Die Schönheit der Differenz - Hadija Haruna-Oelker - E-Book

Die Schönheit der Differenz E-Book

Hadija Haruna-Oelker

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Beschreibung

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie Sachbuch/Essayistik

Hadija Haruna-Oelker, Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Moderatorin beschäftigt sich seit langem mit Rassismus, Intersektionalität und Diskriminierung. Sie ist davon überzeugt, dass wir alle etwas von den Perspektiven anderer in uns tragen. Dass wir voneinander lernen können. Und einander zuhören sollten. In ihrem Buch erzählt sie ihre persönliche Geschichte und verbindet sie mit gesellschaftspolitischem Nachdenken. Sie erzählt von der Wahrnehmung von Differenzen, von Verbündetsein, Perspektivwechseln, Empowerment und von der Schönheit, die in unseren Unterschieden liegt.

Ein hochaktuelles Buch, das drängende gesellschaftspolitische Fragen stellt und Visionen davon entwickelt, wie wir Gelerntes verlernen und Miteinander anders denken können: indem wir einander Räume schaffen, Sprache finden, mit Offenheit und Neugier begegnen.

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Seitenzahl: 664

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Zum Buch

Was wollen wir morgen anders machen, als wir es heute tun, um unser Miteinander gleichberechtigter zu gestalten? Hadija Haruna-Oelker, Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Moderatorin, beschäftigt sich seit Langem mit Rassismus und Intersektionalität, also der Frage, wie sich unterschiedliche Diskriminierungsformen in einem Menschen überschneiden und gleichzeitig wirken können. Für sie beginnt Veränderung im Denken, und sie ist davon überzeugt, dass wir alle etwas von den Perspektiven anderer in uns tragen. Dass wir voneinander lernen können. Und einander zuhören sollten. In ihrem Buch erzählt sie ihre persönliche Geschichte und verbindet sie mit gesellschaftspolitischem Nachdenken. Sie erzählt von der Wahrnehmung von Differenzen, von Verbündetsein, Perspektivwechseln, Empowerment und von der Schönheit, die in unseren Unterschieden liegt. Ein hochaktuelles Buch, das drängende gesellschaftspolitische Fragen stellt und Visionen davon entwickelt, wie wir Gelerntes verlernen und Miteinander anders denken können: indem wir einander Räume schaffen, Sprache finden, uns mit Offenheit begegnen und erfahren wollen, was uns bisher noch unbekannt ist.

»Dieses Buch ist voller Wissen, behutsam und klar in seiner Botschaft. Man selbst ist nach dem Lesen garantiert klüger. Wenn Hadija Haruna-Oelker es nicht

schafft, von der Schönheit der Differenz zu überzeugen, dann weiß ich nicht, wer es sonst könnte!« Alice Hasters

Zur Autorin

Die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker, geboren 1980, lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk – unter anderem für die Sendung »Der Tag« (hr2 Kultur). Zudem moderiert sie das regelmäßige Format »StreitBar« in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und schreibt eine monatliche Kolumne in der Frankfurter Rundschau. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung. Sie ist Preisträgerin des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gestifteten KAUSA Medienpreises 2012 und des ARDHörfunkpreises Kurt Magnus 2015. Hadija Haruna-Oelker hat gemeinsam mit Kübra Gümüşay und Uda Strätling »The Hill We Climb« von Amanda Gormann übersetzt. Darüber hinaus ist sie im Journalist*innenverband Neue Deutsche Medienmacher*innen und in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland aktiv.

HADIJA HARUNA-OELKER

DIE SCHÖNHEIT DER DIFFERENZ

Miteinander anders denken

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die den Kapiteln vorangestellten Zitate können als Destillat des jeweils nachfolgenden Kapitels gelesen werden.

© 2022 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: buxdesign, München unter Verwendung einer Illustration von © Ruth Botzenhardt

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28097-0V003www.btb-verlag.de

Für Malik, Lars und SternenkindWeil ihr mir zeigt, was ich nicht länger brauche, und ich mit euch den Weg zu all dem Schönen finde.

Inhalt

Vorwort

Disclaimer: Wie dieses Buch lesen

Sozialisation: Wie werden wir?

Kindheit: Bei Rassismus wird ihnen schlecht

Afrika und Schwarzes Bewusstsein. Mein Empowerment

Mein (Schwarzer) Feminismus

Bewegung: Was beeinflusst uns?

Initialmomente

Meine Reise durch die Mitte

Differenz und soziale Bewegungen

Generationendialoge und der (Klima-)Wandel

Globalisierung: Wie leben wir?

Kinder der Diaspora

Wir sind hier, weil ihr da wart

Denk ich an Hanau: Über Selbstbestärkung als Widerstand

Konstruktion: Was wird aus uns gemacht?

Vom Deutschsein, vom Weißsein und den anderen

Muslimisch, jüdisch, romani – Zur Konstruktion von Gruppen

Von Familienverstrickungen und Mit-Gefühl

Identitäten und die (Ohn-)Macht der Differenz

Vom Lernen und Verlernen

Emotion: Wie fühlen wir?

Vom Fühlen

Von der Wut

Klassifikation: Wie werden wir eingeteilt?

Haste Arbeit, haste Geld, haste …

Wenn Habitus zählt

Klasse und Chance

Gender, Sexualität und Körper: Wie betrachten wir uns?

Genderleicht. Pronomen und ich, du, wir

Heterowelten

Körperbetrachtungen

Geist: Wie nehmen wir wahr?

Wahrnehmung und Psyche

Trauma und Sein

Behinderung: Was blenden wir aus?

Die Bewegung der größten marginalisierten Gruppe

Behindert sein und behindert werden

Mutterschaft. Eltern sein.

Zum Schluss, der kein Ende ist

Differenz feiern

Dank

Ein besonderer Dank an …

Quellenverzeichnis

Vorwort

Wir sehen nicht die Dinge, wie sie sind, sondern wir sehen sie, wie wir sind.

– Talmud

Dieses Buch ist eine Einladung. An alle, die über die Zustände unserer Gesellschaft nachdenken wollen. An Menschen die andere Antworten suchen als die gängigen Bestandsaufnahmen über Spaltung, Grabenkämpfe oder Generationenkonflikte. In diesem Buch schreibe ich für etwas und nicht gegen etwas an. Ich schreibe für eine diverse Gesellschaft und ihre Schönheit, und ich schreibe für alle, die einen Weg dorthin suchen. Ich schreibe für Menschen, die verstehen wollen und die sich »aufgeweckt« fühlen, weil sie sich mit dem, was uns unterscheidet und viele unterdrückt, noch nicht oder noch zu wenig beschäftigt haben – oder weil es sie schon lange beschäftigt. Dieses Buch ist für Menschen, die nicht nur mit Gleichen reden möchten, sondern erfahren wollen, was ihnen noch unbekannt ist. Es ist für alle, die Fragen haben, auf der Suche nach Antworten sind und die Angst ablegen wollen, etwas falsch zu machen. Die sich Klärung statt Selbstgeißelung wünschen, die Offenheit und Achtsamkeit konfrontativen Begegnungen oder vereinfachenden Pro-und-contra-Debatten vorziehen. Es ist für alle, die lernen und verlernen wollen, die wachgekitzelt werden möchten und sich fragen: Was ist da noch?

Ich trage in diesem Buch Überlegungen und Geschichten von Personen, die sich seit Jahren über eine gleichberechtigte und machtkritische Gesellschaft Gedanken machen, mit wissenschaftlichem Wissen zusammen, und ich setze all das in Verbindung zu mir selbst. Ich schreibe dieses Buch aus meiner Perspektive, die manchmal eine unterdrückte und andere Male eine privilegierte ist. Mein Sprechen und Schreiben ist das Ergebnis meiner eigenen Subjektivität, Meinung und Position. Es zeigt meinen Weg genauso wie meine schmerzhaften Erkenntnisse.

Ich bin eine Schwarze, nicht behinderte, normschlanke, cis-hetero Frau mit der Erfahrung, chronisch krank zu sein. Ich bin Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Journalistin und Feministin. Ich wurde in Westdeutschland sozialisiert. Meine Perspektive ist die eines Arbeiter*innen- und Angestelltenkindes der sogenannten unteren Mittelschicht, das studiert und einen sozialen Aufstieg erlebt hat. Ich bin Teil einer weltweiten Geschichte der Unterdrückung. Eingebettet in ein soziales Umfeld bin ich von Menschen umgeben, die mir zeigen, was es heißt, migriert, Schwarz, behindert, arm, muslimisch (gelesen zu werden), jüdisch, sinti, queer, dick_fett, neurodivers und/oder chronisch krank zu sein. Ich stehe mit ihnen in Verbindung, fühle mich verbündet. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass mich so viele unterschiedliche Menschen in meinem Leben begleiten und ich sie. Ich habe viel durch und in der Begegnung mit anderen gelernt, Bewegung ist Teil meiner Biografie. Auf diese Weise stehen mein Umfeld und ich repräsentativ für unzählige Menschen, die unterschiedlich leben und sich in ihrem Menschsein gleichen. Die Publizistin Hannah Arendt nannte es die Gleichheit beim absoluten Unterschiedlichsein, und genau darin liegt die Schönheit der Differenz, die ich mit diesem Buch erfahrbar machen möchte und die infrage stellt, was vielen als »normal« gilt.

