Der Krönungstag - Paul Gallico - E-Book

Der Krönungstag E-Book

Paul Gallico

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Beschreibung

2. Juni 1953, Elizabeth II. wird zur Königin ge­krönt. Familie Clagg aus Sheffield fährt mit dem Zug nach London, um die Feierlichkeiten aus nächster Nähe zu sehen. Will, der Vater, platzt vor Stolz: Dank guter Beziehungen ist es dem Stahlarbeiter gelungen, erstklassige Plätze an der Prozessionsstrecke vom Buckingham Palace zur Westminster Abbey zu ergattern. Außer der mürrischen Großmutter, die den Ausflug für Geldver­schwendung hält, sind sich alle einig: Für so ein Erlebnis, von dem man noch seinen Enkelkindern erzählt, verzichten sie sogar auf ihren Sommerurlaub. Der elfjährige Johnny freut sich auf die kö­nigliche Garde und die Kavallerie, seine Schwes­ter Gwendoline bewundert Elizabeth wie eine Märchenprinzessin, und Violet, die Mutter, kann kaum glauben, dass sie selbst den Luxus erleben darf, den sie sonst nur aus ihren Zeitschriften kennt. Doch in London angekommen stellt sich heraus: Die Karten sind gefälscht. Eine Katastro­phe! Vor allem für die Kinder. Trotzdem wird Der Krönungstag zu einem unvergesslichen Erlebnis – wenn auch ganz anders, als Familie Clagg es sich vorgestellt hat.

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Paul Gallico

Der Krönungstag

Roman

Aus dem Englischen von Robert Lucas

Oktopus

Die Räder des Coronation Special aus Sheffield, der am Krönungstag, dem 2. Juni 1953, um sechs Uhr früh im Londoner Bahnhof St Pancras eintreffen sollte, sangen das gleichmäßige, einschläfernde Dickety-clax, Dickety-clax der British Railways. Als die Lokomotive sich, während sie ihre schwere Ladung durch die Landschaft zog, einem Bahnübergang näherte, schickte sie ein hysterisches Kreischen in die nieselige Nacht. In dem Abteil der dritten Klasse, in dem die fünf Mitglieder der Familie Clagg und drei weitere Fahrgäste saßen, schlief niemand, obwohl die Großmutter die beiden Kinder immer wieder ermahnte, es doch zu versuchen, da ein langer, aufregender Tag vor ihnen lag.

Der eigenbrötlerische Herr mit der Melone, der in der Ecke saß, bemühte sich trotz allem einzunicken. Er hatte den Fensterplatz besetzt, auf den es der elfjährige Johnny Clagg, das ältere der beiden Kinder, abgesehen hatte. Johnny hätte gern dort gesessen, um durch die schmutzige, regennasse Fensterscheibe zu blicken und sich mit seiner lebhaften Phantasie alle möglichen Abenteuer in dieses Dunkel zu erträumen. Das gelegentliche Aufblitzen eines Autoscheinwerfers auf einer nahe gelegenen Straße brachte ihn dazu, sich in den waghalsigen Meldereiter zu verwandeln, der die Nachricht, die das Regiment retten würde, durch die feindlichen Linien trug. Um sich besser vorstellen zu können, wie er in der Finsternis durch einen feindlichen Kugelhagel raste, rückte er ganz nah an den Mann am Fenster heran. Immer wieder zog ihn seine Mutter mit den Worten zurück: »Johnny, stör doch den Herrn nicht, er möchte schlafen.«

Johnny seufzte und gehorchte. Die Erwachsenen, sei es Mummy oder die Großmutter, zertrümmerten seine Phantasiegebilde immer, wenn sie gerade am spannendsten waren.

Seine Schwester Gwendoline, die sieben Jahre alt war, blätterte in einer Broschüre mit Fotos der Königin, die an diesem Tag gekrönt werden sollte.

Sie trug ihr bestes Kleid, das ihr, obwohl man den Saum ausgelassen hatte, etwas zu klein war. Mrs Clagg hatte ihr rote, weiße und blaue Bänder in ihre zwei aschblonden Zöpfe geflochten, und die zusätzlichen Farbtupfen gaben ihrem Aussehen einen erstaunlichen Reiz. Mit den großen hellen Augen und Augenbrauen, die sie von ihrer Mutter hatte, und dem kräftigen Kinn ihres Vaters wirkte sie eher elfenhaft als hübsch.

