich seine schmutzigen Hände an einem Stofflappen ab. »Manchmal hab ich das Gefühl, die bauen die Dinger mit Absicht so, dass sie nach spätestens zehn Jahren den Geist aufgeben. Da lob ich mir deine alten Maschinen, das waren noch Qualitätsprodukte.«

»Obwohl durch den Tod von Rock jetzt nur noch eine Maschine funktionstüchtig ist«, erwiderte Gerda. »Elvis scheint unverwüstlich. Allerdings muss man ihm inzwischen ab und zu eins auf den Deckel geben, sonst bleibt er im Vorwaschgang hängen.«

»Hauptsache, Elvis lebt«, antwortete Uwe und grinste.

Die beiden befanden sich in Gerda Glücks Waschsalon, der, im Oeder Weg gelegen, als Institution im Frankfurter Nordend galt. Eröffnet hatten Gerda und ihre Mutter den Laden im Sommer dreiundsechzig. Gerdas Vater war im Krieg gefallen, also hatten sich die beiden allein durchschlagen müssen. Durch eine Erbschaft hatten sie das heruntergekommene Haus erwerben können, und da Roswitha Glück zuvor lange Zeit in einer Wäscherei tätig gewesen war, hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und einen für jene Zeiten modernen Waschsalon eröffnet. Gerda, damals gerade achtzehn Jahre alt und den Kopf voller Träume, war auf die Idee gekommen, den Waschmaschinen, es waren zehn Stück an der Zahl, Namen von berühmten Persönlichkeiten zu geben. Elvis Presley, Rock Hudson und Bill Ramsey leisteten Udo Jürgens, Peter Kraus, Marilyn Monroe, Trude Herr, Connie Francis, Peter Alexander und Heidi Brühl Gesellschaft. Von Letzterer liebte Gerda das Lied Wir wollen niemals auseinandergehen ganz besonders. Wenn sie diesen Hit aus dem Jahr 1960 hörte, dann fühlte sie sich wieder wie das junge Mädchen, das von der großen Liebe geträumt hatte.

»Gibt es noch Kaffee? Wo steckt Karl denn heute?« Uwes Blick wanderte zu einem kleinen runden Tisch, an dem ein blauer und ein grüner Caféhausstuhl standen, der sich direkt neben Udo Jürgens befand, auf den Gerda eine Dattelpalme gestellt hatte. »Sonst ist er um diese Zeit doch immer hier.«

»Ich verstehe auch nicht, wo er heute abgeblieben ist«, antwortete Gerda und zuckte ratlos die Schultern, während sie hinter ihren kleinen Verkaufstresen trat.

Karl Reiter war seit vielen Jahren Gerdas fester Stammkunde und wusch als einer der wenigen Besucher ihres Waschsalons sogar noch seine Wäsche bei ihr. Er wohnte oberhalb eines türkischen Gemüsehändlers in einer nahe gelegenen Seitenstraße und hatte bis vor fünf Jahren als Finanzbeamter seinen Lebensunterhalt verdient. Jetzt genoss er seinen Ruhestand. Man konnte ihn als ewigen Junggesellen bezeichnen, obwohl er nach Gerdas Meinung gar nicht so schlecht aussah, weshalb es sie verwunderte, dass er übrig geblieben war. Inzwischen waren seine noch immer vollen Haare vollständig ergraut, und er hatte am Bauch etwas zugelegt. Der Zahn der Zeit nagte jedoch an ihnen allen: Auch Gerda war weit von dem jungen Mädchen entfernt, das es auf der einen oder anderen Schwarz-Weiß-Fotografie im Salon zu bewundern gab. Sie fand, dass sie mit jedem Jahr etwas mehr einer alternden Trude Herr ähnelte, besonders was die Zunahme ihrer Rundungen anging. Gerda war ein großer Fan der pummeligen Ulknudel aus Köln gewesen. Noch immer hörte sie gern ihre Lieder. Ihr Lieblingslied der Sängerin war: Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann.

Gerda holte Kaffeepulver aus einer bunt gestrichenen Anrichte und hielt nach den vermaledeiten Kaffeefiltern Ausschau, die sich mal wieder in Luft aufgelöst hatten. Sie fanden sich schließlich in einer der Schubladen des alten Küchenbüfetts, das sie ebenfalls farbenprächtig angemalt hatte, denn der schnöde weiße Anstrich, den das gute Stück zuvor gehabt hatte, war ihr zu langweilig gewesen. Auf der Anrichte stand eine orange Kaffeemaschine, die es vom Alter her mit den Seniorenwaschmaschinen im Raum durchaus aufnehmen konnte. Doch solange das gute Stück funktionierte, sah Gerda keinen Grund, sie durch ein neueres Modell zu ersetzen. Wobei sie manchmal mit einer von diesen Gastro-Kaffeemaschinen liebäugelte, wie es sie in dem italienischen Café die Straße runter gab, das erst im letzten Jahr neu eröffnet hatte, nachdem der Grieche vom Gesundheitsamt zugemacht worden war. Aber so eine große Maschine war teuer, und sie war ja kein Kaffeehaus, sondern ein Waschsalon, auch wenn nur Elvis noch funktionierte.

Vanessa Kilian betrat den Waschsalon. Die Wasserstoffblondine arbeitete im Friseurladen von Günter Wiedemann und gehörte ebenfalls zu Gerdas Stammkundinnen. Obwohl sie nur selten Wäsche wusch, sondern meist Kaffee trank. Aktuell hatte sie mal wieder Liebeskummer, weshalb sie häufiger erschien, um sich bei Gerda auszuheulen. Ihre neueste Eroberung, ein gewisser Dennis, Gerda kannte den jungen Mann nicht persönlich, hatte sie wegen einer Claudia sitzen lassen, was Vanessa so gar nicht verstehen konnte, denn Claudia hatte einen Hintern wie ein Brauereigaul und eine Hakennase.

