Die Schneegans - Paul Gallico - E-Book

Die Schneegans E-Book

Paul Gallico

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Beschreibung

Die Große Marsch ist ein unwirtlicher Landstrich an der Küste von Essex, in den sich selten ein Mensch verirrt. Hierhin, in die Ruine eines verlassenen Leuchtturms, hat sich der äußerlich entstellte Kunstmaler Philip Rhayader zurückgezogen, mit den Wasservögeln, die in den Sümpfen überwin­tern, als einzige Gesellschaft. Bis eines Tages ein junges Mädchen den Strand entlangläuft, im Arm eine verletzte kanadische Schnee­gans. Während Philip und Fritha, die im nahe gelegenen Fischerdorf wohnt, den Vogel aufpäppeln, entsteht zwischen ihnen ein einzigartiges Band. Wie in seiner preisge­krönten Novelle Schneegans erzählt Paul Gallico auch in Ludmila vom einfachen Leben, in dem sich Großes ereignet: Eine arme Familie erhofft sich vom Kauf einer Kuh, ihr Einkommen aufzubessern. Aber ihre Ersparnisse reichen nur für die schmäch­tige Ludmila, die keine Milch geben will. Unerwartet wendet sich das Schicksal zum Guten. Die Schneeflocke ist eine Meditation über den Kreislauf des Lebens und die Bedeutung eines jeden Elementes darin.

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Seitenzahl: 165

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Paul Gallico

Die Schneegans

Aus dem Englischen von Jutta und Theodor Knust Karin von Schab

Kampa

Die Schneegans

Eine Erzählung

1

Die Große Marsch erstreckt sich an der Küste vonEssex zwischen dem Dorf Chelmbury und dem kleinen Fischerort Wickaeldroth, dem altsächsischen Weiler der Austernfischer. Es ist einer der wenigen Landstriche in England, die noch nicht besiedelt und noch nicht kultiviert sind – eine weit ausgedehnte Niederung, in der nur Riedgras und Schilf wachsen –, und die Wiesen, die halb unter Wasser stehen, enden im Schlamm und Schlick des salzigen Schwemmlands und in den Tidenteichen der rastlosen See.

Den Gezeiten unterworfene Wasserläufe und Buchten und die mäandernden Arme zahlreicher kleiner Flüsse, die trichterförmig in den Ozean münden, durchschneiden das sumpfige Land, das bei jedem Wechsel von Ebbe und Flut zu atmen scheint, weil es dann sichtbar einsinkt oder ansteigt. Es ist eine sehr öde Gegend, unendlich einsam, und sie wirkt noch einsamer durch die Rufe und Schreie der wilden Vögel, die dort in der Marsch und den überschwemmten Salzwiesen überwintern – der Wildgänse und der Möwen, der Krickenten und der Pfeifenten, der Rotschenkel und der Brachvögel, die sich von Tümpel zu Tümpel ihre Nahrung suchen. Menschen wohnen dort nicht und sind dort auch kaum je zu sehen, außer gelegentlich ein Jäger, der es auf die Wildenten oder Wildgänse abgesehen hat, oder ein paar einheimische Austernfischer, die dort einem Gewerbe nachgehen, das schon eine alte Tradition war, als die Normannen nach Hastings kamen.

Fahlgrau, Mattblau und Blassgrün sind die Farben der Landschaft, denn in den langen Wintern, wenn der Himmel ganz verhangen ist, spiegeln die weiten Buchten und die vielen Moorlachen nur diese kalten, düsteren Farben wider. Zuweilen aber, bei Sonnenaufgang oder bei Sonnenuntergang, werden Land und Himmel von einem rotgoldenen Feuerschein überflammt.

An einem der gewundenen Arme des Flusses Aelder erhebt sich glatt und fest, ohne irgendeinen Riss, der Damm eines alten Strandwalls – ein Bollwerk des Landes gegen das vordringende Meer. Etwa drei Meilen weit von der Nordsee entfernt zieht er sich tief in das angeschwemmte Land hinein und verläuft dann weiter Richtung Norden. An diesem Knick ist der Wall ausgehöhlt, eingesackt und durchgebrochen, und das nimmersatte Meer ist an der Bruchstelle eingedrungen und hat sich das Land, den Wall und alles, was da stand, einverleibt.

