Die Staatssicherheit und die Grünen - Jens Gieseke - E-Book

Die Staatssicherheit und die Grünen E-Book

Jens Gieseke

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Beschreibung

Als die Grünen 1980 die politische Bühne betraten, waren Aktivistinnen wie Petra Kelly für die DDR zunächst umworbene Partner in der Friedensbewegung. Doch als Verfechter eines blockübergreifenden Politikansatzes wurden die Grünen mit ihren Wahlerfolgen im Westen zunehmend unbequem. Die DDR-Führung versuchte, gegen die grüne Doppelstrategie von offiziellem Dialog mit den SED-Oberen und Basiskontakten zur Unterstützung der DDR-Opposition geheimdienstlich vorzugehen.
Die vorliegende Studie ordnet das Vorgehen der Staatssicherheit in den Kontext der SED-Westpolitik ein, beschreibt die Informationslieferungen über die Grünen an die SED-Führung und behandelt die vielfältigen Versuche, die grünen Aktivisten geheimdienstlich unter Kontrolle zu bringen. Jens Gieseke und Andrea Bahr untersuchen zugleich die Anfälligkeit einzelner grüner Politiker für kommunistische Einflüsse.

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Jens Gieseke, Andrea Bahr

Die Staatssicherheit und die Grünen

JENS GIESEKE, ANDREA BAHR

Die Staatssicherheitund die Grünen

Zwischen SED-Westpolitikund Ost-West-Kontakten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2016

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2016

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos vom Treffen grüner Bundestagsabgeordneter mit SED-Chef Erich Honecker am 31. Oktober 1983 in Ost-Berlin (Renate Mohr/Petra-Kelly-Archiv)

eISBN 978-3-86284-359-6

Inhalt

Vorwort des Bundesvorstandes von Bündnis 90 / Die Grünen

I.

Einleitung

 

Fragestellung

 

Vorgehensweise

 

Quellenlage und Methodenprobleme

 

Zu rechtlichen Fragen der Darstellung

 

Forschungsstand

 

Danksagung

II.

Die SED, das MfS und die Grünen: Eine politische Geschichte 1979–1989

II.1.

Eine neue Partei: Störfaktor oder Bündnispartner? (1979–1983)

 

Die Grünen in der Friedensbewegung

 

Bruch der Koalition und Neuwahlen 1982/83 – Die Grünen werden wichtig

 

»Alexanderplatzaktion« und Honecker-Treffen (Mai–November 1983)

II.2.

SED-Dialogpolitik und grüne Doppelstrategie (Ende 1983 – Herbst 1987)

 

Scheitern der Friedensbewegung, Verhaftungen, scharfe Abgrenzung

 

Honeckers »Koalition der Vernunft« und die Grünen

 

DDR-Anerkennung und grüner Antirevisionismus – Die SED-Politik der positiven Stärkung 1984–1987

 

Die Aufhebung des Einreiseverbots und die Paradoxien der Dialogpolitik

 

Das MfS nach der Aufhebung der Einreisesperre

II.3.

Die Grünen im deutsch-deutschen Kommunikationsraum (1984–1987)

 

»Wir sind grüner Ast an einem grünen Baum« – Die sehr kurze Geschichte der Sektion DDR der Grünen

 

Die grünen Ost-West-Aktivisten im Netzwerk der DDR-Opposition

 

Jenseits von DDR-Freunden und Ost-West-Aktivisten – Mittelströmung, Partei-Mainstream, Basiskontakte

II.4.

Rollback und Agonie der SED-Herrschaft (1987–1989)

III.

Die geheimdienstlichen Ressourcen des MfS gegen die Grünen

III.1.

Beteiligte Diensteinheiten und ihre Zielrichtungen

 

Operative Diensteinheiten

 

Diensteinheiten für strategische Anleitung und politische Beratung

 

Auftragnehmende und exekutive Diensteinheiten

III.2.

Annäherungen an das operative Netz – Die Ressourcen der Informationsgewinnung des MfS

 

SIRA – Eine quantitative Analyse

 

Die Quellen der Hauptverwaltung A

 

Politische Schwerpunkte und Konjunkturen der Rekrutierung

 

Empfänger von Eingangsinformationen

III.3.

Fallstudien

 

Dirk Schneider (1975–1989)

 

»Dr. Zeitz« (1968–1989)

 

Doris und George Pumphrey (1983–1989)

 

Der Dritte im Bunde – »Doktor« (1988/89)

 

Klaus Croissant (1981–1989) und Brigitte Heinrich (1982–1987)

 

»Urban« – Ein Fotograf wird auf die Grünen angesetzt (1983/84)

 

Exkurs: Gert Bastian – Zur Geschichte eines Verdachts

III.4.

Das Netz der MfS-Abwehrdiensteinheiten

 

IM »Amir«

 

IM »Silvia«

 

IM »Andrea«

 

IM »Martin«

 

Der Doppelagent »Messias«

 

Das IM-Netz innerhalb der DDR

III.5.

Funkaufklärung und technische Überwachung

IV.

Die Grünen in der MfS-Berichterstattung an die Staats- und Parteiführung

IV.1.

Umfang und Empfängerkreis der Berichte

 

Zu den Informationskanälen des MfS für die Parteiführung

IV.2.

Konjunkturen der Berichterstattung zu den Grünen

 

Parteigründung und Friedensbewegung

 

Vertiefte Beobachtung nach dem Einzug in den Bundestag

 

Politikbeobachtung in einem schwieriger werdenden Umfeld

IV.3.

Jenseits von Bonn – Berichte über Oppositionskontakte und die Alternative Liste

IV.4.

Für wen interessierte sich das MfS? – Eine Personenrecherche

V.

Die Einreisepolitik des MfS gegenüber Grünen und AL-Mitgliedern

V.1.

Einreiseverbote im Umgang mit »Polit-Prominenz«

V.2.

Die mäandernde Praxis der Einreiseverbote

V.3.

Wenn Grüne einreisen …

V.4.

Resümee

VI.

»Covert action« in Spätsozialismus und Kaltem Krieg

VI.1.