»Tagchen, zusammen«, grüßte Vanessa, die, wie gewohnt, kräftig geschminkt war und extrem enge Skinny-Jeans trug. Ihre Haare, die nach Gerdas Meinung durch das viele Blondieren komplett ruiniert waren und wie ein Haufen Stroh aussahen, hatte sie zusammengebunden. Gerda konnte gar nicht so recht sagen, weshalb Vanessa ständig bei ihr im Laden auftauchte. Ihr Altersunterschied lag bei über vierzig Jahren, auch äußerlich trennten sie Welten. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatten sie einander von Beginn an gemocht.

»Schon Pause?«, fragte Gerda und blickte auf die billige Fake-Kuckucksuhr an der Wand, die zehn Uhr morgens anzeigte.

»Nur fünf Minuten. Aber ich wollte dir unbedingt erzählen, dass mir Timo gestern über den Weg gelaufen ist. Er hat mich gefragt, ob ich mal wieder Zeit hätte.« Ihre Augen strahlten.

Timo, den Ex aus der Zeit vor dem aktuellen Ex, kannte Gerda ebenfalls nur aus Erzählungen und von einigen Automatenfotos, die er und Vanessa miteinander gemacht hatten, als sie noch ein glückliches Paar gewesen waren. Timo arbeitete als Fitness- und Personal-Trainer, letzteres Tätigkeitsfeld brachte ihm den stetigen Umgang mit hübschen, meist wohlhabenden Damen ein, die gern auch intimere Dienste ihres Trainers in Anspruch nahmen, was der Trennungsgrund gewesen war.

»Bist du nicht noch wegen Dennis traurig?«, erkundigte sich Gerda und schmierte für Uwe ein Mettbrötchen, ohne dass er es bestellt hatte. Er aß immer eins, wenn er bei ihr war. Wieso sollte es heute anders sein? »Gestern Vormittag warst du noch der Meinung, dass alle Männer Idioten sind und du erst einmal Single bleiben möchtest. Und Timo hat dich doch gleich mehrfach mit den reichen Schicksen betrogen.« Sie beförderte eine große Portion Zwiebeln auf das Mett und stellte Uwe den Teller hin. »Kaffee kommt gleich. Die alte Maschine ist fast fertig.« Sie deutete hinter sich, wo das orangefarbene Koffeinwunder aus den Siebzigern zu knattern und zu dampfen begonnen hatte, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sie sich im Endstadium der Kaffeezubereitung befand.

»Ja, das mit den Schicksen war blöd von Timo«, räumte Vanessa ein und nahm sich einen der Schokoladen-Cookies, die sich stets in einer Keksdose auf dem Tresen befanden. »Aber Timo hat mir erzählt, dass er jetzt nicht mehr als Personal Trainer arbeitet. Er hat sich an der Uni für ein Sportstudium eingeschrieben. Er will Sportlehrer werden.«

»Hm«, gab Gerda mit skeptischer Miene zur Antwort. »Ich weiß nicht recht. Eine aufgewärmte Suppe hat noch nie sonderlich gut geschmeckt.« Ihr tat Vanessa leid. Das arme Ding hatte das Talent dazu, sich mit Männern einzulassen, die ihr innerhalb kürzester Zeit das Herz brachen.

»Also wenn ich mich dazu auch zu Wort melden darf«, sagte Uwe mit vollem Mund. »Ich muss Gerda recht geben. Aus Erfahrungen aus meinem Umfeld kann ich sagen, dass ein Zweitversuch meist schiefgeht. Gibt es da nicht dieses Sprichwort? Ich hab’s gleich, Moment. Richtig: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.«

»Ihr denkt, es gibt die Schicksen noch?«, zog Vanessa die richtigen Schlüsse.

»Könnte sein«, konstatierte Gerda.

»Das hat Franzi auch gesagt. Die hat leicht reden. Ihr Kai hält ihr schon seit acht Monaten die Treue, und neuerdings reden die beiden sogar vom Zusammenziehen. Auf so eine Idee ist bei mir noch kein Typ gekommen.« Sie stieß einen Seufzer aus und nahm sich einen weiteren Keks.

»Lass den Kopf nicht hängen«, antwortete Gerda und berührte Vanessa tröstend an der Schulter. »Du bist doch erst neunzehn. Da findet sich bestimmt noch der Richtige.«

Ein weiterer altbekannter Besucher des Waschsalons erschien. Mustafa Yilmaz, ein ebenfalls im Oeder Weg ansässiger Geschäftsmann, der, anders konnte man es nicht nennen, einen Ramschladen betrieb. Mustafa war Anfang der Sechzigerjahre als Gastarbeiter nach Frankfurt gekommen, Witwer und hatte sechs Töchter, die er, bis auf seine jüngste, die fleißig im Laden half, inzwischen alle erfolgreich verheiratet hatte.

»Morsche, zusammen«, grüßte Mustafa freundlich in die Runde und lüpfte kurz seine Schiebermütze. Sein schwarzes Haar und seinen stets etwas struppigen Bart durchzogen graue Strähnen, und auf seiner Nase lag eine Brille Marke Kassengestell der Achtzigerjahre. »Ich hab heute Morgen frische Ware reinbekommen, und bei dieser herrlichen Lichterkette musste ich sogleich an dich denken. Das wird in diesem Jahr bestimmt der letzte Schrei.« Er hielt Gerda einen Verpackungskarton hin, auf dem sich das Bild einer Lichterkette mit kleinen Sternen befand, die bunt leuchteten. »Die Sterne können sogar blinken«, fügte er hinzu. »Ich würde dir auch einen Sonderpreis unter Nachbarn machen. Sagen wir: acht fünfzig.« Er sah Gerda abwartend an, wissend, dass sie nicht ablehnen würde, denn bei weihnachtlichen Lichterketten aller Art konnte sie nie widerstehen.

Zu Mustafas Bedauern griff nicht Gerda, sondern Uwe nach dem Karton, drehte ihn um und las vor: »Made in China.« Er öffnete den Karton und zog die Kette heraus. Sie hatte dreißig Lampen, die Sternchen waren aus Kunststoff und konnten abgenommen werden. Eines von ihnen fiel sogleich ab, landete auf dem blauen Linoleumfußboden und zerbrach in zwei Teile.

