Die Spur des Lichts - Andrea Camilleri - E-Book
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Die Spur des Lichts E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

"Bislang der schönste Roman um Commissario Montalbano" Corriere della Sera

Das beschauliche Städtchen Vigàta auf Sizilien ist in Aufruhr, und ein Besuch des Innenministers steht bevor. Für Commissario Montalbano ein guter Grund, sich an diesem Tag zurückzuziehen und eine Vernissage zu besuchen. Die schöne Galeristin Marian ist mindestens so reizvoll wie die Exponate - und sie gibt Montalbano diverse Rätsel auf. Wie auch der Überfall auf die Ehefrau eines vermögenden Vigàteser Kaufmanns, der einen mysteriösen Mord nach sich zieht. Als seine Dauerverlobte Livia ihm schließlich ein unerwartetes Geständnis macht, muss Montalbano eine weitreichende Entscheidung treffen ...

Der 19. Band aus Camilleris erfolgreicher Krimiserie um den sizilianischen Commissario Montalbano


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Seitenzahl: 258

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung des Autors

Über das Buch

»Bislang der schönste Roman um Commissario Montalbano« Corriere della Sera Das beschauliche Städtchen Vigàta auf Sizilien ist in Aufruhr, und ein Besuch des Innenministers steht bevor. Für Commissario Montalbano ein guter Grund, sich an diesem Tag zurückzuziehen und eine Vernissage zu besuchen. Die schöne Galeristin Marian ist mindestens so reizvoll wie die Exponate – und sie gibt Montalbano diverse Rätsel auf. Wie auch der Überfall auf die Ehefrau eines vermögenden Vigàteser Kaufmanns, der einen mysteriösen Mord nach sich zieht. Als seine Dauerverlobte Livia ihm schließlich ein unerwartetes Geständnis macht, muss Montalbano eine weitreichende Entscheidung treffen … Der 19. Band aus Camilleris erfolgreicher Krimiserie um den sizilianischen Commissario Montalbano

Über den Autor

Andrea Camilleri ist der erfolgreichste zeitgenössische Autor Italiens und begeistert mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk ein Millionenpublikum. Ob er seine Leser mit seinem unwiderstehlichen Helden Salvo Montalbano in den Bann zieht, ihnen mit kulinarischen Köstlichkeiten den Mund wässrig macht oder ihnen unvergessliche Einblicke in die mediterrane Seele gewährt: Dem Charme der Welt Camilleris vermag sich niemand zu entziehen.

Andrea Camilleri

Die Spur des Lichts

Commissario Montalbanostellt sich der Vergangenheit

Roman

Übersetzung aus dem Italienischenvon Rita Seuß und Walter Kögler

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen

 

Titel der italienischen Originalausgabe:

»Una lama di luce«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2012 by Sellerio Editore, via Siracusa 50, Palermo

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotiv: © Mauritius Images/Urs Flüeler

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-3946-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Eins

Schon seit den frühen Morgenstunden war das Wetter wechselhaft und unbeständig. Montalbano würde sich diesem Einfluss kaum entziehen können und an diesem Vormittag zumindest launisch sein. Daher war es das Beste, anderen Menschen möglichst aus dem Weg zu gehen.

Im Lauf der Jahre war er immer wetterfühliger geworden, wie ein Greis, der die steigende oder sinkende Luftfeuchtigkeit in den Knochen spürt. Auch fiel es ihm zunehmend schwer, sich zu beherrschen und überbordende Hochgefühle oder abgründige Schwermut vor anderen zu verbergen.

Während der kurzen Fahrt von seinem Haus in Marinella bis zur Contrada Casuzza – fünfzehn Kilometer auf holprigen Feldwegen, die eher für Kettenfahrzeuge als für Pkws geeignet waren, und auf Sträßchen, die kaum breiter waren als ein Auto – hatte der Himmel seine Farbe von Blassrosa zu Grau und von Grau zu Blassblau verändert. Jetzt zeigte er sich in einem diesigen Weiß, das die Konturen der Landschaft verschwimmen ließ und die Sicht trübte.

Der Anruf hatte den Commissario um acht Uhr morgens erreicht, als er gerade aus der Dusche stieg. Er war spät aufgestanden, weil er ausnahmsweise einmal nicht ins Büro musste.

Seine Stimmung sank. Mit einem Anruf hatte er überhaupt nicht gerechnet. Wer wollte ihm da unbedingt auf den Sack gehen?

Es war ein besonderer Tag für Vigàta, und mit Ausnahme des Telefonisten sollte eigentlich niemand im Kommissariat sein.

Ein besonderer Tag insofern, als der Herr Innenminister vor Ort war. Er hatte die Insel Lampedusa besucht, deren Aufnahmezentren (man genierte sich tatsächlich nicht, die Flüchtlingslager so zu nennen!) nicht einmal mehr für einen vier Wochen alten Säugling Platz hatten. Sardinen in der Dose hatten mehr Bewegungsfreiheit. Und jetzt wollte er sich auch noch die Notunterkünfte in Vigàta ansehen, die gleichfalls so brechend voll waren, dass diese armen Geschöpfe auf dem Boden schlafen und ihre Notdurft im Freien verrichten mussten.