Zur Theorie der »covert action«

VI.2.

Klaus Croissant und Brigitte Heinrich – Eine exemplarische Erkundung

VI.3.

HV A-Operationen in der Friedensbewegung

VI.4.

Die Dialogpolitik Honeckers, die innerparteiliche Formierung der Grünen und aktive MfS-Maßnahmen

VI.5.

Dirk Schneider als Einflussagent

VI.6.

Das MfS als imaginierter und realer Akteur – Versuch einer »operativen Kombination« 1985/86

VI.7.

Grüne und ausgereiste DDR-Oppositionelle – Die Aktion »Falle«

VII.

Ein spezielles Zielobjekt: Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin

VIII.

Resümee

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Personenregister

Über die Autoren

Vorwort des Bundesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen

von Michael Kellner, politischer Bundesgeschäftsführer

Mehr als 25 Jahre sind seit der friedlichen Revolution in der DDR vergangen. Ist die DDR nicht inzwischen ausgeforscht? Die Bundesstiftung Aufarbeitung fragt unter dem provokativen Titel »Die DDR als Chance« sogar, ob dieser Staat nach 7000 Buchtiteln nicht überforscht sei. Auch in der Debatte um die Zukunft des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen wurde die Meinung vertreten, dass gerade bezogen auf das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nichts Neues mehr zu erwarten sei.

Also doch schon – im Sinne von Karl Valentin – alles gesagt und geschrieben, aber noch nicht von allen? Die von Jens Gieseke und Andrea Bahr vorgelegte Studie gibt eine eindrucksvolle Antwort auf diese Frage. Sie meidet bewusst die Attitüde sensationeller neuer Enttarnungen und weist aus, wo sie an frühere Ausarbeitungen zu diesem Thema anknüpft. So gelingt ihr eben doch etwas Neues, nämlich ein möglichst umfassender Überblick über das Verhältnis von Stasi und Grünen. Zwangsläufig leistet sie dabei noch mehr, nämlich eine Analyse der Beziehungen der Partei Die Grünen sowohl zur Regierung als auch zur Opposition in der DDR.

Lange geisterte eine »Stasi-Fraktion« im Deutschen Bundestag durch die Medien. Deswegen fertigte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen im Auftrag des Parlamentes 2013 ein Gutachten über den tatsächlichen Einfluss des MfS auf die Abgeordneten an. Dieses Gutachten legte bei unserer Partei wegen der Spezifika einer neuen, personell rotierenden Partei nahe, eine eigene, tiefergehende Untersuchung anzustellen. Dies haben wir als unsere Verpflichtung gegenüber der Transparenz und der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte empfunden. Wir haben uns gefreut, dass mit Jens Gieseke sowohl ein ausgewiesener Experte der DDR-Forschung als auch ein Kenner grüner Strukturen und Diskussionsprozesse bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen.

Die Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen zum Verhalten gegenüber Staat und Gesellschaft der DDR waren heftig. Die Spanne reichte von mutiger, bedingungsloser Unterstützung der Opposition bis zu bedingungsloser Unterwerfung unter die Vorgaben Ost-Berlins. Die Stasi hat versucht, Einfluss auf die Entwicklung der Grünen zu nehmen, doch sie hat es nicht geschafft. Das Gutachten zeigt bemerkenswert, in welchem Maße es innerhalb der SED und der Stasi einen Dissens zum Umgang mit den Grünen gab.

Die grüne Haltung, einerseits den Machtanspruch der SED durch direkte Unterstützung für Oppositionelle in der DDR anzugreifen, doch andererseits die grüne Bereitschaft, die westdeutschen Sonderstrukturen zur innerdeutschen Frage abzuschaffen, führte in der DDR zu einem widersprüchlichen Umgang mit den Grünen. Als einzige im Bundestag vertretene Partei hatten alle (!) Mitglieder der Grünen zwischenzeitlich Einreiseverbot in die DDR. Doch zugleich musste die Stasi vor und nach Aufhebung der Einreisesperren ohnmächtig zuschauen, wie umfangreiches Material von Grünen zwischen West und Ost geschmuggelt wurde. Zugleich wird detailliert nachgezeichnet, dass alle wichtigen Entscheidungen im Osten von der Staatsspitze getroffen wurden, d. h. in Person von Erich Honecker. Schließlich waren die Grünen als neue politische Kraft für die DDR-Oberen nicht weniger irritierend und unberechenbar als für den etablierten Politikbetrieb im Westen.

Der wachsende zeitliche Abstand ändert nichts daran, dass es sich um eines der spannendsten, aber auch kontroversesten Kapitel unserer Parteigeschichte handelt. Nicht alles dabei liest sich rühmlich, manchen bitteren Verrat findet man darin, doch die Stasi selber musste zu den Akten nehmen: »Unter großen Teilen der Parteimitglieder bestehe die Meinung, die DDR sei ein ›totalitäres System‹, das keinen Freiraum für Individualität zulasse.«

I.

Einleitung

Fragestellung

Diese Studie widmet sich dem Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) auf die Partei »Die Grünen« in den 1980er-Jahren. Der Bundesverband und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen beauftragten die Autoren mit diesem Gutachten, nachdem der Bericht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) an den Deutschen Bundestag zu möglichen Verbindungen oder Anwerbungen von Abgeordneten des westdeutschen Parlaments als Spione und Agenten der DDR veröffentlicht worden war. Die Grünen waren erst seit 1983 im Bundestag vertreten und stellten nur eine kleine Fraktion, deren Umfeld nicht Gegenstand des BStU-Berichts war. Deshalb sahen sich die Führungsgremien von Bündnis 90/Die Grünen veranlasst, noch einmal eine breiter angelegte Erkundung des gesamten Feldes in Auftrag zu geben; nachdem bereits in den frühen neunziger Jahren Armin Mitter, Stefan Wolle und Carlo Jordan wichtige erste Befunde für die Partei aus dem gerade geöffneten Archiv der Stasi-Unterlagen-Behörde erarbeitet hatten und in den folgenden Jahren einige weitere Zeitzeugen und Forscher Erkundungen auf diesem Feld angestellt hatten.1

Wir haben das Anliegen zunächst mit einer gewissen Skepsis entgegengenommen: Erwartete die Partei eine Welle neuer Enthüllungen über Stasi-Agenten in den Reihen der Grünen, oder – umgekehrt – eine Reinwaschung grüner Politik in den achtziger Jahren von dem Vorwurf einer zu großen Nähe zum Kommunismus sowjetischer Prägung? Oder ging es gar um den Versuch, die zeitgenössischen Konflikte in der grünen Deutschlandpolitik oder die Gegensätze zwischen »Realos« und »Fundis« (die mittlerweile zu erheblichen Teilen zur PDS/Linkspartei abgewandert waren) nun mit dem Arsenal der Geschichtswissenschaft nachträglich noch einmal auszutragen?