»Ein Qualitätsprodukt«, merkte Vanessa an. »Also den billigen Mist würde ich nicht kaufen.«

Mustafas Miene verfinsterte sich, und er grapschte sogleich nach dem Karton. »Was glaubt ihr eigentlich, wo der sonstige Dekoplunder hergestellt wird, den ihr jedes Jahr in eure Buden stellt? Das meiste kommt aus China, oder könnt ihr euch neuerdings den teuren Kram vom Weihnachtsmarkt leisten? Handgeblasene Kugeln und Lichterbogen aus dem Erzgebirge für horrende Summen das Stück? Nur weil etwas aus Fernost kommt, bedeutet es noch lange nicht, dass es schlecht ist. In der Packung gibt es auch Ersatzsternchen«, fügte er hinzu und holte einen kleinen Plastikbeutel heraus. Er sah zu Gerda. Deren Miene war immer noch skeptisch. »Weil du es bist, fünf Euro«, bot er einen Rabatt an. »Aber weiter kann ich wirklich nicht mit dem Preis runtergehen.«

»Dann kauf ich die Lichterkette eben«, antwortete Gerda, die es mal wieder nicht fertigbrachte, Mustafas Angebot abzulehnen. Sie fischte einen Fünfeuroschein aus ihrer Kasse. »Wird sowieso Zeit, dass ich den Laden dekoriere. Sonst war ich in der Woche vor Weihnachten längst fertig. Aber die letzten Tage hat mich mal wieder mein Ischiasnerv gepiesackt.« Sie griff sich ins Kreuz. »Da hatte ich keine Lust darauf, die Kisten aus dem Keller zu holen.«

Uwes Tasche begann zu läuten. Er fischte ein Handy heraus und verkündete nach einem kurzen Telefonat, dass er losmusste. Der nächste Elektronotfall stand an. Er bezahlte flott sein Mettbrötchen und entschuldigte sich dafür, dass er den Kaffee jetzt nicht mehr trinken konnte.

»Ich müsste dann auch«, meinte Vanessa. »Meine Pause ist längst um.« Sie folgte dem Elektriker aus dem Laden und blieb Gerda, im Gegensatz zu Uwe, das Geld für die Kekse schuldig. Auch Mustafa verabschiedete sich.

Gerda stand allein im Laden, was ihr in diesem Moment so gar nicht gefiel. Erneut fiel ihr Blick auf den leeren Kaffeehausstuhl neben Udo Jürgens. Wo Karl nur abgeblieben war? Hoffentlich steckte er nicht wieder beim Zahnarzt, da hatte er neulich eine scheußliche Wurzelbehandlung durchstehen müssen, seine ganze Backe war geschwollen und er selbst äußerst unleidig gewesen.

Die Tür öffnete sich erneut, und ein Mann um die vierzig in einem grauen Wintermantel trat ein, den Gerda bereits kannte und der sie aufgrund seiner Funktion als Immobilienmakler daran erinnerte, wie schlecht ihre finanzielle Lage war. Der Zahn der Zeit nagte an ihrem Waschsalon, Geld für Renovierungen, auch an dem alten dreistöckigen Haus, hatte stets gefehlt. Sie lebte von einer schmalen Rente, wenigen Ersparnissen und vermietete zudem die Dachwohnung.

»Guten Tag, Frau Glück«, grüßte der Mann in diesem schleimig klingenden Tonfall, den Gerda so gar nicht leiden konnte. Diesem Fuzzi ging es nur ums Geld, sonst nichts. Karl hatte ihr erst neulich erzählt, dass man sich besonders vor Immobilienmaklern in Acht nehmen sollte. Die würden ganze Stadtviertel gewinnbringend an korrupte Bauunternehmen weiterverschachern, und am Ende könnten sich die normalen Bürger gar keine Wohnungen mehr leisten. Halsabschneider seien das, hatte er gesagt. Mit entsprechend finsterer Miene begrüßte Gerda den Mann, dessen Visitenkarte seit seinem letzten Besuch in der Schublade hinter dem Tresen lag. Warum hatte sie die überhaupt aufgehoben? Sie konnte sich die Frage selbst beantworten. Weil das Angebot, trotz all der Vorbehalte gegen solche Geschäftsmänner, verlockend klang. Sollte sie es annehmen, wäre sie mit einem Schlag sämtliche Geldsorgen los.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte er. »Ich dachte, ich komme noch einmal vorbei und erkundige mich, ob Sie über mein Angebot von neulich nachgedacht haben?«

Na, der ist ja flott bei der Sache, dachte Gerda. Neulich war letzten Freitag gewesen. Dieser Mann schien nicht zu begreifen, um was es, trotz all ihrer existenziellen Probleme, ging. Der Waschsalon und die sich im ersten Stock darüber befindliche Wohnung, dieses alte Haus mit all seinen Macken war ihr Zuhause. Es ging doch hier nicht um den belanglosen Verkauf eines Gegenstandes.

»Also wenn ich ehrlich sein soll …«, antwortete sie und ärgerte sich über die Unsicherheit, die in ihrer Stimme mitschwang. Solche Leute in teurer Kleidung, sein Mantel war bestimmt aus Kaschmir, brachten sie immer etwas durcheinander. »Ich bin im Moment noch nicht bereit dazu, mein Haus zu verkaufen. Aber sollte ich mich irgendwann dazu entschließen, werde ich mich selbstverständlich zuerst bei Ihnen melden.« Sie schenkte dem Mann ein Lächeln und fügte hinzu: »Ich habe ja noch Ihre Karte.« Sie atmete erleichtert auf. Das war gut, sie hatte ganz direkt eine Entscheidung getroffen.

»Ja, meine Karte haben Sie«, antwortete der Immobilienmakler. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch plötzlich begann sein Mantel zu klingeln. »Sie entschuldigen mich«, sagte er und holte ein Handy hervor. Das Gespräch schien wichtig zu sein und Gerda als Zuhörerin nicht willkommen . Er verließ den Laden und war im nächsten Moment aus ihrem Blickfeld verschwunden.

