Die singenden Sterne von San Lorenzo - Gudrun Leyendecker - E-Book

Die singenden Sterne von San Lorenzo E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Im Norden Italiens, nahe der Brenta- Dolomiten, mitten in der vielfältigen Alpen- Region lebt die Prinzessin Lacrima in ihrem verwunschenen Schloss. Dieses alte Gemäuer ist nicht leicht zu finden, aber viele Abenteurer, Prinzen und Touristen machen sich auf den Weg, um die fürstliche Hoheit zu suchen, denn wer sie aus ihrer Verzauberung erlöst, wird mit einem kostbaren Preis belohnt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher über 110 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Inhaltsangabe:

Im Norden Italiens, nahe der Brenta-Dolomiten, mitten in der vielfältigen Alpen- Region lebt die Prinzessin Lacrima in ihrem verwunschenen Schloss.

Dieses alte Gemäuer ist nicht leicht zu finden, aber viele Abenteurer, Prinzen und Touristen machen sich auf den Weg, um die fürstliche Hoheit zu suchen, denn wer sie aus ihrer Verzauberung erlöst, wird mit einer besonderen Überraschung belohnt belohnt.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Einführung

In einem Sommer wie aus einem vergessenen Bilderbuch kamen Amanda und Eleonore, zwei Freundinnen aus der Stadt, nach San Lorenzo in den Brenta-Dolomiten. Sie hatten sich Ruhe, Erholung und erhebende Aussichten auf das Bergpanorama gewünscht – stattdessen fanden sie ein Geheimnis, das seit Jahrhunderten unter Felsen und in einer Legende schlummerte.

Die Tage waren erfüllt vom Duft der Lärchenwälder und dem Klang der Kuhglocken in der Ferne. In den Nächten aber, wenn der Wind durch die Täler strich und die Sterne wie leuchtende Noten am Himmel standen, schien es Amanda manchmal, als würde etwas… singen.

Sie dachten sich zunächst nichts dabei – bis sie an einem frühen Morgen der Postfrau Rosalba begegneten. Die alte Frau, wettergegerbt und mit einer Stimme wie grobes Leinen, sprach beiläufig vom König Enrico, der tief in den Bergen noch immer herrsche – unsichtbar für die Welt, aber lebendig im Schatten eines verlassenen Schlosses, das auf keiner Karte verzeichnet ist.

Und dann erzählte sie von Lacrima, der Nichte des Königs, einer jungen Prinzessin von großer Schönheit und Traurigkeit, die in einem Kristallgefängnis im verwunschenen Schloss gefangen gehalten werde – verbannt, weil ihr Herz den Sternen zu lauschen wusste und ihre Sehnsüchte nach der Ferne so groß war, dass sie schon mehrere Male versucht hatte, aus dem Palast zu entfliehen. Die Postfrau ließ die beiden Frauen wissen: Nur, wer die Melodien der Planeten wieder zum Klingen bringe und ein besonderes Lied daraus erkenne, könne Lacrima befreien.

Amanda und Eleonore waren nicht nur tief beeindruckt vom Bericht der alten Postfrau, sondern fühlten sich bewegt und empfanden großes Mitleid mit der Prinzessin. Als sich Rosalba wieder ihre Arbeit zuwandte, entfernten sich die beiden Freundinnen nachdenklich und überlegten, ob sie nicht von einem besonderen Schicksal in diese Gegend geführt worden waren.

Kapitel 1

Die Sonne stand tief, als Amanda und Eleonore ein zweites Mal am kleinen, moosgrünen Posthäuschen von San Lorenzo vorbeikamen. Es war eines dieser uralten Häuser mit einem schiefen Dach, das aussah, als wolle es sich jeden Moment zur Seite legen und im Gras ausruhen. Vor der Tür saß erneut Rosalba, die Postfrau – mit ihrer dicken Strickjacke, einem Strohhut und einem Korb voller Briefe und Geheimnisse.

„Wollt ihr noch einmal hören, was keiner glaubt?“ fragte sie mit einem Funkeln in den Augen, als sie die beiden Touristinnen bemerkte.

Amanda nickte sofort. „Bitte… Erzählen Sie uns mehr über Prinzessin Lacrima.“ Rosalba stellte den Korb ab, verschränkte die Arme und sprach leise, fast verschwörerisch.