Nach unserer Erfahrung war – entgegen einer gelegentlich immer noch anzutreffenden Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit – das Potenzial für tiefgreifende Enthüllungen aus dem Archiv der Staatssicherheit nach nunmehr 25 Jahren intensivster Nutzung weitgehend erschöpft. Auch auf dem Feld der Westarbeit des MfS war nach mehreren Wellen der Strafverfolgung, einer Vielzahl von journalistischen Aktenrecherchen sowie ersten wissenschaftlichen Studien ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, was die Entdeckung von Fällen anbelangt, in denen die MfS-Überlieferung eine Agententätigkeit dokumentiert.

Ein zeithistorisch angemessenes Vorgehen kann sich also nicht auf das »IM-Zählen« und die Ergründung von Einzelfällen beschränken. Wir standen vor der Aufgabe, die MfS-Tätigkeit gegen die Grünen stärker in die Entwicklungsgeschichte der Staatssicherheit und in die politischen Rahmenbedingungen der deutsch-deutschen Beziehungen im letzten Jahrzehnt der Existenz des SED-Regimes insgesamt einzubetten. Darüber hinaus galt es zu bewerten, wie tief der DDR-Geheimdienst in die Reihen der Grünen eingedrungen ist, welchen Nutzen seine Erkundungen für die DDR-Politik brachten und wo er den Kurs der Partei manipulieren konnte. Dahinter steht also eine Einordnung dieser speziellen Beziehung in die Politik- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik der achtziger Jahre und ihre deutsch-deutschen Bezüge, die sich mittlerweile von einer Fortschreibung der zeitgenössischen Deutungskonflikte zu einer stärker einordnenden Historisierung fortentwickelt hat.2 In diesem Kontext hat sich die Historiografie auch intensiver mit dem linken und grün-alternativen Milieu sowie der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre in der politischen Landschaft Westdeutschlands befasst.3

Die Studie konzentriert sich auf die Aktivitäten des Bundesverbandes der Grünen (Vorstand, Bundesdelegiertenkonferenzen, Bundeshauptausschuss, einschlägige Bundesarbeitsgemeinschaften) seit der Parteigründung sowie auf die Arbeit der Bundestagsfraktionen von 1983 bis 1990. Die Landes- und Kreisverbände (oder gar die gesamte Mitgliedschaft) konnten im Rahmen dieser Studie nicht einer flächendeckenden Überprüfung unterzogen werden. Konkrete Anhaltspunkte und Schwerpunkte aus diesen mittleren und unteren Ebenen sind aber in den jeweiligen Untersuchungsabschnitten behandelt. Eine besondere Stellung nimmt schließlich die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) in West-Berlin ein. Die Staatssicherheit bearbeitete sie weit intensiver als jeden westdeutschen Landesverband der Grünen und in einigen Hinsichten selbst als die Bundesebene der Partei. Ihr ist deshalb ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem allerdings keine erschöpfende Analyse der AL vorgenommen werden konnte, sondern die Sonderstellung anhand einiger exemplarischer Vorgänge beleuchtet wird. Gerade hier liegt das Feld für weiterführende Forschungen im Kontext des besonderen »Biotops« West-Berlin und seines Umlandes hinter der Mauer offen.

Vorgehensweise

Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte des MfS stehen unter einem methodischen Paradox:

Es liegt nahe, die Frage nach der Wirkungsmacht des Geheimdienstes durch einen Blick auf seinen Apparat und dessen Tätigkeit zu beantworten. Dazu verleiten auch die Aktenberge und ihre Geheimnisse. Tatsächlich aber war die Wirkung oder Nichtwirkung mindestens ebenso stark abhängig von politischen Rahmenbedingungen, denn das MfS war oft nicht der wichtigste und schon gar kein autonomer Akteur. Bereits die bloße Entscheidung des Geheimdienstes, sich überhaupt mit einer westdeutschen Partei wie den Grünen zu befassen, beruhte auf politischen Vorannahmen, die er mit der SED-Parteiführung teilte, und Aufträgen, die er von dieser erhielt. Unter den Bedingungen der achtziger Jahre, zumal auf einem Feld, das extrem öffentlichkeitswirksam und relevant für die deutsch-deutschen Beziehungen war, hatte sich das MfS zudem ständig auch im Detail über die politischen Maßgaben und die daraus resultierenden nachrichtendienstlichen und geheimpolizeilichen Schritte mit der Parteiführung abzustimmen. Fragen des deutsch-deutschen Verhältnisses waren in der DDR »Chefsache«, und deshalb gab die Linie in aller Regel Erich Honecker persönlich oder jemand aus seinem engsten Umfeld vor.

Die Untersuchung beginnt deshalb mit einer politischen Geschichte der MfS-Strategien und daraus resultierenden Aktivitäten (Kapitel II) in Bezug auf die Grünen. Und die Politik der DDR war bei näherem Hinsehen ausgesprochen wechselvoll und in sich widersprüchlich. Sie hatte ja auch die Ziele der staatlichen Anerkennung, der ökonomischen Stabilisierung durch westliche Unterstützung oder der Bündnispolitik in der westdeutschen Linken im Blick. Aus dieser Politik ergaben sich immer wieder Spannungen mit den hergebrachten Maximen der Staatssicherheit, die dem Auftrag folgten, die Sicherheit der DDR durch die Androhung oder tatsächliche Anwendung von Repression zu garantieren. Es geht also darum, die spezifische Rolle des MfS nicht isoliert, sondern im Akteursgeflecht der SED-Außen- und -Innenpolitik zu analysieren.

