Die Schwestern vom Roten Haus - Petra Oelker - E-Book

Die Schwestern vom Roten Haus E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Tanz mit dem Tod Hamburg, 1773. Unmittelbar nach dem Karnevalsball treibt eine tote Frau in der Alster, eine zweite stirbt, eine dritte entkommt knapp einem Anschlag - in Hamburg geht wieder ein Mörder um. Die Komödiantin Rosina hat die erste Tote entdeckt, Anlass genug, selbst nach dem Täter zu suchen. Doch wer hatte einen Grund, die Frauen zu töten? Was verband sie? Die Spuren führen ins Waisenhaus und ins Gängeviertel, zu den Flößern am Holzhafen, in das Haus eines Seidenhändlers, zu einer schießwütigen Gutsherrin nach Wandsbek. Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns müssen sich beeilen, wenn sie dem nächsten Mord zuvorkommen wollen ... Rosinas neunter Fall

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Seitenzahl: 642

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Petra Oelker

Die Schwestern vom Roten Haus

Ein historischer Kriminalroman

Über dieses Buch

Tanz mit dem Tod

Hamburg, 1773. Unmittelbar nach dem Karnevalsball treibt eine tote Frau in der Alster, eine zweite stirbt, eine dritte entkommt knapp einem Anschlag - in Hamburg geht wieder ein Mörder um. Die Komödiantin Rosina hat die erste Tote entdeckt, Anlass genug, selbst nach dem Täter zu suchen. Doch wer hatte einen Grund, die Frauen zu töten? Was verband sie?

Die Spuren führen ins Waisenhaus und ins Gängeviertel, zu den Flößern am Holzhafen, in das Haus eines Seidenhändlers, zu einer schießwütigen Gutsherrin nach Wandsbek. Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns müssen sich beeilen, wenn sie dem nächsten Mord zuvorkommen wollen …

Rosinas neunter Fall

Vita

Petra Oelker, geboren 1947, arbeitete als freie Journalistin und Autorin von Sach- und Kinderbüchern, bevor sie mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann. «Tod am Zollhaus» war der Auftakt der erfolgreichen Reihe, in deren Mittelpunkt die Komödiantin Rosina und das historische Hamburg stehen.

Weitere Veröffentlichungen:

Tod am Zollhaus

Der Sommer des Kometen

Lorettas letzter Vorhang

Die zerbrochene Uhr

Die ungehorsame Tochter

Die englische Episode

Der Tote im Eiskeller

Mit dem Teufel im Bunde

Daneben schreibt sie in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, darunter «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» sowie «Tod auf dem Jakobsweg».

’s ist leider Krieg – und ich begehre nicht schuld daran zu sein!

 

Matthias Claudius

Prolog

Liebe Schwester,

 

ich habe lange gezögert, diese Zeilen zu schreiben, denn sie können meine Zukunft zerstören. Um das zu erlauben, habe ich zu hart gerungen; ich möchte wie jeder Mensch ein gutes Leben haben, nie hungern oder frieren, nie mehr den Nacken beugen. Ich möchte, dass man mir mit Respekt begegnet.

Es ist unendlich lange her, seit wir uns zuletzt trafen, manchmal glaube ich, jene Zeit zu vergessen.

Nun sehe ich Dich lächeln. Ungeduldig über meine törichten, nur die Zeit verschwendenden Gedanken, zugleich nachsichtig, wie Du es auch mit mir warst. Wenn ich mich aber in meinen schlichten, für mein Empfinden immer noch ungemein schönen Kleidern sehe, meine helle Haut, das sorgfältig frisierte Haar, die Hände ohne Schwielen und Schrunden, bin ich manchmal noch verblüfft. Das ist gut, diese Fremdheit vor mir selbst bewahrt mich vor Hochmut. Denn natürlich kann ich nie wirklich vergessen, wer ich war, wer ich bin. Und wem ich Dank schulde. Ebenso wenig, wem ich alles andere als Dank schulde. Das allerdings würde ich gerne vergessen. Du hingegen wirst dich stets bemühen, nicht zu vergessen, wer Dir Leid zugefügt hat.

Völlig ändern wir Menschen uns sicher nie. Gleichwohl würdest Du mich heute kaum mehr erkennen, sollten wir uns unversehens begegnen – und das könnte bald geschehen. Vor allem die Zeit, aber auch meine Stellung im Leben haben meine äußere Gestalt und Erscheinung verändert, meine Manieren, meine Sprache, sogar mein Denken. Ich musste nur wenig dazu tun, und da es mir leichtfiel, glaube ich, dass alles richtig war und auch der Weg in die Zukunft der richtige ist. Es geht um keine große oder gar gemeine Lüge, es geht nur um eine Kleinigkeit, genau genommen nur um ein corriger la fortune. Warum sollte es verwerflich sein, dem Glück ein wenig nachzuhelfen, wenn es doch niemandem schadet?

Ich habe gewiss nicht alles alleine geschafft, letztlich das wenigste, ich hatte großzügige Hilfe, ohne die ich noch die Gleiche wäre wie vor Jahren. Obwohl es oft mühsam und demütigend war, erkannte ich die Chance und war willfährig. Vielleicht erschien ich darin schwach, tatsächlich war ich endlich stark. Du warst immer schon stark, kanntest Dein Ziel und wusstest den Weg, es zu erreichen. Und dass alles im Leben ein Handel ist und seinen Preis hat. Du warst bereit, ihn zu bezahlen, und ebenso bereit, von anderen ihren Preis zu fordern. Ich habe Dich dafür bewundert, wie für manches andere.

Alles änderte sich, und schon nachdem es mich in diese Weltgegend verschlagen hatte, fühlte ich mich beinahe frei. Ich musste weiter mit gesenktem Blick meine Knickse machen, trotzdem ist das Leben hier so anders. Du solltest allein den Garten sehen. Seine wilde Üppigkeit ist nur mit viel Mühe im Zaum zu halten und bietet viele Verstecke. Womöglich lag es auch an der immer neuen Kraft dieses Gartens, als ich begann, meine Ziele höherzustecken.

Noch einmal ist mir ein unerwartetes Glück zugefallen, ich war zu schwach, es auszuschlagen. Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages in unserer Kutsche durch die vertrauten Straßen fahre, wie ich mit freundlichem Nicken hier und dort grüße und gegrüßt werde, stellte mir vor … mit so Törichtem will ich Dich verschonen. Ich stellte mir auch anderes vor, das will ich Dir sagen. In die eitlen Bilder drängte sich eine gefürchtete Wirklichkeit, nämlich dass mich niemand freundlich grüßen wird, dass man mich anspucken wird, davonjagen.

Ach, Liebe, ich muss darauf vertrauen, dass mich niemand erkennt. Nur Du wirst mich erkennen, wenn Du mir nahe genug kommst, um in meine Augen zu sehen. Deshalb bitte ich Dich: ERKENNE MICH NICHT. Es ist die einzige Bitte seit so vielen Jahren und für alle zukünftigen.

Mein Herz wird bluten, wenn wir uns begegnen und nicht erkennen, nicht umarmen dürfen …

Kapitel 1

Fastnacht, 23. Februar 1773

Dieser Winter war unberechenbar. Nachdem er noch zu Beginn des Advents eine solche Milde vortäuschte, dass an sonnigen Plätzen Veilchen blühten, ließ er zur Weihnachtszeit plötzlich Teiche und Bäche zufrieren, dann Bille und Alster, endlich verschwand sogar die Elbe unter einer Eisdecke. Bald lieferten sich Schlittschuhläufer und Pferdeschlitten Wettrennen, und die Spaziergänger wärmten sich an den eilig errichteten Buden mit Punsch, warmem Bier oder fetten Suppen. Ganz Hamburg war auf dem Eis unterwegs, ob in Geschäften oder zum Vergnügen. Die Elbe fror in vielen, sogar in den meisten Wintern zu, so dick und sicher wie in diesem war das Eis jedoch selten. Es trug auch große Schlitten und Wagen bis nach Harburg an der Süderelbe, wer dort Geschäfte hatte, beeilte sich, hinüberzukommen.

Wenn das Eis erst zu brechen begann, gab es für viele Tage, womöglich für Wochen kein Hinüberkommen, bis es völlig geschmolzen war und die Ewer wieder Segel setzen und ihren Weg durch die Windungen der verzweigten Flussarme suchen konnten. Bei schlechtem Wind oder mit einem unfähigen Schiffer dauerte die Reise viele Stunden. So war in diesen Winterwochen immer viel Betrieb auf der Elbe, in einigen, nämlich den mondhellen Nächten bis weit in die nachtschlafende Zeit. Von den südlichen Wällen oder Bastionen wirkten die sich rasch vorwärtsbewegenden und endlich im fernen Dunkel verlierenden Laternen, ohne die sich kein Schlitten auf das nächtliche Eis wagte, wie Irrlichter.

Im Februar, zur eigentlich kältesten Zeit des Jahres, wehte plötzlich ein trügerischer frühlingswarmer Wind aus Südwest und ließ das Eis brüchig werden. Wem sein Leben lieb war, blieb nun wieder an den sicheren Ufern. Nur die Milchbauern von den Strominseln kamen weiter mit ihren Lastschlitten nach Hamburg und riskierten alle Tage ihr Leben, um ihre schnell verderbliche Ware zu verkaufen. Dort, wo der Fluss sich unter dem Eis am stärksten bewegte, sei es schon mürbe, so berichteten sie; wer zu sehen verstehe, erkenne die Schollen, die bald aufbrechen würden.