„Es ist nicht nur so, dass König Enrico seine Nichte einsperren ließ. Nein, er lässt sie bewachen. Und nicht etwa von Rittern oder Soldaten, wie man denken würde – sondern von fünfzig Kobolden.“

„Kobolde?“ Eleonore lachte unsicher. „Die mit den spitzen Ohren und grünen Mützen?“

Rosalba nickte ernst. „Früher waren sie freundlich, verspielt, ja sogar hilfsbereit. Sie lebten zwischen den Wurzeln der Lärchen und spielten mit den Gämsen. Aber Enrico hat sie verführt. Er schenkte ihnen goldene Orden, aus dem Metall der Bergsonne geschmiedet, und versprach ihnen noch mehr – die Blätter der Zaubereiche. Diese wachsen nur hoch oben, zwischen den Felsen, dort, wo der Wind nicht wagt zu verweilen.“

„Was ist so besonders an diesen Blättern?“ fragte Amanda leise.

„Sie duften nach Macht“, sagte Rosalba. „Nach Wärme und Eitelkeit. Die Kobolde können ihnen nicht widerstehen. Jetzt patrouillieren sie in kleinen Trupps das ganze Tal hinauf bis zu den Dolomiten. Tag und Nacht. Sie werfen mit Steinen, flüstern falsche Wege in den Wind, machen, dass Menschen sich verirren.“

Die Mädchen sahen einander erschrocken an.

„Aber…“ fuhr Eleonore fort, „muss es denn gar keine Hoffnung geben, die Prinzessin zu befreien?“

Rosalba zögerte, dann lächelte sie schelmisch. „Oh, Hoffnung gibt es immer – denn auch Kobolde haben Schwächen. Und diese hier… haben eine ganz besondere.“

Sie beugte sich vor und flüsterte:

„Vergissmeinnicht, Himmelschlüssel, Tausendschönchen und Tränende Herzen.“

„Blumen?“ fragte Amanda verwirrt.

„Nicht irgendwelche“, sagte Rosalba mit Nachdruck. „Wenn die Kobolde auch nur den Duft dieser Pflanzen wahrnehmen, bekommen sie Ausschlag, jucken sich wie wild – und einige werden sogar ohnmächtig.“

Eleonore riss die Augen auf. „Das ist… ziemlich nützlich zu wissen.“

„Nicht so schnell“, mahnte Rosalba. „Schon viele haben versucht, Lacrima zu befreien. Männer mit glänzenden Rüstungen, Frauen mit scharfen Degen, sogar ein Kind mit einem Herzen wie ein Adler. Keiner kam weit. Die Kobolde lassen nicht mit sich reden. Ihre Steinschleudern sind schneller als jedes Wort.“

Amanda spürte einen Kloß im Hals. Sie dachte an die Prinzessin, eingesperrt in einem Schloss, aus Kristall und Kälte. Eine junge Frau, die nur falsch geboren wurde – mit einem Herz, das singen konnte.

„Aber es gibt noch jemanden…“ murmelte Rosalba und sah versonnen in den Himmel.

„Wen?“ fragten die Mädchen gleichzeitig.

„Ein Sänger“, sagte sie. „Ein junger Mann, der in San Lorenzo wohnt. Er hat ein Lied gehört – nicht mit den Ohren, sondern mit der Seele. Er sagt, er habe das Gesicht der Prinzessin in einem Traum gesehen – so klar, als hätte er es selbst gemalt.“

„Und…?“ fragte Amanda gespannt.

„Er will sie retten“, sagte Rosalba leise. „Aber er glaubt nicht, dass er dazu bestimmt ist. Denn auf seinem Arm trägt er ein Muttermal – nicht rund, nicht eckig, sondern in der Form der Blume, die am tiefsten weint: das Tränende Herz.“

Die beiden Mädchen schwiegen. Eine Weile lang war nur das leise Rauschen der Bäume zu hören – und vielleicht, ganz leise, ein silbriger Ton in der Luft, wie eine Saite, die gezupft wurde, irgendwo fern in den Bergen.

„Was ist mit seinem Lied?“ fragte Eleonore schließlich.

Rosalba sah sie an. „Er sagt, es ist noch nicht vollständig. Aber vielleicht… fehlt ihm nur eine Melodie. Eine, die nur von zwei neugierigen Mädchen gebracht werden kann.“

Amanda und Eleonore sahen sich an – und sie wussten, dass sie gehen würden. Nicht sofort. Aber bald. Denn etwas hatte sie gerufen. Und jetzt kannten sie seinen Namen.