Normal. Ein so häufig verwendeter und schwieriger Begriff. Der Duden beschreibt es als »der Norm entsprechend; vorschriftsmäßig so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt«. Ich glaube, dass wir nicht darum herumkommen, genau dieses Normale zu hinterfragen, denn vielmehr sollten wir alle verstehen, was es bedeutet, privilegiert zu sein und auf der nicht benannten Seite gesellschaftlicher Konstruktionen zu stehen. Was es in Deutschland heißt, weiß, hetero, seelisch gesund, normschön, nicht behindert, christlich sozialisiert, mit Studienabschluss oder gesichertem Auskommen zu sein. Wir alle sollten uns in unseren jeweiligen Positionen dessen bewusst werden, was wir nicht sind, und dem nicht mit Abwehr oder (Selbst-)Stigmatisierung begegnen. Das ist ein politischer Akt und ein intimer Weg, weil sich kein Mensch den eigenen Geburtsort auf der Welt oder vieles von dem, was das eigene Sein ausmacht, ausgesucht hat. Das zu erkennen bedeutet, sich selbst gegenüber eine Haltung zu entwickeln, die von innerer Nähe und Zugewandtheit auf der persönlichen Ebene geprägt ist, um auf der Metaebene die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die eigene Positionierung darin zu erkennen. Ich glaube, dass wir im Nachdenken, Sprechen und Aushandeln unseres Miteinanders weniger Sorge und Empörung, sondern mehr Verständnis für mögliche Irritationen auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen brauchen.

Deshalb beschäftige ich mich in diesem Buch mit den Perspektiven »der Benannten«, also von Diskriminierung betroffenen, marginalisierten Menschen und deren Beziehungen zu denjenigen, die deren Erfahrungen nicht machen. Ich möchte den Fokus weg vom Leid hin zu Ursachen und Folgen lenken und verschiedene Sprachen erfahrbar machen. Deshalb sehe ich es positiv, dass wir in einer Zeit nie erlebter »Demokratisierung der Öffentlichkeit« leben, in der mehr Menschen die Möglichkeit haben, an Aushandlungsprozessen über unsere Gesellschaft teilzunehmen. Für mich ist die Behauptung, dass marginalisierten Menschen mit ihren Anliegen im Namen der Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten schaffen, haltlos, weil niemand benachteiligt werden soll, aber sich bei genauerer Betrachtung viele Dinge anders denken lassen. Zum Beispiel, dass das, was als normal gilt, eine soziale Wirklichkeit ist, die von jedem Menschen anders erlebt wird und für die unsere Sozialisierung eine maßgebliche Rolle spielt: das Elternhaus, die Schule oder der Sportverein. Je nach Wertvorstellungen unseres Umfelds werden wir unterschiedlich geprägt. Wie eine eigene Meinung und Persönlichkeit entsteht, ist für alle von uns verschieden, es ist in Deutschland ganz anders als an anderen Orten der Welt. Eine einheitliche Definition von Normalität kann es deshalb nicht geben. Und das, was normal ist, lässt sich demnach auch verändern.

Aus diesem Grund erzähle ich in diesem Buch davon, wie ich unsere Gesellschaft und ihre Menschen in ihrer Differenz sehe. Ich stelle Fragen an die Gegenwart, und meine Suche nach Antworten und meine Betrachtungen verstehe ich als eine mögliche Lesart dieser komplexen Gegenwart. Das alles auf diese Weise aufzuschreiben ist für mich auch ein Wagnis, weil ich mich angreifbar mache, weil mein Privates hier politisch wird. Aber hey, kein Wachstum ohne Risiko! Daran glaube ich, und deshalb begebe ich mich auf unbestimmtes Terrain.

So verlief auch mein Weg in den Journalismus, der Ende der 2000er in der Position von »eine wie dich hatten wir noch nie in der Redaktion«, also in der Vereinzelung, seinen Anfang nahm. Er ist für mich auch ein Weg einer Emanzipation, auf dem ich meine Rolle im Journalismus finden musste. Auch Medienschaffende sind (nur) Menschen, die unterschiedlich denken, weshalb ich für eine kritische Herangehensweise, einen transparenten und verantwortungsvollen Journalismus stehe und eine Journalistin sein möchte, von der das Publikum weiß, welche Absenderin sie ist.

Ich bin bewegt und mache kein Geheimnis daraus, Menschenrechtlerin zu sein. Es war ein intensiver Weg, das journalistische Handwerk, meine Expertise und meinen Stil öffentlich in ein Verhältnis zu stellen. Und so nehme ich in diesem Buch mein journalistisches und mein persönliches Ich zum Ausgangspunkt, weil ich glaube, dass das eine Erzählung nicht weniger neutral macht. Zumal sowieso kein Mensch neutral ist. Als Teil meiner Generation habe ich erfahren, wie es ist, in die Fußstapfen von Menschen zu treten, die den Weg für ihre Nachkommen geebnet haben. Und ich bin Teil einer Generation, die inzwischen selbst auf eine jüngere blickt. Damit geht mein Blick auf unsere Gesellschaft von einer sozialen Bewegung aus, die schon immer ihre Bündnisse gesucht hat. Mein Anliegen ist es, zwischen den vielen Positionen, die ich sehe, zu übersetzen, Verständnis zu schaffen und Brücken zu bauen – auch zu den politischen Generationen der Emanzipationsbewegung, die schon so lange ihren Weg zur Freiheit geht, damit sie »in der Gewissheit ihres unveräußerlichen Rechts der Menschenwürde« leben kann, wie es Freiheitskämpfer Nelson Mandela bei seiner Antrittsrede als erster Schwarzer Präsident nach der Apartheid 1994 ausdrückte.

Noch immer und anders gibt es auch heute in Deutschland noch vieles zu besprechen, was unsere Gesellschaft und unsere gemeinsame Vergangenheit angeht. Und das noch mehr, seitdem wir uns durch die Corona-Pandemie weniger sehen und in Kontakt sein können, um auszuhandeln, wie wir zusammen leben wollen. Deshalb ist mein Nachdenken auch ein Zeitzeugnis gesellschaftspolitischer Verschiebungen, die sich mir im letzten Jahrzehnt gezeigt und in unterschiedlichen Debatten zugespitzt und ein bündnishaftes Wachstum sozialer Bewegungen eingeläutet haben. Das Emanzipationsbewusstsein einer neuen politischen Generation treibt die Gesellschaft nach vorne. Widerspruch und Widerstand gegen gängige Routinen wachsen, auch weil antisemitisch und rassistisch motivierte Anschläge sich verstärkt haben. An die Oberfläche dringt nun, was Hunderte Jahre Unterdrückung bewirkt haben. Und dieser Aufbruch kündigt für mich an: Es ist erst der Anfang.

Es gibt für uns alle viel zu klären. Wer spricht über wen, und wer wird gehört? Wer wird bei Entscheidungen mitgedacht, angesprochen, ausgeblendet und wer nicht eingeladen? Wem wird Wissen zugänglich gemacht, und wer ist davon ausgeschlossen? Wer entscheidet über allgemeingültige Regeln und Ordnungen? Wen inkludiert und exkludiert unsere Gesellschaft? Warum ist das so? Wer will das noch, und wer will das nicht mehr? Und wie gehen wir besser miteinander um? Um darauf zugewandte Antworten zu finden, illustriere ich in Workshops gerne ein bildhaftes Beispiel, das vielleicht einige kennen: mit einer Person, der einer anderen auf den Fuß tritt und daraufhin sagt: »Ich habe es nicht bemerkt, außerdem bin ich ein guter Mensch.« Ich habe schon viele gefragt, was sie von dieser Antwort halten. Manche nahmen den Satz als indirekte Entschuldigung an die getretene Person wahr, andere reagierten empört, weil die Reaktion vom Schmerz ablenkt. Und wieder andere empfanden die Begründung als unwichtig, weil der Schmerz zählt und es dafür einer Entschuldigung bedarf – ohne Wenn und Aber.

Verleugnung, Scham und Schuld sind die Abwehrmechanismen, aus denen heraus Menschen handeln, wenn sie andere verletzt haben. Denn auch Personen, die verletzen, erleben emotionale Zustände, wenn ihnen klar wird, dass sie etwas verschuldet haben, insbesondere dann, wenn es unabsichtlich geschehen ist. Schuld entsteht durch eine (gefühlte) Beschuldigung von außen. Scham ist oft die Reaktion auf das Nichterfüllen eines Ideals, das jemand für sich anstrebt, zum Beispiel ohne Fehler sein zu wollen. Oder sie resultiert aus der subtilen Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Nicht selten kommt es dann zu einer Umkehr: Dann geht es in einer verletzenden Situation plötzlich um die Gefühle, Hintergründe und Intention der Person, die getreten hat, und nicht um den betroffenen Mensch, dessen Fuß schmerzt.

Was bedeutet dieses Bild für unser Zusammenleben? Es stellt die Frage, wem die Aufmerksamkeit gebührt und welche Rolle die Intention handelnder Menschen spielt. Wir leben in einer Zeit, in der viele marginalisierte Personen schon lange Schmerzen äußern und jetzt häufiger damit wahrgenommen werden. Sie bitten darum, dass ihnen nicht mehr auf die Füße getreten wird. Deshalb ist die Frage, welcher Umgang und welche Auseinandersetzungen daraus folgen: welche Menschen bereit sind, die eigene Blase zu verlassen und bisherige Vorstellungen zu verändern. Wie es gehen kann, sich ohne Schuld und Scham gemeinsam damit auseinanderzusetzen, was Differenz und Diskriminierung in unserer Gesellschaft bedeuten. Eine Kollegin sagte einmal zu mir, dass sie sich eine »ruhige Sicherheit« im gemeinsamen Umgang mit Diskriminierung wünsche, und meinte damit ein entspanntes und fürsorgliches Miteinander. Eine entspannte Haltung, die unsere Differenz nicht ändern möchte und an der Weiterentwicklung von Wissen darüber interessiert ist, wie wir als Gesellschaft mit unseren Vielheiten umzugehen lernen. Also damit, sich nicht mehr auf die Füße zu treten. Was auch bedeutet, eine gemeinsame Sprache zu finden, weil uns oft die Worte fehlen, um ohne Wertung übereinander zu sprechen. Wie also kann es uns gelingen, achtsam über- und zueinander zu sprechen, wenn wir uns begegnen, und wie können wir nach dem fragen, was wir nicht wissen? Wie gehen wir mit denjenigen um, die sich auf all das gar nicht einlassen wollen? All diese unterschiedlichen beteiligten Menschen machen unseren gesellschaftlichen Zustand so fragil, und das zu erkennen ist ehrlich.

