Die Schuld des Schweigens - Gebhard Xaver Bock - E-Book

Die Schuld des Schweigens E-Book

Gebhard Xaver Bock

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Beschreibung

Wie Untertanen haben die Deutschen die Machtergreifung Hitlers hingenommen. Sind wir heute konditioniert, unsere Demokratie zu verteidigen? Wir müssen sie leben, damit sie überlebt. Das Wissen macht verantwortlich. Heute, da die Rechtsextremen sich wieder aus ihrem Hinterhalt wagen, sind wir zur Wachsamkeit aufgerufen. Aber auch global wirkende Großkonzerne gefährden die Demokratie. Lobbyisten, politische Berater, Präsidentenflüsterer bringen Gesetzesvorlagen ein und formulieren Handelsverträge, mit denen ihr Einfluss legalisiert werden soll. Ein Blick in das AfD-Parteiprogramm zeigt: diese Partei geht von einem falschen Menschenbild aus.

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Seitenzahl: 143

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Die kursiv gesetzten Textpassagen stehen in der Übereinstimmung mit den Erfahrungen und Wertevorstellungen des Autors. Diese mögen dem Leser zu persönlich sein. So kann er sie auch in eigener Betrachtung ergänzen oder ersetzen.

Inhalt:

Prolog

Hochkulturen

Diktatur und Vielfalt

Schuld

Die Schuld der Deutschen

Was ist geschehen?

Ein unheilvoller Aufbruch

Deutschland im Krieg

Viele Siege und eine Niederlage

Das kann nicht sein

Am Ende des Krieges

Nach dem Krieg

Die Schuld des Wissens

Die Tragödie hat zwei Seiten

Kollektive Schuld

Die Schuld des Werdens

Ein Akt der Menschwerdung

Ein schmaler Grat

Die Situation heute

Verwirrung um Israels Kriege

Die Rolle der Religionen

Das Schweigen wird zur Schuld

Spiegelung

Die Leiden in unserer Zeit

Wer ist das Volk?

Die Souveränität Deutschlands

Ein übles Spiel in Nahost

Ein militär. Einsatz u. seine Geschichte

Vielfalt, Freiheit, Demokratie

Das Wesen von Gut und Böse

Ich will es tun

Aus der Gegenwart in die Zukunft

Die Übel in unserer Zeit

Kriege

Was wollen diese Präsidentenflüsterer?

Die freie Marktwirtschaft versagt

Was können wir tun

Wege in die Zukunft

Eine Begegnung mit gestern

Die Tiefe des Geschehens

Morgendämmerung

Dank

Prolog

1.

Hochkulturen

Hochkulturen keimen bevorzugt auf, wo sich unterschiedliche kulturelle Strömungen begegnen.

Die Ägypter entwickelten ihre erste Kultur im dritten Jahrtausend v. Chr., nachdem sich verschiedene Herrschaftsclans zusammengeschlossen hatten.

Der Austausch innerhalb der Stadtstaaten hat zur ersten griechischen Hochkultur geführt.

Die römische Kultur ist ohne die griechischen Einflüsse nicht denkbar, wurde dabei auch von anderen am Mittelmeer angesiedelten Völkern befruchtet.

Das Völkergemisch der Juden hat nach dem Auszug aus Ägypten in ihren Wanderungen durch die Wüste und danach im verheißenen Land zu ihrer ersten Zivilisation gefunden. In der Babylonischen Gefangenschaft wurden ihr Flügel verliehen, und im Mittelalter entwickelte sich die jüdische Hochkultur in der Diaspora.

Die mitteleuropäische Hochkultur entfaltete sich, wo Menschen aus verschiedenen Staaten und unterschiedlicher Herkunft im Austausch miteinander standen.

Kultur entwickelt sich im bewegten Geist, wo ausgetretene Wege verlassen und neue gesucht werden. Sie ist ein Merkmal des unaufhaltsamen Werdens, der Evolution.

Der Niedergang einer Hochkultur war immer Erstarren, das von Potentaten zur Sicherung ihrer Macht herbeigeführt wurde. Mangelnde Vielfalt lässt Hochkulturen zur Monokultur verkümmern.