Hierzu gehört auch eine Analyse der Akteure auf westlicher Seite und ihrer Einschätzung durch SED und MfS. Ziel dieser Studie ist es nicht, eine weitere Abhandlung über die gut untersuchte grüne Deutschlandpolitik beizusteuern oder gar eine »Schiedsrichterrolle« in den erbitterten retrospektiven Deutungskämpfen darum einzunehmen. Gleichwohl lässt sich das Handeln der DDR-Institutionen ohne einen Blick auf die inneren Strömungen der Grünen nicht verstehen.

Die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik und damit auch den Grünen durchlief im Laufe der achtziger Jahre mehrere Phasen und war generell durch eine schrittweise Einschränkung der Handlungsoptionen der SED geprägt: Die erste Phase erstreckte sich von der Gründung der Grünen bis zum Scheitern der Politik der DDR (und der Sowjetunion) gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses im November 1983. Die zweite Phase war von der sogenannten Dialogpolitik Honeckers gegenüber den westdeutschen Parteien geprägt, wobei Teile der Grünen aufgrund ihrer »interventionistischen« Ambitionen und engen Kontakte in die DDR einen ständigen Störfaktor darstellten. In der dritten Phase, nach dem Honecker-Besuch im September 1987 in Bonn sowie unter dem Druck der Reformpolitik in der Sowjetunion und der inneren Systemkrise, erlebte die SED einen akuten Verlust an Handlungsoptionen.

Auf der Grundlage einer solchen politischen Geschichte der MfS-Strategien wird in den folgenden Kapiteln das geheimdienstliche Handeln untersucht. Dabei werden die Handlungsebenen wie Rekrutierung und Informantentätigkeit, Auswertung und Politikberatung sowie aktive Einflussnahme unterschieden.

Zunächst werden die arbeitsteiligen Strukturen innerhalb des MfS, die sich vornehmlich mit den Grünen befassten, kurz skizziert und die personellen und technischen Ressourcen genauer beleuchtet (Kapitel III): Dies betrifft das Informantennetz der Auslandsspionage und der Abwehrdiensteinheiten sowie die Strategien und Ressourcen der technischen Spionage, insbesondere das Abhören von Telefonverbindungen. In diesem Kontext werden das Gesamtnetz und seine Entwicklung bewertet und wichtige Informationsquellen des MfS porträtiert.

Im nächsten Schritt wird die Informationsfunktion des Geheimdienstes gegenüber der politischen Führung betrachtet, also jene Berichte, die an Erich Honecker sowie die außenpolitischen Steuerungsinstanzen geliefert wurden (Kapitel IV). Bei dieser »finished intelligence«, also den von Hinweisen auf die Quellen bereinigten und analytisch zusammengefassten Spionageergebnissen für die »Endabnehmer«, geht es zum einen um die Konjunkturen der Berichterstattung über die achtziger Jahre hinweg, zum anderen um eine Einschätzung der Interpretationsmuster, Schwerpunkte und Leerstellen in der MfS-Wahrnehmung der Grünen als politischem Akteur. Dabei wird der Vergleich zu anderen Informationsressourcen der DDR gezogen, aber auch zu der westlichen Medienberichterstattung über die Partei. Hier wird auch beleuchtet, welche Parteiebenen und -gliederungen sowie welchen grünen Politikerinnen und Politikern das Interesse des MfS galt.

Mit einem eigenen Abschnitt (Kapitel V) wird dann das wichtigste Instrument der SED-Politik im Umgang mit grünen Politikerinnen und Politikern analysiert, das auch zeitgenössisch im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stand – nämlich die Einreisepolitik und -praxis. Diese wurden in einer Serie von Entscheidungen der MfS-Führung und Honeckers persönlich letztlich durch die für die Passkontrollen zuständige Linie VI sowie die für Observationen zuständige Linie VIII konzipiert und umgesetzt. Wie kein zweiter Faktor bestimmte diese Genehmigungspolitik die Handlungsmöglichkeiten von Grünen gegenüber den DDR-Akteuren und insbesondere in Hinblick auf die Kontakte zu Oppositionellen und Basisgruppen.

Das schwierigste und in seiner Wirkung potenziell brisanteste Feld folgt in Kapitel VI: die Frage nach der »covert action«, also der verdeckten Einflussnahme des MfS auf grüne Politik. Da die Akten einiger Topquellen fehlen, bei denen es sich aufdrängt, dass sie nicht nur Informationen sammelten, sondern als Einflussagenten auch direkte politische Aufträge des MfS erfüllten, bleiben hier besonders empfindliche »weiße Flecken« zu beklagen. Gleichwohl wird versucht, zu einer begründeten Einschätzung über die Möglichkeiten und Grenzen dieses speziellen Handlungsfeldes zu kommen.

Schließlich wird die Darstellung mit dem erwähnten Überblick über die besondere Rolle der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz in West-Berlin abgeschlossen (Kapitel VII). Die AL genoss stets besondere Aufmerksamkeit des MfS, insbesondere von den auf die innere Überwachung und Verfolgung in der DDR gerichteten Dienstzweigen.

Quellenlage und Methodenprobleme

Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten wissenschaftlicher Redlichkeit, zu Beginn einer solchen Studie Grenzen und Lücken der Materialüberlieferung darzulegen. Deswegen sei auch hier hervorgehoben, was für alle Untersuchungen zur Westarbeit der DDR-Staatssicherheit gilt: Der Quellenbestand der Hauptverwaltung A (HV A) ist bis auf eine bescheidene Zahl von Akten verloren. Die wichtigste Diensteinheit in Bezug auf die Grünen, die HV A-Abteilung II (Politische Organisationen etc. der Bundesrepublik), sowie die nachgeordneten Abteilungen XV der Bezirksverwaltungen, insbesondere der Bezirksverwaltung Berlin, haben nur einen minimalen Teil ihrer Unterlagen hinterlassen. Hier waren die wichtigsten Agenten und Spione des MfS angesiedelt, und hier wurden die Vorgänge gegen prominente Grüne geführt. Die Tatsache, dass diese Vorgänge nicht überliefert sind, hat massive Konsequenzen: Weder zu diesen Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) noch zu den dort »bearbeiteten« Zielobjekten und -personen lassen sich auch nur annähernd erschöpfende Aussagen treffen. Eine wesentliche Ausnahme bilden die zu mehr als der Hälfte überlieferten HV A-Informationsberichte an die Parteiführung, die auch einige Berichte zu den Grünen enthalten.