Gwendoline dachte an nichts anderes als an Elisabeth die Zweite. Schon Wochen vor der Krönung hatte die Königin am Tag ihre Gedanken beherrscht und manchmal auch nachts ihre Träume; in einem war sie von ihr sogar umarmt und liebkost worden. Nach dem Aufwachen war sie damals still liegen geblieben und hatte an den wunderbaren Traum zurückgedacht, an das weiche weiße Gewand, das die Königin getragen hatte und an die Schmetterlingskrone auf ihrem Kopf. In einer Hand hatte sie einen Zauberstab gehalten, mit einem Stern am Ende, und sie hatte himmlisch geduftet.

Trotz des schwachen gelben Lichts der gedimmten Lampen in ihrem Abteil starrte Gwenny weiter fasziniert auf das Titelbild des Hefts. Sie beugte sich immer wieder vor und presste ihre Wange an die der lächelnden, mit einem Diadem gekrönten Königin auf der glatten Oberfläche des Hochglanzpapiers und flüsterte: »Ich liebe dich!«

Nicht dass es dem Kind an Zuneigung mangelte. Violet Clagg war eine liebevolle und warmherzige, wenn auch ständig müde und überarbeitete Mutter. Es war vielmehr so, dass sich in Gwendolines Vorstellung das Bild einer strahlenden, ungemein schönen, glanzvollen Übermutter herausgebildet hatte.

Manchen Zeichnern von Kinder- und Märchenbüchern gelingt es, bis zum Herzen eines Kindes vorzudringen und ihm ein Bild zu schenken, das in der ein oder der anderen Form ein Leben lang bestehen bleibt. So ein Wesen war für Gwendoline die Schmetterlingsprinzessin geworden, ein blasses, hauchdünnes Mädchen, das in einem ihrer Bücher das Volk der Falter regierte. Und abends im Bett, in ihren Einschlafphantasien, besuchte Gwendoline sie.

In letzter Zeit hatte Gwenny eine neue Liebe entdeckt: die Königin. Irgendetwas in all den Hunderten von Fotografien, die sie von ihr gesehen hatte – die zierliche Gestalt, das Lächeln, die stillen, ernsten Augen –, berührte ihr Herz. Und die Königin war Wirklichkeit. Sie lebte. Die Schmetterlingsprinzessin war nur eine bunte Zeichnung in einem Bilderbuch. In jenem magischen Vorgang, den nur Kinder kennen, waren Märchenprinzessin und Königin zu einer Einheit verschmolzen, und Gwennys geheimstes Sehnen wandte sich ihr zu wie eine Blume, die, sich auf ihrem Stängel drehend, das Gesicht zur Sonne hebt. Jetzt war sie auf dem Weg zu einem Rendezvous mit ihr.

Das Kind hob das Gesicht von dem Heft, um sich erneut zu vergewissern, dass es wirklich so war. Sie fasste ihre Mutter am Arm. »Werde ich sie wirklich sehen? Wird sie mich auch sehen können?«

Mit dem geübten Desinteresse und der mechanischen Reaktion von Müttern, die gelernt haben, mit mehr als einem Kind zurechtzukommen, antwortete Violet Clagg: »So ist es, Liebling«, und folgte weiter ihren eigenen Gedanken. Gerade konzentrierten sie sich auf die Vision einer in eine weiße Serviette gewickelte Flasche Champagner, die von einem livrierten Butler serviert wurde. Sie sah sich selbst, wie sie, den kleinen Finger elegant gekrümmt, ein langstieliges Glas in der Hand hielt. Der gelbe Wein schäumte nur so aus der Flasche heraus.

»Aber wie nah, Mummy? Wie nah wirklich?«

Violet Clagg wehrte sich gegen die Beharrlichkeit ihrer Tochter, so wie sie sich gegen alle Beharrlichkeiten wehrte, die ihrer Mutter – Großmutter Bonner –, die ihres Mannes und die noch harscheren Anforderungen des modernen Lebens, mit denen sie nicht fertig zu werden schien. Sie war eine schlichte, freundlich aussehende, abgekämpfte und erschöpfte Frau.