Der Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani zeichnet zur Erklärung für diesen aktuellen gesellschaftlichen Prozess ein eindrückliches Bild: Er lässt uns einen Tisch imaginieren, an dem neben der sogenannten Dominanzgesellschaft inzwischen auch die Nachkommen einstiger eingewanderter Menschen Platz genommen haben, die zuvor auf dem Boden saßen. Dass sie nun mit am Tisch sitzen, unterscheidet sie von den eigenen Eltern. Ihre zunehmende Teilhabe hat den Blick für die eigenen Empfindungen und Ausgrenzungserfahrungen dieser Personen geöffnet. Das ist eine positive Entwicklung, die aber nicht zur Folge hat, dass ihre Diskriminierungserfahrungen verschwunden sind. Sie können im Gegenteil sogar zunehmen, weil »die Neuen« am Tisch von manchen, die vorher dort saßen, als unliebsame Störung oder Konkurrenz wahrgenommen werden oder weil manche deren Unterdrückung weiterhin wollen. Das Bild vom Tisch und auf dem Boden sitzenden Menschen steht für so viele verschiedene Differenzerfahrungen und zeigt, dass, je mehr Menschen am Tisch Platz nehmen (wollen), es auch immer Kräfte und Gegenkräfte gibt. Es erklärt, warum wir inmitten einer gesellschaftlichen Transformation stecken und es auch mal heftig zugeht im Gespräch: Weil viele Ichs mit ihren unterschiedlichsten Differenz- und Diskriminierungserfahrungen ihr Recht einfordern, gehört zu werden, und dabei um Deutungsfragen gerungen und darüber gestritten wird, wer wie recht bekommt. Soziologische Betrachtungen beruhigen damit, dass eine differenzierte Gesellschaft sich gerade durch Konflikte integriert, und zwar dann, wenn diese als notwendig anerkannt und institutionalisiert werden. Wenn sie also im Sinne aller geführt werden, was trotzdem anstrengend ist: Es bleibt kompliziert, auch wenn sich Dinge verbessern, und unsere zukünftige gesellschaftliche Aufgabe wird es sein, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet, sondern auch mit dem, was uns unterscheidet.

Und dazu braucht es insbesondere politische Räume, in denen ein ehrlicher Umgang mit den unangenehmen Seiten unserer Geschichte gefunden werden muss und den Folgen, die wir heute auf unterschiedliche Weise tragen. Unsere Vergangenheit ist, wie sie ist, und wir können uns nicht von ihr lösen, sie ist mit unseren Alltagshandlungen genauso verwoben wie mit unseren Vorstellungen von der Welt. So kommt es, dass alle Menschen andere verletzen können, aber wir uns darin unterscheiden, wie wir es tun. Und welche Konsequenzen wir aus den Erkenntnissen ziehen.

Veränderung beginnt im Denken, was für mich heißt, unsere Gleichheit in einer anderen Dimension zu suchen. Deshalb liegt für mich die Schönheit in unserer Differenz, und ich stehe unserem gesellschaftlichen Wandel positiv gegenüber. Mehr noch, er schenkt mir Hoffnung. Mit dieser Einstellung habe ich dieses Buch geschrieben, einer Perspektive, die Blicke weitet, Möglichkeiten zeigt und Handlungsräume aufmacht, um ein anderes Miteinander zu denken. Um dorthin zu kommen, bedarf es einigen Aufwands und Kraft. Dazu müssten »wir« uns alle erst einmal besser kennenlernen, verstehen und ansprechen können, ohne einander zu verletzen. Und genau das versuchen seit den 2000ern die Vertreter*innen der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften mit Begriffen und Theorien, die den Begriff der Differenz ergänzen. Davon ausgehend werde ich in diesem Buch mit dem von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägten Ansatz der sogenannten »Intersektionalität« arbeiten. Dahinter verbirgt sich ein Verständnis von Menschen, das sie nicht in einzelnen Merkmalen wie beispielsweise Aussehen, Körper, Religionszugehörigkeit oder Körpermerkmalen begreift, sondern in deren Gleichzeitigkeit. Weil kein Mensch nur aus einer Erfahrung besteht und Menschen vieles sind. Allein unsere Persönlichkeit setzt sich aus einer Fülle von Eigenschaften zusammen, die sich über die Zeit eines Lebens verändern können. Es sind innere Dimensionen wie beispielsweise Alter, Aussehen oder Begehren, auf deren Zustand wir wenig Einfluss haben. Anders ist es bei den äußeren Eigenschaften wie Einkommen, Gewohnheiten oder Elternschaft. Dazu kommt der Einflussbereich der Gesellschaft, in die jeder Mensch mit seinem gesamten Sein eingebettet ist. Wenn wir also von diesem Verständnis ausgehen, gibt es keine statischen homogenen Gruppen, weil in einem Menschen verschiedene Realitäten zusammenwirken und jeder Mensch anders ist. Davon ausgehend will ich in diesem Buch Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden. Denn kein Mensch kann einseitig als diskriminiert oder Diskriminierender verstanden werden, so einfach ist die Welt nicht. Eine Person kann von einer Ausgrenzung betroffen sein und an anderer Stelle selbst diskriminieren. Und das schafft Möglichkeiten für gemeinsame Bündnisse.

Wer sich mit Schwarzen, behinderten, queeren, religiösen, spirituellen, aber auch mit psychologischen und neurologischen Perspektiven beschäftigt, wird viele Ansätze und Analysen finden, die das Ziel haben, diese Intersektionalität zu erklären und damit zu argumentieren. Schon vor Jahrzehnten haben Wissenschaftler*innen weltweit aufgezeigt, wie wir unsere eigene Position im Spiegel der Anderen erkennen lernen. Auch ich versuche mich in diesem Ansatz des Verstehens, weil das bedeutet, mich befreiter bewegen zu können, mich verbinden zu können und mich verbunden zu fühlen. In diese Richtung zu denken war für mich kein in jeder Phase angeleiteter Weg, und ich bin längst nicht angekommen. Er entwickelt sich in mir durch meine Begegnung mit Menschen, dadurch, dass ich mir Wissen aneigne, Fehler mache und mir eingestehe, dass ich mit meinem (unbewussten) Handeln andere verletzen kann, und daraus Konsequenzen ziehe. Dieser Weg ist ein Prozess, der praktisch heißt, dazuzulernen und Gelerntes wieder zu verlernen. Ich glaube daran und bin nicht alleine damit, Möglichkeiten zu sehen, um aus bestehenden unterdrückenden Systemen zu mehr Gleichberechtigung für alle zu gelangen. Marginalisierte Menschen kämpfen schon seit Jahrhunderten darum, sie haben mit ihren Ideen Freiheiten erkämpft. Einzelne Menschen sind dabei eigene und persönliche Wege gegangen, haben Verbündete gesucht oder sind in Bewegungen gewachsen. Konstruktiv an gemeinsamen Lösungen für alle zu feilen geht mit Bedacht, und es bedarf Sensibilität, um Ungerechtigkeiten freizulegen. Abläufe und Denkweisen zu verändern heißt, an den eigenen Haltungen und Routinen für ein Besseres zu rütteln.

So muss sich in uns selbst zeigen, dass unsere Differenz ein Gewinn im eigenen Leben ist. Deshalb liegt der erste Schritt zu einem gemeinsamen Miteinander auch genau dort. Es geht um eine sich selbst und anderen Menschen zugewandte Reflexion, weil erst so möglich wird, sich auf Veränderungen einzulassen, die ein Denken anregen, das flexibel genug ist, die Richtung zu ändern. Dazu sind insbesondere Menschen in privilegierten Positionen aufgefordert. Es bedeutet, aus der Komfortzone herauszutreten, sich mutig zu zeigen. Und mutig sind nach Mandela nicht die Menschen, die keine Angst haben, sondern die, die ihre Furcht besiegen und die eigene Befreiung nicht an der Unterdrückung anderer Menschen ausmachen, weil Gleichberechtigung keine Unterdrückung ist.

Über zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, den Anschlägen von Halle und Hanau in den Jahren 2019 und 2020 und dem Einzug und Etablieren rechter Kräfte und ihrer Parteien in sämtlichen deutschen Parlamenten braucht unsere Gesellschaft eine Idee davon, wie sie ihre Differenz zu einer Kraft bündelt, die dieser Entwicklung wehrhaft entgegentritt. Dazu muss allen klar sein, dass für eine Demokratie einzustehen auch bedeutet, sich in machtkritischen Fragen auszukennen und ungerechte Machtstrukturen aufzulösen. Es muss sich etwas verändern, damit über Gerechtigkeit reden nicht zur Floskel verkommt. Das heißt, dass es nur mit allen Beteiligten am Tisch unserer Gesellschaft nach vorne geht, denn erst dann wird keine Perspektive vergessen, weil kein Mensch alleine alle auf dem Schirm haben kann. Weil nur so neue Ein- und Ansichten dazukommen. Im besten Fall finden sich im Aushandeln unterschiedliche Ideen darüber, wie sich geeinigt wird. Vielleicht braucht es einen neuen Tisch. Aber das ist der Weg der Allianz für eine anerkennende, inklusive Gesellschaft in der Gegenwart und Zukunft.

