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Soziale Medien wie Facebook sind Popkultur und politisches Instrument zugleich. Per Twitter irgendwann einen Krieg erklären? Kein Problem für Donald Trump. Witzige ausländerfeindliche Bildchen auf Facebook posten? Das machen rechte Seiten gern, und Deutschland möchte unterhalten werden! Promis werden wie Gladiatoren durch die Arena gejagt, angestachelt von den Medien – und die AfD krakeelt Nazi-Vergleiche mit sich selbst, um die Nichtwähler für sich zu gewinnen. Der Kommunikationswissenschaftler und promovierte Medienexperte Dr. Frederik Weinert deckt die Mechanismen und die Scheinheiligkeit des Nachrichtensystems auf. Als langjähriger freier Journalist durchschaut er die Methoden der angeblichen "Lügenpresse". Mit spitzer Feder nimmt Weinert jedoch nicht nur die Medien aufs Korn, sondern uns alle, die wir immer krassere und schrillere Geschichten lesen wollen: Manege frei im Medienzirkus.
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2018
Frederik Weinert
Die Sprache der Rechten
Frederik Weinert
Die Sprache der Rechten
Wie wir täglich manipuliert werden
Tectum Verlag
Frederik Weinert
Die Sprache der Rechten
Wie wir täglich manipuliert werden
© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018
E-Pub 978-3-8288-6864-9
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4045-4 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes# 62732251 von Michael Kappeler |www.picture-alliance.com
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
Inhalt
Einleitung
Kapitel I
1 Blut, wilde Tiere und Horrorclowns
Manege frei im Medienzirkus
2 Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Böse Nafris, faule Neger und der ewige Jude
3 Fake News mitten ins Herz
Promis als mediale Gladiatoren
4 Fiese Hates und Clickbaits
Der Kick vom Klick auf Facebook & Co.
5 Brennende Autos und viele Mythen
Die Linken G20-Krawalle von Hamburg
Kapitel II
1 Nazi-Schlümpfe und Reichsbürger
Die besten Verschwörungstheorien in den sozialen Medien
2 „Angela Hitler“ und ihre Reichsbürger
Das Dritte Reich ist wieder da
3 Der Tanz der Nazi-Schlümpfe
Judenhass im Kinderfernsehen?
4 Putins Todeskinder und die Unwettermacher
Morde, Untote und Mundtote
5 Menschenfleisch im Burger und das FIFA-Momentum
Nicht ganz koschere Internetgerüchte
6 Adolf Hitler als Star auf „Racebook“ und „Nazigram“
Soziale Medien in einer Diktatur?
Kapitel III
1 Mit der Nazikeule zum medialen Endsieg
Alles Hitler, oder was?
2 Fail, Hitler!
Von Nazifallen und Fettnäpfchen
3 Der Nazi-Vergleich ist dem Politiker sein Tod
Rechte Sprache, schwere Sprache!
4 Willkommen im Nazi-Paradies
Warum der Biss in Adolfs Apfel (eben nicht) völlig okay ist
5 Das rechte Coming-out
Das heilige Eiserne Kreuz und der Griff in die Nazi-Mottenkiste
Kapitel IV
1 Mutti Merkel und die Flüchtlinge
Die suggestive Kommunikation der Rechten in den Sozialen Medien
2 Verrat am Vaterland
Braune Hetzen und bunte Petzen auf Facebook & Co.
3 Einfach. Clever. Rechts.
Gewaltige Bildsprache als Waffe der Rechten
4 Humor ist der Regenschirm der Rechten
Die Flüchtlingskrise als Running Gag
5 Outbreak: Der Virus ist online
Rechtspolitische Sprache und die Dynamik der sozialen Medien
6 Partynationalismus als Popkultur
Warum Rechtsextremismus cooler ist denn je
Kapitel V
1 Marschroute Nationalismus
Rechts als Chance für die FDP, Union und Linken
2 Kein islamisches Vaterland
Deutschland ist noch nicht bereit für das vereinigte Europa
3 Neuwahlen oder Chaos?
Das Gehampel um die Ampel, Schwampel und Groko
4 Flüchtlinge im Fadenkreuz
Der unmenschliche Krieg zwischen links und rechts
Kapitel VI
1 Voyeurismus und Schadenfreude
Warum Sprachtabus ein Schuss in den „Gasofen“ sind
2 Huso, Nazi und Muselmann
Beleidigungen von Minderheiten und der Hype um Bösewichte
3 Dissen ist Macht
Wenn andere Leiden und es trotzdem lustig ist
4 Mensch ärgere dich nicht
Kettenbriefe, Nazi-Slang und schrecklich braune Bosheiten
Kapitel VII
1 Die Sprache der Rechten
Wahrheiten, Manipulationen und die deutsche Wiedergeburt
Endnoten
Einleitung
Egal ob Ex-Politiker oder die Lehrerin vom Lande: Wenn’s ums Thema Migration geht, kann jeder mitreden. „Deutschland schafft sich ab“, fabuliert der eine, „Deutschland außer Rand und Band“, krakeelt die andere. Wer die „Asylantenkeule“ auspackt, ist Deutschlands neuer Superstar. Vor 1945 war das noch Adolf Hitler, dessen Reich, das sogenannte Dritte, dann aber sang- und klanglos unterging. Doch von wegen: Die Reichsbürger feiern 2018 sein Comeback, aber Nazi, nein, so will natürlich niemand mehr genannt werden. „Deutschland unser“, erklingt es gebetsmühlenartig an vielen heimatlichen Stammtischen. Das wird man wohl noch sagen dürfen – oder doch nicht?
Der Absatz oben enthält viel Ironie. Vielleicht zu viel Ironie, aber ich erlaube mir das. Ich möchte Ihnen zeigen, wie gefährlich das Terrain ist. Wir lachen nämlich gerne über die teils bösen Nazi-Witze in der heute show. Und wenn der Ethno-Comedian Bülent Ceylan live auf der Bühne Adolf Hitler imitiert, grölt das Publikum begeistert. Doch irgendwo hört der Spaß auf. Rechtspopulisten posten ausländerfeindliche Bilder auf Facebook – und unser hilfsbereiter Nachbar von nebenan findet das auch noch gut! Bilder von sinkenden Flüchtlingsbooten, schwarze Kinder, die den Muttertag mit einer Schimpansin feiern, und gelbe Küken, die ein schwarzes Küken aus der Stadt jagen: Schrill und bunt muss es sein. Und ohne darüber nachzudenken, drücken wir auf den „Like-Button“.
Unser Land ist seit der Flüchtlingskrise 2015 tief gespalten. Die Rechten erstarken, und auch der Antisemitismus nimmt wieder zu. Nicht nur in Österreich, sondern vor allem auch in Deutschland. Doch nicht immer sind es die einheimischen Rechten, die ein Problem mit den Juden haben. Der islamistisch motivierte Antisemitismus stellt unser Land ebenfalls vor große Herausforderungen. „Entzug des Bleiberechts für antisemitische Migranten gefordert“, titelt die Jüdische Allgemeine am 9. April 20181. Die Lage ist also verquer. Die Rechtspopulisten, die antisemitisch denken, machen meist auch gegen Flüchtlinge Stimmung. Und die in Deutschland lebenden Juden lehnen antisemitische Flüchtlinge ab – und natürlich auch die antisemitischen Deutschen oder Österreicher. Die Migranten finden sich im Kreuzfeuer, und es besteht die Gefahr, dass einige von uns schmutzige Wäsche waschen, indem alle Migranten unter Generalverdacht gestellt werden. Egal ob früher die Juden oder heute die „Asylanten“: Den anderen wird der Schwarze Peter zugeschoben. Dabei sind wir doch eigentlich so politisch korrekt, oder nicht?
Springerstiefel und Glatze – all das ist passé. Die Rechtspopulisten sind schlaue Verführer. Doch sind die Rechtswähler wirklich alle dumm? Sind die Linken die Bewahrer der Demokratie? Wer so denkt, macht es sich zu einfach. In meinem Buch lasse ich für einen kurzen Moment alle Scheuklappen fallen. Ich fasse die Argumentation und die Gedankengänge der Rechten in einfache Worte. Ich zeige Empathie und versetze mich in die Lage vieler Bürger, die mit der deutschen Politik hadern. Ich wechsle hier und da den Blickwinkel. Das ist unbequem, aber notwendig. Mein Buch soll Aufklärungsarbeit leisten. Es ist wichtig, es ist sogar spannend, sich in die Gedanken der Rechtspopulisten „einzufühlen“. Doch nicht nur das: Das Buch ist eine Möglichkeit, der deutschen Vergangenheitsbewältigung einen Debattenanstoß zu geben. Über die Nazivergangenheit zu sprechen, ist eine ganz wichtige Möglichkeit, um sich ihr zu stellen und sie zu verarbeiten. Ob wir die „braune Zeit“ jemals bewältigen können, dürfte in den nächsten Jahren ein dramatisches Experiment darstellen.