Einen gewissen Ausgleich ermöglicht der Bestand der Linie Auslandsspionage (Abteilung XV) der Bezirksverwaltung Leipzig (der als einziger vom örtlichen Bürgerkomitee vor der Ablieferung an das Auflösungskommando der HV A in Ost-Berlin bewahrt wurde). Zusammen mit Bruchstücken aus anderen Beständen lassen diese Akten einige Schlüsse auf den Wandel der generellen Ausrichtung der Auslandsspionage zu.

Hinzu kommen die bekannten und oftmals schlagzeilenträchtigen Fragmente der Auslandsspionage: Die Informationsdatenbank SIRA (System der Informationsrecherche der Aufklärung) liefert für die Zeit von 1969 bis 1987 einen detaillierten Überblick über alle eingehenden Informationen und daraus erstellten Berichte. Die von mehreren Geheimdiensten gefilterte und unter dem Decknamen »Rosenholz« des Bundesamtes für Verfassungsschutz bekannt gewordene Verfilmung der HV A-Personen- und Vorgangskartei (F 16/F 22) mit Stand 1988 ermöglicht es, Verbindungen zwischen den in SIRA verzeichneten Registriernummern und »Klarnamen« von angeworbenen Agenten oder anderweitig als Informationslieferanten kontaktierten Personen herzustellen.

Die ausgewerteten Quellen erlauben – trotz der benannten Lücken – einen Erkenntnisgewinn in Hinblick auf die sonst strikt geheim gehaltenen »Quellen und Methoden« des MfS, der über alles hinausgeht, was man über Spionage im Kalten Krieg weiß. Die Datenbanken und Informationsberichte ermöglichen zwar keine Auskunft über Motive und Absichten individueller Agenten und Kontaktpersonen sowie nur eingeschränkte Einblicke in den Charakter ihrer (wissentlichen oder unwissentlichen) Zuarbeit. Aber sie ergeben ein relativ dichtes Bild von den Konjunkturen der Werbungserfolge, der politischen Zusammensetzung der Zuträger und den Wissensständen und Sichtweisen der HV A in Bezug auf die Grünen (wie auch aller anderen Akteure des bundesrepublikanischen Politikbetriebs).

Auch im Aktenbestand der Hauptabteilung III (Funkaufklärung), der sogenannten Abwehrdiensteinheiten, hier insbesondere der Linien XX und XXII, sowie der Linien VI (Grenzkontrollen, Tourismus) und VIII (Observationen, Ermittlungen) gibt es Lücken, die vor allem dem Umstand geschuldet sind, dass diese Diensteinheiten im Herbst 1989 bemüht waren, die Unterlagen aus den unmittelbar zurückliegenden Jahren verschwinden zu lassen. Trotzdem erweisen sich insbesondere die Akten der Linie XX des MfS als extrem materialreich. Die Linie XX war unter anderem auf die Oppositionsgruppen in der DDR fokussiert und deckte somit ein wichtiges Handlungsfeld grüner Kontakte in die DDR ab. Allein die Sachakten (Sachstandsberichte, zusammenfassende Analysen, Ad-Hoc-Meldungen, interner Schriftverkehr etc.) enthalten Hunderte von Meldungen zu den Kontakten von Grünen in die DDR.

Ebenfalls ergiebig sind die Akten der Linie XXII, die nominell für »Terrorabwehr« zuständig war, tatsächlich aber das gesamte Feld des westdeutschen (und internationalen) Linksradikalismus und seine personellen und organisatorischen Ausläufer ins grün-alternative Milieu der achtziger Jahre im Blick hatte, bis hin etwa zur Redaktion der tageszeitung. Diese Überlieferung hat aus mehreren Gründen herausgehobene Bedeutung: Zum einen, weil ein erheblicher Teil grüner Politikerinnen und Politiker aus der K-Gruppenszene der siebziger Jahre stammte, in einigen Fällen auch direkt aus dem (früheren) Umfeld des bundesrepublikanischen Linksterrorismus; zum anderen, weil die Linie XXII ihr Handlungsfeld, zumindest für diesen speziellen gesellschaftlichen Ausschnitt, originär im »Operationsgebiet« begriff und hier ein relativ hoher Überlieferungsgrad besteht, der auch viele Meldungen aus der HV A einschließt. Hier ergeben sich also zumindest punktuell tiefe Einblicke in die Ziele, Einflussmöglichkeiten und Arbeitstechniken der Staatssicherheit.

Einen weiteren wichtigen, geradezu überbordenden Aktenbestand liefert die Linie VI des MfS. Sie hatte in Bezug auf die Grünen den Charakter einer »auftragnehmenden« Diensteinheit, die die Anweisungen der Ministeriums- und Parteispitze sowie der operativen Diensteinheiten in Hinblick auf Ein- und Durchreisen umsetzte. Aufgrund des Stellenwerts der Einreisepolitik gegenüber den Grünen agierte die Linie VI allerdings in einem eminent wichtigen Handlungsraum. Dies gilt ebenso für die Linie VIII, die immer dann zum Zuge kam, wenn es Grünen gewährt wurde, das Gebiet der DDR zu betreten und sich dort zu bewegen, sei es zu touristischen Ausflügen, sei es zu Treffen mit DDR-Oppositionellen, sei es zu Gesprächen mit offiziellen Repräsentanten der DDR. Und schließlich spielte in diesem Kontext die Funkaufklärung (Linie III) eine wichtige Rolle, weil dort Telefongespräche von den Abhörstandorten des MfS aufgefangen und in vielen Hundert Mitschriften fixiert wurden. Dies betraf alle Gespräche über die Richtfunkstrecken zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin, aber auch einen Teil der im Großraum Bonn geführten Telefonate, die von der Ständigen Vertretung der DDR und den anderen Horchposten in Bonn, Köln und Düsseldorf aus belauscht wurden.