»Unhöflich ist er auch noch«, murmelte Gerda und zuckte mit den Schultern. »Aber zum Glück ist er weg, und ich muss ihm nicht auch noch einen Kaffee anbieten.«

Sie schenkte sich selbst ein Tässchen ein, rührte Kaffeesahne hinein, dann folgten drei Löffel Zucker. Gerda würde nie verstehen, wie Menschen ihren Kaffee schwarz trinken konnten. So wie ihre Mutter. Eine Fotografie von ihr hing noch immer an der Wand, direkt über Marilyn Monroe, die als eine der ersten ihrer Waschmaschinen den Geist aufgegeben hatte. Was, so dachte jedenfalls Gerda, vielleicht an der Namensgebung lag. Der echten Marilyn war bedauerlicherweise auch kein langes Leben beschieden worden.

Die Porträtaufnahme ihrer Mutter war am Eröffnungstag des Waschsalons im Jahr 1963 entstanden. Voller Stolz hatten sie an jenem warmen Augusttag die ersten Gäste in Empfang genommen und sogar für einen Zeitungsreporter posiert. Ein Artikel aus der Frankfurter Neuen Presse hing ebenfalls gerahmt an der Wand. Neueröffnung Waschsalon Glück im Oeder Weg stand über einer Fotografie ihres Ladens. Der Eingang war aufwendig mit Luftballons geschmückt gewesen, doch das junge Mädchen, das auf dem Bild in dem Zeitungsartikel mit einer Sechzigerjahre-Föhnfrisur vor dem Eingang neben seiner Mutter stand, hatte anderes im Sinn gehabt. Es hatte ungeduldig auf die große Liebe gewartet und nur wenige Monate später von einer Zukunft an der Seite des Mannes geträumt, der versprochen hatte wiederzukommen, es jedoch bis heute nicht getan hatte. Gerda umfasste das Kettchen mit dem Herzanhänger an ihrem Hals, und wie so oft wünschte sie sich in diesem Augenblick, sie könnte die Zeit zurückdrehen …

November 1963

Du denkst daran, die Tür ordentlich abzusperren«, sagte Roswitha wie jeden Abend zu Gerda, wenn sie um Punkt fünf Uhr den Waschsalon verließ und in die Wohnung hinaufging, um sich um den Haushalt zu kümmern. Manchmal erledigte sie auch noch Besorgungen, so hatte es sich eingebürgert. Gerda hatte den Spätdienst allein zu erledigen. Dann waren die meisten Hausfrauen nach Hause gegangen, und Roswitha konnte nicht mehr die üblichen Schwätzchen halten. Hie und da tauchte noch ein Junggeselle auf, oder es kamen Studenten, die ihre Nasen meist in Bücher steckten. Ansonsten war es ruhig im Laden. Jedenfalls an Kundschaft. Denn kaum hatte sich die Tür zum Treppenhaus hinter ihrer Mutter geschlossen, schaltete Gerda das Radio ein und drehte es lauter. So tat sie es auch an diesem Abend, und es erklang eines ihrer Lieblingslieder. Schuld war nur der Bossanova. Sogleich begann Gerda, im Takt zu wippen, und weil sich gerade niemand im Geschäft befand, wagte sie sogar ein Tänzchen und sang lautstark den Text mit. Ihr schwingender Rock drehte sich im Kreis, sie wirbelte durch den Raum. Dann stand plötzlich ein junger Mann mit einem Wäschekorb in der Tür und sah sie verwundernd lächelnd an. Er sah gut aus, blond, mit unfassbar leuchtend blauen Augen, er überragte Gerda um fast zwei Köpfe und hatte weiche, freundliche Züge und breite Schultern. So einen attraktiven Mann hatte Gerda im Oeder Weg noch nie gesehen. Gerda sah ihn mit großen Augen an. Er grüßte freundlich und meinte: »Ich dachte, das hier wäre ein Waschsalon und kein Dancingclub. Da habe ich mich wohl in der Tür geirrt.« Sein Akzent verriet sogleich, dass er Amerikaner war. Er schenkte ihr ein charmantes Lächeln. Gerdas Herz schlug plötzlich wie verrückt, und ihre Hände begannen sogar zu zittern. Eine Antwort fiel ihr nicht ein. Was sagte man zu jemandem, der aussah wie der Mann, von dem man schon immer geträumt hatte, gefühlt sein gesamtes Leben lang, auch wenn dieses Leben noch sehr jung war?

Es war die Türglocke, die Gerda aus ihrem Tagtraum zurück in die Gegenwart holte. Ihr Stammkunde Karl betrat den Laden, und sein Anblick erleichterte sie.

»Ei Gude, Gerda«, grüßte er auf Hessisch. Wie gewohnt trug er einen abgetragenen grauen Anorak, auf seinem Kopf ruhte eine schwarze Strickmütze.

»Da bist du ja endlich«, sagte Gerda ohne ein Grußwort. »Wo hast du gesteckt? Kaffee?«

»Gern«, nahm Karl ihr Angebot an und beantwortete, während er den Anorak auszog und über die Stuhllehne seines Stammplatzes hängte, ihre Frage: »Das weißt du doch. Heute war der Klempner da wegen dem ständig tropfenden Wasserhahn. Ich dachte schon, der kommt gar nicht mehr.« Er legte die aktuelle Tageszeitung auf den Tisch.

»Ach ja, richtig«, entsann sich Gerda und stellte Karl seinen Kaffee hin, den er stets aus derselben bauchigen Tasse mit der Aufschrift »Bester Kunde« trank. Gerda setzte sich zu ihm und berichtete von den Vorkommnissen des Morgens.

»Jetzt läuft also nur noch der gute alte Elvis«, kommentierte Karl das Ableben von Rock Hudson.

Gerda nickte. Sie wusste, was Karl dachte, was alle im Oeder Weg dachten, nur niemand sprach es laut aus. Als Waschsalon konnte man ihren Laden längst nicht mehr bezeichnen. Aber als was sonst? Sie war kein Café, verkaufte keine Waren und war keine Kneipe. Ging man zu ihr, ging man zu Gerda. So war das eben. Der Immobilienfuzzi und sein Angebot, ihr Haus zu verkaufen, kamen ihr wieder in den Sinn. Aber wo sollte sie dann wohnen? Und vielleicht, ja, der Gedanke war dumm, das wusste sie selbst, aber vielleicht würde Jason eines Tages zurückkehren und so wie an jenem nasskalten Novemberabend 1963 einfach in der Tür stehen. Er musste sie doch finden können. Wenn sie fortging, würde es dieses Wiedersehen niemals geben.