Lacrima.

Kapitel 2

Am späten Nachmittag begannen die Schatten in San Lorenzo länger zu werden, und die Berge glühten in rosigem Licht – das Alpenglühen, wie es die Einheimischen nannten. Amanda und Eleonore saßen am Brunnen auf dem Dorfplatz, noch ganz erfüllt von Rosalbas Worten, als plötzlich eine Melodie durch die Gasse wehte. Sanft und traurig, gespielt auf einer kleinen hölzernen Flöte, klang sie wie der Ruf eines Vogels, der etwas Verlorenes suchte.

„Da ist er“, sagte Amanda leise. „Das muss er sein.“

Der junge Mann saß auf einer Steinbank neben der alten Kirche. Er war schlank, trug einen dunkelblauen Schal trotz der sommerlichen Wärme, und seine Augen hatten den Ausdruck von jemandem, der mehr gesehen hatte, als er zeigen konnte.

Als er die beiden sah, lächelte er leicht. „Ihr habt von ihr gehört“, sagte er, ohne dass eine Begrüßung nötig gewesen wäre. „Von Lacrima.“

Amanda und Eleonore nickten. Er legte die Flöte beiseite und streckte ihnen die Hand hin. „Ich bin Roberto. Ich bin der Sänger, von dem Rosalba euch erzählt hat.“

Ein Moment des Schweigens folgte, bevor Eleonore fragte: „Ist es wahr, dass du sie gesehen hast?“

Roberto nickte. „In einem Traum. Oder vielleicht war es eine Erinnerung, die mir nicht gehört. Sie stand in einem Fenster aus Bergkristall, und ihr Blick war… einsam, aber wach. Als würde sie auf jemanden warten, der seinen eigenen Namen noch nicht kennt.“

Amanda setzte sich neben ihn. „Du willst sie befreien?“

Er zog den Ärmel seiner Jacke zurück. Auf seinem Unterarm zeichnete sich ein Muttermal ab, klar wie mit feiner Feder gezogen: die Silhouette eines Tränenden Herzens. „Ich dachte immer, es sei nur ein Makel. Aber vielleicht ist es ein Zeichen. Vielleicht auch ein Schlüssel. Oder ein Fluch.“

Die drei schwiegen kurz, dann sagte Roberto: „Ich habe viel über die Kobolde gelernt. Sie verstecken sich oft in ihren Höhlen – tief in den Bergflanken, zwischen Rissen und Spalten, wo das Gestein warm schimmert. Dort sammeln sie Halbedelsteine – Quarz, Fluorit, Calcit, Dolomit…“

„Die Steine, die Rosalba erwähnt hat!“ rief Amanda.

„Ja“, sagte Roberto. „Sie sind überall dort oben zu finden. Doch die Kobolde… sie verachten sie fast. Sie interessieren sich nur für Dinge, die selten sind. Dinge, die Macht oder Status bedeuten – wie die goldenen Blätter der Zaubereichen. Alles andere liegt einfach herum.“

„Das klingt… sehr menschlich“, murmelte Eleonore.

Roberto nickte traurig. „Ja. Wir werfen auch Schönheit weg, nur weil sie zu oft vorkommt.“

Er nahm einen kleinen, matten Stein aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. Ein violetter Fluorit, roh und ungeschliffen. „Dieser hier liegt direkt vor einer Höhle. Ich hätte ihn fast übersehen. Aber in der Sonne hat er gezittert wie Musik.“

„Und… was ist mit deinem Muttermal?“ fragte Amanda. „Warum versteckst du es manchmal?“

Roberto zögerte, dann antwortete er: „Die Zaubereichen, die so hoch oben wachsen, tragen nicht nur goldene Blätter. Sie bilden manchmal Galläpfel – kleine, runde Gebilde, aus denen eine dunkle Tinte gewonnen werden kann. Alte Geschichten sagen, man könne mit ihr Narben verschwinden lassen. Oder Zeichen. Oder… Prophezeiungen.“

Eleonore beugte sich vor. „Du meinst, du könntest damit… dein Muttermal unkenntlich machen?“

„Vielleicht“, sagte Roberto. „Aber ich weiß nicht, ob ich es sollte. Vielleicht ist es gerade das Zeichen, das Lacrima in mir erkennen würde.“

Ein Windhauch fuhr durch die Gasse, und für einen Moment schien es, als trage er eine Melodie mit sich – fern, verhallt, wie aus einer anderen Welt.