Bei Ebbe ragen die geschwärzten und zerfallenen Steine der Ruine eines verlassenen Leuchtturms über dem Wasserspiegel auf, und da und dort, wie Bojen, die den Weg markieren, die Spitzen versinkender Zaunpfähle. Einstmals grenzte der Leuchtturm direkt ans Meer und war ein Warnzeichen an der Küste von Essex, doch die Zeit hat die Grenzen zwischen Land und Wasser verschoben, und der Leuchtturm war zu nichts mehr nütze. Erst in letzter Zeit diente er wieder einem Menschen als Behausung. Ein einsamer Mann lebte dort. Sein Leib war missgebildet, aber sein Herz schlug voller Liebe für wilde und gejagte Kreaturen. Er war hässlich anzuschauen, schuf jedoch Meisterwerke von großer Schönheit. Von ihm und einem Kind handelt diese Geschichte, einem Mädchen, das ihn kennen- und lieben lernte, weil es entdeckte, was sich hinter seinem grotesk entstellten Äußeren verbarg.

Es ist keine Geschichte, die sich so einfach der Reihe nach erzählen ließe. Sie ist aus vielen Quellen und von vielen Menschen zusammengetragen; manches nur in Bruchstücken, von Männern, die Zeuge eines ungewöhnlichen und dramatischen Geschehens wurden. Denn das Meer hat seinen Anspruch geltend gemacht und seine wellige Decke über den Schauplatz gebreitet, und der große weiße Vogel mit den schwarzen Flügelspitzen, der alles von Anfang bis Ende mit ansah, ist in das düstere Schweigen des eisigen Nordens zurückgekehrt, aus dem er hergekommen war.

2

Im späten Frühjahr 1930 hielt Philip Rhayader Einzug in dem verlassenen Leuchtturm an der Mündung der Aelder. Er kaufte den Turm und viele Morgen des Marsch- und Schwemmlands, das ihn umgab.

Das ganze Jahr hindurch lebte und arbeitete er dort allein. Er malte Vögel und Landschaften und hatte sich aus bestimmten Gründen von jeder menschlichen Gesellschaft zurückgezogen. Einige dieser Gründe wurden bei seinen Besuchen in dem kleinen Dorf Chelmbury ersichtlich, wo er alle vierzehn Tage seine Einkäufe machte und die Einheimischen seinen missgestalteten Körper und sein dunkles Gesicht mit scheelen Blicken musterten. Denn er hatte einen Buckel, und sein linker Arm war verkümmert und am Handgelenk so dünn und krumm, dass seine Finger aussahen wie die Krallen einer Vogelklaue.

Die Leute gewöhnten sich jedoch bald an seinen Anblick, die kleine, aber kräftige, verwachsene Gestalt, den großen Kopf, der nur ein bisschen tiefer zwischen seinen Schultern saß als der unheimliche Höcker auf seinem Rücken, und auch an das dunkle Haar, das bärtige Gesicht mit den glühenden Augen und seine Klauenhand; und sie sprachen von ihm nur als »diesem sonderbaren Kunstmaler, der da unten im Leuchtturm haust«. Körperliche Missbildungen bringen eine Person oft dazu, alle menschlichen Wesen zu hassen. Rhayader aber empfand keinen Hass; er liebte die Menschheit, die Tiere und die Natur von ganzem Herzen und war voller Mitleid und Verständnis für jedes Lebewesen. Er hatte sich mit seiner Benachteiligung abgefunden, aber über die Zurückweisungen, die er aufgrund seiner äußeren Erscheinung erlitt, kam er nicht hinweg. Dass die Wärme des Empfindens, die von ihm ausstrahlte, nirgendwo Erwiderung fand, war der eigentliche Grund, der ihn in die selbst gewählte Verbannung getrieben hatte. Frauen stieß er ab. Männer hätten ihm Sympathie entgegengebracht, wenn sie ihn näher gekannt hätten. Doch es verletzte Rhayader schon, wenn jemand in diese Richtung eine Anstrengung unternahm. Er mied Menschen, die sich um ihn bemühten. Als er in die Große Marsch kam, war er siebenundzwanzig Jahre alt. Er war viel gereist und hatte tapfer mit sich gekämpft, bevor er den Entschluss fasste, sich aus einer Welt zurückzuziehen, an der er nicht teilhaben konnte wie andere Männer. Denn bei all seiner Empfindsamkeit als Künstler und trotz der Zärtlichkeit, die er in seiner Brust verschloss, war er doch ein sehr männlicher Mann.