Machtbesetzte Päpste haben die Kirche gelähmt. Bewegung war nur in geschützten oder unbeachteten Refugien möglich. Im Fortgang der Aufklärung und Säkularisierung ist heute das katholische Fußvolk ihren Oberen bereits vorausgeeilt. So haben in Irland die Menschen für die gleich-geschlechtliche Ehe gestimmt. Das Verständnis zwischen oben und unten ist in unrealistischen und machtgeilen Ansprüchen der Oberen verdunstet. Die Spiritualität blieb auf der Strecke.

Wie weit wird sich die Kirche unter Papst Franziskus den volksnah gewachsenen Werten wieder nähern? Wo Spiritualität, zeitgemäße Seelsorge und Ethik den Bedürfnissen der Menschen entgegen kommen sollten, klafft ein Vakuum. Auch das soziale Engagement der Kirchen kann es nicht füllen. Es gleicht nur Versäumnisse der Politik aus, und dies lückenhaft.

Der Strom des Lebens ist ein Schöpfungsakt. Die Schöpfung will verwirklichen. Erfahrungen und Erkenntnisse münden im Fluss des Werdens. Hier kann eine zeitgemäße Spiritualität wieder ihren Platz finden.

Im Stillstand versäumen wir die Schöpfung.

Moderne zeitgemäße Seelsorge will die Menschen auf dem Weg des Werdens begleiten. Erkennen führt zum Werden. Dies mag sich auch auf unbekannten Wegen vollziehen, die vielleicht nicht nur, aber auch spirituell erkennbar sind.

Kulturelle Entwicklungen gehen in der Regel von unten aus. Sie blühen auf, wenn sie von oben gefördert, zugelassen oder zumindest nicht blockiert werden. Weil Fehlentwicklungen möglich sind, bedarf es der Vielfalt. Nur in der Vielfalt kann sich das Bessere gegen das Gute durchsetzen.

Dies ist das Prinzip der Schöpfung.

Jeder Zugewinn an Wissen ordnet uns neue Verantwortung für uns selbst und die Schöpfung zu.

Als Wissende sind wir nicht nur der Umwelt, sondern auch dem eigenen Werden verpflichtet.

2.

Diktatur und Vielfalt

Es ist unsere Aufgabe, die Vielfalt zu verteidigen.

Gerade in unserer Zeit konzentrieren sich Konzerne, politische Strömungen, Wirtschaftsräume, Religionen und Ethnien zu Machtblöcken, die den Menschen bequeme selbstbestätigende Identifikation anbieten, sie dabei freilich zu verführbaren, am Ende missbrauchbaren Herdentieren macht.

Die Vielfalt ist die natürliche Feindin der Diktatur. Weil sie Kontrolle erschwert oder unmöglich macht, liegt es im Wesen der Diktatur, die Vielfalt zu unterdrücken. Dabei ist es gleichgültig, ob ein Tyrann oder eine machtbesetzte selbstgerechte Gruppe das Sagen hat.

Eine erstarrte Monokultur ist immer das Merkmal der Tyrannei. Es kann ein Despot sein. In unserer Zeit müssen wir allerdings erkennen: Es gibt auch die Tyrannei der gierigen Machtstrategen aus der Welt der Finanzwirtschaft und globalen Konzerne.

Dort wo Entscheidungen ausschließlich dem finanziellen Gewinn dienen, agieren sie im Gehäuse der Demokratie. Durch Täuschung, Fehlinformationen, Korruption, Handelsverträge und Verleumdungen wird Ethik ausgehöhlt und Platz geschaffen für Vorteilsnahme und Entrechtung der Bürger.

Auch vor Kriegen schrecken diese Kräfte nicht zurück.

In kultureller Vielfalt kann und soll der Mensch seine Neigungen und Fähigkeiten entdecken und seine Individualität entwickeln. So wie wir schon bei der Geburt verschieden konditioniert sind, sollen Entwicklungen in unterscheidbare Richtungen möglich sein.

Dafür braucht gerade der junge Mensch ein sozial gesichertes Umfeld. Es geht um den Freiraum, in dem sich jeder orientieren und entfalten kann, sich bestätigt findet und der auch die soziale Gesellschaft rechtfertigt.