Dann stand Roberto auf. „Ich werde morgen gehen. Ich habe einen alten Pfad gefunden, der zu einem Grat führt, wo die Zaubereichen noch wachsen. Es wird beschwerlich, aber ich glaube… ich bin nicht mehr allein.“

Amanda und Eleonore sahen sich an – und lächelten.

„Wir kommen mit“, sagte Eleonore.

„Natürlich“, fügte Amanda hinzu. „Du brauchst jemanden, der Vergissmeinnicht erkennt, bevor du in Ohnmacht fällst.“

Roberto lachte zum ersten Mal – ein warmer, ehrlicher Klang. Dann blickte er auf den Horizont, dorthin, wo die Berge standen wie alte Götter im Abendlicht.

„Dann brechen wir morgen auf“, sagte er. „Dorthin, wo das Lied beginnt.“

Kapitel 3

Der nächste Morgen begann mit Nebel, der wie ein Schleier zwischen den Bäumen hing. Die Sonne ließ sich kaum blicken, als Amanda, Eleonore und Roberto den kleinen Dorfpfad verließen und dem uralten Steig durch die Grünen Alsen folgten – ein vergessener Weg, der sich zwischen knorrigen Bäumen, feuchten Farnen und moosbedeckten Steinen den Hang hinaufschlängelte. Es hieß, in dieser Gegend hätte das erste Lied des Waldes einst geklungen – sanft, tief und kaum hörbar, wie das Herz der Erde selbst.

Roberto blieb zurück, als sie die ersten Hänge erreichten.

„Hier ist der Wasserfall“, sagte er leise. Er zeigte auf eine verborgene Stelle, wo ein schmaler Wasserlauf von einer Felswand stürzte und in einem klaren Becken verschwand. „Die Kobolde können mein Muttermal spüren, wenn ich ihnen zu nahe komme. Es... zieht an ihnen, wie der Wind an einer losen Saite.“

Er zog sich in die Mulde hinter dem Wasserfall zurück – eine feuchte, felsige Kammer, kaum größer als ein Schafstall, aber gut verborgen. Amanda drückte ihm zum Abschied ein kleines Bündel mit getrocknetem Brot, Nüssen und einem roten Apfel in die Hand.

„Wir kommen zurück. Mit einem Gallapfel“, sagte sie bestimmt.

„Und einem Lied“, ergänzte Roberto. „Ich werde es hier vollenden, wenn ihr mir die Zeit verschafft.“

*

Die beiden Frauen gingen weiter, tiefer in die Grünen Alsen hinein. Der Wald wurde stiller, und die Bäume standen wie uralte Wächter. Zwischen den Stämmen leuchteten hier und da Farbtupfer – Vergissmeinnicht, Himmelschlüssel und Tausendschönchen, als hätten sie sich extra gezeigt, um an ihre Kraft zu erinnern.

„Vielleicht wissen die Blumen mehr, als wir ahnen“, flüsterte Eleonore.

Nach einer Stunde Aufstieg, der sie durch dichte Brombeersträucher und über umgestürzte Baumstämme führte, lichtete sich der Wald. Vor ihnen lag eine flache Lichtung, auf der ein einziger Baum stand: eine Zaubereiche, breit, mit goldgrünen Blättern, die im Wind wie leise klingende Glöckchen raschelten.

Zwischen den Blättern hingen sie: Galläpfel – rund, schwarzbraun, glänzend wie Tinte selbst. Amanda trat näher, streckte die Hand aus – doch da raschelte es plötzlich im Gebüsch.

„Oh, entschuldigt die Störung!“

Eine kleine Gestalt stand am Rand der Lichtung. Er war kaum größer als ein Dachs, trug eine Weste aus Laubstücken, hatte buschige Augenbrauen und funkelnde Augen wie schwarze Glasknöpfe. In der Hand hielt er einen Wanderstock mit einem Quarzstück am oberen Ende.

„Ich bin Trombo“, sagte er, mit einem höflichen Bückling. „Ein Wanderkobold. Ihr seid nicht von hier, nicht wahr?“

Amanda und Eleonore wechselten einen schnellen Blick.