2. Kapitel

28. November 2008

Gerda ließ ihren Blick über die unzähligen Kisten und Kartons schweifen, die sie gemeinsam mit ihrem Mieter Thorsten aus dem Keller hochgeschleppt hatte, der sich, nachdem er den letzten Karton abgestellt hatte, sogleich aus dem Staub gemacht hatte. Thorsten war Student, irgendwas mit Computern, Gerda konnte sich das nicht merken. Der Dreiundzwanzigjährige, der von irgendwoher einen asiatischen Einschlag hatte, wohnte seit einem halben Jahr in ihrer Dachgeschosswohnung und war ein recht umgänglicher junger Mann. Zur Uni fuhr er immer mit dem Fahrrad, das er im Hinterhof in den Schuppen stellte. Attraktiv war er nicht, Vanessa hatte ihn als Nerd bezeichnet, was in der heutigen Sprache der jungen Leute so viel wie »unansehnlich« bedeutete. Gerda vermietete bereits seit Längerem die Wohnung unter dem Dach, um ihr monatliches Einkommen aufzustocken. Bevorzugt nahm sie Studenten, an die sie stets befristet vermietete. Unbefristete Mietverträge wollte sie nicht vergeben, denn man wusste ja nie, wen man sich ins Haus holte. Ihr Nachbar, der alte Weidemann – er hatte die achtzig bereits überschritten, war aber noch immer recht rüstig – konnte ihr da eine Menge unschöne Geschichten von unordentlichen Chaoten und Mietprellern erzählen. Er hatte den ein oder anderen schon rausklagen müssen. Auf solche Scherereien konnte sie verzichten.

Gerda öffnete die erste Kiste und beförderte ein Knäuel an Lichterketten heraus, das es zu entwirren galt.

»Alle Jahre wieder verpack ich die Dinger so dämlich«, schalt sie sich selbst. Sie öffnete weitere Kisten, und innerhalb weniger Minuten war deren Inhalt überall im Raum verteilt. Gerda hatte ein Faible für amerikanischen Kitsch, es konnte ihr gar nicht genug in allen Farben blinken und leuchten. Sie besaß singende Weihnachtsmänner und mit den Hüften wackelnde Rentiere. Unzählige Lichterketten, die sie überall im Raum und im Schaufenster verteilte, wo in jedem Jahr der große aufblasbare Schneemann neben einem Plastikweihnachtsbaum stand, von dem man vor lauter Schmuck und Lichtern eigentlich gar nichts mehr sah. Doch bis es so weit war, dass der Laden in seinem bunten Lichterglanz erstrahlte, würde es mal wieder ein langer Weg werden. Gerda beschloss, sich zur Stärkung einen Kaffee zu gönnen.

Karl betrat den Laden mit einem mitgenommen aussehenden Klappschirm, von dem das Wasser auf den Fußboden tropfte. Der Schirm landete in dem neben der Tür stehenden Schirmständer.

»Also, bei dem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür«, bekundete er. »Das gesamte Trottoir ist eine einzige Pfütze. Da werden die Aussteller auf dem Weihnachtsmarkt wieder lange Gesichter ziehen. Wer geht bei Dauerregen schon da hin?«

»Ach, ein paar verrückte Touristen gibt es immer«, antwortete Gerda und winkte ab. Sie freute sich, dass Karl gekommen war. Die letzten Tage hatte er sich etwas rargemacht, er habe Erledigungen machen müssen, hatte er sich geheimnisvoll ausgedrückt. Gerda hatte diese Aussage verwundert. So verschlossen kannte sie Karl gar nicht. Irgendetwas stimmte nicht, und ein seltsames Gefühl von Sorge hatte sich in ihr ausgebreitet. In ihrem Alter konnten geheimnisvolle Erledigungen auch etwas mit unliebsamen Arztterminen zu tun haben. Aber daran wollte Gerda lieber nicht denken, außerdem sah Karl gar nicht krank aus. Sie würde die Wahrheit schon noch aus ihm herausbekommen.

»Kaffee? Ich hab auch Lebkuchen.«

»Hm«, antwortete Karl und ließ seinen Blick über das Weihnachtsdeko-Sammelsurium schweifen. »Kann es sein, dass das schon wieder mehr Kisten geworden sind?«, erkundigte er sich grinsend.

Gerda fühlte sich ertappt.

»Vielleicht eine Kiste«, gab sie zu. »Okay, zwei. Ich hatte unterschätzt, wie viel Platz die an der Hauswand hinaufkrabbelnden Weihnachtsmänner benötigen. Außerdem hab ich endlich mal wieder neuen Schmuck für den Baum im Schaufenster gekauft. Die rot-weißen Kugeln mit den Winterlandschaften darauf sehen so bezaubernd aus, und sie funkeln.« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Hach, das wird dieses Jahr wieder wunderhübsch aussehen. Du hilfst mir doch beim Dekorieren, oder? Ich geb auch ein Mittagessen aus. Pizza von Luigi? Die können wir liefern lassen. Dann müssen wir bei dem doofen Wetter nicht vor die Tür.« Sie deutete nach draußen, wo der Regen von einer heftigen Windböe gegen die Scheiben eines vorüberfahrenden Busses geschleudert wurde.

Karl fügte sich seufzend in sein Schicksal, und ehe er sichs versah, hatte er den Lichterketten-Kuddelmuddel vor sich liegen und begann, das Durcheinander zu entwirren. Gerda schmiss inzwischen ihren CD-Player an, und es ertönte zur Dekoaktion passend Last Christmas von Wham. Die Melodie mitsummend, erneuerte sie die Batterien der singenden Rentiere-Truppe, die, nach einem Funktionstest, ihren Stammplatz auf Connie Francis einnehmen würden. Sie funktionierten mit einem Bewegungsmelder. Jedes Mal wenn jemand an ihnen vorbeiging, begannen sie fröhlich Jingle Bells zu dudeln und die Hüften zu schwingen. Nachdem sämtliche Batterien in den singenden Weihnachtsfiguren ausgetauscht waren, räumte Gerda die Weihnachtstassen auf das Regal über der alten Kaffeemaschine. Wer in der Adventszeit bei ihr einen Kaffee bestellte, bekam diesen stets in einer Schneemanntasse serviert, die sogar eine orange Plüschnase hatte. Es folgte ein Stapel weihnachtlicher Tischdecken, die für die Waschmaschinen gedacht waren.