Aus diesem Grund hatte der Signori e Questori Bonetti-Alderighi die allgemeine Mobilmachung des Polizeipräsidiums Montelusa und des Kommissariats Vigàta angeordnet. Die Polizeibeamten sollten die Straßen absperren, die der hohe Staatsvertreter nehmen würde, und dafür sorgen, dass er keine Pfiffe, Buhrufe und Beschimpfungen (hochsprachlich Protestkundgebungen genannt), sondern nur den Applaus von ein paar Hungerleidern zu hören bekam, die man eigens dafür herangekarrt und bezahlt hatte.

Ohne das geringste Zögern hatte Montalbano die ganze Angelegenheit seinem Vize Mimì Augello übertragen und die Gelegenheit genutzt, einen Tag frei zu nehmen. Allein wenn Montalbano den Signori e Ministro im Fernsehen sah, geriet sein Blut in Wallung. Kaum auszudenken, was passierte, wenn er ihm persönlich selber begegnen würde.

Dabei hegte der Commissario insgeheim die Hoffnung, dass es in der Stadt und im Umland von Vigàta an diesem Tag – aus gebotenem Respekt vor einem Regierungsvertreter – weder zu einem Mord noch sonst einer Straftat käme. Die Kriminellen würden doch wohl genügend Takt und Feingefühl aufbringen, diesen Freudentag nicht zu verderben.

Wer also konnte der Anrufer sein?

Montalbano beschloss, das Klingeln zu ignorieren, aber nachdem das Telefon kurz verstummt war, fing es wieder an zu läuten.

Und wenn es Livia war, die ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hatte? Nein, es half nichts, er musste das Gespräch annehmen.

»Pronti, dottori? Catarella sum.«

Montalbano war baff. Catarella sprach Latein? War die Welt jetzt völlig aus den Fugen geraten? Nahte das Ende aller Zeiten? Er hatte sich bestimmt verhört.

»Was hast du gesagt?«

»Catarella hier, Dottori.«

Er atmete erleichtert auf. Die Welt war wieder in Ordnung.

»Was gibt’s?«

»Dottori, ich muss Sie als Allererstigstes warnen, dass es sich um eine langatmige und komplexierte Geschichte handelt.«

Montalbano angelte sich mit dem Fuß einen Stuhl und ließ sich darauf nieder.

»Dann lass mal hören.«

»Also, es ist nämlich so: Heute Morgen unterstellte sich der Unterzeichnete zu Diensten von Dottori Augello, insofern als man nämlich die Landung des Huppschraubers erwartete, der den Signore e Ministro …«

»Ist er schon da?«

»Das weiß ich nicht, Dottori. Ich bin den genauen Umständen entsprechend unkenntlich.«

»Und warum?«

»Ich bin insofern unkenntlich, als ich mich nicht vor Ort befinde.«

»Wo bist du denn?«

»Ich befinde mich an einem anderen Ort, in der Contrada Casuzza, Dottori, da wo der alte Bahnübergang ist, auf der Höhe von …«

»Ich weiß, wo die Contrada Casuzza ist. Willst du mir nicht endlich sagen, was du dort machst?«

»Dottori, ich bitte um Verständlichkeit und Vergabe, aber wenn Sie mich ununterbrochen unterbrechen, kann ich nicht …«

»Pardon, red weiter.«

»Also. Irgendwann hat selbiger Dottori Augello einen Anruf aus unserer Telefonzentrale bekommen, wo mich der Kollege Filippazzo Michele vertritt, insofern als sich selbiger das Bein verstaucht hat und nun den Dienst versieht …«

»Entschuldige, welcher selbige? Dottor Augello oder Filippazzo?«

Er zitterte bei dem Gedanken, dass Mimì krankheitsbedingt außer Gefecht gesetzt war und deshalb er, Montalbano, den Minister empfangen musste.

»Filippazzo, Dottori. Welchiger keinen aktivischen Dienst leisten konnte und den Anruf an Fazio durchgestellt hat. Und als Fazio den nämlichen Anruf entgegengenommen hatte, hat er zu mir gesagt, ich soll den Anflug des Huppschraubers sausen lassen und unverzüglich gleich zur Contrada Casuzza aufbrechen. Wobei nämliche …«

Montalbano wurde klar, dass es den halben Vormittag dauern würde, bis er ein genaues Bild hatte.

»Hör zu, Catarè, wir machen es so: Ich informiere mich über diese Geschichte und melde mich in fünf Minuten wieder.«

»Soll ich auflegen?«

»Ja, leg auf.«

Fazio ging sofort ran.

»Ist der Minister schon da?«

»Noch nicht.«

»Catarella hat mich gerade angerufen und eine Viertelstunde geredet, aber ich hab nicht kapiert, was los ist.«

»Dottore, Folgendes ist passiert: Ein Bauer hat angerufen, weil er auf seinem Acker einen Sarg gefunden hat.«

»Leer oder voll?«

»Das hab ich nicht genau verstanden. Die Verbindung war ziemlich schlecht.«

»Und warum hast du Catarella hingeschickt?«

»Es schien mir keine große Sache zu sein.«

Er dankte Fazio und rief Catarella zurück.