Wenn sie unter sich waren, sprachen sie auch darüber, dass es nun bald geschehen werde. Dass einer unters Eis müsse. Mindestens einer. Wie in jedem Jahr. Es gab alte Geschichten von Neunmalklugen, die einen Hund oder eine Katze, einmal sogar ein zu früh geborenes halbtotes Kalb ins eisige Wasser gestoßen hatten. Gerade die hatte es getroffen. Der Winterfluss ließ sich nicht um den fälligen Tribut betrügen. Das wusste jeder, es hatte auch lange keiner mehr versucht. So blieb stets nur die Hoffnung, der Fluss sei noch satt vom letzten Jahr und werde sich milde zeigen. Denn er war nicht gierig. Das war er noch nie gewesen, auch das wusste jeder.

Unters Eis? Müsse? Ein junger Mann, der manchmal bei ihnen saß, wenn sie sich mit einem Krug heißen Bieres wärmten, bevor sie den langen Rückweg antraten, und diesmal unbemerkt herangetreten war, lachte spöttisch.

«Das ist doch Unsinn», rief er, «der Fluss ist ein Fluss, kein Gott oder Teufel.» Wer gut achtgebe und schnell sei, wer die Geräusche, die das Eis bei Tauwetter mache, zu deuten verstehe, seine Färbungen auch, gerate nicht unters Eis und saufe ab wie eine Ratte. «Es sei denn», fügte er dann doch hinzu, «er hat Pech. Verdammt viel Pech.»

Das Letzte klang, als spucke er es aus. Jedes Wort einzeln.

Die andern starrten schweigend in ihre Bierkrüge. Was sollte man dazu auch sagen? Der Junge wusste es eben nicht besser, er war keiner von den Inseln. Überhaupt nicht von hier. Nur ein Flößer, der im Herbst mit dem Holz aus dem Osten die Elbe heruntergekommen und für den Winter in der Vorstadt St. Georg hängen geblieben war. Sie wussten nicht genau, warum. Da war wohl irgendwas mit seinem Bein, das rechte zog er nach, nur leicht, aber ein Flößer brauchte zwei gesunde und starke Beine. Sonst gehörte er zu den Ersten, die der Fluss, egal welcher, sich holte. Wahrscheinlich war er zwischen die Stämme geraten, sie hatten nicht darüber nachgedacht, auch nicht gefragt. Jeder konnte sich zu ihnen setzen, sogar eine Kanne Bier spendieren, wenn aber so einer anfing, Reden zu führen oder seltsame Fragen zu stellen, dann mochten sie ihn nicht. Ob er nach dem Eis fragte, wie lange es noch halte oder ob es in jedem Winter so sei, oder wissen wollte, ob sich schon mal Fremde auf den Inseln angesiedelt hätten, er überlege das selbst – so einer bekam auch keine Antworten.

Der Flößer war ein Schwätzer. Mochte sein, der kannte sich mit fließendem, sogar reißendem Wasser aus – die Arbeit mit dem Holz war gefährlich –, von den besonderen Tücken der Wasserläufe zwischen den Elbinseln wusste er trotzdem nichts. Schon gar nichts bei Eisgang. Niemand hatte es ausgesprochen, alle hatten es gedacht: Wer so redet, während das Eis knackte, ächzte und flüsterte und erste Spalten und Pfützen bildete, beleidigte den Fluss. Womöglich erübrigte sich nun die Frage, wen sich die Elbe als Nächsten holte. Der Gedanke war nicht schlecht – besser ein Fremder blieb unterm Eis als ein Bruder oder Nachbar.

Ja, die Sache mit dem Eis war in diesem Jahr vertrackt. Mal deckte es den Fluss sicher und hart wie Granit, mal war es brüchig, das Wetter schlug alle Tage Kapriolen, und die Alten sagten, es sei fast wie früher, als sie jung und die Winter milder gewesen waren. Was nichts zu bedeuten hatte, von jeher gaukelt das Alter den Menschen vor, früher sei alles besser gewesen, selbst denen, die in ihrer Jugend nichts als Krieg und Pestilenz erlebt hatten.

In der Woche vor Fastnacht war das Eis überall dünn und brüchig, hatte hier und da, wo der Wind nicht so kalt darüberfegte, Löcher von schwarzem Wasser, in dem die Enten nach Würmern gründelten. Kaufleute und Reeder, Schiffer und Seeleute standen am Hafen zusammen, beobachteten, wie sich die eisige Umklammerung ihrer Schiffe löste, und nickten voller Zuversicht. Wenn es so weiterging, würde die Elbe schon bald wieder schiffbar sein. Doch es war erst Februar – am Tag des letzten Maskenballs zeigte der Winter noch einmal, was er vermochte.

Im Theatersaal am Gänsemarkt fanden zwischen Neujahr und Fastnacht fünf Maskenbälle statt, es waren die größten in der Stadt. Als sich das Theater in dieser Nacht nach dem letzten Ball endlich geleert hatte und selbst die auf der oberen Galerie weinselig schnarchenden Gäste geweckt und aus dem Haus gescheucht waren, öffnete sich das Portal endlich auch für die etwa zwei Dutzend Frauen und Männer, die in dieser Nacht bei der Bedienung der Gäste eine einträgliche Arbeit gehabt hatten.

Der Atem vor ihren Mündern gerann umgehend zu eisigen weißen Wölkchen, Schultertücher wurden schützend über die Köpfe gezogen, Mützen in die Stirn gedrückt, als die Gruppe sich in Grüppchen auflöste, die sich, jede von einem der wenigen Männer mit einer Laterne begleitet, in die verschiedenen Richtungen der Stadt auf den Heimweg machten. Die meisten verschwanden in Richtung Neustadt, eine kleine Gruppe in Richtung Dammtor, eine weitere eilte an Malthus’ Garten vorbei über den Jungfernstieg, wo ein schneidender Nordwind fast den Atem nahm, und teilte sich hinter der Brücke an seinem Ende für das letzte Stück des Weges. Niemand nahm sich Zeit, einen Blick auf die großen Räder der Wasserkunst zu werfen. Am Tag zuvor hatte Hoffnung bestanden, dass sie sich bald wieder drehten und Wasser in die Röhren pumpten. Das in dieser Nacht mit erschreckender Geschwindigkeit wieder gefrierende Eis sorgte dafür, dass sie auch während der nächsten Wochen stillstehen würden.

Es war fast Mitternacht, der während der letzten Stunden gefrorene Schneematsch knirschte unter den Holzpantinen, sonst war es still. Die ganze Stadt schien zu schlafen, selbst was sich gewöhnlich um diese Stunde noch herumtrieb, Trunkenbold, Spitzbube oder heimatloser Hund, hatte sich mit der plötzlichen Rückkehr der bitteren Kälte hinter schützenden Mauern verkrochen. Nur einige der letzten Gäste des Maskenballs waren noch unterwegs. Bei der Einmündung der Großen Bleichen waren zwei Paare kichernd und schwatzend vorbeigehuscht, kurz vor der Wasserkunst eine einzelne Person, alle in dicken Mänteln und noch mit Masken, die ihre Gesichter verbargen; aus einer der Gassen klang trunkenes Johlen, das abrupt verstummte, als die Schnarren der Nachtwächter antworteten. Eine Kutsche rollte mit schwankenden Laternen und geschlossenen Vorhängen vorüber, auf dem Bock der unter einer Pferdedecke zusammengekauerte Kutscher, auf den Rücktritten zwei frierende Lakaien. Manchmal klang es nach schleichenden Schritten, irgendwo auch nach Wispern, das war nur der Wind, der über den Alstersee heranfegte und kleine Wolken von Schnee vor sich hertrieb, staubfein wie gefrorener Nebel.

Eine der Frauen, die nun mit ihrem Begleiter am Werk- und Zuchthaus vorbei zu den Raboisen gingen, blieb plötzlich stehen und blickte zum Himmel hinauf. Die Nacht war schwarz, der Mond verbarg sich hinter einer Wolkendecke, doch die Reste von Schnee gaben ein wenig Licht, mehr als der nur glimmende Schein der Laternen an den Brücken und einigen Hausecken.

Tatsächlich, dort flogen Wildgänse über die Stadt, majestätische dunkle Schatten, lautlos wie Gespenster. Warum flogen sie mitten in dieser eiskalten Nacht? Wohin?

Sie spürte ein Lächeln in ihren von der Kälte steifen Wangen. Die Wildgänse waren frei, sie hielt nichts auf. Nicht die Festungsmauern mit den seit Sonnenuntergang geschlossenen Stadttoren, auch keine Pflicht. Sie breiteten einfach ihre Schwingen aus und flogen auf und davon. Als sie ein Kind gewesen war, ein pummeliges ängstliches Mädchen in kratzenden blauen Kleidern, und auf dem von hohen, festen Mauern umschlossenen Hof in den Himmel hinaufträumte, hatte sie sich vorgestellt, es ihnen gleichzutun. Manchmal tat sie es auch jetzt noch. Dann fühlte sie sich wie einer dieser Vögel, kraftvoll und schwerelos immer höher aufsteigend, tief unten die Welt nur als ein fernes Bild. Das waren glückliche Momente. Berauschende kleine Fluchten aus den unsichtbaren Mauern, die nun ihr Leben bestimmten und sie festhielten.

Stets flog sie dann über sommerliches Land und hoch genug, um die Menschen nicht mehr zu erkennen. Niemand konnte ihr etwas anhaben, nichts befehlen, nichts fordern, sie nicht beleidigen. Sie auch keiner Schuld bezichtigen oder – schlimmer noch – wortlos an eine Schuld erinnern.