Das Bimmeln der Türglocke erklang. Es war die aus Hamburg stammende Angelika Martin, die, einen Wäschekorb unter dem Arm, den Raum betrat und mit einer hochgezogenen Augenbraue ihren Blick durch den Raum schweifen ließ.

»Moin zusammen«, grüßte sie. Angelika war Mitte vierzig und hatte bis zur Taille reichendes schwarzes Haar, das Gerda stets voller Neid bewunderte. Sie arbeitete die Straße runter im Eintracht-Frankfurt-Fanshop, führte eine komplizierte Ehe und hatte stets Probleme mit ihrer frühreifen Teenagertochter. »Na, das nenn ich aber mal viel Tüddelkram. Vor lauter Kisten gibt es ja gar kein Durchkommen mehr. Da habt ihr noch ordentlich zu tun, würde ich sagen. Ich müsste meine Wäsche bei dir waschen, Gerda. Unsere alte Miele hat heute Früh keinen Ton mehr von sich gegeben. Ich hab Uwe schon angerufen, aber der schafft es erst morgen. Wenn er sie überhaupt wieder hinbekommt, immerhin ist sie Baujahr siebzig.«

»Könnte eng werden«, antwortete Gerda. »Für die alten Maschinen bekommt er kaum noch Ersatzteile. Aber vielleicht hast du ja Glück. Warte, ich räume rasch den Platz vor Elvis frei.« Sie schob eine der Kisten zur Seite und öffnete die Waschmaschinentür.

»Hab nur ich das Gefühl, dass das hier mit jedem Jahr mehr Weihnachten wird?«, fragte Angelika, während sie über die Kisten stieg, was mit ihren schwindelerregend hohen Absätzen kein einfaches Unterfangen darstellte. Wie Angelika es den ganzen Tag in den Mördertretern aushielt, würde Gerda für immer ein Rätsel bleiben. Ihr taten nach einem Tag im Waschsalon die Füße selbst in ihren Gesundheitslatschen weh.

»Du kennst mich doch«, antwortete Gerda. »Ich muss jedes Jahr was Neues haben, und wegwerfen kann ich auch nix. Magst du einen Kaffee? Ich hab auch Lebkuchen, die guten Nürnberger. Geht heute ausnahmsweise aufs Haus.«

»Ich würde schrecklich gern bleiben«, antwortete Angelika, während sie ihre Buntwäsche in die Maschine verfrachtete. »Aber ich bin heute allein im Laden. Unser neuer Mitarbeiter Torben hat angeblich schon wieder eine Erkältung.« Sie rollte die Augen. »Wer’s glaubt. Erst neulich hab ich ihn an einem seiner angeblichen Krankentage in einer Kneipe im Bahnhofsviertel gesehen. Wenn das mit ihm so weitergeht, muss ich ihn wohl beim Chef hinhängen. Wer saufen kann, kann auch arbeiten, so war das zu unseren Zeiten. Die jungen Leute von heute sind allesamt verweichlicht.«

Sie kippte Waschpulver und Weichspüler in die Maschine und stellte sie an. »Aber später komme ich gern noch auf ein Schwätzchen vorbei«, sagte sie. »Ich brauch nämlich dringend deinen Rat. Johannes hat sich gemeldet. Er will es doch tatsächlich noch einmal versuchen, und er hat mir vorgeschlagen, dass wir zur Eheberatung gehen.« Sie betrachtete Elvis mit skeptischer Miene, denn er gab keinen Mucks von sich. »Geht der auch?«, fragte sie.

»Gib ihm etwas Zeit«, antwortete Gerda. »Er ist nicht mehr der Jüngste.«

Im nächsten Moment begann sich die Trommel zu drehen. »Sollte er wieder im Vorwaschgang hängen bleiben, hau ich für dich obendrauf«, meinte Gerda.

Angelika bedankte und verabschiedete sich.

Nachdem sich die Ladentür hinter ihr geschlossen hatte, fragte Karl: »Denkst du, das wird noch mal was mit den beiden? Ich meine, ich würde es ihnen ja wünschen, aber wie oft ist er ihr inzwischen fremdgegangen?«

»Dreimal«, antwortete Gerda und seufzte besorgt. »Aber Angelika liebt ihn, also wird sie ihm auch dieses Mal verzeihen und ihn zurücknehmen. Das Herz und der Verstand sind sich eben nicht immer einig.«

Der letzte Satz passte zu ihrem eigenen Gefühlsleben, und ihre Gedanken wanderten zu dem einzigen Mann, den sie jemals im Leben wirklich geliebt hatte. Dem Mann, der der Grund dafür war, weshalb sie jedes Jahr aufs Neue ihren Waschsalon in eine bunte und blinkende Weihnachtswunderwelt verwandelte. Weil sie wusste, dass er die Lichter zur Weihnachtszeit gernhatte. Und weil sie hoffte, dass er sie eines Tages sehen würde.

Frankfurt, Ende November 1963

»Wieso habt ihr keine Christmas-Lichter?«, fragte Jason und ließ seine blauen Augen durch den trostlos erscheinenden Waschsalon schweifen. Nur ein von Roswitha lieblos dekorierter Adventskranz mit vier roten Kerzen und Schleifen erinnerte daran, dass die Adventszeit begonnen hatte. »Zu Weihnachten gehören sie doch ebenso wie der Truthahn und die Christmas Singers. In Amerika leuchtet jedes Haus in bunten Farben. Und der schönste Christmas-Baum von allen, der alles überstrahlt, befindet sich am Rockefeller Center in New York City. Früher bin ich mit meinem Großvater jedes Jahr dort gewesen, wenn zum ersten Mal die Lichter eingeschaltet wurden. Es war wie ein Wunder, so schön.«

»Mama hält nichts von Lichterketten«, antwortete Gerda. »Für sie zählen nur echte Kerzen, auch am Baum.«