Meine Gedanken dazu sind von der afrikanischen Philosophie des Ubuntu geprägt, die die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Tsitsi Dangarembga in ihrer Preisrede 2021 bekannt gemacht hat. Es sind Perspektiven, die auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung basieren und für mich bedeuten, rational, aber nicht emotionslos zu sein. So ist mein Denken von einem Fühlen bestimmt, von dem ich zutiefst überzeugt bin. »Rationalität heißt eben nicht, emotionslos zu sein. Es kann auch heißen, von der Wichtigkeit des Emotionalen im Leben zutiefst überzeugt zu sein. Es heißt, die Wichtigkeit von Beziehung zu kennen und in all den Herausforderungen des Lebens die Kraft nicht aufzugeben«,schrieb mir der Antirassismus-Trainer, Pfarrer und Wegbegleiter Austen Brandt einmal zu meiner Stärkung. Auch mir geht es um Aussöhnung, um ein Weitergehen mit denen, die einen gemeinsamen Weg mit allen suchen. Deshalb sehe ich mich selbst auch als Werdende und nicht als Seiende und werde mein ganzes Leben lang Lernende sein. In diesem Buch teile ich meine Gedanken und bin dabei nicht fertig. Es ist eine Momentaufnahme und handelt von meinem Leben in verschiedenen Umfeldern, die mir Einblicke gewähren. Deshalb spreche ich heute unterschiedliche Sprachen und lerne stetig dazu. So war es auch während des Schreibens dieses Buches – bis zum Schluss.

Differenz bedeutet für mich nicht, anders zu sein, sondern ist eine alltägliche und schöne Erfahrung im Miteinander. Differenz ist meine Normalität, und meinen Weg hierher habe ich gefunden, weil meine Familie, meine Freund*innen, mein bewegtes Umfeld und viele Menschen innerhalb der Schwarzen Community und andere marginalisierte Personen ihn mir gezeigt und mich bestärkt haben, weil ich mich empowert und emanzipiert habe. So hat sich während der Entstehung dieses Buches vieles in mir verändert, und diesen Prozess möchte ich nun teilen. Weil teilen auch Heilung ermöglicht und das für mich die Grundlage einer Gesellschaft ist, aus der die Schönheit der Differenz wachsen kann.

Disclaimer: Wie dieses Buch lesen

Mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen, als könnte die Sprache selber die Erkenntnis eintreiben und die Erfahrung kundtun, die man nie gehabt hat … Eine neue Sprache muß eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt.

– Ingeborg Bachmann

Dieses Buch kann einen vielleicht gewünschten Anspruch auf Vollständigkeit nicht erfüllen. Kein Buch kann für alle und alles sprechen. Es gibt viele besondere Menschen, die über unsere Pluralität geforscht, nachgedacht und geschrieben haben, und es braucht noch viele weitere Stimmen, die gehört werden müssen, weil deren Wissen sich verbreiten muss. Einige von ihnen werde ich in diesem Buch erwähnen, indem ich ihre Gedanken aufnehme, sie rezitiere und versuche sie weiterzudenken. Es geht mir in diesem Buch auch darum, möglichst viele Menschen zu benennen, weil ich nicht alleine stehe. Und gleichzeitig stehe ich vor der Herausforderung, viele wissenschaftliche und politische Begriffe erklären und viele unterschiedliche Kontexte einordnen zu müssen. Es sind verschiedene Diskurse und Sprachen, innerhalb derer ich mich in diesem Buch bewege, und gleichzeitig soll es viele mitnehmen. Oft wurde ich gefragt, wer konkret die Menschen sind, die ich ansprechen möchte, und irgendwie hoffe ich, dass es einfach viele sind.

Bevor es also losgeht, noch ein paar Informationen zu meiner Sprache und dem Gebrauch dieses Buches. Manche Namen von Menschen habe ich markiert geändert. Fremdwörter versuche ich, so gut es geht, im Lesefluss zu erklären. Am Ende des Buchs findet sich eine Quellenangabe für jedes Kapitel. Außerdem gibt es nach vielen Kapiteln einen Anhang, in dem ich Menschen und ihre Arbeit zeige und einladen möchte, das jeweilige Thema zu vertiefen.

Sprache ist eine Form der Handlung, die Menschen zugleich wertschätzen, verletzen, anerkennen und diskriminieren kann. Sprache ist politisch. Sie kann Menschen abwerten, auch wenn es so nicht gemeint ist oder es so nicht verstanden werden soll. Es bedarf einer gewissen Offenheit, um Dinge wahrzunehmen, selbst wenn einem diese nicht unmittelbar nachvollziehbar oder gerechtfertigt erscheinen. Es braucht Kontext. Und ich stelle fest, dass dieser oft fehlt und Sprachdebatten nicht selten laut und einseitig oder an der Oberfläche diskutiert werden. Und das, obwohl viele kluge Menschen schon viele differenzierende Dinge darüber geforscht und gesagt haben. Und so führt das Absprechen von Diskriminierung durch Sprache in der Umkehr zu einer sich verschärfenden Situation für »die Benannten«. Ohne Austausch darüber ergibt sich keine Lösung, und was bleibt, ist ein Streit absoluter Positionen. Deshalb habe ich viele Workshops gegeben, Texte geschrieben oder Veranstaltungen moderiert, die sich mit der Frage nach einem diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch beschäftigen. Darüber, wie das Geäußerte auf andere Menschen wirken kann, welcher Blick auf die Welt sich darin zeigt. Ich glaube, dass eine Veränderung im Denken auch über die Sprache stattfindet, und ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der alle Menschen wahrnehmbar sind. Deshalb versuche ich mich an einem Sprachgebrauch, der sich an einer »anerkennenden Sprache« orientiert. Es ist der Versuch, möglichst immer viele mitzudenken, um Normen aufzulösen. Diese Auflösung passiert, indem Irritation und Störungen entstehen, ohne unverständlich zu werden. Auch Schreiben und Sprechen sind Übung.

Für alle Menschen, die nicht weiß sind, nutze ich die Selbstbezeichnungen Schwarz, Person/People of Color (PoC) oder nicht weiße Person. Es sind politische Begriffe, die unterschiedliche Lebensrealitäten zeigen. Angelehnt an die von Maisha-Maureen Auma, Grada Kilomba und Peggy Piesche im Sammelband Mythen, Masken und Subjekte formulierte Erklärung, schreibe ich weiß kursiv, weil es eine Konstruktion ist ebenso wie »Schwarz«. »Schwarz« schreibe ich groß, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine Zuordnung und eine bestimmte Erfahrung handelt, die ich als »Rassifizierung« verstehe. »Rassifiziert« beschreibt die Handlungsweise, wie Schwarzen Menschen bestimmte Zugehörigkeiten oder Wesensarten zugeschrieben werden. Sich als Schwarz zu bezeichnen ist ein Prozess. Es ist ein politisches Selbstverständnis, um sich in dieser Gesellschaft zu positionieren, und es handelt sich dabei nicht explizit um die Hautfarbe. Schwarzsein bedeutet beispielsweise, dass Menschen durch die gemeinsame Erfahrung von Rassismus auf eine bestimmte Weise wahrgenommen werden.

Auch weiß verstehe ich als eine soziale Position. Sie befindet sich im gesellschaftlichen Machtverhältnis ganz oben, ist aber wie Schwarz eine gesellschaftliche Konstruktion. Denn Mensch ist Mensch. Doch obwohl das so ist, unterscheidet sich, wie wir wahrgenommen werden und nach vermeintlichen »Mehr- und Minderheiten« unterschieden werden. Wie das Reden und Agieren in einer Dominanzgesellschaft nur diejenigen zeigt, die nicht von Ausschlüssen betroffen sind. Das macht für mich politische Ungleichheiten deutlich, die in einer Gesellschaft nicht alleine eine Frage von Zahlen oder Mehrheiten sind, sondern davon abhängen, was an strukturellen Regeln, Abläufen, Normen und Institutionen erschaffen wurde, um sie aufrechtzuerhalten.

»PoC« wird in Deutschland oft für migrantisierte und marginalisierte Menschen verwendet, da es bisher kein deutsches Wort gibt, das ihre unterschiedlichen Erfahrungen vereint. »BIPoC« steht dabei für Black, Indigenous and People of Color und differenziert das Spektrum noch weiter aus. »Indigenous« bedeutet so viel wie »in ein Land geboren«. Die Selbstbezeichnung »indigen« bezeichnet die Erfahrung, durch einen rassistischen, also kolonialen Raub von Land verdrängt zu werden und deshalb Verfolgung, Mord oder Genozid erlebt zu haben und dadurch bis heute unterdrückt zu werden. Wer sich also fragt, was Indigenous in Deutschland für eine Rolle spielt, der sei ganz simpel an unseren gesellschaftlichen Umgang mit Native Americans beziehungsweise den First Nations der USA und Kanadas zu Karneval oder Fasching in Deutschland erinnert: veraltete Kinderspiele oder -lieder. Es gibt auch hierzulande eine sprachliche Verbindung zur imperialistischen Geschichte. Wir leben in einer globalisierten Welt.

Viele der englischsprachigen Selbstbezeichnungen, die wir in Deutschland nutzen, entstammen der Civil-Rights-Bewegung der USA und zielen darauf ab, Menschen mit Rassismuserfahrung in ihren unterschiedlichen Erfahrungen selbstbestimmt zu spiegeln. Sie gelten als emanzipatorische und solidarische Begriffe, denn nur was als Problem erkannt und benannt wird, kann auch bekämpft werden. PoC gilt zudem als Umdeutung der abwertenden Zuschreibung »coloured«, ein Begriff, der im Deutschen oft fälschlicherweise mit »f*rbig« übersetzt wird. Menschen haben allerdings keine Farben, und damit obsolet sind auch alle anderen Bezeichnungen, die auf Hautschattierungen von Schwarzen Menschen abzielen und eigentlich mit der subtilen Botschaft verknüpft sind, dass Schwarze, die eine hellere Schattierung haben (light-skinned), favorisiert werden, weil das als wünschenswert und normschön gilt. Dieses Denken beschreibt die Tatsache von Colorism, auf die ich später noch eingehen werde.

