Die Sexualität der Psychoanalyse - Kai Rugenstein - E-Book

Die Sexualität der Psychoanalyse E-Book

Kai Rugenstein

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Beschreibung

Psychoanalyse interessiert sich weniger für die organisierte, genitale Sexualität, sondern vielmehr für das anarchische, verdrängte, unbewusste Sexuelle. Sie fragt nach der infantilen Sexualität im Erwachsenen. Kai Rugenstein diskutiert, orientiert an Sigmund Freud und Jean Laplanche, die Leitgedanken einer intersubjektiv ausgerichteten Triebtheorie und deren Implikationen für die psychoanalytische Praxis. Dabei wird deutlich, wie es in Analysen jenseits eines bloßen Redens über Sexualität darum geht, eine Weise des Deutens zu finden, welche die Dynamik des unbewussten Sexuellen in der Übertragung mobilisiert und so blockierte Entwicklungsmöglichkeiten bei Patientinnen und Patienten wiederbelebt. Besondere Beachtung gilt demnach dem Arbeiten mit und in der Übertragungsliebe.

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Seitenzahl: 97

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PSYCHODYNAMIKKompakt

Herausgegeben von

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Kai Rugenstein

Die Sexualität der Psychoanalyse

Zur Bedeutung des Sexuellen in Theorie und Behandlungstechnik

Mit 3 Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Pferd und Mann, 1925/akg-images Bildnachweise: Seite 13: © Freud Museum London; Seite 59: © Christine Böhme, Berlin

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-6401

ISBN 978-3-647-99473-4

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

1Einleitung: Eine sexuelle Sache

2Historisches: Die Erfindung der Sexualität

3Die Sexualität und das Sexuelle

3.1Ordnung und Gewirr

3.2Sprachlose Sexualität

3.3Ist für die Psychoanalyse alles sexuell?

4Theorie: Das Sexuelle als Gegenstand der Psychoanalyse

4.1Drei Abhandlungen anstatt einer Theorie

4.2Die doppelte Sexualität des Menschen: Sexualtrieb und Sexualinstinkt

4.3Der Ursprung der Sexuellen: Sexualität und Bindung

4.4Verwirrung um das Sexuelle: Sexualität, Eros und Liebe

4.5Ödipus: Ein psychoanalytischer Mythos

4.6Sexualtheorie als Konflikttheorie

5Praxis: Das Sexuelle in der psychoanalytischen Behandlungstechnik

5.1Im Bottich: Das psychoanalytische Setting als sexueller Ort

5.2Psychodynamik: Die Bewegungen des Sexuellen im psychoanalytischen Prozess

5.3Zweideutigkeit: Das Sexuelle zur Sprache kommen lassen

5.4In der Übertragungsliebe

5.5Begehren und Abstinenz des Analytikers

5.6Die Erotik des Nichtwissens

6Das Sexuelle in der Psychoanalyse: Zehn Prinzipien

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.

Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten und Patientinnen hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internetbasierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Sexualität ist eine begriffliche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Begriff umfasste alle Formen der sich nicht nur auf Fortpflanzung beschränkenden Praktiken sexueller Lustfindung und gewann zunehmend an Bedeutung. Vor allem das Irritierende, Anstößige und Abweichende sollte damit in seiner »beunruhigenden Existenz« nicht nur zur Kenntnis genommen werden, sondern auch eine Benennung finden. Im bürgerlichen Ordnungssystem des 19. Jahrhunderts bedeutete dies den Versuch, über das Bedrohliche ungezügelter Unzweckmäßigkeit die Oberhand zu gewinnen. Nach Foucault ging die Erfindung der Sexualität mit »ihrer Regulierung und Disziplinierung« einher.

Exakte Definitionsversuche der Sexualität, die sich mit der Zählung von Orgasmen, Sexualpartnern und Stellungen einem Theoriegebäude zu nähern versuchten, blieben hilflos und unangemessen angesichts der Tatsache, dass im Sexuellen immer ein »unbequemer Rückstand« sich der Einordnung widersetzt. Freud machte die Sexualität zu seinem zentralen Thema der Psychoanalyse, die damit auch eine »Emanzipationsbewegung aus dem Einfluss Charcots« wurde. Die Spannung zwischen Chaos und Rationalität erfasste Freud in der Dynamik der beiden Modi des psychischen Funktionierens, die er Primärprozess und Sekundärprozess nannte. Sexualität zeigt sich uns mit einem Januskopf: als ein »Organisationsprinzip« und als das, »was es zu organisieren gilt«.