Zusätzlich kompliziert wird die Quellenlage dadurch, dass auch der hochgradig geheimniskrämerische Politikstil der SED-Parteispitze zu erheblichen Lücken in der Überlieferung zu ihren Entscheidungsprozessen geführt hat. Hier haben die Archivare des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee (ZK) der SED gründlich gefiltert. Schon zuvor hat Erich Honecker selbst Akten vernichten lassen. Dies betraf die deutsch-deutsche Sonderpolitik der achtziger Jahre: Nach der Absetzung des zuständigen Abteilungsleiters bzw. ZK-Sekretärs Herbert Häber hat Honecker wesentliche Teile der von Häber erstellten, ausführlichen Gesprächsnotizen mit Bonner Gesprächspartnern vernichten lassen. Dank aufwendiger Recherchen haben Historiker viele Dokumente hierzu mittlerweile entdeckt und Wesentliches als Editionen publiziert.4 Aber auch in Bezug auf die Grünen bleiben hier Fragen offen. So finden sich, um das wichtigste Feld herauszugreifen, so gut wie keine Belege für die Gespräche zwischen Generalsekretär Erich Honecker und Minister Erich Mielke, obwohl ganz offenkundig ist, dass sie alle wesentlichen Entscheidungen zum Umgang mit den Grünen im direkten Austausch getroffen haben. Noch viel mehr gilt dies für die sowjetische Überlieferung über die Wahrnehmung der Grünen, die an einigen Punkten außerordentlich wichtig für das Verhalten der DDR und des MfS gewesen sein muss. Dies betrifft die Akten der internationalen Abteilung des KPdSU-Zentralkomitees und natürlich der Ersten Hauptverwaltung des KGB selbst.

Neben den Lücken in der MfS- und der SED-Überlieferung gehört es zu den empfindlichen Leerstellen der Quellenlandschaft, dass die Aktivitäten westlicher Geheimdienste so gut wie gar nicht mit Archivmaterial ergründet werden können. Es ist davon auszugehen, dass westliche Geheimdienste sich intensiv mit den Grünen beschäftigten und bei ihnen auch Informanten führten. Konkret sichtbar werden diese Aktivitäten, wo das MfS eine Doppelagententätigkeit der von ihm angeworbenen Informanten feststellte oder sogar initiiert hatte. Die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder waren, das ist aus verschiedenen zeitgenössischen Sachverhalten erkennbar, intensiv gegen die Grünen aktiv, weil diese – etwa im Rahmen der Friedensbewegung – mit politischen Kräften zusammenarbeiteten, die als »linksextremistisch« eingestuft worden waren, oder weil sie selbst als Träger einer verfassungsfeindlichen Programmatik galten. So war etwa die für unser Thema besonders wichtige Alternative Liste in West-Berlin mindestens bis zu ihrem Eintritt in den rot-grünen Senat 1989 der Ausforschung durch das dortige Landesamt ausgesetzt.5 Inwiefern in diesem Zusammenhang der Verfassungsschutz und die Strafverfolgungsbehörden auch Erkenntnisse über die Aktivitäten des MfS und etwaige Verbindungen von grünen Aktivisten zu diesem gesammelt haben, muss allerdings mit wenigen Ausnahmen offen bleiben.

Über die Ausforschung durch andere westliche Geheimdienste kann man nur mutmaßen.

Wie der NSA-Skandal in jüngerer Zeit wieder in Erinnerung rief, kann man davon ausgehen, dass US-Geheimdienste alle »anti-amerikanischen« Aktivitäten schon damals intensiv ausforschten. Allerdings ist diese Überwachung nur in Umrissen nachzuvollziehen.6 Mit dieser Lücke muss die historiografische Bearbeitung des Themas leben. Ebenso wichtig wie die tatsächlichen Vorgänge der Ausforschung auf diesem Gebiet war ihr Stellenwert auf der Ebene des Diskurses innerhalb der Grünen und der linken Szene der Bundesrepublik. Dort gehörte die Unterstellung oder Mutmaßung, hinter diesem oder jenem Vorgang stecke »die CIA«, zum ständigen rhetorischen Inventar. Es ist deshalb nicht überraschend, dass uns ein ehemaliger führender Parteifunktionär die öffentliche Verwendung seiner Stasi-Unterlagen mit der Begründung untersagte, dass von einem »wissenschaftlichen Gutachten erst dann die Rede sein« könne, »wenn die Akten des bundesdeutschen Geheimdienstes ebenfalls untersucht würden«.7 Der Vorwurf, »CIA-Agent« zu sein, spielte natürlich auch für die DDR-Staatssicherheit und ihre Bonner oder West-Berliner Konfidenten in Hinblick auf »feindlich-negative« führende Grüne eine Rolle. Solche Mutmaßungen waren eine wichtige Legitimation im Feindbilddenken des MfS, obwohl sie in aller Regel nicht mit sachlicher Substanz unterfüttert werden konnten.

Lücken in der Überlieferung sind in der Geschichtswissenschaft normal. In der Beschäftigung mit dem Gegenstand dieser Studie hat sich allerdings die geradezu überbordende Fülle an Material als mindestens ebenso großes Methodenproblem entpuppt, denn als Forscher möchte man sich nicht unwillkürlich zum Gefangenen dieser Unwuchten der MfS-Überlieferung machen. Die Höhe der Aktenberge drängt den Analytiker unwillkürlich zur Schwerpunktsetzung. Der Wust an MfS-Unterlagen verleitet dazu, deren Sichtweise unkritisch zu übernehmen und den Blick für den Entstehungszusammenhang in einer Nachrichtendienst- bzw. Geheimpolizeibürokratie zu verlieren. Die folgende Untersuchung versucht, die notwendige quellenkritische Distanz herzustellen und sich von eingeschliffenen Denkkategorien der »Stasiologie« so gut es geht zu lösen, sofern sie offenkundig an Engführungen und Kurzschlüssen leiden.