Die sozialen Medien sind Popkultur und politisches Instrument zugleich. Egal ob Katzenvideos, Horrorclowns oder brutale Hetze gegen Minderheiten – alles, was effektvoll inszeniert ist, klickt sich in die Herzen der User. Da kenne ich beispielsweise diese nette junge Frau, die sich hauptberuflich um Menschen mit Behinderung kümmert. Vor sozialen Berufen habe ich sehr viel Achtung. Doch dann habe ich gesehen, wie diese junge Frau gegen „Asylanten“ Stimmung macht. Pauschalurteile finde ich immer schwierig. Nicht alle Flüchtlinge sind kriminell, und nicht alle Rechtswähler sind Nazis. Klischees machen die Welt allerdings einfacher.
In der Sozialen Arbeit geht man mittlerweile davon aus, dass von sprachlichen Diskriminierungen Gewalt ausgeht. Diese Gewalt – selbst wenn es „nur“ sprachliche Gewalt ist – kann letztlich sogar die Ursache für psychische und physische Verletzungen sein. Den Rassismus im eigenen Sprachgebrauch aufzudecken, hat also ein stark präventives Moment. Natürlich kann es uns passieren, dass wir sprachliche Diskriminierung ausüben, ohne eine rassistische Absicht zu haben. Das Lesen dieses Buches ist eine Möglichkeit, die eigenen Sinne zu schärfen. Beim Schreiben habe ich gemerkt, wie viele rassistische Klischees mir selbst bekannt sind. Sind wir alle – bewusst oder unbewusst – Teil eines diskriminierenden Systems?
Auf den Titelseiten der Zeitungen lesen wir fast nur von Sex-Skandalen, Attentaten und irgendwelchen politischen Verfehlungen. Bad news are good news. Viele Menschen genießen das, denn sie sind zu Medienvoyeuren geworden. Doch es gibt eine ganz wunderbare Nachricht: „Humor ist der Regenschirm der Weisen.“ Das sagte Erich Kästner. Es ist schön, mit Humor durchs Leben zu gehen – und manchmal hilft nur noch Galgenhumor. Mein Buch ist eine unterhaltsame Lektüre. Sie werden viele Zeilen genießen, Sie werden vielleicht auch mal lachen, aber Sie werden sich hoffentlich auch mal über einige Passagen ärgern. Mein Buch ist vergleichbar mit einem großen Buffet: Suchen Sie sich das heraus, was Sie am meisten anspricht.
Ich habe mein Buch ohne Moralkeule geschrieben. Mir war das sehr wichtig, weil ich im Gegensatz zu vielen Politikern weiß, dass der erhobene Zeigefinger nicht hilfreich ist. Sicherlich, gewisse Regeln der Political Correctness sollten eingehalten werden. Das ist einerseits wichtig, um Respekt zu zeigen. Andererseits tappen wir dann auch nicht in politische Fettnäpfchen. Aber es gibt auch die „übertriebene“ politische Korrektheit. Und sehr viele Deutsche fremdeln damit. Die Erklärung ist einfach: Die Regeln der politischen Korrektheit gibt es nicht in Buchform, sondern als ungeschriebenes Gesetz. Das kann irritierend sein.
Ich habe in diesem Buch die Probe aufs Exempel gemacht. Sie werden feststellen, dass ich an manchen Stellen Tabus breche – oder vielleicht auch nicht. Denn die Regeln der politischen Korrektheit sind mehr als schwammig und subjektiv auslegbar. Jeder Mensch interpretiert politische Korrektheit und die Missachtung der Regeln auf unterschiedliche Weise. In bildhaften Worten zeige ich, welche Macht unsere Sprache hat. Die Rechtspopulisten brechen ganz bewusst sprachliche Tabus – und punkten damit nicht nur bei den Flüchtlingsgegnern. Wie viel „rechts sein“ ist heute erlaubt? Werden wir täglich manipuliert?
Als promovierter Medienexperte und Spezialist für politische Kommunikation möchte ich die Antworten auf diese Fragen mit Ihnen gemeinsam angehen – durchaus provokant und jederzeit meinungsstark.
KAPITEL I
1 Blut, wilde Tiere und Horrorclowns
Manege frei im Medienzirkus
Die Ruhe vor dem Sturm, ein Rauschen im Blätterwald und plötzlich der Sturm der Entrüstung. In Entenhausen zwitschern es die Vögel bereits von den Dächern: Donald ärgert sich mal wieder über eine Lügengeschichte im „Entenhausener Kurier“. Wenn er doch nur genug Geld hätte, denkt sich Donald. Dann würde er seine eigenen Nachrichten schreiben. „Fake News“, schimpft Donald und stapft mit einem lauten „Quak-Quak-Quak“ von dannen. Im Bademantel und ganz alleine. Donald Trump schreckt hoch. Im Weißen Haus geht das Licht an. Nur ein Alptraum, weiß der 45. Präsident der Vereinigten Staaten. Denn erst gestern ließ Trump durch seinen Sprecher Sean Spicer verkünden: „Ich glaube nicht, dass der Präsident einen Bademantel besitzt; ganz bestimmt trägt er keinen.“2 Doch die sozialen Medien sind grausam. Findige User posten auf Twitter Bilder von Donald Trump in jungen Jahren, „wie er auf Betten liegt, mal mit Frau, mal ohne, aber immer: im Bademantel“, schreibt die Zeitung „Die Welt“ im Februar 2017.3
Ironie des Schicksals, dürften sich viele denken, ist es doch gerade der Kurznachrichtendienst Twitter (engl.: Gezwitscher, zwitschern), den der exzentrische Milliardär mit der Fönfrisur über alles liebt. Und den er nutzt, um sich über die angeblich verlogenen amerikanischen Medien auszulassen. Gerüchten zufolge immer um halb sieben abends, im Bademantel und ganz alleine. Donald Trump twittert über „Fake News“ und „Fake News Media“ und meint damit beispielsweise CNN und die New York Times. Trump hat Narrenfreiheit. 2016 kurz vor den Präsidentschaftswahlen war das noch anders. Trumps Berater erteilten ihm ein Twitter-Verbot. Und sogar der damalige Amtsinhaber Barack Obama spottete: „Wenn jemand nicht mit einem Twitter-Konto umgehen kann, kann er nicht mit den Atomcodes umgehen.“4 Dennoch war es Donald Trump, der zuletzt lachte. Oder vielmehr grinste. Und so schreibt der Milliardär nun via Social Media seine eigenen Nachrichten. Ungefiltert. Selbst die Anerkennung Jerusalems als Israels Hauptstadt erfolgt Ende 2017 über Trumps Twitter-Account. Ein positiver Nebeneffekt: Der Mann jenseits der 70 verkauft sich modern und bürgernah. Auch ohne Internetführerschein.
2 Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Böse Nafris, faule Neger und der ewige Jude
„Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“, ruft eine blonde Schülerin. „Niemand“, brüllen 25 Mädchen und beginnen zu kichern. „Wenn er aber kommt?“, fragt die Schülerin. „Dann laufen wir davon“, rufen die anderen Mädchen. Sie schauen sich aufgeregt an und können kaum stillhalten. Plötzlich ertönt eine Trillerpfeife. Die Mädchen rennen um ihr Leben, die Schülerin stürmt auf sie zu und möchte sie fangen. Die kleinste Berührung genügt. Die gefangenen Mädchen werden zu Fängerinnen, bis alle Mädchen gefangen sind.
Es ist ein harmloses Kinderspiel. Oder doch nicht? Wer es mit der politischen Korrektheit genau nimmt, nennt das Spiel lieber anders, zum Beispiel „Wer hat Angst vorm weißen Hai?“. Dass ein einzelnes Wort Macht besitzt, wird deutlich, wenn es ausgetauscht wird. „Wer hat Angst vorm ewigen Juden?“ würde gar nicht gehen. Und „Wer hat Angst vorm roten Indianer?“ wäre fast schon wieder originell und witzig. Vor allem bei Jungs, die sowieso gerne Cowboy und Indianer spielen.
Brisant verhält es sich mit dem Wort Negerkuss. Der Negerkuss ist eine süße Köstlichkeit aus weißer Schaummasse mit Schokoladenüberzug. Die Süßspeise ist geblieben, doch den Namen gibt es nicht mehr. Stattdessen hat sich der Begriff Schokokuss eingebürgert, um nicht Gefahr zu laufen, eine rassistische Gesinnung zu haben. Ein Mitarbeiter des Reisekonzerns Thomas Cook bekam das deutlich zu spüren. Er bestellte 2016 einen Negerkuss in der Kantine des Unternehmens. Thomas Cook schickte dem Mitarbeiter daraufhin eine fristlose Kündigung. Doch der Mann ging in Berufung und gewann vor dem Arbeitsgericht Frankfurt.5 Einen säuerlichen Beigeschmack hatte die Negerkussaffäre allerdings: Bei der Kantinenmitarbeiterin handelte es sich um eine Frau aus Kamerun. Ob der Mann vielleicht einfach nur einen Kuss wollte?