»Ist der Sarg leer oder voll?«

»Dottori, auf dem vorgenannten Sarg ist ein Deckel, und daher ist infolgedessen der Inhalt des besagten Sarges unsichtbar.«

»Du hast also gar nicht reingeschaut?«

»Nein, Dottori, insofern weil ich in Ermangelung eines Befehls war, den Deckel des besagten Sarges hochzuheben. Wenn Sie mir befehlen, dass ich ihn öffnen soll, dann öffne ich ihn. Aber es ist nicht nötig.«

»Warum denn nicht?«

»Weil der Sarg nicht leer ist.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das weiß ich, weil der Bauer, welchiger der Eigentümer von dem Acker ist, auf dem sich der besagte Sarg befindet, und welchiger Annibale Lococo heißt, Sohn des verstorbenen Giuseppe, welchiger hier neben mir steht, den Deckel so weit angehoben hat, dass es für die Einsicht reichte, dass der Sarg besetzt ist.«

»Besetzt von wem?«

»Von der Leiche eines gestorbenen Toten, Dottori.«

Die Geschichte war also keineswegs eine Kleinigkeit, wie Fazio geglaubt hatte.

»Na gut, warte auf mich.«

Fluchend war er in sein Auto gestiegen und losgefahren.

Der Sarg war für ein Begräbnis dritter Klasse bestimmt, für einen ganz armen Schlucker. Er war von billigster Machart, aus grobem Holz gezimmert und unlackiert.

Unter dem leicht verschobenen Deckel schaute ein Stück weißes Leinen hervor.

Montalbano beugte sich hinunter. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zog er es etwas weiter heraus. Der Stoff war mit den ineinander verschlungenen Buchstaben B und A bestickt.

Annibale Lococo, ein hagerer Fünfzigjähriger mit sonnenverbrannter Haut, saß mit einem Gewehr über der Schulter auf dem Fußende des Sargs und rauchte eine halbe Toscano-Zigarre.

Catarella stand in strammer Haltung einen Schritt entfernt. Vor Aufregung, zusammen mit dem Commissario Ermittlungen führen zu dürfen, hatte es ihm die Sprache verschlagen.

Die Landschaft war öde und karg, der Boden steinig. Nur hier und da gab es ein paar Bäume, die seit Menschengedenken keinen Tropfen Wasser gesehen hatten, einige Büschel Mohrenhirse und aufgeschossenes Unkraut. Tausend Meter entfernt stand ein verlassenes Häuschen, dem die Gegend vermutlich ihren Namen verdankte.

Unweit des Sargs, auf der staubtrockenen Erde, waren die Reifenspuren eines Lieferwagens und die Fußspuren zweier Personen zu erkennen.

»Ist das Ihr Acker?«, fragte Montalbano den Bauer.

»Acker? Welcher Acker?« Lococo sah ihn verwundert an.

»Der hier, auf dem wir stehen.«

»Das nennen Sie Acker?«

»Was bauen Sie hier an?«

Bevor der Bauer antwortete, warf er dem Commissario erneut einen Blick zu, nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Dann nahm er die halbe Toscano aus dem Mund, spuckte verächtlich aus und steckte sie sich wieder zwischen die Zähne.

»Nichts. Was zum Teufel soll man hier anbauen? Hier wächst nichts. Dieser Boden ist verflucht. Ich komm nur zum Jagen her, hier gibt’s jede Menge Hasen.«

»Und Sie haben den Sarg entdeckt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Heute Morgen gegen halb sieben. Ich hab euch sofort übers Handy verständigt.«

»Sind Sie gestern Abend auch hier vorbeigekommen?«

»Nein, ich war drei Tage nicht hier.«

»Dann wissen Sie also nicht, wann der Sarg hier abgestellt wurde?«

»Richtig.«

»Haben Sie reingeschaut?«

»Klar. Hätten Sie’s nicht getan? Ich war neugierig. Ich hab gesehen, dass der Deckel nicht verschraubt war, und ihn ein Stück angehoben. Da ist eine Leiche drin, eingewickelt in ein Tuch.«

»Jetzt mal ehrlich: Haben Sie das Tuch gehoben, um nachzusehen, wer es ist?«

»Ja.«

»Mann oder Frau?«

»Ein Mann.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nie gesehen.«

»Haben Sie eine Idee, warum man den Toten ausgerechnet auf Ihrem Acker abgestellt hat?«

»Wenn ich so viel Phantasie hätte, würde ich Romane schreiben.«

Das klang überzeugend.

»Also gut. Stehen Sie bitte auf. Catarella, heb den Deckel hoch.«

Catarella kniete sich neben den Sarg und hob den Deckel ein wenig an.

Dann drehte er ruckartig den Kopf weg und verzog das Gesicht.

»Iam fetet«, sagte er, an den Commissario gewandt.