Neben rassismussensibler Sprache verwende ich eine gendersensible Sprache. Dafür nutze ich das Gendersternchen, benenne Geschlecht/Gender oder suche nach genderneutralen Formen. »Gender« als Begriff nutze ich immer dann, wenn die Zuordnung fehlt und nicht auf ein Geschlechtsteil geschlossen wird, weil Gender nicht nur eine biologische, sondern auch soziale Konstruktion beschreibt. Es ist mir wichtig aufzuzeigen, dass, wenn ich nur »Wissenschaftler« schreibe, ich im Kopf vieler Menschen nur über Männer schreibe. Und dass, wenn ich kein Sternchen nutze, ich Menschen, die sich nicht in die binäre Ordnung von Mann und Frau einordnen, unsichtbar mache. Inzwischen taucht in der Debatte um das Gendersternchen auch der Doppelpunkt auf. Weil einige Vorleseprogramme den Doppelpunkt als kurze Pause vorlesen, heißt es, der Doppelpunkt sei barrierefreier. Allerdings tun dies die meisten nicht, wie unter anderem der Berater für digitale Barrierefreiheit Taner Aydın untersucht hat. Viel wichtiger als die Frage, ob der Doppelpunkt verwendet wurde, ist daher die Frage, ob ein Text für Screenreader aufgearbeitet wurde, ob es bei Bildern eine Unterschrift oder einen Alternativtext gibt. Das erklärt die Stimmen, die darauf hinweisen, Gender- und Behindertengerechtigkeit nicht über Stern- und Doppelpunktfragen gegeneinander auszuspielen.

Der Doppelpunkt sollte das Sternchen und ein Nachdenken über die Binarität, die ein generisches Maskulinum in der deutschen Sprache vermittelt, nicht abhaken, weil es die Sprech-, Schreib- und Sehgewohnheiten von Cis-Menschen vermeintlich weniger stört. Als Cisgender werden Menschen bezeichnet, die sich mit dem ihnen bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Cisgender erweitert das Differenzverständnis und bricht als Bezeichnung mit gängigen Sichtweisen. Es ändert die Bedingungen für nicht-binäre, inter und trans* Menschen, die oft als Abweichung von der Norm gelesen werden. Cis ist also das Gegenteil von trans*, und viele hetero und queere Menschen sind cis. »Queer« wiederum ist ein politischer Begriff, der aus Widerstand und in der Wissenschaft als Selbstbezeichnung aus der sogenannten LGBTQIA+-Community stammt. Es ist eine englische Abkürzung, die für Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intergender und Agender steht. Das + verdeutlicht, dass es noch mehr Gender-Identitäten gibt. »Trans*« ist dabei ein Sammelbegriff, der für alle Transidentitäten steht. Ebenso gilt »inter*« als Sammelbegriff für die Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten. Es ist mir wichtig, kenntlich zu machen, dass es Gender noch nie in nur zwei Varianten gab, sondern es ein Spektrum an Möglichkeiten gibt, die cis-heteronormative Vorstellungen infrage stellen.

Sprache ist für mich ein Feld, um all unsere Lebensrealitäten sichtbar zu machen und zu experimentieren. Sie entwickelt sich, war schon immer im Wandel und hat sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst. Zeitgemäße Anpassungen wurden vorgenommen, haben sich etabliert, alte Sprachweisen tradierten sich aus und wurden vergessen. Sprache sucht neue Wege, zeigt Leerstellen auf, und neue Worte etablieren sich. Das ermöglicht, unsere gesellschaftlichen Vorgänge besser oder exakter zu beschreiben. Für mich spaltet unsere Sprache nicht, sondern deckt durch ein differenziertes Betrachten ihrer Beschaffenheit auf, was übersehen wurde. Ein Wissen um Begriffe ist für mich die Grundlage, um in einen echten Austausch über unser Miteinander zu kommen, der über eine Empörung von »Sprachdiktatur« oder »Ästhetik« hinausgeht. Es gilt, sich mit dem Kontext auseinanderzusetzen, in dem Menschen Selbstbezeichnungen wählen, um ihre Differenz zu beschreiben, weil es ihre Form des Widerstands gegen eine Erfahrung der Abwertung ist. Erst die Benennung der einzelnen Diskriminierungsformen ermöglicht, sie zu verstehen. Es ist der erste Schritt, um dann in der Summe ihres Verschränktseins Ähnlichkeiten festzustellen und Schritte gegen die Diskriminierung einzuleiten. Diese Schritte beginnen mit einem Umdenken und Andersdenken über die alltäglichen Sprachhandlungen, die dazu beitragen. Hannah Arendt zufolge gestalten wir sprechend und handelnd die Welt, und damit ist Sprache ein Ort, wenn auch nicht der einzige, um etwas zu verändern.

Zuerst bin ich Mensch. Ein Mensch mit Merkmalen. Auch über diese Form der sogenannten people-first-language gilt es, sich beim Reden, Schreiben und Sprechen Gedanken zu machen. Und so gibt es kritische und befürwortende Stimmen des Mensch-zuerst-Ansatzes, der für die Bezeichnung »Mensch mit Behinderung« plädiert. Von kritischer Seite wird darunter aber auch der Versuch einer »Normalisierung« verstanden. Ein gut gemeinter Ansatz, der verkennt, dass Beeinträchtigungen wie Autismus, ADHS oder chronische Schmerzen uns unterscheiden und eben kein zusätzliches Merkmal darstellen, sondern Menschen damit verschränkt sind. Vertreter*innen dieses Ansatzes sprechen von behinderten Menschen, so wie von Schwarzen oder queeren Menschen gesprochen wird. Zumal damit auch deutlich wird, dass behinderte Menschen zum einen behindert sind, aber auch durch von nicht behinderten Menschen gemachte äußere Barrieren wie Gebäude oder gängige Abläufe behindert werden. »Behindert ist man nicht, behindert wird man« ist ein bekannter Ausspruch dafür. So achte ich in diesem Buch auf eine ableismuskritische Sprache und suche keine Synonyme wie »besondere Bedürfnisse« oder »Handicap«, weil das die Realitäten verschleiert.

Schlussendlich wünsche ich mir nicht nur für unserer Sprache, dass wir aus der Enge und Begrenztheit heraustreten, die viele Debatten bestimmt. Dass wir mehr ins Nachdenken kommen, zum Beispiel darüber, dass übergewichtig eine Abwertung beinhaltet und die beschreibende Form eines Körpers deshalb mehrgewichtig ist. Dass wir klären, warum die Adjektive »dick« und »fett« negativ besetzt sind, aber es nicht sein sollten, und mehr Menschen sich dafür interessieren, wie dicke_fette Menschen versuchen, ihre Selbstbeschreibungen wieder für sich zurückzugewinnen. In diesem Sinne ist Sprache auch etwas, mit dem sich die Widerstände gegen unsere Differenz überwinden lassen, wenn mehr von uns Gefallen daran finden. Davon ausgehend verstehe ich den Begriff der Diversität als einen, der im Deutschen (noch) weniger mit einem spezifischen Konzept verbunden ist. Ich nutze ihn als analytisches Synonym und Erklärung für einen wertneutralen Blick auf unsere Differenz, die da ist und gleichzeitig konstruiert wird. Diversitätskategorien wie Gender, Behinderung oder Ethnizität sind Analysekategorien, und eine diversitätsbewusste Berichterstattung bedeutet einen professionellen Umgang damit. Es ist etwas anderes, als der Begriff »Diversity« beschreibt, der im Englischen auf einer wertschätzenden Vorstellung basiert, die soziale, kulturelle oder individuelle Differenzen weniger als faktische Tatsache versteht, sondern positiv besetzt. Dabei aber werden beispielsweise in Unternehmen menschliche Unterschiede oft in ihrem ökonomischen Potential betrachtet und eine damit verbundene Diskriminierung außer Acht gelassen. Mich aber interessiert weniger, was ein Mensch kann oder wozu er gut zu gebrauchen ist, was eher einer kapitalistischen Logik folgt. Und mir geht es auch nicht darum, einen Trend zu stützen, bei dem jetzt alle auf Diversity machen, die eine sogenannte Alibi(Token)politik unterstützt. Das passiert, wenn beispielsweise zwar mehr Schwarze, behinderte oder trans Menschen TV-Sendungen moderieren, sich aber in der internen Struktur der Medienanstalten langfristig nichts verändert. Repräsentation ist wichtig, aber das alleine genügt nicht. Zumal sich damit irgendwann ein »Diversity Dilemma« ergibt, nämlich, dass Menschen nur noch in Kategorien gedacht werden, aus denen sie dann nicht mehr herauskommen.

Veränderung ist ein stetiger Prozess, und so sollten wir das Eigene nicht aufgeben, aber Neues oder anderes zulassen. Deshalb würde ich es für mich selbst als einen Widerspruch empfinden, mich in diesem Buch für Gleichbehandlung auszusprechen und dabei das Miteinander in unserer Sprache unter den Tisch fallen zu lassen. Und obwohl auch ich denke, dass es herausfordernd ist, unsere Differenz je nach Perspektive immer adäquat zu beschreiben und Klischeebildung zu vermeiden, versuche ich es. Ich tue es auch, weil Sprachnutzung für mich als Journalistin ein Handwerk ist, das ich verantwortungsvoll nutzen möchte. Wie kann ich diversitätssensibel darstellen und beschreiben, das ist eine wichtige Frage für mich. Und ebenso: Wie kann ich schön und ästhetisch schreiben und dabei authentisch bleiben? Manchmal ist es ein Balanceakt, und ich weiß nicht, ob mir dieses Gleichgewicht im Buch immer gelingt. Aber mein Ansatz ist es, mich in Sprache auszuprobieren, und so werde ich es mit den Schreibweisen in diesem Buch handhaben, das zudem ein Sensitivity Reading von verschiedenen Personen erfahren hat, weil nicht alle Perspektiven von mir repräsentiert werden. Dieses Vorgehen würde ich mir für alle Bücher wünschen, und damit hoffe ich, dass dieses Buch schön klingt und sich für möglichst viele gut anfühlt.