Der „Schokoladenkuss mit Migrationshintergrund“ ist also ein heißes Pflaster. Da wäre ein „Neger“ als Getränk zur Abkühlung nicht schlecht. Und wer ganz gefährlich leben möchte, bestellt als liebliche Nachspeise noch einen „Neger im Schlafrock“. Doch Gustav Gutsprech ist wohlerzogen. Er ordert dann doch lieber das alt bewährte Colaweizen (ugs.: Neger) und als Nachspeise einen hellhäutigen Vanillepudding. Damit löst er am Nachbartisch nämlich keinen #Aufschrei aus.
Wer das Wort „Neger“ nicht verwendet, möchte Respekt zeigen. In Niederbayern wurde 2017 der „Negerball“ in „Megaball“ umbenannt.6 Auch am Bodensee entstand eine Debatte über das „Negerbad“, wie einige Schwaben den Strandabschnitt bei Manzell und Fischbach umgangssprachlich nennen.7 Oftmals sind es jedoch nicht die Menschen mit schwarzer Hautfarbe, die sich für eine Namensänderung einsetzen, sondern politisch engagierte Bürger.
Weißer Neger, wunderbarer Neger
Wenn aus der Isar ein weißer Neger steigt, dann ist das schon was Besonderes. Wirklich unheimlich wird es jedoch, wenn das eigene Kind vom besagten weißen Neger singt – zur Melodie des bekannten Kinderliedes Der Mond ist aufgegangen. In der ersten Strophe des Liedes von Matthias Claudius heißt es: „Und aus dem Nebel steiget der weiße Nebel wunderbar.“ Die Sprachforscher Axel Hacke und Michael Sowa haben 2004 herausgefunden, dass einige Kinder den Text falsch verstehen, nämlich so: „Und aus der Isar steiget der weiße Neger Wumbaba.“8 Kinder interpretieren Lautgestalten oft auf ihre eigene kreative und unschuldige Weise.
Wenn kleine Kinder von weißen Negern singen, die es ja eigentlich gar nicht gibt, können wir darüber eigentlich nur schmunzeln. „Ein bisschen Spaß muss sein“, sang schon Roberto Blanco voller Lebensfreude. Roberto Blanco ist sichtlich kein weißer Neger, für einen Politiker aber ein wunderbarer Neger: Am 31. August 2015 diskutiert Frank Plasberg in seiner Talkshow hart aber fair mit seinen Gästen über die Flüchtlingskrise und die Integration von Einwanderern. Plötzlich wirft CSU-Innenminister Joachim Herrmann in die Runde: „Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger.“ Moderator Frank Plasberg reagiert mit einem „Holla“, die Internetgemeinde ist deutlich kritischer. Das böse N-Wort löst auf Twitter und Facebook Empörung aus, „schließlich ist Neger eine abwertende und rassistische Bezeichnung für Schwarze“9, schreibt das Nachrichtenmagazin Spiegel Online einen Tag später.
Ohne die sozialen Medien durften sich die deutschen Politiker vor vielen Jahren wahrlich mehr erlauben. 1962 soll Heinrich Lübke bei einem Staatsbesuch in Liberia die Anwesenden mit den Worten „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“ begrüßt haben. Zu dieser Zeit war auch noch das Lied Zehn kleine Negerlein salonfähig. Das Lied hat meist zehn Strophen, in denen jeweils ein Negerlein stirbt oder verschwindet. Die deutsche Band Die Toten Hosen machte daraus 1996 den Hit Zehn kleine Jägermeister, der sich auf den gleichnamigen Kräuterlikör bezieht. Spätestens seit den 1990ern gilt die Bezeichnung „Neger“ als stark diskriminierend. Entsprechend ist das Wort im Duden verbucht.
„Neger“ ist im deutschsprachigen Raum tatsächlich auch ein Nachname. 2015 sorgt der Mainzer Thomas Neger mit seinem Firmenlogo für Aufregung. „In Anlehnung an dessen Nachnamen zeigt es einen schwarzen Dachdecker mit dicken Lippen und großen Ohrringen“10, schreibt Die Welt im April 2015. Sogar die Washington Post berichtet über den Mainzer Dachdecker. 5.000 Facebook-User demonstrieren gegen das Logo. Doch das „kleine Negerlein“ auf dem Logo hat die Debatten überlebt und riskiert noch heute eine dicke Lippe.
Vom Negerlein zum „Neger Light“
Trotz Terrorgefahr sind Marokko und Tunesien noch immer beliebte Urlaubsländer. Die Touristen werden in den Hotels verwöhnt und laben sich an exotischen Speisen. In Hotelrezensionen schwärmen die Deutschen und Österreicher vom tollen Personal – solange es dort bleibt und nicht die Grenzen überquert, versteht sich. Die Flüchtlingskrise 2015 hat Europa verändert und erreichte Ende 2015 ihren medialen Höhepunkt in der Silvesternacht von Köln.
Zu Beginn der Flüchtlingswelle gibt sich die deutsche Regierung weltoffen und die Medien spielen fleißig mit. Schnell kommt Kritik auf, sogar von einer gleichgeschalteten Presse ist die Rede. Die von vielen Deutschen als zu flüchtlingsfreundlich empfundene Berichterstattung der großen Medien führt sogar beinahe zum Urlaubsabbruch eines sehr anerkannten Journalisten. Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Zeit, befindet sich gerade in den Ferien, als er den Leitartikel „Jeder Flüchtling ist eine Bereicherung“ seines eigenen Blatts als zu missionarisch empfindet. Auf Facebook ändern Tausende User ihr Titelbild in „Refugees Welcome“, um ein Zeichen für Toleranz zu setzen. Doch schnell wird klar, dass es zwei gegensätzliche Lager gibt. Die Asylkritiker attackieren die „Gutmenschen“. Die wiederum stellen die „besorgten Bürger“ in die rechte Ecke und an den Pranger in den sozialen Medien. Deutschland spaltet sich.
Völkischen Deutschbürgern ist die Medienschelte natürlich nicht neu. Egal ob im Dritten Reich oder heute – mit der „Lügenpresse“ haben rechte Zeitgenossen einen prima Sündenbock gefunden. Die Nationalsozialisten gingen damals von einem Weltjudentum aus, das die Presse steuert. Heute glauben viele Menschen, dass die Regierungen und Weltkonzerne entscheiden, was in den Nachrichten steht. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (kurz: Pegida) skandieren seit ein paar Jahren „Lügenpresse, Lügenpresse, Lügenpresse“, um auf die unliebsame Berichterstattung aufmerksam zu machen.
Auf einer Pegida-Demo in Dresden kommt es 2015 zu einem Eklat, als plötzlich das „Lügenpresse-Mobil“ des Springer-Verlags auffährt. Eine Idee – für manche peinlich, für andere wiederum genial – der Werbeagentur Jung von Matt, um mit dem Slogan „Die ganze Lügenpresse aus einer Hand“ den iKiosk des Berliner Verlagshauses (verlegt u. a. die Bildzeitung und Die Welt) zu bewerben. „Die hohle Nummer mit dem Lügenpresse-Laster ist zum Fremdschämen“11, schreibt der Onlinebranchendienst Meedia bissig. Das Wort „Lügenpresse“ wurde 2014 übrigens zum Unwort des Jahres gewählt, eben weil es laut Jury an das Denken im Dritten Reich anknüpft und die Medien auch heute noch pauschal diffamiert.
Einer pauschalen Diffamierung bedienten sich auch schon die Nazis. Die Juden waren an allem schuld – und das war für die meisten auch gut so. Im Wilden Westen waren es die Rothäute und später dann die „Neger“. Heutzutage mögen wir Deutschen die Juden wieder und die „Neger“ sowieso. Und wenn wir von „Negern“ als Schwarzen oder Afroamerikanern sprechen, gibt es auch keinen Ärger. Doch je heller der Afrikaner wird, desto kritischer wird der Deutsche. Und schon gibt es seit 2015 ein neues N-Wort, nämlich den „Nafri“. Provokateur Jan Böhmermann stichelte direkt via Twitter: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Nafri und Neger?“ Die überspitzte Antwort: Nafris sind Nordafrikaner und quasi die Light-Form von „Neger“. Mit den zusätzlichen Eigenschaften Terrorismus und IS-Ideologie.