Montalbano wich verblüfft einen Schritt zurück. Dann stimmte es also doch! Er hatte sich nicht getäuscht! Catarella sprach Lateinisch!

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt, er stinkt schon.«

O nein! Dieses Mal hatte er es klar und deutlich gehört! Ein Irrtum war ausgeschlossen.

»Willst du mich verarschen!«, platzte es aus ihm heraus, mit einer Heftigkeit, die ihn selbst erschreckte.

Zur Antwort fing in der Ferne ein Hund an zu bellen.

Catarella ließ den Deckel fallen und richtete sich kerzengerade auf. Sein Gesicht war puterrot.

»Ich? Sie? Aber wie kommen Sie denn darauf? Ich würde es niemals wagen, Sie …«

Die Stimme versagte ihm. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in den Händen und fing an zu jammern.

»O me miserum! O me infelicem!«

Montalbano, schon ordentlich in Fahrt, verlor jetzt vollends die Beherrschung. Er stürzte sich auf Catarella, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn wie einen Birnbaum mit erntereifen Früchten.

»Mala tempora currunt!«, warf Lococo philosophisch ein und zog an seiner Zigarre.

Montalbano hielt mitten in der Bewegung inne. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren.

Fing dieser Lococo jetzt auch noch an, Latein zu sprechen? Hatte er einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht, ohne es zu merken? Aber warum trugen sie dann statt Tuniken oder Togen alle drei moderne Kleidung?

In dem Moment öffnete sich der Sargdeckel, krachte scheppernd zu Boden, und der wie eine Mumie eingewickelte Tote richtete sich ganz langsam auf.

»Montalbano, haben Sie denn gar keinen Respekt vor den Toten?«, fragte er sichtlich aufgebracht, während er das Tuch abnahm, sodass man das Gesicht erkennen konnte.

Es war der Signori e Questori Bonetti-Alderighi.

Montalbano blieb lange liegen und sann über den Traum nach, der ihn ziemlich mitgenommen hatte.

Nicht weil der Tote sich als Bonetti-Alderighi entpuppt hatte oder weil Catarella und Lococo angefangen hatten, Latein zu sprechen, sondern weil es ein verräterischer, ein trügerischer Traum war. Einer jener Träume, bei denen der Gang der Ereignisse einer strengen Logik und plausiblen Chronologie folgt und jedes Detail so stimmig ist, dass man zunehmend das Gefühl gewinnt, es sei gar kein Traum, sondern Wirklichkeit. Einer jener Träume, in denen die Grenzen zur Realität immer mehr verschwimmen. Zum Glück entbehrte das Ende der Geschichte jeglicher Logik, sonst hätte er nach einiger Zeit wirklich nicht mehr gewusst, ob das alles real oder nur geträumt war.

Dabei entsprach nichts in dem Traum der Wirklichkeit, nicht einmal der Besuch des Ministers.

Und infolgedessen hatte Montalbano heute bedauerlicherweise nicht frei, sondern einen ganz normalen Arbeitstag.

Er stand auf und öffnete das Fenster.

Vom Meer zogen graue, gleichförmige Wolken auf, die den blauen Himmel langsam verdunkelten.

Als Montalbano aus der Dusche stieg, klingelte das Telefon. Er rannte los, ohne sich abzutrocknen, und tropfte den Fußboden voll.

Fazio war am Apparat.

»Dottori, entschuldigen Sie die Störung, aber …«

»Was gibt’s?«

»Der Polizeipräsident hat gerade angerufen. Eine Eilmeldung. Es geht um den Innenminister.«

»Ist der denn nicht in Lampedusa?«

»Doch doch, aber offenbar möchte er die Notunterkünfte in Vigàta besuchen. Er landet in zwei Stunden mit dem Hubschrauber.«

»Das hat gerade noch gefehlt!«

»Warten Sie. Der Questore hat das gesamte Kommissariat dem Befehl seines Stellvertreters Signorino unterstellt, und der wird in einer Viertelstunde hier eintreffen. Das wollte ich Ihnen sagen.«

Montalbano stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Danke.«

»Sie haben natürlich nicht die Absicht, sich blicken zu lassen.«

»Dreimal darfst du raten.«

»Und was sag ich Signorino?«

»Dass ich mit Grippe im Bett liege und mich entschuldige. Hochachtungsvoll und mit freundlichen Grüßen. Sobald der Minister weg ist, rufst du mich in Marinella an.«

Dann war die Geschichte von der Ankunft des Ministers also doch wahr.

Ob der Traum prophetisch war? Würde der Signori e Questori bald in einem Sarg liegen?

Nein, das war vermutlich eine rein zufällige Übereinstimmung. Eine weitere würde es nicht geben, denn es war völlig undenkbar, dass Catarella anfing, Latein zu sprechen.

Erneut klingelte das Telefon.

»Pronto?«

»Verzeihung, ich habe mich verwählt«, hörte er eine weibliche Stimme, dann war das Gespräch beendet.