#Reflexionen

Die AG Feministisch Sprachhandeln hat einen Leitfaden zu antidiskriminierenden Sprachhandlungen herausgegeben. »Was tun? Sprachhandeln – aber wie? W_Ortungen statt Tatenlosigkeit«. Das Gleichstellungsbüro der Goethe-Universität Frankfurt bietet »Handlungsempfehlung für eine diversitätssensible Mediensprache«. Formulierungshilfen für einen sensiblen Sprachgebrauch in der Migrationsgesellschaft gibt es im »NdM-Glossar« der Neuen deutschen Medienmacher*innen.

https://feministisch-sprachhandeln.org/

https://www.uni-frankfurt.de/66760835/Diversitaetssensible-Mediensprache.pdf

https://glossar.neuemedienmacher.de/

Mit dem Projekt »Leidmedien.de« des Vereins Sozialhelden berät ein Team aus Medienschaffenden mit und ohne Behinderung Redaktionen in Sachen ableismuskritische Berichterstattung. Der Leitfaden »Auf Augenhöhe« fasst kompakt zusammen.

https://leidmedien.de

https://leidmedien.de/journalistische-tipps/leitfaeden/leitfaden-augenhoehe/

»Schöner schreiben über Lesben und Schwule« ist ein Leitfaden vom Bund Lesbischer und Schwuler Journalist*innen. »Trans in den Medien« ist eine Broschüre des Vereins TransInterQueer TrIQ). Das »Gender Glossar« ist ein Online-Nachschlagewerk der Universität Leipzig, in dem Wissen um Geschlecht und Sexualität multiperspektivisch verhandelt wird.

http://www.blsj.de/uploads/Schoener-schreiben-ueber-Lesben-und-Schwule_BLSJ-Leitfaden_2013.pdf

https://www.transinterqueer.org/download/Publikationen/TrIQ_Journalist_innen-2.%20Aufl.-web(2).pdf

https://gender-glossar.de

»Schreiben über …« Ein Glossar und einen Leitfaden für einen rassismuskritischen Sprachgebrauch hat das AntiDiskriminierungsBüro (ADB) Köln/Öffentlichkeit gegen Gewalt e. V. herausgebracht. Alice Hasters und ich haben darin eine 2022 erscheinende Aktualisierung des Textes »Schreiben über Schwarze Menschen« geschrieben, den ich 2013 mit der Antirassismus-Beraterin Jamie Schearer formuliert habe. In den Publikationen »Mit kolonialen Grüßen« oder »Das Märchen von der Augenhöhe« von glokal e. V. geht es um das Denken und Schreiben in Zusammenhängen der Entwicklungszusammenarbeit. »Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagwerk«,2012. Dieses Buch von Susan Arndt, Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.) gilt als ein Klassiker aus wissenschaftlicher Perspektive.

https://www.oegg.de/leitfaden-fuer-einen-rassismuskritischen-sprachgebrauch/https://www.oegg.de/sprache-schafft-wirklichkeit-glossar-und-checkliste-zum-leitfaden-fuer-einen-rassismuskritischen-sprachgebrauch/https://www.glokal.org/publikationen/das-maerchen-von-der-augenhoehe/https://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/

Sozialisation Wie werden wir?

Der Mensch wird und wächst in ständiger Veränderung von Dingen und anderen Menschen um ihn herum. Sich eingliedern beginnt in der Familie, der Beziehung zu Gleichaltrigen, dem Umfeld. Die Vergesellschaftung folgt. Mehr Menschen kennenlernen, Verhaltensweisen in sich verankern, Institutionen durchlaufen, Freund*innenschaften schließen. Sich im Denken und Fühlen an soziale Regeln und Abläufe anpassen. Sich den Meinungen und Gefühlen unserer Nächsten nicht entziehen können. Sich zugehörig und angehörig fühlen. Die Ausprägung unseres Seins, unserer Persönlichkeit ist eingegliedert in die sozialen Orte, in denen wir leben. Bis ins Alter leben wir in Abhängigkeit von Normen und Werturteilen, um uns miteinander zurechtzufinden. Wie werde ich gespiegelt, wie spiegele ich mich?

Kindheit: Bei Rassismus wird ihnen schlecht1

ich werde trotzdem afrikanisch seinauch wenn ihr mich gerne deutsch haben wolltund werde trotzdem deutsch seinauch wenn euch meine schwärze nicht paßtich werde noch einen schritt weitergehenbis an den äußersten randwo meine schwestern sindwo meine brüder stehenwo unsere FREIHEIT beginntich werde noch einen schritt weitergehen undnoch einen schritt weiterund wiederkehrenwann ich willwenn ich willgrenzenlos und unverschämt bleiben

– May Ayim

May Ayim machte meinen Anfang. Sie, die Poetin, 1960 geboren. Vorreiterin der Schwarzen Bewegung in Deutschland, die mit ihrem politischen Wirken und Lyrik zur Geschichte und Gegenwart Schwarzer Menschen bekannt wurde. Mit 16 Jahren lernte ich ihre Arbeit kennen. Damals steckte ich mitten im Identitätswirrwarr der Born-in-the-80s-Kinder, deren Eltern oder Elternteile einmal nach Deutschland migriert waren. Ich, das Kind einer weißen Mutter aus Bayern und eines Schwarzen Vaters aus Ghana, aus der Metropole Kumasi, das zusammen mit ihnen in Frankfurt am Main aufwächst. Meine Jugend war eine, in der ich mein Weiß sein gelernt hatte und mein Schwarzsein nicht kannte. Sie war lange begleitet von der Sehnsucht nach vermeintlich erstrebenswerten Attributen: Ich wollte glatte Haare haben und weiß sein. Ich hasste es, in der Sonne dunkler zu werden, und benutzte als Jugendliche Sunblocker. Ich dachte, dass das mein Leben leichter machen würde. Was für ein Irrtum.

Es war die Zeit der Schulpraktika, und ich hatte damals wochenlang nach einer Beratungsstelle gesucht, weil ich wissen wollte, wie eine Psychologin arbeitet. Beim Verband der binationalen Ehen und Partnerschaften (iaf) bekam ich den Zuschlag, durfte in Sitzungen zuhören, wie Paare aus Familien wie meiner Rat suchten. Es ging um die Möglichkeit zu heiraten, um Familiennachzug, interkulturelle Fragestellungen, um Kindererziehung und Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Irgendwann wurde mir der Sammelband Farbe bekennen in die Hand gedrückt. Ayim hat darin zusammen mit anderen Schwarzen Frauen 1986 über ihr Leben und die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland geschrieben. Fast nichts hatte ich vorher darüber gewusst, und mein Verlangen nach Wissen über mich selbst war damals so unglaublich groß.

Meine Eltern ahnten zu dieser Zeit nicht wirklich, was in mir vorging. Zumindest glaube ich das, weil ich es ja selbst nicht genau wusste. Wie auch? Meine Mutter, eine Krankenschwester, die Anfang der 70er Jahre als junge Frau aus dem Dorf in die Stadt gezogen war, hatte viel Empathie, aber wenig Wissen über das, was Rassismus insbesondere für ein Kind wie mich bedeutete. Und mein Vater, der noch vor dem Ende der Kolonialzeit in Ghana geboren wurde, hatte wieder andere Erlebnisse und ein anderes Verhältnis zu Deutschland und dem Thema Rassismus als ich. Lange hoffte er, wie ich heute weiß, dass ich weniger Probleme haben würde als er, weil es meine weiße Mutter gab.

Erst als ich erwachsen war, begriff ich die Geschichte meiner Eltern und konnte die Erfahrungen einordnen, die Paare wie sie bis heute machen. Wie es für sie war bei der Wohnungssuche, die Blicke, das Unverständnis, aber auch das Nichtverstehen zwischen den beiden. Ich habe ihre sehr individuellen und besonderen Geschichten oft beweint, weil sie mich geprägt haben wie all die Kinder, die in ähnlichen Strukturen wie ich aufgewachsen sind. Heute verstehe ich, wie sehr sich die Erfahrungen meines Vaters in Deutschland von meinen nicht nur als ein in Deutschland geborenes Kind der sogenannten zweiten Generation unterscheiden, sondern auch welchen Unterschied unsere verschiedene Hautschattierung für andere macht. Welche Unterschiede unsere Genderdifferenz und die Anerkennung unserer Ausbildungen spielt. Ich lernte, dass es unterschiedliche Formen einer transgenerationalen Weitergabe von Stress und Trauma gibt und was das für mich als Nachkommin eines ehemals Kolonisierten bedeutet. Was es heißt, als Heranwachsende nichts über dieses Kapitel meiner Geschichte und die Rolle Deutschlands darin gelernt zu haben. Über »Maafa«, den Swahili-Begriff für »Große Katastrophe«, der die Verbrechen gegen die Menschen afrikanischer Abstammung beschreibt, wie zum Beispiel den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia.