In seiner Einsamkeit hatte er wenigstens seine Vögel, seine Malerei und sein Boot. Er besaß eine Jolle, die er mit wunderbarem Geschick zu segeln verstand. Allein, wenn ihm niemand zusah, wusste er seine deformierte Hand gut zu gebrauchen, und oft benutzte er auch seine starken Zähne, um die Segel, wenn sie sich in einer tückischen Bö gar zu heftig blähten, schnell ein wenig zu reffen.

Er segelte die Aelder und die anderen Flussmündungen hinab und hinaus in die offene See. Oft blieb er tagelang draußen, hielt nach unbekannten Vogelarten Ausschau, um sie zu fotografieren oder zu zeichnen, und fing sie auch geschickt mit dem Netz. Er ergänzte seine Sammlung gezähmter Wildgänse und Wildenten immer weiter und hielt seine Vögel in einem Gehege dicht neben seinem Atelier, das den Mittelpunkt seines Zufluchtsortes bildete.

Doch nie schoss er einen Vogel, und er sah es äußerst ungern, wenn ein Jäger sich seinem Grundstück auch nur näherte. Er war ein Freund aller freien Geschöpfe, und die Tiere dankten es ihm, indem sie seine Freundschaft erwiderten.

In seinem Gehege hatte er viele Gänse gezähmt, die jeden Oktober von Island und Spitzbergen längs der Küste angeflogen kamen, in dichten Schwärmen, die den Himmel verdunkelten und die Luft mit dem Rauschen ihrer Flügel erfüllten – die braunleibigen Rotfüßer, weißbrüstige Ringelgänse mit ihren dunklen Hälsen und Clownsmasken, die Nonnengänse mit den tiefschwarzen Rücken und viele Arten von Wildenten: Spießenten, Pfeifenten, Spitzenten, Krickenten und Löffelenten.

Einigen hatte er die Flügel gestutzt, damit sie dablieben und die wilden Gänsevögel, die alljährlich zu Anfang des Winters aus dem hohen Norden herkamen, anlockten und ihnen bedeuteten, dass es hier Futter und Geborgenheit gab.

Viele Hunderte kamen und blieben während der kalten Monate bei ihm, vom Oktober bis in die ersten Frühlingstage hinein. Dann zogen sie wieder nordwärts zu ihren Brutstätten nahe der Eisgrenze.

Wenn es stürmte oder bitterkalt und die Nahrung knapp war oder in der Ferne die Flinten der Jäger losknallten, freute Rhayader sich darüber, dass seine Vögel sich in Sicherheit befanden; dass er diese vielen wilden und schönen Geschöpfe, die ihn kannten und ihm vertrauten, in die Geborgenheit einer Zufluchtsstätte und unter seinen Schutz gebracht hatte.

Wohl folgten sie im Frühjahr dem Ruf des Nordens, doch im Herbst kamen sie zurück, schnatterten, schrien und trompeteten in den Oktoberhimmel, umkreisten den Leuchtturm wie eine Wendemarke und ließen sich dann auf der Erde nieder, um wieder seine Gäste zu sein – Vögel, an die er sich aus dem Vorjahr noch so gut erinnerte, dass er sie alle wiedererkannte.

Und das machte Rhayader glücklich, weil er wusste, dass das Wissen um seine Existenz und den sicheren Hafen, den er ihnen bot, ihnen irgendwo eingepflanzt war; dass diese Kenntnis ihnen nun innewohnte und sie, sobald der Himmel sich verdüsterte und der eisige Wind vom Norden kam, unfehlbar zu ihm zurückführen würde.

Darüber hinaus legte er alles, was ihm Herz und Seele bewegte, in die Bilder, die er von der Landschaft malte, in der er mitten unter ihren Geschöpfen lebte.

Es sind uns nicht viele seiner Bilder erhalten geblieben. Er hütete sie eifersüchtig und stapelte Hunderte von ihnen in seinem Leuchtturm und dem Speicher über seinem Atelierraum, weil sie ihn nicht befriedigten. Als Künstler war er in seiner Strenge gegen sich selbst unerbittlich.