Auch nicht lieben, dachte sie im Weitergehen, aber …

«Pass auf!» Eine feste Hand griff durch ihr wollenes Schultertuch ihren Arm, gerade rechtzeitig, als sie auf einem spiegelglatt gefrorenen Eisflecken mitten im Weg ausrutschte.

Der Mann mit der Laterne sah sie prüfend an. «Müde?», fragte er leise.

«Was denkst du denn?», antwortete sie knapp und entzog ihm ihren Arm. «Ich habe den ganzen Tag für Madam Pauli gearbeitet und dann die halbe Nacht Gläser gespült und Krüge geschleppt. Was wird man da? Wach?»

«Dumme Frage», gestand er mit einem schiefen Lächeln zu und ging weiter, die Hand wieder leicht an ihrem Arm. «Steht nicht rum», rief er den beiden anderen Frauen leise zu, die in ihre Schultertücher gehüllt stehen geblieben waren, «oder wollt ihr festfrieren? Verdammt», murmelte er in die grobe Wolldecke, die er um Hals und Schultern gehängt hatte, «ich hab gedacht, mit solcher Hundekälte sei es für dieses Jahr vorbei.»

«Du hättest das nicht tun müssen, Wanda», fuhr er nach wenigen Schritten fort.

Sie antwortete nicht. Sie würde doch nur wieder ruppig sein, das hatte er nicht verdient. Und was gab es darauf zu sagen? Dass sie glücklich war, wenn sie ein paar Schillinge dazuverdienen konnte? Das verstand sich von selbst. Dass solche Gelegenheiten selten waren wie Schnee im Mai? Auch das wusste er so gut wie sie. Im Übrigen ging ihn nichts an, was sie tat oder nicht tat. Auch wenn er es sich vielleicht anders wünschte.

In diesen Ballnächten am Tresen zu arbeiten war aus gutem Grund sehr begehrt, selbst bei Frauen aus den besseren Häusern, die sich sonst niemals als Schankmagd verdingt hätten. Im Karneval herrschte auch in dieser, für ihre strikte protestantische Moral bekannte Stadt ein wenig mehr Großzügigkeit, vor allem aber gab es nirgends so gute Trinkgelder wie bei den Maskenbällen im Theater. Die Bälle im Baumhaus am Hafen mochten vornehmer sein, aber wen interessierte das im Karneval? Die im großen Theatersaal beim Gänsemarkt waren ganz gewiss die turbulentesten.

Natürlich hätte sie nicht aushelfen müssen, nachdem der Wirt festgestellt hatte, dass er für die beiden letzten, stets am besten besuchten Maskenbälle dieses Winters zu wenig Schankmägde hatte. Sie war dankbar gewesen, als Madam Pauli ihr erlaubte, einzuspringen. Auch überrascht, denn sosehr sie es sich erhofft hatte – sie brauchte dieses zusätzliche Salär ja viel dringender, als Madam sich vorstellen konnte –, so wenig hatte sie mit der Erlaubnis gerechnet. Bisher waren solche kleinen Dienste außerhalb des Pauli’schen Hauses strikt verboten gewesen, erst recht, wenn sie sich so öffentlich gestalteten wie bei diesem Anlass hinter dem Schanktisch auf einem Maskenball.

Allerdings hatte Madam Pauli Wanda verboten, mit den Bier- und Weinkrügen in der Menge herumzulaufen und im Saal und auf den Galerien zu bedienen, das sei für ein Mitglied des Hauses Pauli nun wirklich unschicklich. Wanda hatte brav geknickst und den Ärger hinuntergeschluckt. Just darauf hatte sie gehofft, dort gab es die allerbesten Trinkgelder, und gegen unerwünschte Berührungen von Männerhänden wusste sie sich zu wehren, seit sie Röcke trug.

Obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, hatte sie gehorcht, alles andere wäre gegen ihre Natur gewesen. Vielleicht auch nur gegen ihre Erziehung. Es hatte sich trotzdem gelohnt, vor allem an diesem, dem letzten Ballabend. Sie tastete nach den Münzen in ihren Rocktaschen und sah sich noch einmal nach den Wildgänsen um. Die schwarzen Schatten waren verschwunden, doch der Gedanke an die Freiheit der großen Vögel, an ihre langen Reisen nach dem Norden, machte ihr Herz leicht. Sie würde nicht nach Norden reisen, sondern nach Süden. Es musste schön dort sein, ganz sicher auch wärmer.

Genau bedacht, würde sie überallhin reisen, wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekäme. Sie hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, weiter als die anderthalb Meilen an die Bille und einmal über die Elbe nach Finkenwerder war sie nie gekommen. Wanda musste dankbar sein, dass sie in einem guten Haus leben durfte, das immerhin hatte sie geschafft. Sie wurde alle Tage satt, bekam reine Kleidung, und niemand schlug sie mehr. Sie hatte gedacht, diese Unruhe, diese Sehnsucht nach der Welt dort draußen und nach einem besseren, vor allem aufregenderen Leben werde mit den Jahren vergehen. Sie war nur größer geworden.

Vielleicht würde sie ihren Entschluss eines Tages bereuen und büßen müssen, das war ihr egal. Die über das Eis und die Wälle davonziehenden Vögel mitten in der Nacht und bei dieser Kälte – das konnte nur ein gutes Omen sein. Plötzlich war ihr Kopf wieder voller Melodien, wie zuvor, als sie hinter dem Schanktisch im Theatersaal gestanden und Wein und Bier, Punsch und Branntwein ausgeschenkt, dem Orchester gelauscht und den Tanzenden zugesehen hatte. Nie zuvor hatte Wanda so wunderbare Musik gehört wie in dieser Nacht, nie zuvor eine so große vergnügte Menge in so bunten Kleidern und Masken gesehen – auch das war ein gutes Omen.

Oder nicht? Schwarze Schatten bedeuteten selten Glück. Dann würde sie eben ein Glück daraus machen.

Als kurz vor dem Ende der schmalen, Raboisen genannten Straße der Heimweg zu den Wohnungen der beiden anderen Frauen und des Mannes mit der Laterne abzweigte, blieb Wanda wieder stehen.

«Die letzten Schritte gehe ich allein», sagte sie bestimmt. Der Mann mit der Laterne wollte widersprechen, doch sie schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. Es sei zu kalt, um sich mit unnötigem Streit aufzuhalten. Er solle die anderen heimbringen. «Es sind doch nur noch ein paar Schritte», sagte sie, «Magda hustet schon den ganzen Abend, besser, ihr beeilt euch, sonst holt sie sich den Tod.»

Sie berührte flüchtig seinen Arm, nickte den beiden anderen Frauen zu und eilte davon, die Raboisen hinunter zum Holzplatz an der Binnenalster, in dessen Nähe das Haus der Paulis stand. Der Mann sah ihr nach, sah, wie sie beim Holzplatz kurz zögerte, um dann umso entschlossener weiterzueilen. Rasch hatte die Dunkelheit sie verschluckt.

Für diesen kurzen Moment ihres Zögerns hatte er geglaubt, sie werde doch bitten, sie durch die düstere Nacht bis zur Seitentür der Paulis zu begleiten. Natürlich hatte sie das nicht getan, Wanda war eine störrische Person.

Tatsächlich war sie nicht stehen geblieben, weil die Dunkelheit sie schreckte. Der Platz am Wasser lag nicht so düster wie die enge Straße, aus der sie gekommen war. Etwas anderes hatte sie verharren lassen. Etwas, das niemand außer ihr bemerkt haben konnte. Jemand hatte ihren Namen gerufen. Die Stimme hatte nicht so vertraut geklungen wie gewöhnlich, auch hatte sie nicht gedacht, er werde so bald zurück sein. Doch wer sonst sollte da flüsternd nach ihr rufen? Um diese Stunde an diesem Ort?

Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Nicht einmal genug, um zu erkennen, dass die vergnüglichen Melodien ebenso wenig Glück verheißend gewesen waren wie die schwarzen Schatten am Nachthimmel. Niemand sah, was hinter den Holzstapeln und am Ufer geschah. Nur eine junge Witwe, die ihr verweintes Gesicht an einem Spaltbreit geöffneten Fenster kühlte, glaubte ein seltsames Geräusch zu hören. Ihr Kummer war zu groß, das Geräusch ihr zu fremd, als dass sie nach seiner Ursache gesucht hätte. Es klang beinahe, als splittere Glas, dennoch – irgendwie – ganz anders. Dumpfer. Da war noch ein – Glucksen? Ja, so etwas wie ein Glucksen gewesen.

Als sie das Fenster schloss, plötzlich zitternd von der Kälte – vielleicht auch von der Einsamkeit –, glaubte sie noch einen sich rasch und verstohlen bewegenden Schatten beim Holzplatz zu sehen, die Eisblumen, die an ihrem Fenster emporkrochen, versperrten ihr die klare Sicht. Und was kümmerten sie nächtliche Schatten? Ihr Mann war tot, sie hatte andere Sorgen.

Kapitel 2

Montag, 22. März

Die Sonne stieg gerade über das Kupferdach von St. Katharinen, als die junge Madam Vinstedt die Fensterflügel ihrer Schlafkammer aufstieß und tief einatmete. Obwohl es immer noch winterkalt war und ein frischer Wind wehte, strahlte die Märzsonne durch den Morgendunst wie bei einer Generalprobe für den Sommer. Es versprach ein wunderbarer Tag zu werden.