Filme und grelle Anzeigen in Frauenzeitschriften hatten sie an die Schwelle von Glanz und Luxus geführt, aber es war ihr nie vergönnt gewesen, diese Schwelle zu überschreiten, zumindest nicht bis zu diesem Abenteuer, auf das sie sich jetzt eingelassen hatten. Nur sehr wenig in ihrem Leben hatte je ihren Erwartungen entsprochen, und sie hatte sich in der Apathie der Enttäuschung eingerichtet. Sie konnte kaum glauben, dass das Muster nun durchbrochen werden sollte. Aber saß sie nicht wirklich und leibhaftig im Zug nach London, um Menschenmassen und Fahnen und Musikkapellen, schöne Kleider, Juwelen und Diademe zu sehen und die gekrönte Königin von England – und um aus einem besonderen Glas Champagner zu trinken?

»Wie nah, Mummy?«

Sie kapitulierte. »Na, fast so nah wie deinen Daddy. Du kannst ihr so zuwinken.« Sie nahm die Hand ihrer Tochter und streckte sie Will Clagg, ihrem Mann, quer durch den Wagen entgegen. Der erklärte gerade einem älteren Textilwarenhändler aus Salford und dessen Frau, wie es ihm gelungen war, fünf Fensterplätze in Wellington Crescent in der Nähe von Hyde Park Corner zu ergattern, dem besten Ort, um die Prozession zu sehen. Denn hier sollte sie, von Piccadilly kommend, in Wellington Place einbiegen und einen weiteren Schlenker machen, um über den East Carriage Drive in den Park zu ziehen, sodass man sie tatsächlich zweimal sah.

»Mein Cousin Bert aus London hat mir die Karten besorgt«, sagte er. »Wir dachten an Tribünenplätze, aber er hat gute Verbindungen. Er arbeitet für eine große Autovermietung.«

Großmutter Bonner, Mrs Claggs Mutter, der Prototyp aller Großmütter – stahlgraues Haar, das zu einem Knoten zusammengefasst war, wache, kritische Augen hinter einer stahlumrandeten Brille, dünner, vertrockneter, missbilligender Mund –, sagte, was sie jedes Mal sagte, wenn Berts Name fiel. Bert war Wills Cousin, gehörte also zur falschen Seite der Familie. »Von Berts guten Beziehungen wüsste ich nichts«, sagte sie. »Er wäscht die Wagen nur.«

Will Clagg blinzelte. Er war ein stämmiger, aber muskulöser Mann, so wie es sich für den Vorarbeiter am Schmelzofen Nr. 2 der Pudney-Stahlwerke, Great Pudney am Rande von Sheffield gehörte. Sein dunkler Sonntagsanzug und der Mackintosh gaben ihm ein noch plumperes Aussehen. Aber trotz seiner kräftigen Gestalt, seines dunklen Haars und seines Schnurrbarts hatte er etwas Liebenswertes, und eine Art unvergängliche Unschuld schimmerte in seinen blauen Augen. »Er hat sie uns besorgt, nicht wahr?«, sagte er und griff in die Innentasche seines Mantels, um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. »Wollt ihr mal sehen?«, fragte er.

Wie jedes Mal, wenn er die Karten zeigte, war die ganze Familie, sogar Großmutter Bonner, wie elektrisiert, und alle rückten näher, um ihre blau-goldene Majestät zu bewundern. Johnny kehrte aus der schwarzen Nacht da draußen zurück. Er hatte sein Motorrad gegen einen Panzer getauscht und stand gerade im Turm, um den Aufmarsch für einen Angriff im Morgengrauen zu befehlen. Die Großmutter wandte sich in ihrem Sitz um und blickte über ihre Brille. Violet Clagg fühlte, wie sich Stolz und Glück in ihrer Brust zu einer fast unerträglichen Süße vermengten. Selbst Gwenny riss sich für einen Moment von ihrer Beschäftigung mit den Bildern der Königin los.

»Hier sind sie!«, sagte Will Clagg, zog die Karten stolz aus seiner Brieftasche und reichte eine davon seinem Nachbarn.