Aber das war doch Livia! Warum hatte sie gesagt, sie habe sich verwählt? Er gab ihre Nummer ein.

»Was ist denn mit dir los?«

»Wieso fragst du das?«

»Na hör mal. Du wählst meine Nummer, ich gehe ran, und dann sagst du, du hast dich verwählt, und beendest das Gespräch.«

»Ah, dann warst du es also doch?«

»Klar war ich es!«

»Ich war so sicher, dass du nicht zu Hause bist, dass ich … Apropos, wieso bist du eigentlich noch in Marinella? Bist du krank?«

»Es geht mir blendend! Versuch bloß nicht abzulenken!«

»Von was sollte ich ablenken wollen?«

»Von der Tatsache, dass du meine Stimme nicht erkannt hast. Oder findest du es etwa normal, dass du nach all den Jahren …«

»Die drücken dich, hm?«

»Was drückt mich?«

»Die Jahre, die wir schon zusammen sind.«

Sie gerieten sich ziemlich in die Haare und stritten sich über eine Viertelstunde.

Montalbano vertrödelte eine weitere halbe Stunde damit, in der Unterhose durchs Haus zu schleichen. Dann kam Adelina, die bei seinem Anblick erschrak.

»Maria! Dottori, was ist passiert? Sind Sie krank?«

»Adelì, jetzt fang du nicht auch noch an! Keine Sorge, ich bin kerngesund. Und weißt du was? Heute esse ich zu Mittag hier. Was kochst du mir Gutes?«

Adelina lächelte.

»Was sagen Sie zu einer schönen Pasta ’ncasciata?«

»Klingt phantastisch, Adelì.«

»Und danach drei oder vier knusprig gebratene Barben?«

»Sagen wir fünf und lassen es gut sein.«

Der Himmel auf Erden.

Eine Stunde später stiegen paradiesische Düfte aus der Küche in seine Nase, und ihm war klar, dass er dieser Verführung nicht lange standhalten würde. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er spürte ein solches Loch im Bauch, dass er beschloss, einen langen Strandspaziergang zu machen.

Als er zwei Stunden später zurückkehrte, teilte Adelina ihm mit, Fazio habe angerufen. Der Minister hatte seinen Plan geändert und war ohne einen Zwischenstopp in Vigàta nach Rom zurückgefahren.

Montalbano kam gegen vier im Kommissariat an, ein Lächeln auf den Lippen, mit sich und der Welt im Reinen. Dieses Wunder hatte der Makkaroni-Auberginen-Auflauf bewirkt.

Er blieb kurz bei Catarella stehen, der sofort die Hacken zusammenschlug.

»Catarè, verrat mir eins.«

»Zu Befehl, Dottori.«

»Wie steht es mit deinem Latein?«

»Gut, Dottori.«

Montalbano war perplex. Er hatte immer gedacht, Catarella hätte mit Müh und Not die Hauptschule geschafft.

»Hast du Latein gelernt?«

»Gelernt im Sinne von lernen nicht, aber ich schlag mich so durch.«

Der Commissario kam aus dem Staunen nicht heraus.

»Wie das?«

»Na ja, wenn ich mit meinem Latein am Ende bin, dann frag ich jemanden, der mir weiterhelfen kann.«

Das Lächeln kehrte auf Montalbanos Lippen zurück. Die Welt war wieder in Ordnung.

Zwei

Auf seinem Schreibtisch lag der übliche Stapel Dokumente, die seiner Unterschrift harrten. Unter den persönlichen Briefen war eine Einladung für Dottor Salvo Montalbano zur Eröffnung der Kunstgalerie Il piccolo porto. Gezeigt wurde Malerei des 20. Jahrhunderts, die ihm besonders gefiel, aber der Brief kam zu spät, die Eröffnung hatte am Vortag stattgefunden.

Es war die erste Kunstgalerie in Vigàta überhaupt. Der Commissario steckte die Einladung in seine Jackentasche, er hatte die Absicht, die Ausstellung zu besuchen.

Nach einer Weile kam Fazio herein.

»Neuigkeiten?«

»Keine. Aber fast hätte es eine gegeben, und die hätte es in sich gehabt.«

»Inwiefern?«

»Wenn der Minister nicht seinen Plan geändert und Vigàta doch mit seinem Besuch beehrt hätte, wäre das womöglich in die Hose gegangen.«

»Und warum?«

»Weil die Flüchtlinge einen massiven Protest organisiert haben.«

»Wann hast du davon erfahren?«

»Kurz bevor Dottor Signorino eingetroffen ist.«

»Hast du es ihm gesagt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Dottor Signorino hat uns antreten lassen und uns ermahnt, einen kühlen Kopf zu bewahren und bloß nicht in Alarmismus zu verfallen. Vor den vielen Fernsehkameras und Journalisten sollten wir den Eindruck erwecken, wir hätten alles im Griff. Und da bekam ich Zweifel, ob ich ihm wirklich sagen soll, was mir zu Ohren gekommen war. Womöglich hätte er mir Panikmache vorgeworfen. Also hab ich unseren Leuten eingeschärft, Augen und Ohren offen zu halten und gegebenenfalls einzuschreiten. Mehr nicht.«

»Das hast du gut gemacht.«

Mimì Augello kam aufgeregt herein.