Zum weiteren Beweis für das Ende der grauen Zeit begann in einem der Büsche unten im Hof eine Kohlmeise ihr Morgenlied zu schmettern, als wolle sie die baldige Rückkehr der Schwalben aus dem Süden verkünden.

«Das Leben ist schön», murmelte Madam Vinstedt. Es klang nicht enthusiastisch. Sie hatte unruhig und deshalb viel zu lange geschlafen, bis sie endlich aus einem äußerst unerfreulichen Traum erwacht war, dessen Bilder ein Gefühl der Melancholie zurückgelassen hatten.

Tatsächlich fühlte sie sich weniger melancholisch als zornig. Im Traum hatte sie Magnus gesehen. Mit gebeugtem Kopf, den tief in die Stirn gedrückten Dreispitz und den Mantel schwer von Schnee, kämpfte er sich im Schneesturm über einen Gebirgspass. Er solle warten, hatte sie gerufen, doch er achtete nicht auf sie. Er stapfte einfach weiter, immer weiter, das Pferd am Zügel mit sich führend. Er musste sie hören, der Sturm war gewaltvoll, doch weder jaulte noch toste er, sondern war stumm, was nur in Träumen vorkommt, diesen unvernünftigen Phantastereien. Als sie Magnus nacheilen wollte, hielt der Schnee sie fest, ihre Füße, ihre Beine, ihr ganzer Körper sanken tiefer und tiefer ein. Wieder rief sie nach ihm, wieder vergeblich. Magnus beachtete sie nicht. Dann war er plötzlich verschwunden, aufgelöst in einer aus dem dichten Schneetreiben erwachsenden Schwärze. Auch ihre letzten Rufe, Schreie nun, blieben stumm in diesem Traum, als mache sich irgendjemand, ein Teufel vielleicht, einen großen bösen Spaß und stehle die Töne. Was sie auch rief oder tat – sie blieb unhörbar. Der Schnee begann sie zuzudecken, bald würde auch sie unsichtbar sein. Das Gefühl der Verlorenheit war furchtbar.

Da endlich war sie aufgewacht, tief eingewühlt in ihr Plumeau, schweißnass und fröstelnd.

Sie blinzelte noch einmal in die Sonne und steckte mit zwei Kämmen energisch ihre dicken blonden Locken zurück, beugte sich über die Waschschüssel und tauchte ihr Gesicht in das kalte Wasser.

Ein Abgrund, dachte sie, als sie in ihre Kleider schlüpfte. Die Schwärze in diesem Traum musste einen Abgrund bergen. Oder eine Schlucht? Jedenfalls eine Gefahr. Sie sollte also nicht zornig sein, sondern voller Angst und Sorge. Falls Traumbilder allerdings tatsächlich Bedeutung hatten, woran sie zumindest am hellen Tag nicht glauben mochte, waren diese weniger für Magnus bedrohlich gewesen als für sie selbst. Er hatte im Voranschreiten nicht gezögert, sich nicht einmal nach ihr umgedreht und war über den Pass sicher und rasch vorangekommen. Er hatte absolut zufrieden gewirkt, sie selbst war es gewesen, die in Düsternis und Schneesturm allein zurückgeblieben war.

«Blöder betrügerischer Traum», murmelte sie. Magnus würde sie nie im Stich lassen. Niemals.

Sie schüttelte die Kissen, aus seinem stieg noch ein allerletzter Hauch von Lavendel auf. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Obwohl der Winter eine harte Zeit für eine so lange Reise war, die zudem über ein großes Gebirge führte und keine gründliche Vorbereitung erlaubt hatte, hatte er die Stadt gleich nach Fastnacht verlassen. Inzwischen hatte er sicher nicht nur den langen rasanten Ritt bis zu den Bergen, sondern auch den Pass bewältigt, er war ein schneller Reiter. Er hatte nun Kälte und Gefahr hinter sich gelassen, ritt auf von blühenden Wiesen gesäumten italienischen Straßen und freute sich seiner Freiheit und seines Lebens. Und seines Abenteuers.

Genau darin lag die Ursache ihres Grimms: Sie beneidete ihren Ehemann glühend. Nichts, absolut gar nichts, hätte sie lieber getan, als ihn auf dieser langen Reise zu begleiten. Weil sie es hasste, viele Wochen von ihm getrennt zu sein, und wegen des Ziels. Venedig, dieser Sehnsuchtsort aller Reisenden, diese auf Inseln erbaute Stadt mit ihren Palästen und geheimen Gärten, den labyrinthischen Gassen und Kanälen, den Läden und Lagern voller exquisiter Waren, auch Seiden und den weit über Europa hinaus gerühmten Wunderwerken aus den Glasbläsereien von der vorgelagerten Insel Murano. Nicht zu vergessen die Lagune, überhaupt das Adriatische Meer. Es hieß zwar, in der Zahl der Brücken könne Hamburg mit Venedig konkurrieren, doch an Pracht und Palästen, an schönen Künsten und Eleganz musste es unterliegen.

Was waren allein die hiesigen Schuten und Ruderboote, selbst die kleinen wendigen Ewer und die Lustschüten für Vergnügungsfahrten auf der Alster gegen die eleganten schwarzen Gondeln auf den venezianischen Kanälen? In manchen, so hieß es, nämlich in den vornehmeren, sitze man im Schutz einer kleinen Kabine, deren Fenster durch rote Vorhänge verschlossen werden konnten. Venedig, so hieß es auch, sei voller Vergnügungen und Geheimnisse, auch voller Sünde. Überall treffe man sich Abend für Abend in großer oder kleiner Runde zum Kartenspiel, zum Trunk, zum Tanz. Und in den Theatern. Ach, die Theater. Die beste, die ernsthafteste Bühnenkunst fand zweifellos auf den Londoner Bühnen statt, Rosina war dort gewesen und voller Bewunderung. Doch nach allem, was man hörte, waren Eleganz und Witz immer noch in Venedigs Theatern zu Hause, das Kokette, auch Maliziöse. Die Opern dort, das Ballett, die Komödie …

Sie sank aufseufzend auf die Bettkante. Wie sie das Theater vermisste! Wie schrecklich sie es vermisste. Es war das erste Mal seit dem Abschied von ihrem Leben als Komödiantin, dass sie diese Sehnsucht so heftig spürte wie einen Schmerz, bohrend und süß zugleich. Süß? Weil es doch einen Weg zurück gab? So wie die Sehnsucht nach einem fernen Liebsten süß sein konnte, wenn man wusste, er werde treu und bald zurück sein?

Sie hatte sich von der Bühne, von Drama, Komödie, Singspiel, Ballett und damit auch von der Becker’schen Komödiantengesellschaft verabschiedet, um eine ehrbare Ehefrau zu werden, aus Liebe zu Magnus und aus Sehnsucht nach einem ruhigen bürgerlichen Leben. Dafür hatte sie alles verlassen, was ihr mehr als ein Jahrzehnt Heimat und Familie bedeutet hatte. Besonders Helena und Jean, Muto, der nun ein fabelhafter Akrobat war und für sie stets wie ein kleiner Bruder bleiben würde, Rudolf, Gesine, ach, und Titus, der liebe bärige Spaßmacher mit der melancholischen Seele. Seit Monaten hatte sie keine Nachricht von ihnen, keine Zeile, nicht einmal von anderen Reisenden, die ihnen unterwegs begegnet waren, ausgerichtete Grüße. In ihrer Truhe warteten drei lange Briefe, sie wusste nicht, wohin sie zu senden waren.

Rosina vermisste sie alle sehr, und oft auch das Leben, das sie mit ihnen geführt hatte. Trotzdem – das große Risiko, die Komödianten und damit ihr Leben auf der Bühne und dem Theaterkarren zu verlassen, hatte sich gelohnt. Die Entscheidung war richtig gewesen. Ganz sicher war sie das. Sie war glücklich mit Magnus, und sie mochte ihre Rolle als Ehefrau und bescheidene Bürgerin. Ihre Rolle? Es gab tatsächlich Momente, in denen sie meinte, sich selbst bei einem Spiel zuzusehen und zuzuhören. Sie wurden seltener. Dafür spürte sie nun wieder diese Unruhe, diese Wanderlust. Was nicht erstaunlich war, schließlich lebte sie seit fast einem Jahr mit einem Ehemann, der nun seinerseits mehr auf Reisen als zu Hause war, so schien es ihr jedenfalls.

Vielleicht lag es nur an dem nahenden Frühling, der machte die Menschen wie die Tiere unruhig und trieb sie, ihre schützenden «Höhlen» zu verlassen. Die meisten nur bis in die Gärten und Felder vor den Wällen, andere aber weit übers Land – zu denen hätte sie nun gerne wieder gehört.

Sie hatte mit Magnus in einem bürgerlichen Leben Liebe und Geborgenheit gefunden, Glück. Es kam einem Wunder gleich, das wusste sie sehr wohl, kaum einer Fahrenden gelang das. Und doch. Wenn die Flüsse auch noch von Eis bedeckt waren, roch ihre Nase den Frühling, erwachte wieder der Zugvogel in ihr. Denn mindestens so sehr wie Tanz, Spiel und Gesang auf der Bühne, wie all der Flitter, die Kostüme und der Spaß mit der Schminke fehlte ihr das Unterwegssein. Als habe sie sich genug ausgeruht und die Strapazen des fahrenden Lebens vergessen, selbst die Demütigungen.