Ein Nafri kommt selten allein
Seit der Silvesternacht von Köln wird die Legende erzählt, dass Nordafrikaner im deutschsprachigen Raum meist in Gruppen auftauchen. Nordafrikaner werden zu Nafris, sobald sie die deutschen Grenzen passieren. Nafri hat übrigens nichts mit der populären Afri-Cola zu tun – obwohl „Afri“ tatsächlich auf die afrikanische Cola-Bohne anspielt.
Polizisten aus Nordrhein-Westfalen entwickelten die interne Bezeichnung „Nafri“, um „Nordafrikanische Intensivtäter“ im Funkverkehr abzukürzen. Dass der Begriff überhaupt bekannt wurde, war ein Zufall. Die Kölner Polizei twitterte in der Silvesternacht: „Am HBF werden derzeit mehrere Hundert Nafris überprüft.“ Selbstverständlich griffen die Grünen direkt zur Moralkeule und sprachen von einer „herabwürdigenden Gruppenbezeichnung“. Dass die Grünen und die Polizei in diesem Leben keine Freunde mehr werden, zeigte sich 2017 erneut. Nach den Krawallen von Hamburg attackierten die Grünen den harschen Umgang der Polizei mit den Linksautonomen und anderen Demonstranten.
Der 31. Dezember 2015 verändert die mediale Berichterstattung und die gesellschaftliche Wahrnehmung der Flüchtlingswelle völlig. Die Silvesternacht von Köln geht als Skandalnacht in die deutsche Geschichte ein. Viele junge Frauen werden in dieser Nacht von großen Gruppen nordafrikanischer Menschen umzingelt, sexuell angegangen und ausgeraubt. Alleine 513 Sexualdelikte werden bei der Staatsanwaltschaft Köln zur Anzeige gebracht.12 Dunkelziffer unbekannt. Politik und Polizei spielen die Vorfälle zunächst herunter, berichten von einer „ruhigen Neujahrsnacht“. Vermutlich in der Hoffnung, die Vorfälle auszusitzen. Eine Taktik, die einst Helmut Kohl erfand und die von seiner politischen Ziehtochter Angela Merkel perfektioniert wurde.
Dabei wäre es für die jungen Frauen eigentlich ziemlich einfach gewesen, den nordafrikanischen Grapschern aus dem Weg zu gehen. Seit der Silvesternacht von Köln gilt nämlich die lapidare Faustregel: Berührt Dich eine Nafri-Hand, halte einfach eine Armlänge Abstand! Die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln gab Frauen nach der Silvesternacht nämlich den Tipp, sie sollten zu Fremden eine Armlänge Abstand halten. „Das ist für die Opfer, die von allen Seiten umzingelt wurden, der reine Hohn“13, urteilte die FAZ eine Woche nach der Silvesternacht von Köln über Henriette Rekers Vorschlag.
Ex-Wetterfrosch Jörg Kachelmann war schon 2012 der Meinung, dass sich Frauen gerne als Opfer inszenieren. Die Situation war allerdings eine ganz andere. Kachelmann wurde 2010 von seiner Ex-Freundin mit dem Vorwurf der Vergewaltigung angezeigt und 2016 freigesprochen. 2012 sagte Kachelmann in einem Spiegel-Interview: „Das ist das Opfer-Abo, das Frauen haben. Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden.“14 Das Wort wurde im Januar 2013 zum Unwort des Jahres 2012 gewählt.
Henriette Reker gibt den in der Silvesternacht belästigten Frauen also eine Art Mitschuld, da diese in der Silvesternacht keine Armlänge Abstand zu den Männergruppen hielten. Die Empfehlung „erinnert an das unselige Argumentationsmuster, nach einer Vergewaltigung der vergewaltigten Frau eine Mitschuld zu geben“15, kritisiert die Journalistin Ursula Scheer in der FAZ. Auf Twitter entsteht ein regelrechter Shitstorm unter dem Hashtag #einearmlaenge. Ähnlich war das 2013, als unter dem Hashtag #aufschrei eine heiße Sexismus-Debatte entbrannte. Auslöser war der FDP-Politiker Rainer Brüderle, der die Journalistin Laura Himmelreich verbal anging: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“16, soll Brüderle im Januar 2012 in Herrenwitz-Manier in einer Hotelbar gesagt haben – in Anspielung auf Himmelreichs Busen. Ein Jahr später machte die Journalistin den Vorfall selbst publik, was FDP-Alphatier Wolfgang Kubicki als „Tabubruch“ bezeichnete.
„Fucken“ und das Protokoll der Schande
Einige Tage nach der Silvesternacht von Köln taucht ein ominöser „Sex-Spickzettel“ auf. Aufgelistet sind billige Anmachsprüche wie „Ich will fucken“, „Ich will dich küssen“ und „Große Brüste“ in den Sprachen Deutsch und Arabisch. Für viele Menschen ist der Zettel der Beweis, dass die Übergriffe von langer Hand geplant waren. Die Bildzeitung spricht von einem Vokabelzettel, „um Frauen sexuell zu belästigen und einzuschüchtern“.17
Der Zettel ist echt. Polizisten finden ihn bei zwei Tatverdächtigen aus Nordafrika. Einer von ihnen behauptet im Gespräch mit Spiegel TV, den Zettel selbst nur auf dem Boden gefunden zu haben.18 Für die Flüchtlingsgegner ist der anrüchige Schmierzettel ein gefundenes Fressen, zumal das kuriose Fundstück sehr anschaulich und authentisch wirkt. Unzählige Laienjournalisten veröffentlichen daraufhin ein Bild des Zettels auf ihren asylkritischen Blogs. Meist tendenziös, um den naiven „Gutmenschen“ die Augen zu öffnen. So mancher versuchte sogar, richtig viel Aufmerksamkeit aus der Grapsch-Aktion der Nafris zu ziehen. Horst Wenzel, selbst ernannter Flirtcoach, startete einen Flirtkurs für Flüchtlinge. Vielleicht wollte er tatsächlich helfen. Doch die Internetuser sind mal wieder gnadenlos. „Wenn ich verfolgt werde und in ein anderes Land flüchte, habe ich andere Sorgen als zu flirten“19, kommentiert User Django einen Welt-Bericht über Wenzels Crashkurs.
Einige Tage nach der Silvesternacht von Köln veröffentlicht die Polizei das sogenannte „Protokoll der Schande“20, wie die Medien den kompletten Polizeibericht unisono bezeichnen. Das 27-seitige Protokoll umfasst die Anzeigen und Straftaten sowie die Art und Weise der sexuellen Belästigungen. Das Polizeiprotokoll ist authentisch, weil die sexuellen Vergehen aus der Sicht der Opfer beschrieben werden. „Wurden von einer Gruppe Nordafrikaner umzingelt. Dann in Schritt, Busen und in die Hose gefasst“, lautet ein relativ harmloser Vorfall. Intimer wird es im folgenden Beispiel: „Versucht, Finger in Scheide zu stecken, an Brust und Gesäß gefasst.“ In Strumpfhosen gekleidete Frauen hatten meist mehr Glück: „Bei allen versucht, Finger in Scheide einzuführen, misslang wg. Strumpfhose.“ Doch die Täter kommen trotzdem auf ihre Kosten. Sie entwenden, oft mithilfe des längst bewährten Antanztricks, Bargeld, Handys und gerne auch Ausweise.
Gefährliche Vorurteile
Echt fett war eine Comedy-Sendung des ORF, die bis 2007 produziert wurde. Gedreht wurde meistens in Wien mit versteckter Kamera. Auf witzige und teilweise politisch inkorrekte Weise wurden gewöhnliche Passanten in skurrile Situationen gebracht.
In einer Folge sucht eine ältere Dame ein Lernspiel für ihre dreijährige Enkelin. Der als Verkäufer getarnte Schauspieler führt die Dame zu den Brettspielen und fischt ein fiktives Spiel aus dem Regal. „Ganz neu haben wir das reinbekommen, das heißt ‚Jüdische Negerkriege‘“, sagt der Komiker. Die Dame ist sichtlich schockiert. In dem vermeintlichen Spiel des Jahres geht es auch um die „speziellen Charaktereigenschaften“ von Minderheiten, meint der Komiker. Spätestens da wiegelt die Dame endgültig ab und verlässt das Geschäft. Die Zuschauer der Sendung lachen – nicht nur über die geschockte Reaktion der Dame, sondern vor allem über die Unverfrorenheit des Verkäufers, der ein politisch inkorrektes Brettspiel in höchsten Tönen anpreist. Bitterböse Witze sind populär und sorgen für hohe Einschaltquoten.