»Das klingt traurig«, entgegnete er. »Ich mag die Lichter zu dieser Zeit so gern, denn sie erhellen die Dunkelheit und wärmen die Herzen.« Er zwinkerte ihr zu, und Gerda schmolz dahin. Jason hatte keine Vorstellung davon, wie sehr er ihr Innerstes bereits mit seiner bloßen Anwesenheit im Salon durcheinanderwirbelte. Er war so anders als die Jungen, die sie bisher kennengelernt hatte, charmanter, seine Ausstrahlung war umwerfend. Er war kein einfacher Frankfurter Bub, sondern ein Mann von Welt, der den von Gerda so vergötterten Filmschauspielern ähnelte. Seitdem er sie an jenem Novemberabend beim Tanzen ertappt hatte, kam er beinahe jeden Abend um dieselbe Zeit in den Waschsalon, und er hatte tatsächlich immer Schmutzwäsche dabei, die er bevorzugt in Marilyn wusch. Wo er die Wäsche ständig herzauberte, war Gerda ein Rätsel. Extra für ihn putzte sie sich jeden Tag heraus. Sie toupierte ihr Haar noch etwas mehr, übertrieb es mit dem Parfüm und trug die einzigen Pumps in ihrem Besitz, obwohl sie an den Fersen scheuerten. Sobald ihre Mama am Nachmittag die Treppe nach oben gegangen war, begann das Hoffen darauf, dass er kommen und sie im Laden allein sein würden. Bedauerlicherweise hatte dies nur an ihrem ersten Abend für wenige Minuten funktioniert. Immerhin kannte sie schon seinen Namen und wusste, dass er aus New York City kam und in Frankfurt studierte. Diese Dinge hatte sie jedoch nur deshalb erfahren, weil er sich neulich mit einem Kommilitonen während des Wartens auf die Wäsche unterhalten hatte. Aber vielleicht wären sie ja bald noch einmal ungestört zu zweit, und vielleicht würde er sie dann fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde. Zum Tanz oder ins Kino. Er musste sie einfach fragen.

»Die Maschine ist fertig«, meldete sich Annette Langner zu Wort, eine ihrer Stammkundinnen, die bereits seit dem Eröffnungstag ihre Wäsche bei ihnen wusch. Sie wohnte schräg gegenüber vom Waschsalon im ersten Stock und hatte im Sommer einen ehemaligen Schulkameraden von Gerda, Thomas, den Klassenclown, geheiratet. Er arbeitete jetzt als Klempner und sie in dem Kurzwarengeschäft der alten Drießbach, die bereits halb blind und taub war und irgendwann noch mal an ihrem eigenen Geiz ersticken würde, so drückte sich Annette jedenfalls aus. »Was macht das?« Sie öffnete die Maschine und beförderte die nasse Wäsche in ihren Korb.

Gerda kassierte ab, und nachdem Annette gegangen war, war endlich der ersehnte Moment gekommen. Sie und Jason waren allein im Salon. Er saß vor Marilyn und hatte die Nase in ein Buch gesteckt. Selbst im Sitzen sah er elegant aus, lässig hatte er die Beine übereinandergeschlagen. Was er las, konnte sie nicht sehen, aber allein die Tatsache, dass er es tat, gefiel ihr, denn sie las ebenfalls ganz gern. Zwar keine hohe Literatur, sondern schmalzige Liebesromane, aber der Inhalt des Buches war ja nicht so wichtig. Das Lesen war eine Gemeinsamkeit, und darauf kam es an.

Gerda überlegte, ob sie fragen sollte, was er las, entschied sich jedoch dagegen. Was war, wenn sie damit nichts anfangen konnte? Dann würde sie am Ende dumm dastehen.

Es fiel ihr mit jeder vergehenden Minute schwerer, ihre Ungeduld im Zaum zu halten. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für ihn gewesen, sie nach einer Verabredung zu fragen. Bestimmt war er ein guter Tänzer. So elegant, wie er sich allein schon beim Gehen bewegte. Sie schloss die Augen und gab sich einen Moment dem Tagtraum hin, in seinen kräftigen Armen zu einer romantischen Melodie durch den Waschsalon zu schweben. Es war das laute Poltern eines am Salon vorüberfahrenden Lastwagens, das ihre Fantasie rasch beendete.

Jason war immer noch in sein Buch vertieft, und Gerda hatte das Gefühl, dass eine seltsame Form von Anspannung im Raum hing. Sie begann zu zweifeln. Vielleicht wollte er ja doch nichts von ihr? Vielleicht hatte er tatsächlich viel Schmutzwäsche und kam deshalb täglich in den Salon. Gerda bebte innerlich. Am Ende würde er gar nicht mehr kommen, weil all seine Wäsche sauber war. Und dann würde sie ihn niemals im Leben wiedersehen. Das durfte nicht sein! Gerda fiel ein Spruch einer ehemaligen Nachbarin wieder ein. Der alten Rosi, bei der Gerda häufig als Kind gewesen war, wenn ihre Mama in der Wäscherei hatte arbeiten müssen. »Mädchen«, hatte sie gesagt. »Nimm dein Glück selbst in die Hand. Wer zu lange wartet, wartet am Ende umsonst.« Also nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte: »Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es viele Lichter. Sie sind zwar nicht bunt, und der Baum am Römer ist bestimmt nicht so schön wie der, von dem du erzählt hast, aber es ist nett dort. Wenn du magst, können wir nachher zusammen hingehen. In einer halben Stunde hab ich Feierabend.« Sie sah ihm in seine wunderschönen Augen und flehte innerlich, dass er zusagen würde.

»Da hatten wir dieselbe Idee«, antwortete er und schenkte ihr erneut dieses umwerfende Lächeln, das Gerda alles andere um sich herum vergessen ließ. »Ich gehe gern mit dir auf den Christmas Market. In einer halben Stunde ist auch meine Wäsche fertig.« Er deutete lächelnd auf Marilyn, die sich bereits am Ende des Hauptwaschgangs befand.

»Ja, das ist sie«, antwortete Gerda innerlich jubilierend. Jetzt musste sie nur noch planen, wie sie von Zeugen ungesehen mit Jason auf den Weihnachtsmarkt kam. Denn es wäre nicht auszudenken, was passieren würde, sollte ihre Mutter von diesem Ausflug erfahren.