»Salvo, ich habe gerade einen Anruf aus Montelusa erhalten.«

»Und?«

»Vor zwei Stunden wurde Bonetti-Alderighi ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Tatsächlich? Und warum?«

»Plötzliche Übelkeit. Anscheinend das Herz.«

»Ist es denn ernst?«

»Das konnte man mir nicht sagen.«

»Erkundige dich und gib mir dann Bescheid.«

Augello verschwand. Fazio fixierte den Commissario mit dem Blick.

»Dottore, was ist?«

»Wieso fragst du das?«

»Als Dottor Augello mit der Nachricht kam, sind Sie ganz blass geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen das so nahegeht.«

Konnte Montalbano ihm sagen, dass er für einen kurzen Moment Bonetti-Alderighi in einem Sarg hatte liegen sehen, den Kopf mit einem Tuch umwickelt, wie in seinem Traum?

Er reagierte mit gespielter Entrüstung.

»Selbstverständlich geht mir das nahe! Wir sind doch hier unter Menschen, oder? Was sind wir denn, Tiere?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Fazio.

Sie schwiegen, bis nach einer Weile Augello zurückkehrte.

»Gute Nachrichten. Es ist nicht das Herz und auch sonst nichts Ernstes. Nur Verdauungsbeschwerden. Heute Abend wird er entlassen.«

Montalbano verspürte ein aufrichtiges Gefühl der Erleichterung. Sein Traum war also keine Vorahnung kommender Ereignisse gewesen.

In der Kunstgalerie, die genau in der Mitte des Corso lag, war kein einziger Besucher. Montalbano freute sich, denn so konnte er die Gemälde in aller Ruhe betrachten. Fünfzehn Bilder von fünfzehn Malern, darunter Mafai, Guttuso und Donghi, aber auch Pirandello, Morandi und Birolli. Alles vom Feinsten.

Aus einer kleinen Tür, hinter der sich vermutlich das Büro befand, trat eine elegante Frau Anfang vierzig in einem Etuikleid. Sie war groß, hatte wohlgeformte Beine, ausdrucksvolle Augen, hohe Wangenknochen und lange pechschwarze Haare. Man konnte sie für eine Brasilianerin halten.

Lächelnd kam sie auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Sie sind Commissario Montalbano, richtig? Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Mariangela De Rosa, für meine Freunde Marian. Ich bin die Galeristin.«

Montalbano mochte sie auf Anhieb. Das passierte nicht oft, aber es kam vor.

»Gratuliere. Schöne Bilder.«

Marian lachte.

»Zu schön und zu teuer für die Vigateser.«

»In der Tat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine Galerie wie diese hier in Vigàta …«

»Commissario, ich bin keine Anfängerin. Ich weiß, was ich tue. Diese Ausstellung ist nur ein Lockmittel. Demnächst werde ich Kupferstiche zeigen, qualitativ hochwertige natürlich, die erschwinglicher sind.«

»Dann kann ich Ihnen nur viel Erfolg wünschen.«

»Danke. Darf ich fragen, ob es ein Bild gibt, das Ihnen besonders gut gefällt?«

»Ja, aber wenn das ein Versuch ist, mich zum Kauf zu überreden, verschwenden Sie Ihre Zeit. Ich bin nicht in der Lage …«

Marian lachte.

»Meine Frage ist nicht ganz uneigennützig, das stimmt, aber in erster Linie geht es mir darum, Sie besser kennenzulernen. Ich glaube, dass man viel von einem Menschen verstanden hat, wenn man weiß, welche Maler er mag und welche Bücher er liest.«

»Ich kannte einen Mafioso, der vierzig Morde auf dem Gewissen hatte und vor einem Gemälde van Goghs in Tränen ausbrach.«

»Seien Sie nicht ungnädig, Commissario. Wollen Sie nicht meine Frage beantworten?«

»Na gut. Das Gemälde von Donghi und das von Pirandello. Sie gefallen mir beide gleich gut, ich kann mich nicht entscheiden.«

Marian sah ihn an, dann schloss sie ihre funkelnden Augen.

»Sie sind ein Kenner.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich bin kein Kenner, aber ein bisschen Ahnung habe ich schon.«

»Da untertreiben Sie ganz sicher. Geben Sie zu, Sie haben ein paar Bilder zu Hause.«

»Ja, aber nichts von Bedeutung.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, ich lebe allein.«

»Laden Sie mich dann einmal zu sich ein und zeigen mir Ihre Schätze?«

»Gern. Und Sie?«

»Was?«

»Sind Sie verheiratet?«

Marian verzog ihren schönen roten Mund.