Sie war aus steifem azurfarbenem Karton. Der Aufdruck war goldgeprägt und stand über einem großen E II R in der Mitte. Er lautete: Krönungsprozession 2. Juni 1953. Einlass für eine Person, Wellington Crescent 4, Hyde Park Corner, SW1, Fenster 1, Reihe A. Sitz 1. Ein weiterer Hinweis besagte, dass die Karte nicht übertragbar war, dass der Preis fünfundzwanzig Guineen betrug, Frühstück um acht Uhr und ein Mittagessen mit Champagner inbegriffen. Schließlich hieß es, dass die Räumlichkeiten von der Victoria Coronation Co. Ltd., Victoria Road 18, London SW1, gemietet worden waren.

Der Textilwarenhändler war nicht nur von der Eleganz der Karte beeindruckt, sondern auch von ihrem Preis. Er sagte: »Fünfundzwanzig Guineen! Du liebe Güte, das ist ein Haufen Geld!« Nach kurzem Kopfrechnen war er noch beeindruckter. Hunderfünfundzwanzig Guineen – das mussten für den Stahlarbeiter etwa zwei Monatsgehälter sein!

Die Erwähnung der fünfundzwanzig Guineen veranlasste den in der Ecke sitzenden Herrn mit der Melone, die Augen zu öffnen und blinzelnd die Pappkarten in Claggs Händen zu betrachten. Clagg aber blickte plötzlich so entsetzt, als hätte man ihn verdächtigt, die Bank of England ausgeraubt zu haben. »Wir haben nicht so viel dafür bezahlt!«, protestierte er, »gütiger Himmel, natürlich nicht! Bert hat sie dank seiner Beziehungen für zehn Pfund das Stück bekommen.«

Obwohl sie von den Eintrittskarten geblendet war, konnte sich die Großmutter nicht die Bemerkung verkneifen: »Ich möchte gern mal ein paar von Berts Beziehungen sehen.« Woraufhin Clagg ihn eifrig verteidigte: »Vielleicht wirst du das, wenn wir in London sind! Wahrscheinlich werden einige dieser hohen Tiere genau da sein, wo wir sitzen werden.«

Der Mann in der Ecke, der die Hakennase und Kulleraugen eines Papageis besaß, richtete sich auf und streckte plötzlich die Hand nach einer der Karten aus. Vielleicht hatte irgendwann einmal jemand versucht, ihm einen goldenen Ziegelstein zu verkaufen, oder er war einfach von Natur aus misstrauisch, jedenfalls untersuchte er das Ding so gründlich, wie es möglich war, ohne es in seine Bestandteile aufzulösen. Er inspizierte beide Seiten, hielt die Karte gegen das Licht und kratzte sogar für einen Augenblick mit seinem schmutzigen Fingernagel am Gold der Buchstaben, was Clagg zu dem erschrockenen Ausruf veranlasste: »He, lassen Sie das gefälligst bleiben!«

Ohne sich davon beirren zu lassen, betrachtete der Mann die winzige Goldspur, die jetzt an seinem Fingernagel haftete. Nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte, gab er Clagg die Karte mit den Worten zurück: »Erstklassig! Ziemlich gute Arbeit. Ich bin nämlich selbst im Druckereigewerbe tätig.«

Alle seufzten vor Erleichterung. Clagg hielt die Karte in der Hand und fuhr nun mit seinen eigenen dicken Fingern liebevoll über die erhabenen Buchstaben. »Möchten Sie sich’s mal ansehn?«, fragte er den Textilwarenhändler und seine Frau.

Sie nahmen jeweils eine und staunten über die Genüsse, die auf den Karten versprochen wurden, und auch über das glückliche Schnäppchen. Violet Clagg sagte: »Stellen Sie sich nur vor: Die Königin so nah zu sehen, wenn sie in ihrer goldenen Kutsche vorbeifährt! Da werden die Kinder ihren Kindern was zu erzählen haben, nicht wahr? Und noch ein Glas echten Champagner dazu!«

Die Frau des Textilwarenhändlers bemerkte: »Ich beneide Sie. Es wird ein Erlebnis, das man nicht vergisst. Wie Sie es einrichten konnten, dass Sie alle zusammen hinfahren können – das finde ich einfach wunderbar.«

»Nun«, sagte Will Clagg stolz, »so etwas ist nur möglich, wenn man eine Familie hat wie meine. Wir haben abgestimmt. Jahresurlaub am Meer oder zur Krönung nach London fahren?, habe ich gesagt. Das eine oder das andere. Beides ist unmöglich. Vier zu eins stimmten sie für die Krönung.«

»Ich habe nur gesagt, dass es mir wie Geldverschwendung vorkommt!«, warf die Großmutter scharf ein und beantwortete damit die unausgesprochene Frage der Zuhörer, von wem denn nun die Gegenstimme gekommen war. »Wo doch die Kinder ihre zwei Wochen am Meer verbringen sollten.«

Die Frau des Textilwarenhändlers meinte: »Aber jetzt sind Sie doch bestimmt froh, dass Sie hinfahren, oder nicht?«

So leicht wollte die Großmutter sich nicht geschlagen geben. »Das werden wir erst noch sehen«, sagte sie mürrisch.