Erinnern wir uns kurz an ein Land, das als deutsche Kolonie einst Deutsch-Südwestafrika genannt wurde. Deutsche Siedler*innen besetzen das Land der Herero und Nama, die sie mit abfälligen Namen bezeichnen. 1904 erklärt Herero-Führer Samuel Maharero den Kolonialisten den Krieg. Mit der Schlacht am Waterberg unter General Lothar von Trotha wendet sich der Aufstand in einen Vernichtungsfeldzug. Von 1904 bis 1908 fanden rund 80 Prozent der 80 000 Herero und zehn Prozent der 20 000 Nama, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, den Tod. Menschen: erschossen, vertrieben, verdurstet und verhungert, als sie in die fast wasserlose Omaheke-Wüste flüchteten, die abgeriegelt wurde. Menschen, die in Konzentrationslagern an Seuchen, Unterernährung und den Folgen der Zwangsarbeit starben oder durch medizinische Experimente ermordet wurden. Ihre Skelette wurden zu vermeintlichen Forschungszwecken nach Berlin geschickt. Denn die Begehrlichkeiten richteten sich nicht nur auf das Land und seine Schätze, sondern auch die Forschung hatte ein großes Interesse an den Körpern der kolonialisierten Menschen. In Deutschland sollte ein umfassendes »Archiv« aufgebaut werden. Schädelmessungen sollten die vermeintliche Überlegenheit weißer Menschen beweisen, sagte mir der Kolonialhistoriker Joachim Zeller. Weiblich gelesene Menschen wurden in den Arbeitslagern gezwungen, die Köpfe von Toten mit kochendem Wasser und Glasscherben von Haaren und Haut zu säubern. Um die Muskulatur zu erhalten, wurden sie in Formaldehyd eingelegt. Die Kisten sandte die »Schutztruppe« zum Beispiel an das Pathologische Institut in Berlin, wo sie vermeintlich anatomischen Untersuchungen unterzogen wurden. Schon damals wurden Formen der späteren Praxis der Eroberung von »Lebensraum« und »Vernichtungskrieg« praktiziert, die im Zweiten Weltkrieg wiederkommen sollten.

Nicht nur Wissenschaftler, auch Abenteurer, Kaufleute und Militärs bestückten als Kolonialisten über Jahrzehnte Universitätsarchive und private Sammlungen mit Gebeinen und Präparaten. Diese vermeintliche Forschung basierte auf Mord, Vergewaltigung und dem Handel mit Schwarzen Menschen. Der Anthropologe und Eugeniker Eugen Fischer war persönlich für die Freiburger Alexander-Ecker-Schädelsammlung zuständig, die bis in das Jahr 1810 zurückgeht. Später zählte er zu den führenden Köpfen der eugenischen Forschung des Nationalsozialismus, die die Lehre von der vermeintlichen Verbesserung des biologischen Erbguts von Menschen beschreibt. Aus Namibia hatte er sich zahlreiche Schädel und Weichteile schicken lassen und 1908 selbst die Gräber von Topnaar-Nama geöffnet und deren Leichname entwendet. Ich war dabei, als die Berliner Charité 2014 einer 60-köpfigen Delegation aus Namibia 20 Schädel von Opfern zurückgab. Vier Frauen, 16 Männer, darunter ein Kind. Köpfe von Menschen ohne Namen, ausgestellt in Glasvitrinen, verpackt in hellen Pappkartons. Menschliche Überreste von Opfern des deutschen Kolonialkrieges, die unter fragwürdigen Umständen nach Berlin gekommen waren. Elf von ihnen waren Nama, neun Herero, das konnten die Forscher an den abgeschliffenen Zähnen feststellen. 18 der Toten waren im Konzentrationslager der Halbinsel Shark Island (Haifischinsel) vor der Lüderitzbucht umgekommen. Drei von ihnen hatten unter dem im Lager verbreiteten Skorbut gelitten. Die afrikanische Kolonialgeschichte holte Deutschland damals ein, schrieb ich in einem Artikel für den Tagesspiegel und erinnere mich an entsetzte Gesichter von Kolleg*innen, als ich das Thema anbot.

Jahrelang hatten die Nachfahren der getöteten Herero und Nama um die Rückführung der Gebeine gekämpft. Noch heute lagern Tausende in den Depots und Sammlungen von deutschen Museen, Universitäten, Kliniken und Privatsammlungen. Erst 2015 gab es eine vorsichtige Anerkennung des Völkermords durch den damaligen Sprecher des Auswärtigen Amtes. Und es dauerte bis zum Mai 2020, bis offiziell wurde, dass Deutschland als erste westliche Regierung anerkennt, dass während der Kolonialzeit ein Genozid verübt worden ist. Die Regierung wollte bezahlen, aber keine Reparationen. Es gab Diskussion und Kritik über die angekündigten 1,1 Milliarden Euro Entwicklungshilfe für die nächsten 30 Jahre von Seiten der Nachfahren der Opfer, weil nicht mit ihren zuständigen Vertretungen verhandelt wurde. Viele fürchten, dass die »Wiederaufbauhilfe« nie bei ihnen ankommt, weil sie weder der eigenen noch der deutschen Regierung vertrauen. Fast sechs Jahre hatten Deutschland und Namibia unter scharfer Kritik über die »Aussöhnung« gestritten. Im November 2021 hatte das namibische Parlament die »gemeinsame Erklärung« mit dem deutschen Staat dann nicht ratifiziert.

Für Genozidforscher*innen wie Jürgen Zimmerer und Kristin Platt zeigte dieses nicht zustande gekommene Abkommen, dass ein wichtiger Perspektivwechsel nicht vollzogen wurde: Es sei kein Versöhnungs-, sondern ein Spaltungsabkommen, und die Proteste in Namibia zeigen die Verbitterung dort und hier. So ist das eine die historische Verantwortung und das andere die Frage danach, ob Schuld verjähren kann. In Namibia ist Kolonialismus bis heute in vielerlei Hinsicht Gegenwart. Die Geschichte des Kolonialismus nicht sehen und sich mit den Folgen nicht beschäftigen zu wollen nennt sich »koloniale Amnesie«. Sie erklärt, warum ich in der Schule nichts über diese Geschichte gelernt habe und mir ein Wissen über diese Vergangenheit und ihre Folgen über die Jahre selbst aneignen musste. Es gab deshalb auch in mir einiges zu heilen, aber nur so kann meine Geschichte auch eine heilsame für mein Kind werden.

Als anders markiert werden. Nicht der weißen Norm entsprechen. Aus der Rolle fallen. Wann habe ich das zum ersten Mal gespürt? Ich war im Kindergarten, als ich meinem Vater zu Hause unter Tränen berichtete, dass mich ein anderes Kind mit Schokolade verglichen hatte. Zwar konnte er mir damals Schwarzsein und Rassismus nicht erklären, aber er schenkte mir seinen Lieblingsanhänger: eine goldene Plakette mit einem aufgedruckten LKW, die mich stark machen sollte. Stark sein, wenn du in den Augen anderer aus der Rolle fällst. Eine Botschaft, die mich lange innerlich getrieben hat. Damit bin ich nicht alleine.

Mikroaggressionen nannte der Sozialpsychologe Chester Pierce 1970 die vielen kleinen Stiche, die ständigen verbal und nonverbal abwertenden Erfahrungen und Botschaften, die sich in einem Menschen ansammeln. Sie sind subtil, unauffällig, latent aggressiv. Wie kleine Mückenstiche, wenn eine Person jeden Tag gestochen wird, und das immer an der gleichen Stelle. Mikroaggressionen wirken erschöpfend. Vor allem, wenn du als Kind und junge Erwachsene keine Worte für das Erlebte hast und wenn du überhaupt erst im Nachhinein realisierst, womit du gerade konfrontiert wurdest. Es ist alltäglicher Rassismus, der etwas beschreibt, das auf der Ebene alltäglicher Szenarien und Nebenschauplätze passiert. Der Historiker Ibram X. Kendi nennt sie auch »rassistische Angriffe«, weil es alles andere als harmlos ist, wenn du jeden Tag Rassismus erfährst. Die Autorin Alice Hasters bringt vieles davon in ihrem Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten auf den Punkt und schreibt in einem weiteren Text: »Dinge sind nicht deshalb rassistisch, weil sie verletzend sind, sondern verletzend, weil sie rassistisch sind.« Das erklärt, wie sich still und leise die Verbindung zwischen deinem Kopf und Bauch trennen kann und wie schmerzlich es ist, wenn du dir dessen bewusst wirst. Wenn du Schritt für Schritt aufarbeitest, dass andere dich, dein Aussehen oder Verhalten kommentieren und dich einsortieren, und du vielleicht gelernt hast, dir das nicht anmerken zu lassen. Dass sich für dich der Boden auftut, wenn wieder einmal das N-Wort fällt. Du lernst, wie Rassismus zu deinem Lebensbegleiter wird, mit dem du dich immer wieder, im Kleinen wie im Großen, arrangieren musst, weil so viele Menschen ihn nicht sehen (wollen) – vor allem dann, wenn du die einzige betroffene Person in einem Raum bist, wenn du ihn ansprichst, und diejenigen, die nicht betroffen sind, die Geschichte einfach wegreden oder sich umdrehen mit der Bitte, du sollst weniger empfindlich sein. Ich erinnere mich an unzählige Erlebnisse, die davon berichten, wie es ist, wenn dich deine Differenz in einer Welt der vermeintlich Gleichen zu einer Anderen macht. Mikroaggressionen treffen auch Menschen, die wegen ihrer Genderdifferenz oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Sie zwingen sie dazu, sich immer wieder erklären zu müssen und Vorannahmen und Vorurteile richtigzustellen. Was aber nicht heißt, dass alle Menschen die eigene Geschichte und die Erfahrungen damit aufarbeiten. Nicht alle erkennen, sehen und fühlen die Ausgrenzung, die sie erleben, oder nehmen sie überhaupt als solche wahr. Auch wollen nicht alle Menschen darüber sprechen, Expert*innen sein oder Bücher schreiben. Andere übersehen oder übergehen ihre Erlebnisse, manche sind und bleiben wütend darüber und kommen beispielsweise nicht gut klar mit weißen Menschen, weil sie im Schmerz sind, andere lachen die Erfahrungen weg. Wieder andere glauben, dass sie selbst für ihre (Rassismus-)Erfahrungen verantwortlich sind, oder wollen mit Antirassismus nichts zu tun haben. Genauso, wie es auch Personen gibt, die Feminismus für Unsinn halten.