So makaber die Szene klingt, so deutlich zeigt sie das Spiel mit der politischen Unkorrektheit als Stilmittel auf. Werden Grenzen überschritten, finden viele das lustig – und andere daneben. Besonders schwarzer Humor polarisiert, in diesem Fall wortwörtlich und im übertragenden Sinne. Doch Humor zeigt auch gesellschaftliche Tabugrenzen auf und ist deshalb wichtig. Der ORF zeigt in der Sendung auf freche Weise, dass rassistische Denkweisen ein No-Go sind. Verbotene Früchte schmecken jedoch süß, weshalb Tabubrüche oft als witzig empfunden werden. Wenn der ehemalige Late-Night-Talker Harald Schmidt den jüdischen Ethnolekt persifliert und das Publikum mit einem geschockten und dennoch amüsierten „Ho, ho, ho“ reagiert, zeigt das die Zerrissenheit. Einerseits ist es witzig, andererseits aufgrund der deutschen Vergangenheit irgendwie verboten, darüber zu lachen. Über was wir Deutschen lachen dürfen, wissen die meisten schon gar nicht mehr. Man will ja keinen Ärger bekommen.
Asylanten machen Dreck. Nordafrikaner sind Grapscher. Und in Berlin lebende Araber produzieren Kopftuchmädchen, wie Thilo Sarrazin einst im Lettre International medienwirksam fabulierte.21 Die Deutschen hingegen sind fleißig und pünktlich. Das lehrt uns schon die Werbung, die nicht nur eine Appellfunktion hat, sondern durchaus meinungsbildend wirkt. Deutlich wird dies in einem Spot der Lufthansa aus dem Jahr 2013. Ein französischer Fluggast beschwert sich in verschiedenen Situationen über die Korrektheit, den Perfektionismus und die Pünktlichkeit der Deutschen. Am Ende des Spots resümiert er dann aber glücklich: „Fantastique!“ In Wahrheit ist der Franzose nämlich begeistert von uns Deutschen. Ein Internetuser stänkert in der Kommentarfunktion des Videos auf YouTube: „Bald sind es die Deutschen und die Ortsfremden mit Migrationshintergrund, bloß ohne die Tugenden.“22 Obwohl der Lufthansa-Spot nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun hat, wird hier ein Zusammenhang hergestellt.
Doch zurück zu Thilo Sarrazin. Von 2002 bis 2009 war er Finanzsenator in Berlin. Sein Buch Deutschland schafft sich ab ist ein Bestseller. Thilo Sarrazins Aussagen zur Migration polarisierten und beseitigten alle Zweifel über dessen politische Gesinnung. Das ging sogar so weit, dass Thilo Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden sollte. Doch dazu kam es nie. In einem Interview aus dem Jahr 2010 sagte Sarrazin: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.“23 Die Medien machten daraus eiskalt das medienwirksame Wort „Juden-Gen“, obwohl Sarrazin es nicht auf diese Weise benutzt hatte. Und auch der Zentralrat der Juden mischte sich direkt ein, sprach von einem „Rassenwahn, den das Judentum nicht teilt“. Wer anderen Ethnien bestimmte und meist negative Eigenschaften zuschreibt, begibt sich ins Kreuzfeuer.
Typisch Jude, typisch Asylant?
In der Zeit des Dritten Reiches war es einfach, Juden auf der Straße zu erkennen: Juden waren angewiesen, einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen, den Judenstern. Eingeführt wurde das Kennzeichen 1941. Die Nazis veröffentlichten sogar kleine Handbücher, um die jüdischen Merkmale bildlich zu erklären. Juden haben eine gebogene Nase und eine ganz besondere Kopfform: den animalischen Langschädel – so zumindest steht es in den Nazi-Büchern.
Tier-Verbildlichungen sind seit Jahrhunderten beliebt, um fremdartigen Völkern ein abstoßendes Gesicht zu geben. Bekannt ist die Tiermetapher „Judensau“, die schon seit dem Mittelalter existiert. Auf den mittelalterlichen Bildern sind Juden zu sehen, die wie Ferkel an den Zitzen einer Sau saugen. Auf diese Weise wird auf vielen Bildern und Judensau-Skulpturen eine Intimität zwischen Jude und Sau angedeutet. Eine Perversion, die laut Tora selbstverständlich verboten ist. „Wer einem Vieh beiwohnt, der soll des Todes sterben“, steht im zweiten Buch Mose 22,18. Durch die Darstellung der Judensau wurden die Juden über viele Jahrhunderte entmenschlicht. Hinzu kamen weitere vermeintliche Eigenschaften wie Geldgier und Wucherei. Das hat sich in das deutsche Bewusstsein eingebrannt.
Für Adolf Hitler und Joseph Goebbels war es damals sehr leicht, den Juden als minderwertige und dennoch gefährliche Rasse darzustellen. Die Medien waren gleichgeschaltet, es gab kein Internet, und das Kino war relativ neu und sehr populär. 1940 erscheint der Kinofilm Der ewige Jude in den deutschen Kinos. Das Bild des ewigen Juden ist nicht neu, sondern existierte schon im 19. Jahrhundert. Die Legende eines Juden, der seit Jahrhunderten umherwandert – bis zum Jüngsten Tag. Das hat natürlich etwas Gruseliges. Die deutsche Bevölkerung ist damals also schon ideologisch eingeschworen, als der Film des ewigen Juden in die Kinos kommt. Es ist jedoch kein Spielfilm, sondern vielmehr ein Dokumentarfilm in aufklärerischer Mission. Die Juden werden als ein Volk präsentiert, das sich bestens auf Verstellung versteht und sich nach außen nicht zu erkennen gibt. Der Film zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos, damit der Zuschauer erkennt, wie unzivilisiert die Juden eigentlich leben, bevor sie sich an das vermeintlich zivilisierte Deutschland anpassen. Thilo Sarrazin knüpfte mit seiner „Juden-Gen“-Äußerung an diese Vorurteile an und kassierte den Rassenwahn-Spruch vom Zentralrat der Juden zu Recht.
Ab 1941 erhalten die Juden in Deutschland keine Seife und Rasierseife mehr, damit der „Judenbart“ wuchert. Es gelingt den Nazis, den Juden als abstoßend zu inszenieren. Nicht nur im Kino, sondern auch in der echten Welt. Irgendwann ist es sogar verboten, dass deutsche Kinder mit Judenkindern spielen. Noch heute ist „Judenkind“ eine Beleidigung unter Teenagern, wie verschiedene Internetquellen beweisen. In Süddeutschland existierte lange Zeit der Begriff „Judenfurz“ für bestimmte Feuerwerksartikel, das sind die Teppiche mit vielen kleinen verbundenen Böllern. Ebenso rauchten Teenager den „Judenstrick“, eine Pflanze, deren Äste innen hohl sind. Heute sind es die Väter, die ihren Kindern noch immer stolz davon berichten. In einem Internetforum fragt ein User: „Mein Vater hat mir erzählt, dass er, als er 13 war, Judenstrick geraucht hat. Wie geht das?“24 „Schmeckt nicht besonders“, antwortet ein anderer. Die Mehrheit stimmt zu und das Thema ist erledigt.
Die Flüchtlinge haben es in der heutigen Zeit einfacher und schwieriger zugleich. Grund sind vor allem die sozialen Medien. Die Internetuser haben ganz verschiedene Meinungen. Auf Facebook sehen wir Flüchtlinge als hilfsbereite Gäste, dann als hinterhältige Vergewaltiger, dann wieder als fleißige und soziale Mitmenschen und letztendlich als rücksichtslose Dreckspatzen. Welches Bild stimmt also? Und sind es wirklich nur Männer, die nach Deutschland flüchten?
Es ist ein warmer Spätsommernachmittag im Jahr 2015. Klaus macht eine gemütliche Schifffahrt auf der Donau in Passau. Die niederbayerische Dreiflüssestadt ist zu diesem Zeitpunkt der Hauptanlaufpunkt für neue Flüchtlinge. Die Grenze zu Österreich ist schließlich gleich um die Ecke. Klaus genehmigt sich ein kaltes Weißbier mit leckerer Schaumkrone. Er blickt in die Ferne, genießt den Fahrtwind und die warme Sonne auf seiner Nase. Plötzlich hört er einen Schuss aus der Ferne. Es folgen weitere Schüsse. „Das sind bestimmt die Flüchtlinge“, denkt sich Klaus und zückt sein neues iPhone. Klaus loggt sich bei Facebook ein und berichtet von dem Schusswechsel. „Scheiß Asylanten beschießen sich in Passau“, ätzt Klaus. Die Likes trudeln im Minutentakt ein. Viele Menschen teilen seinen Beitrag sogar und sind sich einig, dass das genau so passiert ist.