»Das war ich bis vor fünf Jahren.«

»Und was hat Sie ausgerechnet nach Vigàta verschlagen?«

»Ich stamme aus Vigàta! Meine Eltern sind nach Mailand gezogen, als ich zwei und mein Bruder Enrico vier Jahre alt war. Enrico ist ein paar Jahre nach seinem Universitätsabschluss hierher zurückgekehrt. Ihm gehört die Salzmine bei Sicudiana.«

»Und Sie, warum sind Sie zurückgekehrt?«

»Weil Enrico und seine Frau mich dazu gedrängt haben … Es war eine schwere Zeit für mich, nachdem mein Mann …«

»Sie haben keine Kinder?«

»Nein.«

»Und wie sind Sie auf die Idee gekommen, in Vigàta eine Kunstgalerie zu eröffnen?«

»Um etwas zu machen. Ich habe viel Erfahrung auf dem Gebiet, wissen Sie. Ich hatte zwei Galerien, kleine Galerien, eine in Mailand und eine in Brescia.«

Ein Mann und eine Frau um die fünfzig traten ein. Sie schauten sich zögernd und unsicher um, als befürchteten sie, in einen Hinterhalt gelockt zu werden.

»Was kostet es?«, fragte der Mann auf der Türschwelle.

»Der Eintritt ist frei«, sagte Marian.

Der Mann murmelte seiner Frau etwas ins Ohr, sie murmelte etwas zurück. Und dann sagte der Mann:

»Bonasira.«

Das Paar drehte sich um und verschwand. Montalbano und Marian mussten lachen.

Als eine halbe Stunde später auch Montalbano die Galerie verließ, hatte er sich mit Marian für den nächsten Abend zum Essen verabredet.

Es war ein warmer Abend, deshalb deckte er den Tisch auf der Veranda und ließ sich die Pasta ’ncasciata schmecken, die vom Mittagessen übrig war. Dann zündete er sich eine Zigarette an und ließ den Blick übers Meer schweifen.

Nach dem Streit am Morgen würde Livia bestimmt nicht anrufen. Sie würde mindestens vierundzwanzig Stunden verstreichen lassen, um ihn ihren Ärger spüren zu lassen.

Montalbano hatte weder Lust zu lesen noch fernzusehen. Er wollte einfach nur dasitzen, ohne an etwas zu denken.

Ein aussichtloses Unterfangen, denn der Geist sträubt sich dagegen, an nichts zu denken, sondern wartet mit hunderttausend Gedanken auf, einem nach dem anderen. Wie bei einem Feuerwerk.

Der Traum mit dem Sarg. Die auf das Leichentuch gestickten Initialen Bonetti-Alderighis. Das Gemälde von Donghi. Catarella, der Latein gesprochen, und Livia, die seine Stimme nicht erkannt hatte. Das Gemälde von Pirandello. Marian.

Apropos Marian.

Warum hatte er sofort Ja gesagt, als sie ihm den Vorschlag machte, zusammen essen zu gehen? Vor zwanzig Jahren hätte er völlig anders reagiert. Er hätte abgelehnt, und zwar auf ziemlich unfeine Art.

Vielleicht weil es ihm schwerfiel, eine so schöne und elegante Frau zurückzuweisen. Aber hatte er in seinem Leben nicht schon häufiger Frauen einen Korb gegeben, auch schöneren Frauen als Marian?

Das konnte nur eines bedeuten: Mit dem Alter hatte sich sein Charakter verändert. Die tiefe Wahrheit jedoch lautete, dass er mit den Jahren zunehmend Einsamkeit verspürte, den Verdruss der Einsamkeit, die Bitternis der Einsamkeit.

Wenn er an manchen Abenden so lange auf der Veranda sitzen blieb, rauchte und Whisky trank, dann nicht, weil er nicht schlafen konnte, sondern weil er keine Lust hatte, allein im Bett zu liegen.

Gern hätte er Livia an seiner Seite gehabt, und wenn nicht Livia, dann eine andere schöne Frau.

Das Merkwürdige an diesem Verlangen war, dass es nicht das Geringste mit Sex zu tun hatte. Er wollte nur die Wärme eines anderen Körpers neben sich spüren. Ihm fiel der Titel eines Films ein, der dieses Verlangen treffend zum Ausdruck brachte: Volevo solo dormirle addosso, ich wollte mich nur an sie schmiegen.

Er hatte nicht einmal Freunde, die diesen Namen wirklich verdienten. Freunde, denen man sich anvertrauen, mit denen man seine geheimsten Gedanken teilen konnte … Gewiss, Fazio und Augello waren Freunde, aber doch in einem ganz anderen Sinn.

Traurig blieb er auf der Veranda sitzen und trank die Flasche Whisky leer.

Von Zeit zu Zeit dämmerte er weg, wachte aber jede Viertelstunde auf.

Dabei wurde er immer wehmütiger, und immer schmerzlicher wurde das Gefühl, im Leben alles falsch gemacht zu haben.

Wenn er Livia zur rechten Zeit geheiratet hätte …

Nein, jetzt bloß keine Bilanz ziehen.

Hätte er Livia geheiratet, hätten sie sich nach ein paar Jahren wieder getrennt, das war so sicher wie der Tod.