Aber die wenigen Bilder, die auf den Markt gelangten, sind Meisterwerke, in denen sein Pinsel nicht nur die Farben des vom Moor reflektierten Lichts, sondern auch den Geruch der salzhaltigen kalten Luft, die Einsamkeit und das Zeitlose der Marschlandschaft eingefangen hat. Und immer wieder malte er die wilden Vögel – wie sie die gefiederte Brust in den Morgenwind recken, der die hohen Schilfgräser niederbeugt, wie sie aufgeschreckt die Flügel spreizen, sich bei Tagesanbruch zum Himmel emporschwingen und sich nachts, geflügelten Schatten gleich, vor dem Mond zu verbergen versuchen.

3

An einem Novembermorgen, drei Jahre nachdem Rhayader in die Große Marsch gekommen war, ging ein Kind den Strandwall entlang auf den Leuchtturm zu; ein Mädchen, das im Arm eine schwere Last trug.

Sie war nicht älter als zwölf und schreckhaft und scheu wie ein Vogel, und ihr Gesicht schrie förmlich nach Wasser und Seife, so schmutzig sah es aus, und dennoch war sie von einer feenhaften Schönheit – wie eine Moorelfe. Sie entsprach genau dem Bild einer heranwachsenden angelsächsischen Schönheit, schlank, schmalgliedrig, blond, mit einem Kopf, zu dem ihr Körper erst noch heranreifen musste, und tief liegenden veilchenblauen Augen.

Sie hatte entsetzliche Angst vor dem hässlichen Mann, den sie aufsuchen wollte, denn um Rhayader hatten sich schon Legenden gebildet, und die einheimischen Jäger hassten ihn, weil er ihrem wilden Jagdeifer Grenzen setzte.

Doch größer als ihre Furcht war die Not des Lebewesens, das sie mit sich schleppte. Und in ihrem Kinderherzen lebte die Gewissheit, dass dieser unheimliche Fremdling, der da in dem Leuchtturm hauste, die Zauberkraft besaß, Wunden zu heilen; denn sie hatte die Leute im Dorf davon reden hören.

Sie hatte Rhayader noch nie gesehen, und als er, von ihren Schritten angelockt, im Türrahmen erschien, war sie drauf und dran, davonzulaufen, so große Angst hatte sie vor dieser finsteren Gestalt mit dem dunklen Haar und Bart, dem grässlichen Höcker und der verkümmerten Hand.

Sie stand da und starrte ihn an, als wollte sie im nächsten Augenblick die Flucht ergreifen – wie ein aufgescheuchter Vogel.

Seine tiefe Stimme klang jedoch sehr freundlich, als er sie jetzt anredete. »Was hast du denn da gefunden, Kind?«

Sie harrte tapfer aus und trat nun schüchtern ein paar Schritte vor und zeigte ihm, was sie im Arm trug: einen großen weißen Vogel, der keinen Laut von sich gab und sich ganz still verhielt. Frische Blutflecken verschmierten sein weißes Gefieder und auch ihre Jacke, wo sie ihn an sich gepresst hatte.

Das Mädchen legte Rhayader den Vogel in die Arme. »Ich hab ihn gefunden. Er ist sicher schwer verletzt. Lebt er überhaupt noch?«

»O ja. Ja, ich glaube schon. Aber komm doch herein, Kind, komm nur rein.«

Rhayader trug den Vogel, der sich jetzt schwach bewegte, in sein Atelier und legte ihn dort auf den Tisch. Die Neugierde war noch stärker als die Furcht, und so folgte ihm das Mädchen in den von einem Kohlenfeuer erwärmten Raum, an dessen Wänden viele bunte Bilder hingen und in dem es so sonderbar, aber angenehm roch.

Der Vogel zuckte unruhig. Mit seiner gesunden Hand spreizte Rhayader eine der mächtigen weißen Schwingen, deren Spitzen dekorativ von schwarzen Federn gesäumt waren.

Rhayader blickte den Vogel bewundernd an und sagte: »Wo hast du den nur gefunden, Kind?«

»Im Moor, wo die Jäger waren. Was … was ist das für ein Vogel?«

»Eine Schneegans aus Kanada. Aber wie in aller Welt mag sie nur hierhergekommen sein?«

Der Name Kanada schien dem kleinen Mädchen nichts zu sagen, aber die tiefblauen Augen leuchteten hell aus dem schmutzigen schmalen Gesicht und starrten besorgt auf den verletzten Vogel.

»Kannst du ihn heilen?«, fragte sie.

»Ja, ja«, sagte Rhayader. »Wir wollen mal sehen, was wir da tun können. Komm, du kannst mir helfen.«

Schere, Mullbinden und Schienen lagen griffbereit auf einem Regal, und er zeigte sich erstaunlich geschickt, als er den Verband anlegte, selbst mit seiner missgebildeten Hand, die er immerhin dazu gebrauchen konnte, um etwas festzuhalten.