Einen Tag später berichtet die Passauer Neue Presse von dem Vorfall25, allerdings ganz anders: Ein Jäger gab die Schüsse bei der Entenjagd ab. Alles harmlos. Das war’s. Die Überschrift des Artikels „Wie Schüsse zum Schnellschuss werden“ provoziert die Systemkritiker zusätzlich. Bei Klaus und vielen anderen brennen die Sicherungen durch. „Die Lügenpresse mal wieder“, ist sich Klaus samt Gefolgschaft sicher. Die Heimatzeitung treibt es mit einem ironischen Kommentar zum Artikel auf die Spitze: „Wir von der Lügenpresse.“ Dort kommentiert die Journalistin Laura Lugbauer: „Im Netz verbreiten sich Nachrichten häufig nach dem Stille-Post-Prinzip.“26
Doch auch die etablierten Medien bedienen sich oft bei Nachrichtenagenturen oder anderen Medien und verzerren die Realität. Ereignisse werden ausgeschmückt, oft werden auch viele Sachen bewusst weggelassen. Nicht nur Medienwissenschaftler wissen das, sondern mittlerweile auch die meisten Menschen da draußen. Das Volk ist nämlich umtriebiger, als es den Medien- und Meinungsmachern manchmal lieb ist.
Für leichtgläubige Gemüter ist es ein wahrer Segen, dass der vermeintlich glaubwürdige Nachbar von nebenan auf Facebook eigenständig berichtet oder sogar flüchtlings- und medienkritische Blogs ins Leben ruft – quasi Nischenmedien und Gegenmedien zu den ach so bösen Qualitätsmedien. Besonders beliebt sind Augenzeugenberichte. User laden „Beweisbilder“ hoch: Bilder von verdreckten Zugabteilen, Fotos einer zusammengeschlagenen Frau oder Bilder von Flüchtlingen, auf denen nur Männer zu sehen sind. Es entsteht eine Social-Media-Realität, die rasch zur User-Realität und weitererzählt wird.
Flüchtlinge und Asylbewerber heißen vereinfacht „Asylanten“, denn dieses Wort ist sowieso schon negativ besetzt. Flüchtlingshasser sind sich einig: „Asylanten“ lassen ihren Müll liegen, sie sind Wirtschaftsflüchtlinge und wollen Sozialleistungen kassieren. Sie nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg, obwohl die „Asylanten“ doch eigentlich faul sind. Sie vergewaltigen deutsche Mädchen, erheben Anspruch auf Wohnraum und bestehlen die Deutschen auf ihren traditionellen Heimatfesten. „Asylanten“ kommen angeblich nur nach Deutschland, um Terroranschläge zu planen und auszuführen. Sie sind gewalttätig und unzivilisiert. Die Probleme, die in ihren Ländern zu Kriegen und Armut geführt haben, bringen sie mit nach Deutschland. Das ist das Bild der Flüchtlinge in Deutschland. Nicht alle denken so. Doch diejenigen, die so denken, haben diese Informationen oftmals von Freunden oder der Familie erhalten – oder aus dem Internet. Es ist in der heutigen Zeit eben nicht einfach, die richtigen Inhalte zu filtern. Fake News lauern überall. Den richtigen Riecher für die Wahrheit zu haben, ist so anspruchsvoll wie eine olympische Disziplin. Wer lange durchhält, trägt die Fackel bis ins Ziel. Doch natürlich ist es viel einfacher, damit ein Flüchtlingsheim zu entzünden.
3 Fake News mitten ins Herz
Promis als mediale Gladiatoren
Ein junges Pärchen betritt mitten in der Nacht eine verlassene Tiefgarage. Der Mann tastet seine Hosentaschen ab, sucht hektisch seinen Schlüssel. Die Frau benutzt ihr Handy als Taschenlampe und fuchtelt damit wild durch die Gegend, fühlt sich sichtlich unwohl in der Dunkelheit. Auf einmal springt etwas auf sie zu. Die junge Frau leuchtet mit ihrem Handy geradeaus, erblickt eine ekelhafte Fratze mit Beil in der Hand. Was wie aus einem billigen Horrorfilm klingt, ist bittere Realität. Die junge Frau reagiert richtig, zieht der Fratzenfigur mit der Handtasche eins über und verschwindet mit ihrem Mann im Nirgendwo. Nach kurzer Zeit startet aus der Ferne der Motor eines Autos. Die Fratze liegt immer noch am Boden und ächzt. Die Verkleidung als Horrorclown ging nach hinten los.
Die Horrorclowns waren der Trend des Jahres 2016. Einer kam auf die unsägliche Idee, sich als gruseliger Clown zu verkleiden und Menschen zu erschrecken. Vor laufender Kamera. Ein makabrer Streich. Die YouTube-Generation spricht hier von einem „Prank“. Schnell gab es unzählige Trittbrettfahrer. Plötzlich hatte man das Gefühl, jederzeit und überall von einem Horrorclown überrascht werden zu können. Sicher, es gab echte Vorfälle. Echte Menschen, die von den fiesen Fratzen überfallen und verfolgt wurden. Echte Horrorclowns, die eine aufs Maul bekamen, weil manche so mutig waren und den Spieß einfach umdrehten. Die Schadenfreude im Netz war natürlich gigantisch. Man hasste die fiesen Clowns, doch irgendwie liebte man sie auch – denn sie sorgten für eine hollywoodreife Unterhaltung.
Doch viele Meldungen über die grässlichen Horrorclowns waren schlichtweg falsch. Es gibt seit einigen Jahren tatsächlich Internetseiten, auf denen eigene Nachrichten erstellt werden können, die täuschend echt aussehen. Vor allem, wenn die Nachrichten dann via Facebook geteilt und von anderen Usern weiterverbreitet werden. Eines dieser Portale ist 24aktuelles.com. Dort ist beispielsweise zu lesen, dass Cannabis bereits Anfang 2017 legalisiert worden sei, Obama den Kontakt zu Außerirdischen bestätigt habe und Säuglingen nach der Geburt ein Mikrochip implantiert werde. Solche Internet-Falschmeldungen werden „Hoax“ genannt. Das kommt aus dem Englischen und bedeutet Scherz. Die sozialen Medien sind voll von diesen Hoaxes. Es gibt Nachrichten über angebliche Gewinnspiele von Audi oder Media Markt, bei denen die User teure Luxusschlitten oder Smartphones gewinnen können. Abertausende fallen darauf rein und machen solche Fakes erst richtig groß. Die hoffnungsvollen Glücksritter sind dann natürlich enttäuscht, dass sie mal wieder nichts gewonnen haben. Schuld ist dann natürlich Facebook und nicht der Mensch hinter dem Computer oder Smartphone.
Die ganzen Facebook-Gewinnspiele sind sowieso die Rubbellose der neuen Generation. Wer jetzt meint, auf Facebook keinen monetären Einsatz zu bezahlen, belügt sich selbst. Wir geben unsere Daten preis und machen kostenlose Werbung für die ganzen Unternehmen, die uns tolle Gewinne versprechen. Das ist Bauernfängerei. Doch es ist einfach zu erklären: Die Menschen möchten bewusst und unbewusst belogen werden, sofern die kleinste Chance besteht, endlich mal so richtig abzusahnen. 2008 war Online-Poker angesagt, heute ist es Multi-Level-Marketing (MLM). Bei dieser Form des Network-Marketings geht es darum, oftmals minderwertige Produkte für sehr viel Geld zu verkaufen. Reich werden aber nur die Menschen, die andere Mitglieder anwerben, um an deren Umsätzen mitzuverdienen. Oft sind die Menschen auf Facebook nur nett zueinander, um neue Klienten für ihre MLM-Challenges zu gewinnen.
Nachrichten über hinterhältige Horrorclowns, asoziale Asylanten und in Deutschland lebende ISIS-Fanatiker lenken die Menschen vom grauen Alltag ab – und noch viel wichtiger: Es entsteht ein seltsames Gemeinschaftsgefühl in den sozialen Medien. Menschen, die sich gar nicht kennen, rotten sich in Gruppen zusammen, sozialisieren sich und schimpfen, motzen und jammern. Andere motzen wiederum dagegen, es fallen die ersten Beleidigungen, und schon gibt es den berüchtigten Shitstorm. Man gewinnt den Eindruck, als möchten viele Menschen den Falschmeldungen ganz bewusst Glauben schenken. „Fängt der Glaube da an, wo das Wissen aufhört?“27, fragt der Theologe Peter Kliemann in seinem Buch Glauben ist menschlich. Möchten die User also an bestimmte Fake News glauben, weil sie vieles andere in der Welt nicht verstehen? Nachweisbar bekommen Skandalgeschichten und eklige Videos die meisten Klicks im Web. Die friedliche Fraktion schaut sich hingegen lieber witzige Katzenvideos und drollige Babyclips an. Der User kann also selbst entscheiden, ob er Süßes oder Saures will. Ganz nach dem Motto: „Sag mir, was du klickst, und ich sage dir, wer du bist.“
Amok. Terror. Sex.