Die grenzenlose Freiheit gibt es freilich nicht. Wer sich gegen die Schöpfung wendet, muss trotz aller Nächstenliebe korrigiert, wenn notwendig reglementiert werden. Leitfaden ist die Ethik. Die Bergpredigt kann hier die Richtung weisen.

An das individuelle Bewusstsein gebundene Verantwortung soll kontrollieren und korrigieren. So kann sie zur Krönung der Persönlichkeit führen.

Verantwortung tragen ist Privileg und Pflicht der Bürger. In der Verantwortung für das Geschehen entwickeln wir die Bausteine für die Ethik in unserer Zeit.

Eine funktionierende Demokratie braucht auch kulturelle Vielfalt und muss sich an ihrer gemeinsamen getragenen Ethik messen lassen.

Die Ethik darf sich nur hin zur Menschlichkeit, niemals rückwärts bewegen.

Hier liegt ein bedeutsames Problem bei der Integration von Flüchtlingen. Wo geltende Ethik Toleranz gegenüber Andersgläubigen gebietet, darf der Andersgläubige weder Blutrache noch Kinderehen einführen, und schon gar nicht die in seinen Augen „Ungläubigen“ verachten, und sei es noch so sehr in seiner religiösen Identität verhaftet. Hier muss sich der Immigrant vom Missbräuchlichen seiner Identität lossagen, sonst bleibt die Integration misslungen.

Integration bedeutet hier Erweiterung der Identität durch Individualisierung in Verantwortlichkeit.

In der Suche nach Gott muss das Innere zum Äußeren finden und das Äußere zum Inneren.

Auch die Vielfalt ist in Gottes Wesen, das auch dabei nur einen Nenner hat: die Liebe.

Schuld

1.

Die Schuld der Deutschen

Die Deutschen stehen schuldig vor der Welt. Sprachlos können sie ihre Schuld nicht bekennen. Es dominiert das Schweigen.

Eine Schuld anzunehmen und zu formulieren ist jedoch notwendig, damit sich auch die Opfer im Verzeihen von ihrem Trauma befreien können.

Die individuelle Schuld der Naziverbrecher mag teilweise aufgearbeitet worden sein. Die kollektive Schuld, sie ist keine spezifisch deutsche, wird kollektiv verschwiegen.

Jüngere Generationen stehen erschüttert und mit zerrissenen Herzen vor der Schuld ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. „Wie konnte es passieren“, fragen sie und stehen allein gelassen vor der Mauer des Schweigens.

Den Älteren hat es die Sprache verschnürt.

Sie sehen sich beschuldigt, ohne eine Untat getan zu haben. Ihre Versuche sich zu rechtfertigen wurden zu oft als Leugnen der Untaten missdeutet.

Mit ihrem Schweigen wehren sie sich nun gegen die Schuldzuweisung an das Kollektiv, dem sie sich nicht entziehen wollen oder können. Sie sehen freilich sehr wohl, dass menschliche Nachlässigkeiten, Schwächen und Versäumnisse die Verbrechen der Machthaber erst möglich gemacht haben.

Menschliche Nachlässigkeiten, Schwächen und Versäumnisse taugen nicht als Entschuldigung für die Verbrechen des NS-Regimes.

Und doch müssen wir erkennen, dass genau die zur größten Katastrophe in der deutschen Geschichte geführt haben.

Nach der Befreiung des KZ Buchenwald brachten alliierte Soldaten Einwohner aus Weimar auf das Gelände, um ihnen angesichts der Toten die Schuld der Deutschen, aufzuzeigen. Die Menschen konnten nicht hinsehen, diese Schuld war untragbar.

Das Wegsehen mag den Menschen damals geholfen haben, zu überleben. Auf historische Dauer ist Wegsehen und Schweigen keine Lösung.

Viele Menschen haben während der Naziherrschaft gelitten, viele sind zerbrochen. Da mögen Teile meiner Darstellung als unzulässige Verallgemeinerungen erscheinen. Es ist nicht mein Ziel zu verharmlosen, sondern die Folgen des Schweigens aufzeigen.