Schwarze Menschen sind geprägt von ihren sozialen und familiären Hintergründen, der Zeit und den Orten, an denen sie geboren wurden. Auch von Privilegien, die sie in bestimmten Punkten im Intersektionen- bzw. Diskriminierungsspektrum genießen. Mir ist bewusst, auf welcher Seite dieser Welt ich geboren bin und welche Vorteile es für mich hat, nicht in absoluter Armut aufgewachsen zu sein, ob ich das nun will oder nicht. Ich weiß, dass ich mich heute zum bildungsbürgerlichen Mittelstand zählen kann, dass ich mir um mein Auskommen keine Sorgen (mehr) machen muss. Ich will damit sagen: Schwarze Menschen sind unterschiedlich, keine homogene Gruppe. Eigentlich sollte das keine Überraschung sein, und trotzdem werden sie oft so gesehen und behandelt.

Ayim hat als Jugendliche in mir die Neugierde geweckt, mehr über unsere und damit meine Schwarze Geschichte in einem größeren Kontext zu erfahren. Ich erinnere mich noch daran, wie ich während des besagten Praktikums die Mitherausgeberin von Farbe bekennen, Katharina Oguntoye, kontaktierte. Wir wollten uns treffen, und ich sehe mich noch in der Telefonzelle stehen und ihre Entschuldigung hören, weil sie mich versetzen musste. 1996 gab es noch keine Handys, und SMS schreiben war noch nicht. Oguntoye lud mich während dieses Telefonats zur lokalen Trauerfeier für Ayim in Frankfurt ein, die sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Ich war schockiert. Ich ging nicht hin und habe mich nicht wieder bei Oguntoye gemeldet.

Damals wusste ich noch wenig über Ayim, ihr Leben und die Community. Ich wusste nicht, welcher Raum mich an diesem Abschied erwartet hätte, was Schwarze Gemeinschaft bedeutet und dass gemeinsames Trauern heilsam sein kann. Ich wusste nicht, dass Ayim in Zukunft nicht der einzige Schwarze Mensch sein würde, den ich einmal verabschieden würde. Und dass ich noch viele weitere intensive Erfahrungen auf meinem Weg machen würde, um eine selbstbewusste Schwarze Frau zu werden.

Damals traute ich mich einfach nur nicht hinzugehen, und Oguntoye sollte ich erst zwölf Jahre später begegnen, als ich ein Porträt über sie, ihre Arbeit und ihr Leben als Schwarze lesbische Frau schrieb. Damals, 1996, endete meine jugendliche Kontaktsuche nach Schwarzen Menschen mit einem Anruf bei Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) in München, die 1986 als Initiative Schwarze Deutsche gegründet wurde, weil die afrodeutsche Bewegung damals von den Perspektiven Schwarzer Menschen mit einem weißen und einem Schwarzen Elternteil wie mir dominiert wurde. Es ging ihnen um Fragen nach Zugehörigkeit als Schwarze Deutsche und nach dem Auflösen von rassistischen Vorstellungen. Und es ging ihnen um das Aushandeln und Finden einer eigenen, einer positiven Identität.

Noch heute führt Della ähnliche Telefonate mit suchenden Menschen wie mir damals. Der Bedarf nach positiver Selbstfindung von Menschen ohne Schwarze Lebensbezüge ist weiterhin groß. Damals konnte er wenig für mich tun, weil es in Frankfurt keine aktive Jugendgruppe gab. Zu dieser Zeit war in Deutschland Rassismus kein Begriff, auf den sich bezogen werden konnte. Bei Vorfällen wurde das Label Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit genutzt. Auch ich wusste bis zu meinem Praktikum nichts über Rassismus. Ich schrieb im Anschluss für das Magazin der iaf meine ersten Artikel über das Thema. Mit Titeln wie »Schwarz-weiß-kariert« oder der Antwort auf einen Leserbrief, in dem ich erklärte, wie Kinder wie ich rassismusfrei bezeichnet werden sollten. Wie dankbar bin ich, dass ich schon damals an eine Selbstbezeichnung herangeführt wurde, die sich gut für mich anfühlte. Ich weiß, wie wichtig das für meinen späteren Findungsprozess war. Ich legte damals den abwertenden Begriff »Mischling«2 für Kinder wie mich ab und wurde Schwarz. Zwar verstand ich zu diesem Zeitpunkt nur im Ansatz, was das Wort als politische Kategorie bedeutet, aber zumindest wusste ich, dass es eine Lebenserfahrung beschreibt, nämlich meine. Es war der erste Schritt meiner Emanzipation. Ich absolvierte ihn im Stillen, denn bis ich Mitte zwanzig war, war da keine Person, mit der ich über diese Dinge hätte sprechen können.

Heute glaube ich, dass die Tatsache, dass ich mich während meines Studiums zur Expertin meiner eigenen Themen gemacht habe, eine unterbewusste Entscheidung war. Irgendwann in den Jahren zwischen 2000 und 2006 erklärte ich Migration und Rassismusforschung zu meinen Schwerpunkten, und sie wurden gleichzeitig Teil meiner Selbstfindung. Wissenschaftliche Texte sog ich auf und eignete mir ein akademisches Wissen an. Wenn ich heute im Privaten über meine Rassismuserfahrungen spreche (und mein Umfeld wird das sicher bezeugen), dann schwingt deshalb auch immer gleich die Analyse mit. Das habe ich jetzt so eingespielt, mir antrainiert. Das hat mich gerettet, und das bekomme ich nicht mehr los. Es ist ein Teil von mir geworden.

Was ist dieser Rassismus in seinen unterschiedlichen Spielarten, Formen und Ebenen, für den es wissenschaftlich gesehen einige Definitionen gibt? Der als Begriff in Deutschland für viele ein rotes Tuch ist und für den gerne extremistische Menschen verantwortlich gemacht werden? Es wird nicht gerne darüber geredet, weil viele ihn mit den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziieren. Doch finden sich rassistische Menschen, Strukturen und Sprache bis heute in unserer Mitte.

Rassismus zeichnet sich durch seine Permanenz, Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit aus. Nach dem Soziologen Robert Miles wurde mit dem Rassismus-Begriff erstmals auf die rassistischen Vorgänge im 18. und 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Das damalige Europa war das Zentrum in der Entstehung rassistischer Ideologie. Er etablierte sich als europäische Denktradition unter dem Schirm der Wissenschaft. Sie erfand die sogenannte »weiße Rasse« mitsamt dem Christentum als vermeintlich naturgegebene Norm, was zeigt, dass »Rasse« als Vorstellung ein Ergebnis von Rassismus ist. Eine derartige biologistische Unterscheidung von Menschen ist falsch, trotzdem hält sich diese Vorstellung bis heute. Der Begriff »race« beschreibt die soziale Konstruktion und doppelte Bedeutung: Es gibt keine »Rassen«, aber Menschen glauben, dass es sie gibt, und diskriminieren deshalb andere wegen ihrer Unterschiede. Und diese wiederum werden sozial, politisch, religiös oder kulturell begründet. Race ist die Kategorie, und die verschiedenen Rassismen sind die Praxen, um Unterdrückung herzustellen, zum Beispiel die zwischen weißen und Schwarzen Menschen, muslimisch gelesenen Menschen wie Frauen mit Kopftuch oder sogenannten »Nordafrikanern«, von denen unklar ist, wie sich diese Zugehörigkeit äußerlich eigentlich feststellen lässt, weil Menschen ihre Staatsbürgerschaft nicht angesehen werden kann und Nordafrika oder die arabische Welt einen Raum voller Stereotypen darstellt. Erinnern wir uns an das Aufleben dieser Stereotype des vermeintlich kriminellen Ausländers als Folge der Debatte um die Silvesternacht von Köln 2015: Sie geschah inmitten der großen Aufnahme von Schutzsuchenden, um die humanitäre Aktion mit populistischen Schlagworten zu diffamieren. Das Thema sexualisierter Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Personen verschob sich, und der rassistische Phänotyp des vermeintlich »vergewaltigenden Muslims« wurde gesetzt und via Polizeisprache der sogenannte »Nafri« (Nordafrikanischer Intensivstraftäter) in der Öffentlichkeit etabliert. Die rassistische und antisemitische Figur des »Vergewaltigers« ist Jahrhunderte alt. All das heißt nicht, dass sexualisierte Gewalt als Problem zu vernachlässigen ist. Viel ist damals unter dem Schlagwort »Nein heißt Nein« und dem geänderten Paragrafen 177 im Strafgesetzbuch berichtet und darüber gestritten worden, dass diese Form der Gewalt ethnisiert oder »islamisiert« sei, wie es 2016 Feminist*innen unter dem Hashtag #Ausnahmslos kritisierten und sich gegen eine Instrumentalisierung von rechts sowie eine mediale Berichterstattung formierten, die mit reißerischen und stigmatisierenden Deutungen Millionen von Menschen unter Generalverdacht stellte.

Dieses ist eines von vielen Beispielen menschenfeindlicher Konstruktionen. Und viel von meinem theoretischen Verständnis darüber orientiert sich an den Ausführungen des Soziologen Stuart Hall, der 1932 auf Jamaica geboren wurde und 2014 in London starb. Er deutete Rassismus nicht nur als Ideologie, sondern auch als Praxis staatlicher Politik. Also eine soziale Praxis, die körperliche oder imaginierte kulturelle Merkmale von Menschen zur Grundlage macht, um sie zu klassifizieren, zu hierarchisieren und abzustufen. Sie also nicht nur in Arme und Reiche, sondern in Weiße