Clagg lachte. »Wenn Granny mal im Himmel ist«, sagte er, »glaubt sie es nicht, bevor die Engel ihr bewiesen haben, dass ihre Flügel angewachsen sind und nicht bloß angeklebt!«

Einen Moment lang kniff die Großmutter ihre kleinen Augen hinter der Brille zu einem Ausdruck zusammen, der dem des Hasses so nahe kam, wie es ihr möglich war. Sie hatte es nicht gern, wenn man sie an den Himmel erinnerte, oder an die Auflösung, die für sie nun eine immer gegenwärtigere Möglichkeit war. Sie war dreiundsiebzig Jahre alt und natürlich anfällig für die Warnzeichen des Alters – ein Zwicken hier, ein Zwacken da, ein unerklärliches Wehwehchen, ein Schmerz. Die Ängste, die diese Alarmsignale in ihr auslösten, waren real genug. Siebzig Jahre waren die dem Menschen zugemessene Zeitspanne. Sie hatte sie um drei Jahre überschritten und meinte, dass sie sich in gewisser Weise gegen die Bibel vergangen hätte. Aber sie war von einer unstillbaren Neugier darauf erfüllt, was wohl der nächste Tag bringen würde. Außerdem wuchsen Johnny und Gwendoline heran, und ihr war die Aufgabe zugefallen, ihnen die althergebrachten Tugenden beizubringen. Kommandieren, das war ihr Leben.

Alle lächelten die Großmutter freundlich und amüsiert über Claggs Scherz an, denn jeder von ihnen hatte schon einmal eine alte Dame wie sie gekannt, und keiner ahnte, dass das Wort Himmel nicht nur Ärger in ihr ausgelöst hatte, sondern auch Angst. Behutsam, fast zärtlich, schob Clagg die Karten wieder in die Tasche.

Kein Mensch im Vereinigten Königreich wäre bestürzter, erstaunter und ungläubiger gewesen als Will Clagg, wenn man ihm gesagt hätte, dass der Grund, warum er seine Familie um sich versammelt hatte, um mit ihr zur Krönung nach London zu reisen, darin bestand, dass er sich in die Königin von England verliebt hatte.

Er war keineswegs der Einzige. Seit der Zeit Elisabeths der Ersten hatte keine solche Woge ritterlicher Leidenschaft die Herzen der Männer Englands erfasst wie an diesem Krönungstag. Moderne Zeiten hin oder her, der junge Mann mit dem steifen Hut, der Bauer in seinen Stiefeln, der Arbeiter in seiner Latzhose – sie alle empfanden die allumfassende Wirkung mittelalterlicher Frauenverehrung, die Anbetung der Troubadoure. Ganz England und auch das Commonwealth waren in einer gigantischen leidenschaftlichen Liebesaffäre mit ihrer vor der Krönung stehenden Königin vereint. Will Clagg war ihr bloß etwas früher verfallen.

Das geschah, um präzise zu sein, als er nach dem Tod des Königs ihr Bild in den Zeitungen gesehen hatte. Sie war plötzlich und in größter Eile aus Afrika zurückgekehrt.

Das Foto zeigte sie, wie sie beim Verlassen des Flugzeugs einen Augenblick lang auf der Treppe stehen blieb und zögerte, eine kleine schwarz gekleidete, verloren wirkende Gestalt über den Rücken ihrer Minister, die in ihren dunklen Anzügen vor ihr aufgereiht waren wie Krähen auf einer Stange. Sie hatte England als fröhliche junge Prinzessin verlassen und war als trauernde Königin zurückgekehrt. Clagg hatte das Bild lange und schweigend betrachtet und gefühlt, wie sein Herz sich ihr öffnete.