Er kannte sich und wusste nur zu gut, dass er weder bereit noch imstande gewesen wäre, sich einem anderen Menschen anzupassen, nicht einmal einer Frau, die er so sehr liebte wie Livia.

Weder Liebe noch Leidenschaft, nichts wäre so stark gewesen, dass sie es lange miteinander ausgehalten hätten.

Es sei denn …

Es sei denn, sie hätten François adoptiert, wie Livia es sich gewünscht hatte.

François!

Die Sache mit François war ein Fiasko gewesen. Der Junge hatte keinen unerheblichen Anteil daran, dass es zwischen ihnen immer schwieriger wurde, aber er und Livia hatten es einander auch nicht leicht gemacht.

1996 hatten sie einen zehnjährigen tunesischen Waisenjungen vorübergehend bei sich aufgenommen. Er hieß François, und sie schlossen ihn so sehr ins Herz, dass Livia vorschlug, ihn zu adoptieren. Doch Montalbano konnte sich nicht dazu durchringen, und so landete der Junge schließlich auf dem Bauernhof von Mimì Augellos Schwester, wo er wie ein Sohn behandelt wurde.

Im Rückblick betrachtet war das vielleicht ein Fehler gewesen.

Sie hatten damals vereinbart, dass er für den Lebensunterhalt des Jungen aufkommen und Augellos Schwester monatlich einen bestimmten Geldbetrag überweisen würde. Er hatte in der Bank einen Dauerauftrag eingerichtet, der über Jahre lief.

Doch je älter François wurde, desto mehr kam sein schwieriger Charakter zum Tragen. Er neigte zu Handgreiflichkeiten und war ungehorsam, mit nichts zufrieden und immer missmutig. Lernen wollte er nicht, dabei war er äußerst intelligent. In der ersten Zeit hatten Montalbano und Livia den Jungen regelmäßig besucht, später immer seltener und irgendwann gar nicht mehr. François wiederum hatte sich geweigert, Livia in Vigàta zu besuchen, wenn sie ein paar Tage aus Boccadasse gekommen war.

Es war offenkundig, dass er unter seiner Situation litt und sich vielleicht sogar verstoßen fühlte, als sie ihn nicht adoptierten. Ein paar Tage nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag teilte Mimì Augello dem Commissario mit, dass der Junge abgehauen war.

Sie suchten ihn überall, aber er blieb wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich gaben sie auf.

Jetzt war er fünfundzwanzig. Weiß der Himmel, wohin es ihn verschlagen hatte.

Aber was nützte es, in der Vergangenheit herumzustochern? Die Sache war nun einmal schiefgelaufen und nicht wiedergutzumachen.

Während er so über François nachdachte, bekam er einen Kloß im Hals, den er mit dem letzten Drittel Whisky im Glas hinunterspülte.

Im Morgengrauen entdeckte er am Horizont einen stattlichen Dreimaster, der auf den Hafen zusteuerte.

Da beschloss er, endlich schlafen zu gehen.

Beim Aufwachen wusste er sofort, dass dies nicht sein Tag war. Verdrießlich öffnete er das Fenster. Wie zur Bestätigung war der Himmel dunkel und mit grauen Wolken überzogen.

Catarella passte ihn ab, als er das Kommissariat betrat.

»Dottori, verzeihen Sie, aber da wartet ein Signore.«

»Was will er?«

»Er will eine tätliche Anzeige wegen einem bewaffneten Raubüberfall erstatten.«

»Ist Augello denn nicht da?«

»Er hat angerufen, dass er später kommt.«

»Und Fazio?«

»Fazio ist zur Contrada Casuzza gefahren.«

»Hat man schon wieder einen Sarg gefunden?«

Catarella sah ihn mit großen Augen an.

»Nein, Dottori, aber zwei Jäger sind sich ganz fürchterlich ins Gehege gekommen, und einer von den beiden, ich weiß nicht, ob der erste oder der zweite, hat auf den anderen geschossen, und infolgedessen kann ich auch nicht sagen, ob der erste oder der zweite einen Streifschuss am Bein abbekommen hat.«

»Na gut. Wie hast du gesagt, heißt dieser Signore?«

»Ich weiß es nicht mehr genau, Dottori. Entweder di Maria oder di Maddalena, eines von beiden.«

»Ich heiße di Marta. Salvatore di Marta«, sagte der Mann, ein glatzköpfiger, perfekt rasierter, gut gekleideter und parfümierter Fünfzigjähriger.

Martha, Maria und Magdalena, die drei Frauen unterm Kreuz. Catarella hatte danebengelegen, wie üblich, aber er war der Sache ziemlich nahegekommen.

»Nehmen Sie Platz, Signor di Marta. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Ich möchte einen Raubüberfall zur Anzeige bringen, einen bewaffneten Raubüberfall.«

»Schildern Sie mir den genauen Hergang.«

»Gestern Abend war meine Frau Loredana kurz nach Mitternacht auf dem Weg nach Hause …«

»Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche. Wurden Sie überfallen oder Ihre Frau?«

»Meine Frau.«

»Und warum ist sie nicht selbst gekommen, um Anzeige zu erstatten?«