Im Namen der Deutschen wurden grausige Verbrechen begangen. Eine kollektive Schuld ist nicht justiziabel. Wir weisen die Darstellungen eines mordlüsternen deutschen Volkes zurück, und doch ist eine Schuld geblieben. Wir müssen sie formulieren und bekennen, damit die Opfer verzeihen können.

„Das geht mich nichts an. Damit habe ich nichts zu tun“, mag so mancher sagen und verweigert damit seinem historischen Erbe die Annahme.

Dieses Erbe ist aber nicht nur NS-Verbrechen, Holocaust und Weltkrieg, sondern auch Bach, Beethoven, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kant, Nietzsche. Von Albertus Magnus bis zu den Geschwistern Scholl spannt sich der Bogen der historischen Persönlichkeiten, deren Erben wir ebenso sind. Dieses Erbe ist ein Ganzes. Wir können es nicht teilweise annehmen.

70 Jahre danach fragen die Kinder, Enkel und Urenkel immer noch fassungslos, wie es geschehen konnte, und stehen allein gelassen vor der Mauer des Schweigens.

Wir, die nachfolgenden Generationen, dürfen uns dem historischen Erbe nicht verweigern, wenn es uns nicht zum unbegreifbaren Volk von Mördern stempeln soll.

Dem unfassbaren Leiden der Opfer steht das hilflose Schweigen der Deutschen gegenüber. Die Waage steht nicht im Gleichgewicht. Indem wir aus dem Geschehenen lernen und uns nicht selbst im Wege stehen, können wir auf Verständnis hoffen. Wir haben die Lehren aus unserer Geschichte zu verinnerlichen.

Gerade heute, da sich rechtslastige Gruppierungen wieder aus dem Hinterhalt wagen, müssen wir uns erinnern. Je mehr wir uns von der Tagespolitik abwenden, umso mehr geben wir den subversiven Kräften Raum für ihr unheilvolles Wirken.

Können sich Menschen begegnen, ohne aneinander schuldig zu werden? Können wir in unserer Not die Würde des Anderen erkennen?

Ein Bekenntnis ist notwendig, damit zuletzt nicht alles umsonst gewesen sein möge.1

1 Berthold Auerbach (1812-1882) beklagte die misslungene Integration der Juden mit den Worten: „Es ist alles umsonst gewesen.“

2.

Was ist geschehen?

Kollektive bilden sich spontan bei gemeinsamen Interessen und Neigungen. Sie manifestieren die Vielfalt der Gesellschaft und haben Gestaltungskraft.

Auch die politische Macht stützt sich auf Kollektive, die zum Zweck als politischen Parteien geschaffen und gepflegt werden. Interessen, auch egoistische, und Gestaltungswillen werden durch demokratische Wahlen legalisiert. Dies kann nicht verhindern, dass Minderheiten benachteiligt, sogar ihrer Grundrechte beraubt werden. Deshalb braucht die Demokratie Korrektive, ethische und moralische Werte, die von Kirchen, Religionen, Künstlern und herausragenden Persönlichkeiten vertreten, in der Verfassung verankert, und vor allem von einer unabhängigen Presse dargestellt und in die öffentliche Diskussion getragen werden.

Individuell ausgeprägte verantwortungsbereite Persönlichkeiten sind ganz besonders gefragt, wenn Kirchen im Machtstreben opportunistisch werden, oder der Presse die Unabhängigkeit mangelt. Heute werden zuweilen mutige Journalisten mit Strafverfolgung wegen Geheimnisverrates gezwiebelt.

Um individuell verantwortungsbereite Menschen auszuschalten, greifen gewissenlose Machtstrategen gerne zu einer diabolischen Methode, die ich Ausschaltverfahren nennen möchte. Sie nennen unbequeme Individualisten Verschwörungstheoretiker, Gutmensch, Putinversteher usw., um sie aus der anerkannten rechtschaffenen Gesellschaft auszuschließen. Sie verweigern dem, der nicht konform ist die Anerkennung als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft. In der NS-Zeit waren es Begriffe wie Volksschädling, Zigeuner, Jude, Kommunist usw., mit denen Unbequeme geschmäht und die Konformen versammelt wurden.