»Oh, sie wurde angeschossen, das arme Tier«, sagte er, »das eine Bein ist gebrochen und die eine Flügelspitze auch, aber nicht schlimm. Siehst du, wir stutzen ihr die Schwungfedern, weil der Verband sonst nicht halten würde, aber im Frühjahr werden ihr neue Federn wachsen, und dann wird sie bald wieder fliegen können. Wir binden ihr den Flügel ganz dicht am Bauch fest, sodass sie ihn nicht bewegen kann, bevor der Bruch verheilt ist. Und dann schienen wir das kranke Bein.«

Die Kleine hatte ihre Angst völlig vergessen und schaute ihm gebannt bei seiner Arbeit zu, und ihr Zutrauen wuchs noch, als er ihr, während er das gebrochene Bein kunstvoll schiente, eine wunderschöne Geschichte erzählte.

Die Gans war noch jung, höchstens ein Jahr alt. Sie war im hohen Norden geboren, in einem Land, das weit fort, weit jenseits des Meeres lag und doch mit England eng verbunden war. Um dem Schnee, dem Eis und der bitteren Kälte zu entgehen, war sie nach Süden geflogen, und da hatte ein gewaltiger Sturm sie gepackt und herumgewirbelt und vor sich hergetrieben. Es war wirklich ein furchtbarer Sturm gewesen, viel stärker als ihre großen Flügel, stärker als alles, was sie kannte. Tage und Nächte lang hielt er sie in seinem eisernen Griff, und es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich vor ihm herwehen zu lassen. Und als er sich endlich ausgetobt und ihr sicherer Instinkt sie wieder nach Süden geführt hatte, befand sie sich plötzlich über einem ganz fremden Land, unter lauter Vögeln, wie sie noch nie welche gesehen hatte. Schließlich hatte sie sich, völlig erschöpft von der schrecklichen Anstrengung, auf eine einladend grüne Marschwiese niedergelassen, nur um dort von der Flinte eines Jägers getroffen zu werden.

»Welch böser Empfang für eine reisende Prinzessin«, schloss Rhayader seine Erzählung. »Wir wollen sie unsere verirrte Prinzessin nennen. Warte nur ab, in ein paar Tagen wird es ihr schon viel besser gehen. Schau!« Er griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Körner hervor. Da schlug die Schneegans ihre runden braunen Augen auf und begann zu fressen.

Die Kleine lachte fröhlich, als sie das sah, aber dann hielt sie plötzlich den Atem an, weil ihr mit einem Mal bewusst wurde, wo sie sich befand. Wortlos drehte sie sich um und rannte davon.

»Warte, warte doch!«, rief Rhayader und eilte ihr nach. Das Mädchen lief aber bereits den Strandwall hinunter, und so blieb er im Türrahmen stehen und rief nur wieder nach ihr. Als sie seine Stimme hörte, hielt sie inne und schaute zu ihm zurück.

»Wie heißt du denn eigentlich, Kind?«

»Frith.«

»Wie?«, fragte Rhayader. »Fritha, meinst du wohl. Und wo bist du zu Hause?«

»Bei den Fischern in Wickaeldroth«, erwiderte sie und sprach den Ortsnamen genau so aus, wie es die alten Angelsachsen getan hatten.

»Magst du morgen oder in den nächsten Tagen wiederkommen und nachschauen, wie es unserer Prinzessin geht?«

Sie zögerte unschlüssig, und Rhayader musste bei ihrem Anblick wieder an die wilden Wasservögel denken, die eine Schrecksekunde lang wie angewurzelt stehen bleiben, bevor sie davonfliegen.

Dann trug ihm der Wind ihre zarte Stimme zu: »Ah-jo!«

Und gleich darauf lief sie weiter, und ihr blondes Haar flatterte hinter ihr her.