Die Königin hatte damals an ihre Untertanen die Bitte gerichtet, für sie zu beten. Nach außen hin neigte Clagg nicht zu überschwänglichen Gefühlen, und man konnte ihn auch nicht als religiös bezeichnen. Niemand wird je erfahren, ob er der Bitte der Königin nachkam und in jener Nacht ein stilles Gebet für sie sprach, ein einfaches Gebet, in dem er jemanden, dessen Name Gott war – ohne dass er sich diesen Gott überhaupt vorstellen konnte –, darum bat, der Königin beizustehen und sie zu beschützen. Aber von diesem Augenblick an war er ihr erlegen. Mit seiner Reise nach London gehorchte er etwas Uraltem in seinem Blut; sie war der Kniefall des loyalen Untertanen vor dem Thron, eine Geste, ein Treuegelöbnis und gleichzeitig ein Akt ritterlicher Galanterie.

Was aber die Art und Weise betrifft, in der er seine Empfindungen zum Ausdruck brachte oder sie vielmehr in die Tat umsetzte, war Clagg die Einfachheit und Geradlinigkeit selbst. Er sagte bloß an einem Sonntagnachmittag Anfang April, als sie in dem bescheidenen Haus in der Imperial Road Nr. 52 in Little Pudney am Esstisch saßen: »Hört mal, was würdet ihr sagen, wenn wir alle zur Krönung nach London fahren?«

Die Frage hatte seine Familie erschüttert, verblüfft, aufgewühlt, hypnotisiert, erschreckt und verzaubert. Er hatte sie wie eine glimmende Zündschnur auf den Tisch geworfen, wo sie brannte und sprühte und den Rauch und die Flammen des Abenteuers entfachte.

Nicht dass die Krönung ihre Gedanken nicht schon eingenommen hätte. Die Zeitungen und Zeitschriften waren seit Monaten voll mit Artikeln und Fotos dazu, und man spürte schon, wie die Spannung und Erregung stiegen und die fernsten Winkel des Königreichs und des Commonwealth jenseits der Meere erfassten.

Violet Clagg war die Erste, die auf das glorreiche Angebot reagierte, eine Verheißung, die so reich und strahlend war und nach der ihr nach Veränderung und Aufregung dürstendes Dasein sich so sehr sehnte. Wie ein Echo wiederholte sie seine Worte: »Nach London fahren! Zur Krönung! Wir alle? O Will!« In der Art, wie sie die letzten beiden Worte aussprach, kam die ganze Tiefe ihrer Sehnsucht zum Ausdruck. Aber dann überkamen sie wieder die alten Ängste und Enttäuschungen. »Wir können doch unmöglich mit den Kindern die ganze Nacht auf der Straße stehen! Das schaffen sie gar nicht.« Denn man erzählte sich bereits, dass die Leute vorhatten, Nächte zuvor auf dem Gehweg entlang der Prozessionsroute zu schlafen, um sich ihre Plätze zu sichern.

Johnny hatte gerufen: »Wen kümmert das schon? Ich könnte die Soldaten sehen!«

Violet fuhr fort, so als drängte es sie danach, so schnell wie möglich alle denkbaren Einwände vorzubringen: »Und Mutter ist zu … Ich meine, ihre Füße schwellen an, wenn sie stehen muss.«

»Lass meine Füße aus dem Spiel«, fuhr die Großmutter sie an. »Ihr wollt wohl, dass sich die Kinder in der Kälte den Tod holen? Und wenn es regnet? Wollt ihr sie die ganze Nacht auf der Straße sitzen lassen, damit sie sich eine Lungenentzündung holen? Du musst den Verstand verloren haben, Will Clagg!«

»Nein, nein, nein!«, hatte Will geschrien. »Ihr lasst einen nicht einmal im eigenen Haus zu Wort kommen. Wer hat ein Wort davon gesagt, dass wir die ganze Nacht aufbleiben und auf der Straße stehen sollen? Wir könnten doch Tribünenplätze bekommen. Auf einer überdachten Tribüne …«

»Dafür ist es viel zu spät«, murmelte die Großmutter.

Gwendoline hatte ausgerufen: »Könnte ich wirklich die Königin sehn, Daddy? Daddy, würden wir die Königin in ihrer goldenen Kutsche sehen?«