Derartige Entwürdigung ist ein unzulässiger, bei bequemlichen Demokraten indes verbreiteter Ersatz für sachliche Argumente.

Da sind wir beim Kollektiv der selbstgerechten rechtschaffenen Gesellschaft angekommen, die manchmal nicht fähig, oft zu bequem ist, um sich eine eigene Meinung und individuelle Verantwortung zu leisten.

Die Rechtschaffenheit des mündigen Bürgers ist mit seinem Gewissen und seiner Verantwortlichkeit abzugleichen. So wird sie zum Ausdruck der profilierten Individualität.

Wer um diese Dinge weiß, kann nicht im Paradies der Unwissenden verharren. Er muss aus der Anonymität treten, seine Überzeugung darstellen und mit Argumenten kämpfen.

Kollektiv macht sich schuldig, wer als Kollektiv handelt, wegsieht, schweigt oder Verantwortung ablehnt.

Das ist keine neue Moral, sondern die Moral, die in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus nicht ausgeprägt und auch nicht angenommen war.

Wie konnte sich die Mehrheit unseres Volkes auf ein Kollektiv ohne individuelle Verantwortung versimpeln?

Die Freiheit des Menschen ist begrenzt, indem er einem Kollektiv zugehört. Das Kollektiv bindet. Die Gemeinschaft von Gleichgesinnten bietet Schutz und Nestwärme. Diese Vorteile waren von Anbeginn und sind bis heute das Fundament von Machtstrukturen, also von Unfreiheit.

Kollektives Empfinden ist ein archaischer Teil des Menschen, bleibt dabei indes der Anfang des Weges zum individuellen Bewusstsein. So war im Mittelalter, von herausragenden Persönlichkeiten abgesehen, die Individualisierung nur marginal z. B. in der Bildung von Zünften, d. h. von kleinen Kollektiven innerhalb großer Kollektive erkennbar. Der Weg wird zum gereiften individuellen Bewusstsein führen.

Durch die Aufklärung, erst recht durch die Ideale der Französischen Revolution wurde die Individualisierung beschleunigt. Sie führt zur individuellen Identität. Trotz Rückschlägen wird sie nicht aufzuhalten sein. Sie annehmen, bewusst machen und mit Verantwortung legitimieren und gestalten ist eine Aufgabe des modernen Menschen. Die wahre Freiheit gibt es nicht ohne die Bereitschaft zur Verantwortung. Auch das Menschsein muss verantwortet werden.

Religiös und ethnisch angelegte Kollektive sind oft deckungsgleich. Vorurteile aufbauend werden sie von bedenkenlosen Machthabern bis in unsere Zeit zur Verankerung von Machtansprüchen missbraucht.

Die antisemitische Gesinnung hat sich auf diesem Weg bis heute am Leben gehalten.

Wie unheilvoll rassistische und religiöse Vorurteile sind und wie sie missbraucht werden, zeigt die endlose Liste von Kriegen in unserer Geschichte. Dabei waren es immer die machtbesetzten Potentaten, die Kriege angezettelt und zu verantworten hatten.

Der Mensch steht zwischen der Unfreiheit im Kollektiv und der absoluten Freiheit, die er nur in absoluter Einsamkeit erreicht (und dort bleibt er sein eigener Gefangener).

Die Gemeinschaft absolut freier Menschen setzt ethische Qualitäten voraus, die uns im dafür notwendigen Maß noch nicht gegeben sind. Die Erschaffung des Menschen ist nicht vollendet.

Diese Einsicht mag an dieser Stelle tröstlich erscheinen.

Politisch orientierte Kollektive sind unverzichtbar, stellen sich indessen gegen unsere Individualität. Sie sind sozial, religiös und gesellschaftlich fundiert, werden zuweilen auch durch äußeren Druck auferlegt.

Die Auflastung von unerfüllbaren Wiedergutmachungen durch die Versailler Verträge nach dem Ersten Weltkrieg verdammte die Deutschen zu einem verzweifelnden Schuldenkollektiv. Sie wurden gedemütigt und ausgebeutet. Dies rechtfertigt keine Nazi-Verbrechen, ist aber eine Rückentwicklung vom individuellen zum kollektiven Rechtsempfinden.