In aller Regel verbergen sich die Absichten und Prioritäten der Geheimpolizisten und -agenten, die gegen Grüne operierten, hinter dem Modus einer entpersönlichten, auf hierarchische Konformität getrimmten Sprache und Darstellungsweise. Dies macht es unmöglich, zu erkennen, ob etwa ein leitender Offizier über eine aus dem Büro Honeckers eintreffende Weisung froh oder unfroh war, ob er sie befolgt hat, aber lieber hintertrieben hätte, was er von seinen grünen Beobachtungsobjekten hielt und was er tat, um seine Präferenzen in die Praxis umzusetzen. Es ist gleichwohl notwendig, diese Handlungskalküle bestimmter Diensteinheiten und ihrer Mitarbeiter, Agentenführer usw. bis ins Detail zu rekonstruieren, um die einzelnen Papiere aus den höheren oder niederen Hierarchiestufen zu verstehen und einordnen zu können.

Hinzu kommt, dass das MfS alles tat, um Niederlagen, Fehlschläge oder Zweifel an der Strategie im Umgang mit westdeutschen Politikakteuren zu kaschieren. Dies verleitet uns heute, die Erfolgsrhetorik für bare Münze zu nehmen, obgleich doch gerade in der hier behandelten Phase die DDR und ihr Gewaltapparat zunehmend in Schwierigkeiten gerieten. Umso wichtiger ist es, zwischen den Zeilen zu lesen und aus anderen Quellen bekannte Fakten heranzuziehen. Eine solche kritische Methodik der Quellenkunde steckt bis heute in den Kinderschuhen, ist allerdings kürzlich für einen Teilbestand, die Telefonabhörprotokolle der Linie III (Funkaufklärung) und der Abteilung 26 (Telefonkontrolle) des MfS, die auch für diese Studie von immenser Bedeutung waren, erstmals systematisch und beispielgebend angewandt worden.8

Besonders relevant ist die Quellenkritik in Hinblick auf die scheinbar eindeutig zu beantwortende Frage, ob jemand für das MfS im Geheimen tätig war und was das konkret bedeutete. Zu Personen, die von der HV A als »Inoffizielle Mitarbeiter« geführt wurden, gibt es in der Regel keine Personal- und Arbeitsakten. Und selbst wenn, gibt es nur wenig Möglichkeiten, sich ein auf alternativen Quellen beruhendes eigenständiges Gesamtbild zu machen. Seit 1990 hat sich aber eine Interpretationspraxis herausgebildet, die Erfordernissen der Strafverfolgung, der öffentlichen Verurteilung oder der Entscheidung über eine Entlassung entsprach. Es ging darum, eine klare Aussage nach dem Muster »Die Person X war IM« zu gewinnen und darauf ein politisches, strafrechtliches oder moralisches Urteil zu bauen. Diese Praxis ist historiografisch unzulänglich und wird weder den konkreten Einzelfällen noch dem Wirken der Staatssicherheit insgesamt gerecht. Kein Mensch ist nur IM. Eigentlich notwendig wäre eine umfassende Bewertung und Typisierung von Formen des Kontakts und der Kooperation mit der Staatssicherheit als Teil des politischen und persönlichen Gesamtverhaltens der als IM tätigen Personen.9 Die geheimdienstbürokratische Kategorisierung, auf die die »Stasi-Forschung« so viel Wert legt, lässt für sich genommen wenige Rückschlüsse zu.

Was hier versucht wird, ist sich auch sprachlich von dem Stasi-eigenen Begriff »Inoffizieller Mitarbeiter« zu lösen, der eine Gleichstellung mit den hauptamtlichen Mitarbeitern suggeriert und eine Einheitlichkeit des Verhaltens nach Richtlinienkategorien unterstellt, die von der Vielfalt der tatsächlichen Verhaltensweisen wenig erkennen lässt. Hier werden deshalb bevorzugt Begriffe verwendet, die dem tatsächlichen Charakter der Kooperation gerechter werden, wie Informant, Agent oder auch Gesprächspartner, weil wir uns die MfS-eigenen Kategorisierungen nicht unwillkürlich zu eigen machen wollen.

Mit einem solchen Vorgehen gewinnt man eine gewisse Souveränität gegenüber dem Risiko, die Weltsicht des MfS unabsichtlich und mit umgekehrten Vorzeichen zu reproduzieren, indem man überall Einblick, Macht und Einfluss der Geheimpolizei zu erkennen meint. Der Preis dafür ist, dass sich die Aufstellung von Listen aller »West-IM« bei den Grünen oder die Schlussfolgerung, weil jemand auf einer Karteikarte als »IM« verzeichnet sei, müsse er auch stets und vorrangig die Interessen des MfS innerhalb der Grünen vertreten haben, als unzulässige Kurzschlüsse verbieten.

Unter methodischen Gesichtspunkten ist schließlich auf die Restriktionen hinzuweisen, die sich aus der Praxis der Stasi-Unterlagen-Behörde in Hinblick auf die Recherche in Findmitteln ergeben. So war es uns wie allen externen Forschern nicht möglich, selbst im Sachaktenerschließungsprogramm der Behörde (SAE) nach Stichworten zu recherchieren oder systematisch die Bestandsverzeichnisse einschlägiger Diensteinheiten, etwa der Abteilung 5 der Hauptabteilung XX, zu prüfen. Hinzu kommt, dass dieses SAE-Programm erhebliche Mängel aufweist, so dass Rechercheergebnisse der Auskunftsabteilung, die sich nur darauf stützen, oft lückenhaft oder geradezu zufällig sind.10 Ein anderes wohlbekanntes Hindernis bei der Auslegung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ist die Neigung der Behörde, Einsichten in angefragte Akten (oder Teile von ihnen) zu verweigern oder vom BStU recherchierte Akten stillschweigend zurückzuhalten, weil sie vermeintlich keinen Bezug zum Antragsthema haben. Die Auskunftsabteilung des BStU hat die daraus resultierenden Lücken nach einer Erläuterung durch uns eingesehen und eine zweite Phase der Akteneinsicht eingeleitet, die sich von Umfang und Relevanz her als mindestens ebenso ertragreich erwiesen hat wie die erste. So war es uns zum Beispiel möglich, die Jahresarbeitspläne relevanter Diensteinheiten durchzuarbeiten, auch wenn sich im Ergebnis herausstellte, dass die Grünen oder die Alternative Liste dort keine oder eine untergeordnete Rolle spielten – auch dies war für uns eine wesentliche Erkenntnis. Besonders wertvoll war, dass die Behörde uns den direkten Zugang zur SIRA-Datenbank gewährt hat und damit die elektronische Auswertung anstelle eines Papierausdrucks von rund 3000 Einzelmeldungen (einschließlich dann notwendiger Anonymisierung der personenbezogenen Einträge) ermöglichte.