Also beneidete sie ihren Ehemann vor allem um das Unterwegssein, wegen der frischen Luft und des freien Blicks in die Weite der Landschaften, der Unwägbarkeiten des Wetters und der Wege, der Ereignisse, der Begegnungen. Um der Freiheit willen, die nirgends größer war als unterwegs auf den Straßen. Eine Zeit ohne einengende Mauern, ohne Korsett und bürgerliche Konvention. Gar als Mann verkleidet, wie es für diese besonders eilige Reise am besten gewesen wäre und wie sie es früher schon getan hatte, spürte sie eine Leichtigkeit, die keineswegs nur in der größeren Bequemlichkeit der Kleidung lag.

Warum eigentlich nicht? Wie einige ihrer alten Theaterkostüme und das Kästchen mit den Schminkutensilien lagen auch Kniehosen und Männerjoppe in der Truhe. Es musste ja nicht gleich über die Alpen und bis Venedig sein, nach Lüneburg vielleicht, dort, so hatte sie gehört, gastierte eine Komödiantengesellschaft, womöglich waren es die Becker’schen, oder …

«Findet Ihr es nicht ziemlich aufdringlich, um diese Stunde vorzusprechen?» Die kräftige weibliche Stimme von der Diele unterbrach ihre einer konkreten Planung gefährlich nahe kommenden Gedanken. Pauline gab sich keine Mühe, ihre Empörung zu verbergen. «So früh empfängt Madam nicht. Nein», fiel sie einer leiseren, männlichen Stimme ins für Rosina unverständliche Wort, «auch keine Amtspersonen. Das wäre unschicklich. Wisst Ihr das etwa nicht? Wieso seid Ihr überhaupt schon wieder hier? Glaubt Ihr, in den paar Tagen ändert sich was? Eure Zeit möchte ich haben! Im Übrigen habe ich noch nie gehört, dass die Koststellen öfter als einmal im Jahr geprüft werden. Wenn überhaupt. Manche sehen Euch jahrelang nicht, oft gerade solche, wo es wirklich nottäte, nach dem Rechten zu sehen. Am besten, Ihr geht gleich wieder. Madam Vinstedt ist …»

«… schon zur Stelle. Danke, Pauline.»

Als Rosina begriffen hatte, wer zu einem so unpassenden Besuch erschienen war, war sie mit nur mühsam unterdrücktem Zorn in die Diele getreten. Nun hatte sie Mühe, ihr Amüsement zu verbergen. Pauline, dienstbarer Geist für alle Angelegenheiten im Haushalt der Vinstedts, stand mit vor der Brust verschränkten Armen, den Hals vorgereckt wie eine kampfbereite Gans, in der Mitte des bescheidenen Entrees und starrte grimmig die zwei Besucher an. Der Jüngere musterte unbehaglich die unter den aufgekrempelten Ärmeln sichtbaren kräftigen Arme Paulines. Das feine Tuch seiner Kleidung und die dezente, gleichwohl kostbare Nadel in seiner Halsbinde und der Ring an der rechten Hand verrieten einen Bürger, der von Dienstboten keinerlei ruppige Abweisung, sondern devote Höflichkeit gewöhnt war.

Der Ältere konterte Paulines Blick mit gleicher Giftigkeit. Als Schreiber des Waisenhauses war er grobes Volk gewöhnt. Doch Rosina kannte die Sprache des Körpers und der Mienen zu gut, um sich täuschen zu lassen. Zachers hochgezogene Schultern, die auf die vorderste Nasenspitze gerutschte Brille, die den Knauf seines Gehstockes fest umklammernde rechte Faust verrieten: Wie sein Begleiter wäre dem alten Zacher nichts lieber, als auf dem Absatz kehrtzumachen. Was er sich jedoch, wie Rosina wusste, keinesfalls erlauben würde. Er gehörte zu den Männern, denen Pflichterfüllung über alles ging. Dass er die gern mit der Pflege moralinsaurer Vorurteile verwechselte, hätte er wie alle Tugendwächter entschieden bestritten.

Paulines Empörung war gerecht, Rosina ertappte sich trotzdem bei einem Gefühl, das Mitleid sehr nahe kam.

«Danke, Pauline», wiederholte sie in trügerischer Sanftmut. «Die Herren werden einen gewichtigen Grund für ihren frühen, unangemeldeten Besuch haben. Umso mehr, als wir erst kürzlich die Ehre der Gegenwart Monsieur Zachers hatten.»

Der schnaubte, ob mit Genugtuung, aus Empörung oder gar aus Verlegenheit, war nicht zu deuten, und sein Begleiter errötete. Rosina kannte ihn nicht, er war offensichtlich zu zart besaitet für diesen Auftrag. Er würde noch viel lernen müssen.

Sie führte die Besucher in ihren Salon und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Waisenhausschreiber en passant seine Hand über die Rosenholzkommode gleiten ließ und missmutig die staubfrei gebliebenen Finger gegeneinanderrieb, bevor er sich auf die vorderste Kante seines Stuhls setzte.

«Ja, Madam», begann er, während sich sein kurzsichtiger Blick noch prüfend durch das Zimmer tastete, «zu meinem tiefsten Bedauern müssen Monsieur Hegolt und ich, ja, wir beide, schon wieder bei Euch vorsprechen. Tatsächlich, ja, bedauerlicherweise. Es ist kostbare Zeit, die anderen Tätigkeiten vorbehalten sein sollte. Gleichwohl …»

«Wie recht Ihr habt, auch meine Zeit ist kostbar.» Rosinas süßes Lächeln erinnerte an einen Ozelot kurz vor dem Sprung auf seine Beute. «Womit kann ich Euch und dem Waisenhaus heute dienen? Sicher wollt Ihr nicht schon wieder prüfen, ob Tobias wohlauf ist und gut behandelt wird. Das habt Ihr erst in der vorletzten Woche getan und nichts zu beanstanden gefunden.»

«Nichts zu beanstanden, nun, das ist wahr. Es ist unsere Pflicht, für die unserer Obhut anvertrauten Kinder gute Sorge zu tragen, Madam; da Ihr und auch Euer Gatte neu in der Stadt seid, keine geborenen Hamburger sozusagen, ist es angebracht, doppelt zu sorgen. Nicht dass wir Euch misstrauten, aber – andere Länder, andere Sitten, wie man so treffend sagt. Ja, und im Übrigen», hier schlich sich ein winziges saures Lächeln in Zachers bleiche Züge, «diese Kinder brauchen eine feste Hand, strenge Zucht, und wie man hört», er hüstelte und schob seine Brille ein Stück den Nasenrücken hinauf, «wie man hört, ist Euch Euer Gatte abhandengekommen. Wenn wir noch einmal sehen können, wie der Junge untergebracht ist …»

«Monsieur Zacher!» Rosina hatte sich abrupt erhoben und strich heftig ihre Röcke glatt. Sie hatte nichts anderes erwartet, und bei früheren Begegnungen war es ihr stets gelungen, Ungeduld und Heftigkeit im Zaum zu halten. Sie wusste genau, dass eine Frau, die auf der Bühne gestanden und von Ort zu Ort gezogen war, diesen Makel niemals verlieren würde, egal, wie vornehm ihre Geburt und ihre Erziehung einst gewesen waren, wie sie nun lebte, wer nun ihre Freunde waren. Wie bei anderen ähnlichen Gelegenheiten war sie bei den Begegnungen mit dem Waisenhausschreiber und den Provisoren einfach in eine Rolle geschlüpft, die für sie anstrengend war, aber ihren Zweck erfüllte. Tatsächlich war das ja nichts Besonderes. Alle Menschen spielten in verschiedenen Phasen oder Situationen ihres Lebens immer wieder Rollen. Es musste an dem bösen Traum liegen, dass es ihr an diesem Morgen nicht gelang.

«Tobias lebt seit fast fünf Monaten bei uns», erklärte sie mit entschiedener, nur mühsam beherrschter Stimme. «Monsieur Vinstedt – hier muss ich Euch korrigieren – ist mir nicht ‹abhandengekommen›, er ist auf Reisen. Seit Tobias bei uns lebt, habt Ihr viermal – oder waren es fünf? – nach dem Rechten gesehen, wie Ihr es zu bezeichnen pflegt. In der Schänke mit dem absolut unzutreffenden Namen Zum Himmel habt Ihr Euch nicht ein einziges Mal nach dem Wohlergehen des Waisenkindes erkundigt, das dort in Kost gegeben wurde. Das Mädchen arbeitet sich Tag für Tag und bis in die Nacht ihren schmalen Rücken krumm und genießt die feine Gesellschaft von groben Trunkenbolden, unter denen der Wirt selbst zu den Ärgsten gehört. Tobias geht es gut bei uns, er erfüllt seine Pflichten in unserem Haushalt, er besucht brav die Schule und die Gottesdienste, er stiehlt oder prügelt nicht und wirft keine Scheiben ein. Er hat auch niemals den Hühnerstall einer armen Witwe geöffnet, das Federvieh auf die Straße getrieben und so die alte Frau um ihre Einkünfte gebracht. Das war der Sohn eines Mitglieds der Admiralität, wie Ihr gewiss erinnert. Tobias hat nicht einmal Läuse, und davon, dessen seid versichert, hat er ganze Heerscharen mitgebracht, als er aus dem Waisenhaus zu uns kam. Was also, Monsieur, gibt es schon wieder zu prüfen oder gar zu beanstanden? Wenn Ihr uns so tief misstraut, müsst Ihr vergessen haben, wer für mich und meinen Mann gebürgt hat.»