„Mann tötet Ehefrau. Zuvor spielte er noch Lotto.“ In der Boulevardpresse sind solche Überschriften immer wieder zu lesen. Die Überschrift suggeriert: Auch der normale Nachbar von nebenan könnte ein Mörder sein. Erst spielt er harmlos Lotto, dann bringt er seine Frau um. Die Medien spielen mit der Angst der Menschen. Und auch mit der Neugierde, die eigenen Grenzen auszutesten. Horrorfilme machen das vor, denn dort passieren (hoffentlich nur) Dinge, die im eigenen Umfeld unüblich sind. Ähnlich ist es mit den ganzen Schock-Nachrichten in den Medien. Terror in Barcelona, Vergewaltigungen in Deutschland, Trump droht der Welt und irgendwer läuft mal wieder Amok. Man hat den Eindruck, dass früher alles besser war. Der deutsche Michel allerdings sitzt abgesichert in seinem Schrebergarten, fährt einen dicken SUV-Panzer auf der Straße und ärgert sich über den ganzen Terror auf der Welt, ohne damit jemals konfrontiert worden zu sein.
Die Erklärung ist einfach: Der Mensch geht meist vom Schlechten aus. In der Psychologie wird dieses Phänomen als Negativitätsbias bezeichnet. Faktoren, die der Mensch in seiner Umgebung als negativ bewertet, werden besonders stark empfunden. Positiv bewertete Faktoren hingegen werden eher schwach wahrgenommen. Die Realität erleben die Menschen also unterschiedlich durch ganz eigene Filter. Oft entscheiden auch persönliche Erfahrungen darüber, ob wir etwas als gut oder schlecht bewerten. Menschen, die Angst vor Autobahnen haben, nehmen Nachrichten über schwere Autounfälle auf Autobahnen besonders stark wahr und fühlen sich in ihren Ängsten bestätigt. Ein besonderer Menschenschlag wiederum reagiert sensibilisiert auf Nachrichten, in denen es um sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen geht. Die Rede ist von den „besorgten Bürgern“. Viele von ihnen vermuten in solchen Fällen gleich, dass es sich um einen Asylbewerber handeln könnte, der keinen Respekt vor deutschen Frauen hat.
Vergewaltigungen sind in Deutschland aber eigentlich nichts Neues. Neu ist jedoch, dass viele die Täterschaft mittlerweile eingrenzen zu können glauben. Aus Hobbytrainern, die von der Wohnzimmercouch aus die deutsche Nationalmannschaft trainieren, sind Hobbykriminologen geworden. „Dat wa sischer wieda ein Asylant“, ist dann das Fazit des bierseligen Fachgutachtens. „Prost“, ruft der selbst ernannte Scharfrichter aus der Runde und macht die gedankliche Guillotine schon einmal einsatzbereit. So einfach kann es sein. Zumindest würden sich das viele wünschen. Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen Fremde mit Fackeln aus der Stadt gejagt wurden. Heute allerdings sind es Brandanschläge. Die radikalen Rechten fackeln nicht lange.
Der mediale Umgang mit den Flüchtlingen sorgt dafür, dass Neiddebatten entstehen. Nicht nur, weil die Medien lange Zeit pro Regierung berichtet haben. Viele Nachrichten werden einfach falsch verstanden und interpretiert, weil sie nicht in das eigene Weltbild passen. Eine Aussage spaltet Deutschland ganz besonders: „Wir schaffen das“, sagt Angela Merkel 2015. Was von vielen Medien sehr wohlwollend aufgenommen wird, kritisieren die deutschen Flüchtlingsgegner massiv. In den sozialen Medien kursiert direkt eine Fotomontage von Angela Merkel. Zu sehen ist die Bundeskanzlerin in Zwangsjacke, umzingelt von mehreren Pflegerinnen. Aus Merkels Mund entspringt eine Sprechblase: „Wir schaffen das. Wir schaffen das. Wir schaffen das.“ Die mehrfache Wiederholung des Satzes suggeriert eine geistige Erkrankung der mächtigsten Frau Deutschlands. Der Musiker Cypress Hill formulierte es 1993 in seinem gleichnamigen Song wie folgt: „Insane in the brain.“ Viele Deutsche sehen Angela Merkel wohl auf diese Weise.
Im Laufe der Flüchtlingskrise entstehen viele Blogs und politisch motivierte Webseiten im Internet. Heutzutage ist das sehr einfach. Plattformen wie Wordpress und Blog.de bieten einfache Baukastensysteme an mit Webspace und vorgefertigten Designs. Jeder kann Journalist sein, jeder will Journalist sein. Es entstehen unzählige Nischenmedien, die sich als ehrliche Gegenmedien zu den etablierten Massenmedien sehen wollen. Systemkritiker vertrauen folglich eher den Nischenmedien, zumal diese systemkritische Nachrichten veröffentlichen. Dazu gehören auch Berichte über vergewaltigende Asylbewerber in ganz Deutschland. Solche „Nachrichten“ werden dann auf Facebook & Co. weiterverbreitet. Schnell entstehen Gerüchte. Sie werden zu Halbwahrheiten und irgendwann zur weitläufig akzeptierten Wahrheit. Oder sind die Flüchtlinge in Wirklichkeit gar nicht so schlimm?
Einige von ihnen sind wirklich schwarze Schafe. Was provokant klingt, belegen mittlerweile sogar die deutschen Qualitätszeitungen. Anfangs war das nicht so. Die Nationalität der Vergewaltiger stand zunächst meist nicht in den Gazetten. Viele Leser beschwerten sich darüber und spekulierten, dass wohl mal wieder ein Flüchtling geschützt wird – weil es die Regierung so verlangt. Seit dem Jahr 2017 ist das anders. Die Medien geben sich plötzlich vermeintlich objektiv. Immer öfter werden also die Nationalitäten genannt, und immer öfter ist beispielweise von afghanischen Flüchtlingen oder Asylbewerbern aus Eritrea die Rede. Zu lesen sind Nachrichten von Flüchtlingen, die in Schwimmbädern onanieren oder gemeinschaftlich Frauen willenlos machen, um sich danach an ihnen zu vergehen. Wenn allerdings der alteingesessene Albert im Dorf einen kriminellen Schabernack treibt, ist in der Zeitung natürlich nur von einem „Täter“ die Rede.
Ende 2017 taucht eine interessante Studie auf. Eine offizielle Statistik besagt, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 fast 50 Prozent mehr Vergewaltigungen angezeigt worden sind als im Vorjahreszeitraum. „Die Zahl der Taten, die Zuwanderern zugeordnet wurden, stieg sogar um 91 Prozent auf 126“, zitiert die Passauer Neue Presse Bayerns Innenminister Joachim Herrmann.28 Unter dem Internet-Artikel erscheinen knapp 100 Leserkommentare. Ein User schreibt: „126 Leben wurden durch zugewanderte Vergewaltiger ZUSÄTZLICH zerstört, in Bayern alleine! Jetzt sind wir alle wieder die bösen deutschen Nazis.“ Mit der Nazikeule offensiv umzugehen, ist raffiniert. Denn auf diese Weise begibt sich der User in die Opferrolle – eine beliebte Taktik in der nationalistischen Szene. Interessant: Berichte über kriminelle Asylbewerber sind für viele Menschen keine Fake News. Positive Berichte über Asylbewerber hingegen unterliegen der Gleichschaltung der Medien durch den Staat, um das Bild der Neuankömmlinge zu verbessern – so zumindest hört man es an den deutschen Stammtischen.
Gleichschaltung und Aufdeckung
Wer meint, dass das Wort „Gleichschaltung“ aus dem Nationalsozialismus kommt, liegt falsch. Das Wort stammt aus der Elektrotechnik und wurde von den Nazis lediglich übernommen. Im Sinne der Gleichschaltung wurden die Medien an die nationalsozialistische Weltanschauung angeglichen. Seit einigen Jahren verwenden viele Deutsche das Wort „Gleichschaltung“, um die Lügenpresse zu beschreiben. Viele unzufriedene Bürger deuten also an, dass Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder FAZ vom Staat gelenkt werden. Die Massenmedien werden nicht als vierte Gewalt gesehen, sondern als Konstrukt zur bewussten Manipulation der Bevölkerung.
2007 ist die ehemalige Nachrichtensprecherin Eva Herman zu Gast in der Sendung Johannes B. Kerner. Beichtvater Kerner nimmt sich die blonde Sünderin zur Brust. Eva Herman hat es an diesem Abend nicht einfach, weil sie mit Pseudo-Experten wie Magarete Schreinemakers, Senta Berger und Mario Barth über das Dritte Reich diskutieren muss. Auslöser der Diskussion ist Eva Hermans Romantisierung der Nazi-Zeit sowie die Aussage: „Aber es sind auch Autobahnen damals gebaut worden und wir fahren heute drauf.“ In der heftigen Medienschelte sieht sich Herman als Opfer einer „gleichgeschalteten Presse“. Tatsächlich wird Eva Herman von Johannes B. Kerner vorgeführt und schließlich aus der Sendung geworfen. Die Quote ist an diesem Abend gigantisch. Und nur darum geht es.