Die englische Historikerin Margaret MacMillan lobt in ihrem Buch „Die Friedensmacher“ den friedensstiftenden Wert der Versailler Verträge von 1919. Die auferlegten Reparationen seien gar nicht so schlimm gewesen, schreibt sie und ist der Ansicht, die Sieger hätten damals Deutschland besetzen müssen, damit die Deutschen auch gemerkt hätten, dass sie den 1. Weltkrieg verloren haben. Sie rührt in der ekelhaften Suppe von engstirniger Rache der siegreichen Völker an den unwürdigen Besiegten.

Hundert Jahre nach der Katastrophe verweigert sie sich immer noch der Einsicht, dass Kriege nicht von den Menschen, sondern von Potentaten verantwortet werden müssen. Kriegsstifter haben einen Namen. Historiker müssen sie nennen und ihre Motive offen legen.

Ich kenne keinen einzigen Menschen der, ohne verführt oder aufgehetzt zu sein, bereit war oder ist, seinen Arbeitsplatz oder seinen Acker zu verlassen und zum Töten in den Krieg zu ziehen.

In der Bilanz der Versailler Verträge zeigt sich, wie furchtbar sich primitive Rache- und Machtmotive auf anstehende, noch nicht vollzogene Evolutionsschritte des Menschen auswirken. Aus der damaligen Zeit genommen, stand dieses Thema später mit schmerzenden Begleiterscheinungen wieder vor unserer Tür.

Nach dem Schuldspruch von Versailles hatten die Deutschen die Entstehung der nationalsozialistischen Kräfte zugelassen, indem sie sich wieder in das Kollektiv der naiven autoritätsgläubigen Untertanen einreihten. „Führer befiehl, wir folgen dir“, sangen die Kolonnen.

War es die Sehnsucht nach der paradiesischen Unschuld vor dem ersten Sündenfall, als die Menschen unwissend, noch nicht fähig waren, Schuld zu empfinden?

Die Ausgestaltung zur verantwortenden Individualität, die sich im Fortgang der Französischen Revolution hätte entfalten sollen, wurde ein weiteres Mal gelähmt.

Inflation, Arbeitslosigkeit, das Scheitern der Weimarer Demokratie, in der die „Untertanen“ zu selbstverantwortenden Menschen hätten aufblühen sollen, ließen am Ende die Wahl zwischen dem linken Radikalismus und der rechten Blut und Boden-Ideologie.

Beide waren essenziell angelegt. Die einen als Arbeiterklasse, die anderen als germanische Rasse. Es gewannen die von Kapital und Industrie begünstigten Rechten. Die Aussicht auf höhere Gewinne hat wohl den Weg gewiesen.

Es war aber auch der alte Vertretertrick, mit dem die NS-Strategen die Menschen in flammenden Reden übertölpelten. Man nennt es die „Ja-Straße“.

Die funktioniert beim Staubsauger-Vertreter, indem er zu Beginn des Verkaufsgespräches nur Dinge feststellt oder abfragt, die der Käufer mit Ja beantworten muss, um am Ende mit dem letzten Ja den Verkauf perfekt zu machen.

Beispiel:

Allergien bedrohen die Menschen immer mehr! – ja.

Es ist wichtig, in staubfreien Räumen zu leben. – ja.

Sie wollen doch, dass ihre Kinder gesund leben? – ja.

Da brauchen Sie einen guten Stausauger – ja.

Dann ist unser Staublux genau das richtige Modell für Sie!

In der damaligen politischen Agitation hörte es sich so oder ähnlich an:

Deutschland wird von den Siegermächten ausgebeutet.- ja

So werden wir über Generationen verarmt bleiben.- ja

Arbeitslosigkeit und Unruhen sind die Folgen. - ja

Wer die Versailler Verträge akzeptiert, ist ein Verräter.- ja

Wir werden wieder für Ruhe sorgen - ja

Wir werden die Ehre des deutschen Volkes retten. - ja

Deshalb brauchen wir einen Führer!

Dieser Vertretertrick wurde von vielen durchschaut, trotzdem schweigend hingenommen. Er wurde auch mit Bezug auf andere Themen angewendet.