«Monsieur Herrmanns und Madam Kjellerup», murmelte Zacher automatisch, völlig irritiert von der unerwarteten und höchst ungebührlichen Brandrede.

«Ach, du meine Güte», entfuhr es Zachers Begleiter. Er zupfte den Schreiber am Ärmel und erhob sich. Zacher rührte sich nicht, er saß wie versteinert auf seiner Stuhlkante und starrte diese zweifelhafte Madam Vinstedt an, als könne sein Blick sie durchbohren. Bis heute hatte sie sich beflissen und bescheiden gezeigt, wie es sich gehörte. Nun bewies sich, was er stets vermutet, was er gespürt hatte: alles Theater! Böse Komödie! Sie war ein respektloses, selbstgefälliges Weib, ein verlogener Charakter. Leider fielen dumme, noch halbwegs junge Herren in Seidenröcken und mit parfümierten Locken wie Hegolt auf solche Hetären-Weiber herein.

Der hatte die Dame des Hauses, von der er nur gehört hatte, dass sie eine zweifelhafte Vergangenheit habe, zuerst interessiert, dann irritiert betrachtet. Sie war nicht mehr jung, wohl bald dreißig, doch noch von schlanker, biegsamer Gestalt, das schmale Gesicht unter dem honigblond gelockten Haar trotz der langen Narbe auf der linken Seite reizend. Die vom mühsam verhaltenen Zorn blitzenden tiefblauen Augen, die eloquente Sprache, dazu die Bücher und der wertvolle Globus, das Spinett und die Notenabschriften auf dem Tisch, auf der oberen hatte er den Schriftzug von Monsieur Bach erkannt, dem weit über die Region hinaus gerühmten Kompositeur und städtischen Musikdirektor – was für eine ungewöhnliche Person! Es war höchste Zeit, einzuschreiten.

«Ich muss um Vergebung bitten, Madam.» Er verbeugte sich, wie es sich vor einer Dame gehörte, die wirklich eine war. «Es ist meine Schuld. Ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Unverzeihlich. Hegolt», erklärte er mit einer eleganten Verbeugung, «mein Name ist Ansgar Hegolt, ich gehöre erst seit kurzer Zeit zu den Provisoren des Waisenhauses. Ihr habt vielleicht von dem Heimgang Monsieur Meinings gehört. Völlig überraschend, ja, Gottes Wege sind wundersam. Meining war ein über die Maßen verdienstvoller Mensch, es ist eine Ehre, seinen Platz einzunehmen. Um meine Pflichten kennenzulernen, wollte ich möglichst bald eine Koststelle besuchen. Unser guter Zacher», er blickte streng auf den immer noch auf einem Stuhl hockenden alten Schreiber, schob seine Hand unter dessen Arm und zwang ihn auf die Füße, «hat sich für Euch entschieden, weil Ihr nur wenige Schritte vom Waisenhaus entfernt wohnt und weil», an dieser Stelle warf er Zacher einen noch strengeren Blick zu, «und weil Eure Behandlung unserer armen Waisen als vorbildlich gelten muss.» Er ignorierte das kräftige Schnauben an seiner Seite. «Ihn plagt nur eine Sorge», fuhr er ungerührt fort, «nämlich dass Ihr den Jungen verwöhnen könntet. Alle diese Kinder müssen auf ein selbständiges arbeitsreiches Leben vorbereitet werden, damit sie später sich und ihre Kinder ernähren können. Sie sollen lesen und schreiben lernen, rechnen besonders die Jungen, dafür sollen sich die Mädchen in Handarbeiten üben, auch in Gottesfurcht, das versteht sich von selbst. Und natürlich auch im Gewerbe des Hauses helfen, besonders die Jungen, um davon zu lernen.» Eigentlich wollte er noch hinzufügen, dass er in diesem Haus kein Gewerbe erkennen könne und sich frage, was der Junge hier außerhalb seiner Schulstunden tue. Er entschied rasch, diese Frage sei besser zu verschieben, womit er völlig recht hatte.

«Ich halte es mehr mit Gottesliebe», versetzte Rosina Vinstedt, inzwischen eher misstrauisch als ungehalten. «Von Furcht verstehen diese Kinder schon genug.» Dieser seltsame Monsieur Hegolt schwindelte offensichtlich, doch womöglich in bester Absicht. Das reichte, um sie halbwegs zu versöhnen. «Wenn es Euch beruhigt», wandte sie sich wieder an den Waisenhausschreiber, «kommt, sooft Ihr mögt. Wir haben nichts zu verbergen, und Tobias ist ein braves Kind.»

Das Letzte war nicht wirklich geschwindelt, es legte die Tatsachen nur großzügig aus. Für einen Jungen seines Alters und wenn man bedachte, welch harte Schule die gut zehn Jahre seines Lebens schon bedeutet hatten, war Tobias wirklich halbwegs brav. Er musste mit einer zähen Natur gesegnet sein. Das Schwindeln würde sie ihm schon noch abgewöhnen. Leider tat er es so überzeugend und mit solchem Charme, dass es ihr stets schwerfiel, eine Lüge als solche zu erkennen und die nötige Strenge walten zu lassen. Genau genommen, so fand sie, waren viele seiner Lügen gar keine, sondern Ausdruck einer ungewöhnlich bunt blühenden Phantasie. Leider waren sowohl Magnus als auch Pauline in dieser Hinsicht anderer Meinung. Immerhin hatte er noch nie gestohlen und auch keinerlei Neigung dazu gezeigt.

«Ja», wiederholte sie nachdrücklich, «ein braves Kind. Manchmal recht temperamentvoll, auch seine Phantasie muss hier und da gezügelt werden. So sind Jungen seines Alters nun einmal. Dem werdet Ihr mit Eurer viel größeren Erfahrung sicher zustimmen, Monsieur Zacher.»

«Unbedingt», beeilte sich Monsieur Hegolt zu versichern, als Zacher mit entschlossen vorgeschobenem Kinn beharrlich schwieg. «Unbedingt. Und nun haben wir Euch lange genug aufgehalten, ich hoffe, Ihr seht uns unseren Überfall nach, wir …»

«Rein mit dir», tönte plötzlich eine Männerstimme aus der Diele. «Nein! Nicht loslassen! Du tropfst ja noch wie ein Eiszapfen in der Sonne. Drück das Tuch weiter fest gegen die Nase. Da seid Ihr ja, Rosina, schaut mal, was oder besser: wen ich auf der Straße aufgelesen habe. Ich dachte mir, ich liefere ihn selbst bei Euch ab, damit er sicher ankommt. In die Schule sollte er wohl erst, nachdem das Blut abgewaschen ist. Oder was denkt Ihr? Ein reines Hemd wäre auch nicht schlecht. Hat er noch eins?»

Beim Klang der vertrauten Stimme war Rosina mit einem Satz in der Diele gewesen. Claes Herrmanns stand mit breitem Grinsen vor ihr, elegant wie immer, heute im maronenbraunen, schwarz gesäumten Rock, der Dreispitz klemmte unter dem linken Arm, die rechte Hand mit dem Familienring am Mittelfinger lang auf Tobias’ Schulter, der wiederum überhaupt nicht grinste. In der linken hielt Herrmanns mit spitzen Fingern den neuen Hut des Jungen, der leider nur noch einem schlammigen Klumpen glich. Auch der Rest von Tobias’ Kleidung zeugte von gründlichem Wälzen in Schneematsch und Pferdeäpfeln. Immerhin trug er noch beide Schuhe, auch stank er nicht nach fauligem Fisch wie beim letzten Mal. Dafür verschwand sein linkes Auge gerade in einer rasch anwachsenden Schwellung. An seinen Händen klebte Blut – sie hoffte, dass es aus seiner eigenen Nase stammte.

All das erkannte sie in zwei Sekunden, sie erschienen ihr wie eine volle Stunde. Ausgerechnet jetzt, mit dem neuen Provisor und dem alles andere als wohlgesinnten Waisenhausschreiber im Salon, wurde Tobias am Schlafittchen nach Hause gebracht, blutig, schmutzig, unverkennbar nach einer veritablen Schlägerei. Da stand er vor ihr, dieser dünne Knirps mit den O-Beinen, und blickte sie aus dem Auge, das noch gut sehen konnte, mit der ihm eigenen Mischung aus Trotz und Furcht an, die er unvermittelt zeigen konnte. Gegen seine blutende Nase hielt er ein Tuch aus allerfeinstem, spitzengesäumtem Leinen gedrückt. Hoffentlich wusste Pauline ein Wundermittel, die Blutflecken wieder auszuwaschen; das Tuch zu ersetzen würde ein dickes Loch in ihr Budget reißen.

«Keine Sorge, Rosina», fuhr Claes Herrmanns munter fort, ihn schien die Angelegenheit ungemein zu amüsieren, «der Junge ist nur ein bisschen verbeult. Die Nase ist nicht gebrochen, sie hat nur geblutet. Die Vorderzähne sind auch noch komplett, das ist das Wichtigste. Um das Auge herum wird das Gesicht hübsch grün und blau werden, aber er wird bald wieder freie Sicht haben. Hegolt?», irritiert hoben sich seine Brauen, und sein Blick veränderte sich schlagartig. «Was tut Ihr hier? Dazu um diese Stunde?»

Rosina schloss die Augen und faltete die Hände vor der Brust. Wie töricht zu hoffen, den beiden Männern im Salon könnte diese Szene durch ein Wunder entgehen. Es gab keine Wunder. Am wenigsten, wenn man besonders dringend eines brauchte.