Mit revolutionärer Kraft hat Freud seine Überlegungen zur Bedeutung der Sexualität für die menschliche Entwicklung in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905d) niedergelegt. Er ging damit einen Weg von der Sexualpathologie eines Krafft-Ebing zu einer Sexualanthropologie, in der deutlich wurde, dass weder Ziel noch Objekt menschlicher Sexualität instinkthaft festgelegt sind, sondern eine »erstaunliche Variabilität« über die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen existieren kann. Kai Rugenstein zieht einen Vergleich mit dem Hunger – während das Hungergefühl die für das Überleben notwendige Nahrungsaufnahme bewirkt und damit dem Instinkt mit fixer Zielgebundenheit zugeordnet werden kann, entspricht der Appetit mit dem Ziel des Lustgewinns eher dem sexuellen Trieb, wobei er mehr einer Wunscherfüllung denn einem konkreten realen Objekt dient.

Darüber hinaus wird die Überlegung angestellt, dass Bindung und Trieb kein Gegensatzpaar darstellen müssen, sondern als zwei Gesichtspunkte ein und derselben Sache begriffen werden können. Eine solipsistische Fokussierung auf die psychobiologischen angeborenen Wurzeln des Triebes übersieht dabei die andere Person, die – schon vom Säuglingsalter an – instinkthaft zur Selbsterhaltung gesucht wird. Der Autor entscheidet sich für den Weg einer intersubjektiven Triebtheorie. Auf Laplanche bezogen argumentiert er, dass die anthropologische Grundsituation des Kindes in seiner Begegnung mit dem Erwachsenen den Ausgangspunkt für die »Entstehung des Sexuellen« bildet. Das eigene Unbewusste des Kindes entsteht aus dem Kontakt mit dem Anderen. »Das erworbene Sexuelle« kommt in dieser Vorstellung seltsamerweise »vor dem Angeborenen«. In dieser Begegnung des Kindes mit einem Erwachsenen, der auch einmal Kind war, enthüllt sich die fundamentale Asymmetrie dieser Beziehung. Ist das eigene Unbewusste also nicht der Kern des Eigenen, sondern das Andere in einem selbst? Ist der Konflikt des Ichs mit dem Sexuellen das »Bemühen, den Anderen im eigenen Inneren in Schranken zu halten«? Wenn also diese tiefsten Konfliktlagen nicht Natur, sondern sozialisierte Konflikte sind, kommt dem Erwachsenen im Umgang mit dem Kind eine enorme Verantwortung zu!

Die Praxis der Psychoanalyse oszilliert zwischen Schutz und Entfesselung des sexuellen Unbewussten. Es geht darum, »eine Einfassung zu finden, in der es möglich ist, sich aus der Fassung bringen zu lassen«. Laplanche liefert dazu die Metapher des Bottichs. Ist die Verfolgung des Primärprozesses immer eine Bewegung des Sexuellen im psychoanalytischen Prozess? »Ungesättigte« Deutungen äußern sich eher als Andeutungen und sind den »gesättigten« Deutungen vorzuziehen, indem sie zur Weiterentwicklung anregen und nicht den Gedankenfluss durch fixierende Erklärungen unterbrechen.

Der Autor spricht sich für eine »Erotik des Nichtwissens« aus. Es ist wichtiger, von seinen Lehrern zu lernen, wie Sehen funktioniert, als zu erfahren, was es zu sehen gilt. Zehn Prinzipien zur Rolle des Sexuellen in der Psychoanalyse heben im vierten Punkt hervor, dass das Übertreten neurotischer Beschränkungen hinein ins Freie auf einen sicheren Rahmen angewiesen ist. »Am Ende sollte etwas zu wünschen übrig gelassen werden«. Ja – und auch ein Raum für Diskussion dieser anregenden Überlegungen.