Die Schneegans erholte sich schnell, und der Winter war noch nicht halb vergangen, da humpelte sie bereits im Gehege unter den rotfüßigen Gänsen umher, mit denen sie sich besser vertrug als mit den Ringelgänsen, und fand sich immer pünktlich ein, wenn Rhayader die Vögel zur Fütterung rief. Und die kleine Frith oder Fritha kam häufig zu Besuch. Sie hatte gar keine Angst mehr vor Rhayader. Ihre Phantasie war jetzt völlig in Anspruch genommen von der abenteuerlichen Reise dieser fremdartigen weißen Gänseprinzessin, die von weit her über das Meer gekommen war, aus einem Land, das ganz rosa aussah! Das hatte sie auf der Landkarte, die Rhayader ihr zeigte, gesehen und hatte darauf mit dem Finger den langen Weg verfolgt, den die Schneegans von ihrer Heimat in Kanada bis zur Großen Marsch in Essex zurückgelegt hatte.

An einem Junimorgen folgte dann auch eine Gruppe säumiger Rotfüßer – wohlgenährt von dem guten Futter, das sie in dem Gehege am Leuchtturm während des ganzen Winters bekommen hatte – dem zwingenden Ruf zu ihren Nistplätzen, erhob sich träge in die Luft und schwang sich immer höher und in immer weiteren Kreisen zum Himmel empor. Unter diesen Nachzüglern befand sich auch die Schneegans, deren weißer Leib mit den schwarzumrandeten Schwingen sich in der Morgensonne deutlich von den anderen Vögeln abhob. Zufällig war Frith gerade an dem Tag zu Besuch gekommen. Auf ihr Rufen hin kam Rhayader aus seinem Atelier gelaufen.

»Schau doch! Die Prinzessin! Fliegt sie nun fort?«

Rhayader starrte zu den sich immer weiter entfernenden Pünktchen hinauf. »Ah-jo«, sagte er und merkte gar nicht, dass er Frithas Sprechweise angenommen hatte. »Unsere Prinzessin fliegt heim. Hör nur! Sie ruft uns ein Lebewohl zu.«

Aus dem wolkenlosen Himmel drang der heisere Schrei der Rotfüßer zu ihnen herab, den die hellere und reinere Stimme der Schneegans noch übertönte. Die Vögel flogen jetzt nordwärts und gruppierten sich zu einem winzigen V, wurden zusehends kleiner und kleiner und entschwanden.

Seit die Schneegans heimgekehrt war, ließ auch Fritha sich nicht mehr beim Leuchtturm blicken, und Rhayader erfuhr von Neuem, was es hieß, einsam zu sein.

In diesem Sommer malte er aus dem Gedächtnis das Bild eines schlanken halbwüchsigen Mädchens, dessen blondes Haar über dem schmutzigen Gesicht vom Novemberwind zerzaust wurde und das in den Armen einen verletzten weißen Vogel trug.

4

Mitte Oktober geschah dann das Wunder. Rhayader stand gerade in seinem Gehege und fütterte seine Vögel. Ein scharfer Nordostwind wehte, und das Land seufzte unter der herandrängenden Flut. Aus dem Rauschen des Meeres und dem Heulen des Windes hörte Rhayader einen hellen hohen Ton heraus. Er schaute rechtzeitig genug zum Abendhimmel auf, um zunächst nur einen winzigen Punkt zu erblicken, dann aber war ihm, als habe er eine Vision von zwei schwarz-weißen Schwingen, die den Leuchtturm einmal umkreisten, und nun sah er, dass er nicht träumte und dass es wirklich ein lebendiger Vogel war, der sich da im Gehege auf der Erde niederließ und gewichtig angewatschelt kam, um gefüttert zu werden – so selbstverständlich, als wäre er nie fort gewesen. Ja, es war tatsächlich die Schneegans. Eine Verwechslung war gar nicht möglich. Vor Freude wurden Rhayaders Augen feucht. Wo mochte sie inzwischen gewesen sein? In Kanada gewiss nicht. Nein, sie musste den Sommer mit den Rotfüßern zusammen in Grönland oder auf Spitzbergen verbracht haben. Und nun hatte sie sich an ihr vorjähriges Winterquartier erinnert und war zurückgekehrt.

Als Rhayader das nächste Mal zum Einkaufen nach Chelmbury segelte, gab er der Postmeisterin einen Auftrag, der sie sehr überraschte. »Bestellen Sie doch Frith, die bei den Fischern in Wickaeldroth lebt«, sagte er, »dass die verirrte Prinzessin wieder da ist.«

Und drei Tage später tauchte eine Fritha, die zwar sichtlich größer geworden war, aber immer noch mit zotteligem, windzerzaustem Haar herumlief, wieder beim Leuchtturm auf, um die Schneegans zu begrüßen.



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