«Die Herren», sagte sie und schickte einen beschwörenden Blick zu Claes Herrmanns, «die Herren sind wieder hier, um zu prüfen, ob mit Tobias und uns alles seine Ordnung hat.»

«Seine Ordnung, in der Tat», knurrte Zacher. Er hatte sich an dem Provisor, der in der Tür zum Salon stehen geblieben war, vorbei in die Diele gedrängt. Ein Blick auf den Jungen ließ seine Augen triumphierend aufblitzen.

«Guten Morgen, Zacher. Jetzt verstehe ich, Hegolt. Ich hatte es fast vergessen, Ihr seid ja nun Provisor im Waisenhaus. Der arme Meining, plötzlich einfach tot, und das zwei Tage nach Fastnacht. Er hat die Maskeraden immer so geliebt und schien mir bis dahin völlig gesund. Wegen des Jungen seid Ihr hier? Tobias gibt keinen Anlass zu Bedenken, absolut keinen. Immer noch ziemlich dünn, aber ich kann bezeugen, dass er isst wie ein Scheunendrescher und auch reichlich bekommt. In diesem Haus außer körperlicher Nahrung auch geistige, was man nicht von allen Koststellen sagen kann. Ein junger Mensch braucht beides, wenn er nicht ganz dumm ist. Und dumm», Herrmanns sah wohlwollend auf den Rotschopf an seiner Seite hinunter wie auf ein interessantes Studienobjekt, «nein, dumm ist Tobias gewiss nicht. Ich würde ihn sogar als wissbegierig bezeichnen.»

Auch Hegolt betrachtete den Jungen mit wohlwollend prüfendem Blick, und Zacher fragte mit schmalen Lippen: «Und warum, Monsieur Herrmanns, ist der Junge dann nicht in der Schule, wo er um diese Stunde hingehört, um seinen großen Wissensdurst zu stillen? Warum sieht er so aus? Wie ein – Gossenkind?»

Rosina holte tief Luft, doch Herrmanns legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. «Er sieht aus, lieber Zacher, wie Jungen ab und zu aussehen, wenn sie keine Duckmäuser sind. Sicher seid auch Ihr zu Eurer Zeit ab und zu mit einer blutigen Nase nach Hause gekommen. Ihr hättet die anderen beiden sehen sollen. Tobias hat sich nämlich gleich gegen zwei Jungen verteidigt. Wie ein Löwe. Wer weiß, wie es seinen Kontrahenten noch ergangen wäre, hätte ich nicht eingegriffen.»

Rosina schickte ein Stoßgebet zum Himmel, Claes Herrmanns möge endlich aufhören. Sie wusste, der Gatte ihrer besten Freundin meinte es gut, wie gewöhnlich, leider spürte er nicht, dass die ausführliche Schilderung einer Schlägerei in diesem Moment das Letzte war, was Rosina und auch Tobias half.

Claes Herrmanns war ein selbstbewusster Mann. Er gehörte zu den wohlhabendsten Kaufleuten der Stadt und, wenn er auch vermieden hatte, sich in ein Rathausamt wählen zu lassen, weil er lieber im Hintergrund und in der Commerzdeputation die Fäden zog, auch zu den angesehensten. Er hatte es selten nötig, taktisch oder gar diplomatisch zu sein, eben eine Rolle zu spielen, und er liebte es auch nicht. Er war – meistens – höflich, alles darüber hinaus fand er zu mühsam. Erst recht, wenn er einem noch wenig einflussreichen Kaufmann und einem alten Schreiber gegenüberstand.

«Der Junge hat sich geprügelt», fuhr er launig fort. «Na und? Natürlich sollte er das nicht, aber wenn es um die Ehre geht, muss ein Mann schon mal zuschlagen.» Er knuffte den Jungen aufmunternd gegen die Schulter. «Darum ging es doch, Tobias? Um die Ehre. Die anderen beiden», fuhr er an Zacher und Hegolt gewandt fort, «haben nämlich behauptet, er habe sie bestohlen. Das konnte er doch nicht auf sich sitzen lassen. Hmm.» Wieder hoben sich seine Brauen, und plötzlich wurde sein Blick starr. «Es sei denn …»

Vier Augenpaare richteten sich auf Tobias. Ein fünftes, das von Pauline, schloss sich, während sie hinter der Küchentür lauschend den Atem anhielt. Der magere, für sein Alter ohnedies zu kleine Knirps zog den Kopf zwischen die Schultern und schien noch kleiner zu werden.

Es war totenstill, selbst die Kohlmeise war verstummt und davongeflogen. Rosina wäre sehr gerne ohnmächtig geworden, leider gelang ihr das nur sehr selten. Für eine anständige Frau war sie einfach zu gesund.

 

Als Rosina Vinstedt aus der Haustür auf die Gasse trat, atmete sie zum zweiten Mal an diesem Morgen tief ein, sogar besonders tief. Es hatte noch nicht zehn geschlagen, und was der Morgen bisher an Aufregungen geboten hatte, reichte für den ganzen Tag. Wahrscheinlich lag es am Alter, wenn sie sich so rasch aus der Ruhe bringen ließ – ihr dreißigster Geburtstag nahte unaufhaltsam. Früher, darin war sie ganz sicher, war das anders gewesen. Früher, drängte sich ein unerwünschter Gedanke in ihr Bewusstsein, war sie auch nicht darauf bedacht gewesen, was Nachbarn, überhaupt ihre Mitbürger von ihr dachten.

Obwohl im Hafen noch die vom Eis erzwungene Winterruhe herrschte, waren die Straßen wie gewöhnlich um diese Vormittagsstunde voller Menschen, Wagen und Fuhrwerke. Tatsächlich noch voller als sonst, denn es war seit langem der erste Tag, an dem die Strahlen der Sonne Wärme spendeten, somit einer dieser Vorfrühlingstage, die auch die standhaftesten Stubenhocker ins Freie lockten.

Zwischen die vier oder gar sechs Etagen hoch aufragenden Häuser der Mattentwiete, in der Rosina seit ihrer Heirat mit Magnus wohnte, hatte sich noch kein Sonnenstrahl verirrt. Sie war gerade breit genug für eine der komfortableren Kutschen und oft vom Gedränge verstopft, besonders wenn sich mal wieder zwei Fuhrleute nicht einigen konnten, wer zuerst passieren dürfe. Genau genommen waren die meisten Straßen der uralten Stadt nur solche Gassen, viele sogar kaum mehr als schulterbreite Gänge. In manchen kragten die oberen Stockwerke so weit vor, dass die Straßen wie Tunnel anmuteten und ihre Bewohner sich von Haus zu Haus die Hände reichen konnten. Jedenfalls fast.

Ganz so schmal war die Mattentwiete nicht, was die ängstlicheren unter den Bewohnern beruhigend fanden, denn wozu nützte es, des Nachts einen Balken vor die Tür zu legen oder gar ein teures Schloss einbauen zu lassen, wenn ein Dieb von einem schlechter gesicherten Haus herüber einsteigen konnte? Oder – schlimmer noch – ein Mordlüstling, wie es neulich Madam Hopperbeck aus der vierten Etage mit erstaunlich blitzenden Augen gesagt hatte. Neinneinnein, hatte die Nachbarin geflüstert, ihre Blicke eilig nach links und rechts die Twiete hinunterschickend, hier sei es sicher, das gehe nur in den stinkenden Gängevierteln. Dort tue es aber auch niemand, der halbwegs bei Verstand sei, denn was gebe es da schon zu holen? Ratten, Läuse und eine Tüte schlechte Luft, die die Auszehrung mitbringe.

Wenn deren Untaten ohnedies nicht zu fürchten waren, fand Rosina die ganze Aufregung um womöglich einsteigende Diebe und anderes Gesindel überflüssig, sie hatte dennoch mit interessiertem Gesicht vage Zustimmung genickt. Madam Hopperbeck, eine Nervensäge mit einem unermüdlich Nichtigkeiten plappernden Mundwerk, hatte ihre neuen Nachbarn noch nie mit Herablassung behandelt, insbesondere diese neue Nachbarin mit der seltsamen Vergangenheit. Rosina wollte, dass es so blieb.

Sie drängte sich an einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk und zwei Frauen mit schweren Reisigbündeln auf den Rücken vorbei, dann gab sie alle Versuche zur Eile auf und ließ sich mit dem Menschenstrom über die Holzbrücke zum Hopfenmarkt treiben. Auf dem weiten Platz um St. Nikolai war endlich wieder genug Raum, dass sie ihr Tempo selbst bestimmen konnte, und sie eilte, so flink es die gute Sitte erlaubte, durch die breiteren Straßen weiter. Sie fühlte sich befreit, die Eile der Füße, des ganzen Körpers, die Frische der Luft – alles löste die Anspannung der letzten Stunde.

Sie hatte nicht gehen wollen, erst als Pauline knurrte, der Junge schlafe doch nun und in der Küche störe sie bloß, hatte sie ihr blassblaues Hauskleid aus dünner englischer Wolle abgelegt und das doppelt gesteppte Burgunderfarbene angezogen, ihren Beutel mit den Schlittschuhen genommen und sich auf den Weg gemacht. Anstelle des geliebten Muffs aus weißem Kaninchenfell hatte sie Handschuhe eingesteckt. Sie wollte eislaufen, eistanzen genau genommen, die Arme weit ausbreiten und übers Eis fliegen, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr; der Frühling war nicht mehr aufzuhalten und das Eis sicher schon jetzt nicht mehr so dick wie noch vor einer Woche.