Einige Jahre später bekräftigt Eva Herman ihre Sichtweise der gleichgeschalteten Presse in einem Interview mit der Agentur Sven Hermann Consulting. Es fällt erneut der Begriff „Gleichschaltung“.29 Eva Herman rät, alternative Medien im Internet zu nutzen. Hiermit mein sie Blogs und unabhängige News-Seiten. Auf YouTube erhält die erfahrene Medienfrau sehr viel Zuspruch. Viele Menschen vertrauen den Internetquellen – oder auch den Quellen, die systemkritisch sind und in ihrer Wortwahl vermeintlich „mutig“.
Die Medien in Österreich sind wahrlich nicht auf den Mund gefallen. Vor allem die Regenbogenpresse der Österreicher ist nicht gerade zimperlich. Vorreiter ist die Neue Kronen Zeitung, auch genannt Krone. Sie ist die auflagenstärkste Boulevardzeitung in Österreich und hat den Ruf, tendenziös zu berichten. Genau das ist allerdings auch das Geheimrezept, das den Erfolg von Boulevardzeitungen ausmacht. Während sich die deutsche Bildzeitung zumindest anfangs pro Asyl positioniert, macht das Ösi-Pendant Stimmung gegen die Flüchtlinge. Das kommt nicht nur in Österreich an, sondern auch in Deutschland. Die Deutschen sehnen sich auf einmal nach dem Mut der österreichischen Politik. Wir wollen einen Sebastian Kurz. Zumindest wäre das mal eine Erfrischung.
Schonungslose Berichte über sexgeile Afghanen, kriminelle Syrer und geldgierige Marokkaner ziehen eben und sind für viele Leser eine Genugtuung. Sie geben den Flüchtlingsgegnern das Gefühl, dass die ganze Schweinerei endlich mal aufgedeckt wird. Das nennt sich dann investigativer Journalismus – sofern die Behauptungen überhaupt wahr sind. Oft sind es auch Halbwahrheiten und bestimmte Blickwinkel. Im Oktober schreibt die Krone über eine österreichische Familie, die in Tirol neue Freizeittickets kaufen wollte, aber keinen Familienpass dabei hatte. Im Artikel heißt es eingangs: „Wer annimmt, es geht hier um Asylbewerber, liegt falsch.“30 Ebenso schreibt der Redakteur, die Familie sei „unvermummt“ anwesend gewesen und habe dennoch keine Tickets lösen dürfen. Das ist natürlich eine fiese Anspielung auf die in Burka gekleideten Flüchtlingsfrauen und die Flüchtlinge im Allgemeinen, die ohne Pass in Österreich aufgenommen und mit Geld und Dienstleistungen versorgt werden. Der Presserat in Österreich kritisierte den Artikel als unzulässige Pauschalverunglimpfung und Diskriminierung.
Immer gleich ein Nazi
„Wir wünschen keine Asylanten als Kundschaft in unserem Ladenlokal!“31 Was wie ein Gag klingt, ist Realität im bayerischen Töging im Herbst 2017. Bei dem Satz werden dunkle Erinnerungen wach. „Kauft nicht bei Juden!“, fordern die Nazis nämlich am 1. April 1933. Die „Asylanten“ sind anscheinend die, die Markenklamotten auf die Theke werfen und statt Barzahlung in gebrochenem Deutsch „Caritas, Caritas“ antworten. Das zumindest ist in den Tiefen des Internets zu lesen. Und wenn man möchte, kann man es aus Bequemlichkeit auch glauben. Doch es gibt auch Mahner. „Vor 80 Jahren hingen noch Plakate mit ‚Juden sind hier unerwünscht‘ in den Schaufenstern. Anscheinend haben manche Menschen nichts daraus gelernt“, kommentiert ein User die Online-Berichterstattung der Passauer Neuen Presse über den Fall aus Töging.32 Doch diese Meinung ist eine Ausnahme. Ein anderer antwortet nämlich: „Die afrikanischen Knäste sind leer, alle Insassen sind hier.“ Beim Durchscrollen der Kommentare darf der Leser entscheiden, ob er sich zur Versüßung der Unterhaltung Popcorn holt oder angeekelt von den verbalen Ergüssen die Kloschüssel knutscht. Beides wäre verständlich.
Es sind Situationen wie oben, in denen „Asylanten“ nicht nur mit Juden verglichen werden, sondern auch Deutsche mit Nazis. „Das wird man wohl noch sagen dürfen, ohne gleich ein Nazi zu sein“, ist eine beliebte Stammtischparole. Es sind jene Aussagen, bei denen der Deutsche mit einem Bein im Gefängnis sitzt und mit dem anderen sein Kreuzchen bei der AfD oder so ähnlich macht. Das zumindest vermuten die lupenreinen Demokraten der etablierten Großparteien. Doch was ist schon ein lupenreiner Demokrat, nachdem man weiß, dass Gerhard Schröder einst Putin so benannte. Und eigentlich ist es ja auch demokratisch, die eigene Meinung kundzutun, ohne direkt an den Pranger gestellt zu werden. In Österreich ist das – wieder einmal – ein bisschen einfacher. Und dort trauen sich auch die Promis, endlich mal Tacheles zu reden. So zum Beispiel der Ösi-Komiker Manfred Tisal. In einem Interview im September 2017 fragt Tisal: „ Warum wird heute jeder, der rechts steht, gleich als Nazi bezeichnet? Nur weil man seine Meinung hat, das ist doch schlimm!“33
Das Asylanten-Verbot in Töging zeigt aber vor allem auch, dass Fake News nicht unbedingt von den Medien gestreut werden, sondern von mündigen Bürgern. Die Ladeninhaberin, die das Verbot aussprach, beklagt gegenüber der Lokalzeitung viele Diebstähle in jüngerer Zeit. Täter seien stets Asylbewerber, ist sich die Frau sicher. Für die Asylkritiker ist das ein gefundenes Fressen, und die Nachricht wird als „so passiert“ wohlwollend zur Kenntnis genommen. Die Asylversteher hingegen betrachten die Nachricht als Hetze und demzufolge die Botschaft der Ladenbesitzerin als Fake News. Einen Beweis gibt es nicht, und so darf jeder mal wieder für sich entscheiden, was er glaubt. Klischeedenken macht die schwer verdauliche Welt des deutschen Michels überhaupt erst greifbar. Wer fremdenfeindlich pauschalisiert, tut allerdings nicht einfach eine harmlose Meinung kund – auch wenn es natürlich so manchen Flüchtling mit krimineller Energie gibt. Doch auch unter den „tugendhaften Deutschen“ versteckt sich der ein oder andere Wolf im Schafspelz. Oftmals entscheidet eben der Blickwinkel, wer den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt, egal ob er Manfred oder Mohammed heißt.
Es gibt natürlich auch Fake News, die ganz bewusst der Unterhaltung dienen. Die Rede ist vom Postillon. Der Postillon ist eine deutschsprachige Satireseite, die aktuelle Ereignisse im Nachrichtenstil auf die Schippe nimmt. Häufig sind die Nachrichten so gut geschrieben, dass sie echt sein könnten. Immer wieder fallen Menschen auf die witzigen Fake News rein – und machen sich in den sozialen Medien zum Gespött. Die Artikel werden so oft in den sozialen Medien geteilt, dass das Satireblatt eine größere Reichweite hat als viele etablierte Zeitungen. Besonders Nazi-News werden vom Postillon gerne durch den Kakao gezogen.34
„Mann hasst Flüchtlinge, weil es ihretwegen plötzlich so viele Nazis gibt“, lautet eine Headline.35 In der Überschrift eines weiteren Artikels heißt es: „Nazis rächen sich an Flüchtlingen, indem sie nach Syrien fliehen.“36 Und mit „Studie: Abschiebung von Nazis würde Staatskasse um Milliarden entlasten“37 provoziert der Postillon so richtig. Natürlich persifliert die Satireseite auch seichte Kost: „Imagekorrektur: Düsseldorf benennt sich in Düsselstadt um.“38 Humor und Witz lieben die Menschen. Und sie erzählen es weiter. Erst dadurch kommt es im Internet zu vielen Klicks. Das ist auch die Gemeinsamkeit von Horror-News und Witz-News: Menschen wollen Kurioses. Dinge, die eklig sind und bei denen wir doch irgendwie hinschauen müssen. Niemand möchte von einem Flüchtling mit Beil im Zug attackiert werden. Doch wir wollen es lesen – mit allen Details. Egal ob „fake“ oder „real“: Krass und brutal muss es sein.
4 Fiese Hates und Clickbaits