3. Kapitel

30. November 2008

Die weiteren Aussichten«, tönte die Stimme des Moderators aus dem Radio: »In den nächsten Tagen erwarten wir Höchstwerte von fünf bis sieben Grad und immer wieder leichte Regenfälle, Schnee ist bedauerlicherweise nicht in Sicht.«

»Der wird auch nicht mehr kommen«, kommentierte Vanessa den Wetterbericht. »Langsam habe ich das Gefühl, dass wir uns in Frankfurt endgültig von der Vorstellung eines kalten und schneereichen Winters verabschieden müssen. Und derweil hab ich es so gern, wenn es schneit. Vielleicht sollte ich doch irgendwann umziehen. Nach Bayern, oder besser gleich nach Österreich. Da liegen ja immer Unmengen von Schnee in den Bergen.«

»Hm«, gab Gerda zur Antwort, die sich damit beschäftigte, die Kaffeebecher zu spülen. Eigentlich hatte sie für heute den Laden längst schließen wollen, denn es stand ihr traditioneller Besuch des Weihnachtsmarkts an, und sie wollte sich längst fertig machen. Bedauerlicherweise machte Vanessa jedoch keine Anstalten zu gehen. Es schien irgendetwas im Busch zu sein. Vanessa nahm sich einen weiteren Keks.

»Was ist los?«, fragte Gerda freiheraus.

»Timo will mich tatsächlich zurückhaben, und ich weiß nicht, was ich tun soll«, rückte Vanessa mit der Sprache heraus.

Gerda versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie hatte geahnt, dass der Wind aus dieser Richtung wehte. Vanessa und Männer, das war und blieb kompliziert.

»War Timo nicht der mit den reichen Schicksen?«, hakte sie vorsichtshalber noch einmal nach.

Vanessa nickte. »Aber er hat mir fest versprochen, dass er sich bessern will. Neben seinem Studium arbeitet er jetzt in so einer Jugendeinrichtung in Offenbach.«

»Das hört sich solide an«, meinte Gerda. »Obwohl es schon bitter ist, dass er ausgerechnet in Offenbach arbeitet. Da geht ein anständiger Frankfurter doch nicht hin. Aber wir wollen mal nicht ganz so kleinlich sein. Was denkst du? Lügt er dich an, oder sagt er die Wahrheit? Und was noch wichtiger ist: Liebst du ihn?«

»Ich glaub schon, dass er die Wahrheit sagt«, antwortete Vanessa. »Und natürlich lieb ich ihn, das weißt du doch. Aber ich frage mich, ob ich es noch ein weiteres Mal ertragen kann, betrogen zu werden. Er hat mir schon einmal das Herz gebrochen.« In ihre Augen traten Tränen, und Gerda seufzte innerlich. Es war schon seltsam, dass so viele Frauen aus der Nachbarschaft ausgerechnet zu ihr kamen mit ihren Fragen zu Beziehungen und ihrem Liebeskummer. Eigentlich müssten sie doch alle wissen, dass Gerda in solchen Dingen keine gute Ratgeberin war. Immerhin war sie alleinstehend, nie verheiratet gewesen, und der einzige Mann, für den sie jemals im Leben etwas empfunden hatte, war nach einem vierwöchigen weihnachtlichen Liebestraum auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwunden. Erst neulich hatte sie mit Karl über die Thematik »Liebesberatung« gesprochen, und er meinte, dass es vielleicht ihre mütterliche Ausstrahlung war, die die Frauen zu ihr lockte. Und sie konnte gut zuhören. Zudem funktionierten ihre Ratschläge meist. Über die Jahrzehnte hinweg hatte sie durch ihre Tipps einigen Paaren zum Liebesglück verholfen. Vielleicht sollte sie für ihre Beratungen Geld nehmen. Das taten Psychiater schließlich auch. Sie verwarf den Gedanken als allzu geschäftstüchtig und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Vanessa, die sich gerade mit einem Taschentuch die Augen abtupfte. Ihr Make-up war nun ganz verwischt.

»Herzchen«, sagte Gerda in einem milden Tonfall. »Du hast dir die Antwort doch gerade selbst gegeben. Du kannst es kein weiteres Mal ertragen, das Herz gebrochen zu bekommen. Also solltest du bei einem Mann wie diesem Timo auf der Hut sein, Liebe hin oder her.«

»Das weiß ich doch«, antwortete Vanessa. »Aber du weißt ja, wie das ist. Er will mir nicht aus dem Kopf gehen. Allein schon deshalb nicht, weil er mir ständig Nachrichten schickt.« Als wollte Timo sich nun ebenfalls zu Wort melden, piepte in diesem Augenblick Vanessas Handy in ihrer Tasche. »Das ist er bestimmt. Er fragt ständig, ob wir uns heute Abend sehen könnten. Was soll ich ihm denn jetzt antworten?« Fragend sah Vanessa Gerda an.

In diesem Moment verfluchte Gerda mal wieder die überall herumschleppbaren Telefone. Sie wusste schon, warum sie sich so eine Fessel nicht ans Bein band. Diese dauerhafte Erreichbarkeit war in ihren Augen nicht gesund. Aber ihre Meinung zu den Errungenschaften moderner Technik war in diesem Moment nicht gefragt. Es benötigte Fingerspitzengefühl. Gerda ahnte, dass, sollte Vanessa sich mit diesem Timo einlassen, sie in wenigen Wochen als Betrogene wieder heulend in ihrem Salon sitzen würde, und dann bräuchte es eine ganze Menge mehr Schoko-Cookies, um sie zu trösten. Aber ein einfacher Rat ihrerseits half vermutlich auch nicht weiter. Sie überlegte kurz, dann fragte sie: »Was schreibt er denn?«

Vanessa zückte das Handy und zeigte Gerda die Nachricht. Er fragte, ob sie zu ihm nach Hause kommen wolle, er wollte für sie kochen. Ihr Lieblingsgericht. Spaghetti Carbonara. Sogleich gingen bei Gerda sämtliche Alarmglocken an.