Wie hatte sie nur wie diese drei honorigen Bürger glauben können, Tobi habe gestohlen? Sie verstand, wenn Menschen aus Not zu Dieben wurden. Wenn sie auch nicht wusste, was echte Hoffnungslosigkeit bedeutete, so hatte sie Hunger kennengelernt. Sie wusste auch sehr genau, dass die Bürger arme Menschen wie auch die Fahrenden, die Nichtsesshaften, ständig der Unmoral und Dieberei verdächtigten, wenn es sich gerade so ergab, auch ohne jeden Beweis des Mordes. Weil sie Fremde oder tatsächlich bettelarm waren. Sie wäre sich gerne in aufrechter Empörung ergangen, doch das wäre bigott gewesen. Natürlich war jemand, der nichts hatte, oft nicht einmal genug, um auch nur annähernd satt zu werden, schneller in Versuchung zu stehlen. Und mancher, der keine Hoffnung hatte, sein Elend je überwinden zu können, verlegte sich leicht aufs Stehlen. Darauf mochte herabsehen, wer jeden Tag satt wurde, eine warme Stube und reine, sogar im Winter wärmende Kleider hatte.

Tobi hatte bei allem Unglück, das er in seinem kurzen Leben schon erfahren hatte, doch Glück gehabt, nämlich immer ein Dach über dem Kopf, Kleidung, sogar Schuhe, und an jedem Tag zu essen. Das war mehr, als viele seiner Altersgenossen in der Stadt hatten. Er hatte nie gestohlen, warum sollte er es jetzt getan haben? Warum sollte man ihm und seiner Ehrlichkeit misstrauen?

Sein einziger Makel war womöglich seine Herkunft, von der Rosina wenig wusste. Die ersten drei Jahre seines Lebens hatte er bei einer Tante in einer abseits gelegenen, äußerst ärmlichen Kate außerhalb der Stadt bei der Sternschanze verbracht. Ihr Mann fuhr zur See, seine Reisen gingen weit, also musste sie sich mehr oder weniger alleine durchschlagen. Wie ihr das gelungen war, auf welche Weise, wusste Rosina nicht. Sie war eine sonderbare Person gewesen, ohne Familie, eigenbrötlerisch und schroff, in das Kind jedoch ganz vernarrt.

Über seine Eltern war nichts bekannt. Als diese Tante plötzlich starb, an irgendeinem Fieber, wie es oft vorkam, war niemand da, der sich seiner annehmen wollte oder konnte. In ihrer Truhe hatte sich ein Notgroschen gefunden, dazu ein gefalteter Bogen, auf dem in ungelenker Schrift stand, das Geld sei für Tobias Rapp, ihr Schwesterkind, er sei ehelich geboren und im August anno 1762 getauft. Leider fehlte ein Taufschein, auch waren weder Ort noch Kirche oder die Namen der Eltern vermerkt. Auch der Vatername des Kindes war auf dem in Feuchtigkeit gelegenen Papier nur schwer leserlich gewesen. Der Argwohn, es handelte sich bei diesem Rotschopf mit dem Schielauge womöglich um ein irgendwo aufgelesenes Findelkind und die Angaben auf dem Papier seien alle erfunden, war groß gewesen. Man hatte sich auf Rapp geeinigt und ihn zur Sicherheit seines Seelenheils noch einmal getauft. Der bescheidene Geldbetrag war für Tobias’ Unterhalt dem Waisenhaus übergeben worden, wie es der für jedermann einsichtige Usus war.

Der Seemann und einzige bekannte Verwandte tauchte nicht mehr auf. Im Hafen hatte jemand dem Wasserschout erzählt, er habe in Bristol auf einem Schiff angeheuert, das vor der afrikanischen Goldküste mit Mann und Maus untergegangen sei. Manche sagten: als Gottesstrafe, denn der Kahn hatte menschliche Fracht an Bord gehabt, schwarze Sklaven für die Plantagen auf den Westindischen Inseln. Was wiederum andere, die nichts gegen den Sklavenhandel hatten, als Unsinn abtaten und behaupteten, der Kerl habe sich gleich wieder aus dem Staub gemacht, als er im Hamburger Hafen ankam und hörte, seine Frau sei tot und das Balg von deren verschollenen Verwandten brauche Brot und Herberge.

So war Tobi im Waisenhaus gelandet und geblieben, womit er noch einmal Glück gehabt hatte. Er hätte auch ausgesetzt in der Gosse sterben oder an widerwärtige Männer verkauft werden können. Er hatte – vielleicht – auch Glück gehabt, dass er trotz seines geringen Alters gleich im Waisenhaus am Rödingsmarkt Aufnahme gefunden hatte und nicht für die nächsten Jahre in eine Koststelle gegeben wurde, wie es bei Kindern bis zu ihrem mindestens vierten Lebensjahr das Gewöhnliche war. Es schien, als habe ein unbekannter Gönner seine Hand über ihn gehalten.

Im Waisenhaus war die Chance größer, die frühen Kinderjahre zu überleben. So wurde jedenfalls gesagt. Rosina wusste nicht, ob es stimmte. Auch im Waisenhaus starben Kinder, nicht ganz so viele wie in den Armenvierteln, böse Zungen behaupteten, auch nicht so viele wie in den reichen Häusern, wo teuer bezahlte Ärzte so manches Kind zu Tode kurierten.

So oder so – als Tobi den Kopf zwischen die Schultern zog und seine Augen sich erschreckt weiteten, hatte sie sofort gedacht, er habe die Prügel bezogen, weil er tatsächlich etwas gestohlen hatte. Das fühlte sich nun an wie Verrat. Es hatte ein bisschen gedauert, bis alle, die da in der Diele streng auf seinen gebeugten rostroten Schopf hinabsahen, seine Geschichte verstanden. Zum ersten Mal hatte sie ein Zittern in seiner sonst so munteren Stimme gehört und begriffen, dass sie kein Schuldgefühl in seinem Gesicht erkannt hatte, sondern Angst.

Er hatte tatsächlich etwas «stibitzt», so hatte er es ausgedrückt, nämlich einen kleinen hölzernen Seehund, den die beiden Größeren wiederum kurz zuvor einem Mädchen weggenommen hatten. Marret besuchte wie Tobi die Katharinenschule, und ihre Nähe ließ sein kleines Herz schneller schlagen. Gestohlen war auch in diesem Fall ein zu großes Wort, denn einer der Jungen war der ältere Bruder des Mädchens. Aber als sie weinte, hatte Tobi das hölzerne Spielzeug zurückgeholt und der Besitzerin zurückgegeben, und dann, ja, und dann hatte der Bruder es bemerkt, und die Prügelei war losgegangen. Bis Claes Herrmanns gekommen war und ihn aus diesem Knäuel von Armen und Beinen und dünnen Jungenkörpern herausgezogen hatte. Was Tobi sicher nicht bedauerte. Selbst wenn es nur um irgendeine Ehre gegangen wäre, war die Aussicht, halbwegs siegreich aus einer Prügelei hervorzugehen, gleich null, wenn die Kontrahenten in der Überzahl und mindestens einen Kopf größer waren.

Der Junge war verliebt, ein gefährlicher Zustand, da er leicht zu falschen Entscheidungen verführte, dachte Rosina, als sie am St.-Johannis-Kloster vorbeieilte und dem betörenden Duft frischer Zimtkringel aus dem Korb einer Straßenverkäuferin widerstand. Dass es einen weiteren Grund gab, warum er sich mit seinen dünnen Fäusten auf die beiden größeren Jungen gestürzt hatte, hatte er erst erzählt, als die Herren Zacher, Hegolt und Herrmanns gegangen waren, als er in eine Decke gewickelt auf seinem Lieblingsplatz neben dem Küchenfeuer hockte und seine verschrammten Hände – vielleicht auch seine wunde Seele – an einem Becher dampfender Honigmilch wärmte. Die beiden Jungen hatten ihn verspottet und ihm Schmähungen zugerufen, mit denen Waisen verhöhnt und verächtlich gemacht wurden, auch noch, als sie schon aufeinander einprügelten. Das hatte Claes Herrmanns gehört und deshalb nicht ganz falsch angenommen, der Kampf sei um die Ehre gegangen. Tobi war über die Maßen wütend gewesen, zugleich hatte er sich geschämt, wie es Unterlegene und Opfer fälschlicherweise oft tun.

Wenn sie zurückkam und er sich im Schlaf von Schrecken und Schmach erholt hatte, wollte sie versuchen, mit ihm darüber zu sprechen. Und auf dem Rückweg würde sie doch einen Zimtkringel kaufen. Tobi brauchte eine Belohnung für seinen Mut, wenn es auch nicht sehr schlau gewesen war, sich in diese ungleiche Schulhofschlacht zu stürzen.

Wie hatte er gesagt? «Als ich Marret den Seehund zurückgegeben habe, da hat er’s doch noch gemerkt.»

Sie blieb stehen, sofort begann ein Zitronenverkäufer, ihr seine Ware anzupreisen, und ein alter Mann mit einer Kiepe voller Teller und Schalen, allesamt bestes, glasiertes Steinzeug aus dem Holsteinischen, versuchte ihn in der Lobpreisung seiner Ware zu übertrumpfen. Rosina beachtete weder den einen noch den anderen, sah wie taub für ihr Werben einfach durch sie hindurch, bis sie sich mürrisch nach anderer Kundschaft umsahen.