„Touristinnen“, sagte Amanda schnell. „Wir wollten nur… ein paar seltene Blätter fotografieren.“

„Wegen der Farbe“, ergänzte Eleonore. „Sieht bestimmt hübsch aus auf… Instagram.“

Trombo schien zu nicken, auch wenn es bei seinem großen Kopf eher wie ein Wippen wirkte.

„Nun, nun… Touristen also“, sagte er gedehnt. „Da oben kommt ihr aber gefährlich nahe an königliches Gebiet. Nicht dass ihr aus Versehen ins Schlossgebiet stolpert – da verirren sich manchmal Leute, und dann… sieht man sie lange nicht wieder.“

Er kicherte, aber es klang nicht besonders freundlich.

„Wir gehen gleich wieder“, sagte Amanda rasch und trat zwischen ihn und die Eiche. Hinter ihrem Rücken fingerte Eleonore bereits nach einem der Galläpfel.

„Sagt mal“, fragte Trombo nun mit gespielt beiläufigem Ton, „habt ihr zufällig etwas über eine gewisse… Lacrima gehört? Nur so ein Name, der manchmal durch den Wind fliegt.“

„Nie gehört“, log Amanda, ohne zu zögern.

Trombo schnüffelte, als könnte er die Wahrheit riechen. Dann lächelte er.

„Nun, wenn ihr euch wirklich nur für Blätter interessiert… nehmt doch einen mit. Aber… Vorsicht beim Pflücken. Die Zaubereiche prüft, wer sie berührt.“

Eleonore hatte in diesem Moment bereits einen Gallapfel abgedreht, vorsichtig und mit beiden Händen. Der Ast zuckte, als würde er sie erkennen – doch nichts geschah. Der Gallapfel war warm in ihrer Hand. Wie Tinte, die noch lebt.

„Danke, Trombo“, sagte Amanda freundlich.

„Ach, nichts zu danken“, erwiderte der Kobold und machte ein kleines Tänzchen. „Ich bin überall, wo man mich am wenigsten erwartet. Vielleicht sehen wir uns wieder. Vielleicht nicht. Vielleicht… wer weiß.“

Und mit diesen Worten verschwand er im Gebüsch – lautlos, wie nur Kobolde es können.

Die beiden Frauen standen still, den Gallapfel in der Hand, die Luft plötzlich schwerer als zuvor.

„Er weiß etwas“, sagte Eleonore leise.

„Ja“, antwortete Amanda. „Aber wir haben etwas, das Roberto braucht. Und wenn wir schnell sind, ist Trombo nur ein Schatten hinter uns.“

Sie sahen sich noch einmal die Zaubereiche an, dann begannen sie den Abstieg – mit schnellem Schritt, der Melodie der Berge im Ohr, und dem Wissen, dass die wahre Prüfung noch vor ihnen lag.

Kapitel 4

Der Abstieg durch die Grünen Alsen schien kürzer zu sein als der Aufstieg – vielleicht, weil Amanda und Eleonore nun ein Ziel in den Händen hielten. Der Gallapfel war schwerer geworden, je näher sie dem Wasserfall kamen, als hätte er längst gespürt, was ihm bevorstand.

Der Schleier des Wasserfalls rauschte wie ein Vorhang aus Licht und Klang, als die beiden schließlich wieder an der verborgenen Felskammer ankamen. Roberto trat sofort aus dem Schatten hervor, seine Augen voller Erwartung. In der Stille der Felsen hatte er auf sie gewartet, die Flöte in der Hand, ein paar Noten auf ein Stück Birkenrinde gekritzelt.

„Ihr seid zurück“, sagte er, und seine Stimme klang wie ein Versprechen.

Amanda öffnete das Tuch, in das sie den Gallapfel gewickelt hatten. Roberto beugte sich über die Frucht, betrachtete sie ehrfürchtig, als wäre sie ein Herz aus einem alten Märchen.

„Ich habe in der Zeit hier am Wasserfall… Musik gehört“, sagte er leise. „Nicht mit den Ohren. Aber mit etwas Tieferem. Es sind Lieder aus Stein, glaube ich. Ich muss sie finden – und sie aufschreiben, bevor sie mir entgleiten.“

„Lieder aus Stein?“ fragte Eleonore.