Inge Seiffge-Krenke und Franz Resch

1 Einleitung: Eine sexuelle Sache

»C’est toujours la chose génitale, toujours … toujours … toujours.« – Es sei immer die Sache mit den Genitalien. Immer, immer, immer! So überliefert Freud (1914d, S. 51) die Universalätiologie der Neurosen, welche er in der »zauberhaft anziehenden und abstoßenden Stadt« Paris (Freud, 1960a, S. 189) aufschnappte. Im Januar 1886 war der 29-Jährige dort Gast eines jener Empfänge, zu denen der als »Napoleon der Neurosen« (Hustvedt, 2011, S. 15) gefeierte Neurologe Jean-Martin Charcot regelmäßig an Dienstagabenden in seine palastartige Villa am Boulevard Saint-Germain lud. Gekleidet im Frack, aufgeregt angesichts der sozialen Herausforderung und daher gestärkt mit »[e]twas Cocain, um das Maul öffnen zu können« (Freud, 1960a, S. 199), konnte Freud dort ein Gespräch zwischen dem Hausherrn und dem Rechtsmediziner Paul Brouardel belauschen, in welchem Ersterer angeblich auf die chose génitale hinwies. Charcot habe es sich dabei nicht nehmen lassen, seine provokante Botschaft dadurch noch zu unterstreichen, dass er die Hände vor dem Schoß kreuzte und mehrmals lebhaft auf- und niederhüpfte, so als wolle er sichergehen, dass ja kein Missverständnis über die zur Debatte stehende Sache aufkomme.

»Ich habe […] einen Lehrer gefunden, Charcot, wie ich ihn mir immer vorgestellt«, gibt Freud 1886 beglückt in einem Brief kund (Freud, 1960a, S. 228). Später offenbarte er dem französischen Journalisten Raymond Recouly in einem Interview, dass die Lektionen eben dieses Lehrers den »point de départ« (Freud, 1923j, S. 4), den Ausgangspunkt der gesamten psychoanalytischen Theorie mit ihrem Leitmotiv, der Sexualität, gebildet hätten. Und um zu verdeutlichen, dass es hierbei möglicherweise weniger um den realen Charcot, der nie etwas über eine sexuelle Ätiologie der Neurosen publiziert hat (Barker, 2015), sondern vielmehr um Freuds inneres Bild seines ganz persönlichen Charcot gehe, verwies er den Interviewer zur Illustration seiner Behauptung nicht etwa auf das ihm vom Autor handschriftlich gewidmete Exemplar der neunbändigen Ausgabe von Charcots »Œuvres complètes«, welches in seiner Bibliothek zur Schau gestellt war (Davies u. Fichtner, 2006), sondern er zeigte auf ein Bild, welches einen Ehrenplatz an den Wänden seiner Praxis einnahm. Allen an der Ikonografie der Psychoanalyse Interessierten ist es bekannt, als das Bild über der Couch: Eugène Pirodons lithografische Reproduktion des Gemäldes »Une leçon clinique à la Salpêtrière« von André Brouillet (siehe Abbildung 1). Das Bildnis präsentiert Charcot lehrend während einer jener Dienstagsvorlesungen, deren begeisterter Hörer Freud im Wintersemester 1885/86 selbst war (Freud, 1956a). Doch zeigt es nicht auch eine sexuelle Szene?

Abbildung 1:Das Bild über der Couch: Eugène Pirodons Reproduktion von André Brouillets Ölgemälde Une leçon clinique à la Salpêtrière, Lithografie, 1888, Freud Museum, London

Imposant groß, gibt Brouillets 290 cm mal 430 cm messendes Gruppenporträt eine öffentliche Veranstaltung mit 31 Beteiligten in einem institutionellen Innenraum wieder. Eine stehende männliche Figur im Zentrum des Bildraumes, Charcot, führt einem ausschließlich männlichen Publikum eine weibliche Patientin in Hypnose vor. Dicht gedrängt gruppieren sich in der linken Bildhälfte zwei Generationen: Die vorderen Reihen sind gefüllt von aufstrebenden Schülern Charcots, den äußeren Halbkreis bilden gestandene Koryphäen aus Wissenschaft, Kultur und Politik, allesamt begierig, Erkenntnisvorstöße in das attraktive Gebiet der Hysterie zu wagen. Die teilweise entkleidete Patientin, auf die die Blicke aller Beteiligten, mit Ausnahme von Charcot, gerichtet sind, ist Marie »Blanche« Wittmann, bekannt als die »Queen of Hysterics« (Hustvedt, 2011, S. 35). Sie bildet in der rechten Bildhälfte ein Paar mit einem gut aussehenden jungen Mann, Charcots Assistenten Joseph Babinski, in dessen Arme sie sich fallen lässt, während seine vermeintlich stützende Hand verdächtig nahe an ihrer Brust zum Ruhen kommt. Blanches gekrampfte linke Hand signalisiert einen pathologischen Zustand, der in Charcots Nosografie der Hysterie als »Phase des contorsions« oder auch als hysterischer Kreisbogen (Arc de cercle)