Wiewohl der MfS-Aktenbestand den meisten Raum in unseren Recherchen einnahm, erwiesen sich Gegenüberlieferungen mit fortschreitenden Erkundungen als immer wichtiger. Dazu gehörten Akten des SED-Parteiarchivs, des Archivs Grünes Gedächtnis (AGG), die Erinnerungen vieler Beteiligter, die einschlägigen Jahrgänge der Zeitschriften Kommune, Stachlige Argumente und Arbeiterkampf, unzählige zeitgenössische Presseartikel und vieles andere mehr. An Grenzen stießen wir bei den Auskünften bundesdeutscher Behörden. Der Generalbundesanwalt konnte uns (sehr ergiebige) Auskünfte zu Fällen von verurteilten Spionen geben, nicht jedoch zu den Ermittlungsverfahren (insbesondere nach 1990), die ohne Verurteilung, also zum Beispiel durch Strafbefehl oder per Einstellung gegen Geldbuße, endeten. Vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) und Verfassungsschutz erhielten wir keine inhaltlich weiterführenden Auskünfte.

Da Zeitgeschichte nach der berühmten Definition von Hans Rothfels durch die Zeitgenossenschaft der handelnden Akteure mit den Historikern geprägt ist, konnten wir auch mit vielen von ihnen persönlich sprechen oder telefonieren. Jeder und jede von ihnen waren erfüllt von dem Drang (und die meisten mit genügend Erfahrung in der öffentlichen Selbstdarstellung), uns »ihre Version« der Geschichte nahe zu bringen – und alle werden sie wohl auf die eine oder andere Weise enttäuscht sein, was wir daraus gemacht haben. Wir sind dankbar für alle Gespräche, weil sie uns halfen, manches Rätsel zu lösen, uns in die Atmosphäre der Zeit hineinzuversetzen und Akten zu finden, auf die wir oder die Stasi-Unterlagen-Behörde niemals gestoßen wären. Unsere Gesprächspartner waren (in alphabetischer Reihenfolge) Lukas Beckmann, Milan Horáček, Roland Jahn, Wilhelm Knabe, Christine Muscheler, Gerd Poppe, Ulrike Poppe, Lothar Probst, Gertrud Schilling, Jürgen Schnappertz, Antje Vollmer und Elisabeth Weber. Noch einige mehr haben eingewilligt, sie ohne die Anonymisierungsvorgaben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in unserer Darstellung zu nennen, und uns schriftliche Auskünfte gegeben. Einige haben dies aus sehr unterschiedlichen Gründen abgelehnt und wir haben diesen Wunsch im Rahmen der rechtlichen Vorgaben respektiert. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit einem der damals maßgeblich mit den Grünen befassten MfS-Offiziere endete mit einem, immerhin aufschlussreichen, Telefonat.

Zu rechtlichen Fragen der Darstellung

Persönlichkeitsrechtliche Grenzen der Darstellung haben wir an zwei Punkten zu beachten: Personen der Zeitgeschichte haben nach geltendem Recht die Möglichkeit, der Verwendung von Informationen aus Stasi-Unterlagen zu widersprechen, sofern dies ihre Persönlichkeitsrechte verletzt (zum Beispiel bei abgehörten Telefonaten oder Informantenberichten aus ihrer Privatsphäre). Wir mussten daher an einigen Punkten auf solche Details verzichten bzw. diese anonym verwenden.11

Gravierender ist die Situation bei der Nennung von Informantentätigkeiten für das MfS. Hier gibt es einerseits ein starkes Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit, andererseits gibt es Ansprüche auf Anonymisierung zum Beispiel in solchen Fällen, wo eine Haftstrafe verbüßt wurde. Umstritten sind jene Fälle, in denen das MfS eindeutig jemanden als Informanten verzeichnete, aber aus den Akten nicht klar erkennbar ist, ob der- oder diejenige wissentlich mit dem MfS sprach. Wir haben uns bemüht, diesen Fällen durch präzise Formulierungen und gegebenenfalls durch Pseudonymisierungen gerecht zu werden.

Forschungsstand

Die Beeinflussung grüner Politik durch die DDR im Allgemeinen und die Staatssicherheit im Besonderen war praktisch seit dem Moment der Aktenöffnung Gegenstand einer intensiven öffentlichen Debatte, angefangen mit den Enttarnungen prominenter Grüner als Zuträger des MfS.12

Früh haben sich auch die Grünen selbst um wissenschaftliche Aufklärung bemüht, beginnend mit dem bereits erwähnten, unveröffentlicht gebliebenen Gutachten von Stefan Wolle, Armin Mitter und Carlo Jordan von 1994. Des Weiteren liegt eine ausführliche Dokumentation zur Deutschlandpolitik der Grünen und dem Wirken Dirk Schneiders vor sowie ein Protokoll einer Diskussionsveranstaltung, bei der viele Protagonisten ausführlich ihre Sicht der Dinge darlegten.13 Hinzu kommen die Arbeiten des früheren Bundesvorstandssprechers und Bundestagsabgeordneten Wilhelm Knabe, der erstmals Analysen von »Rosenholz« und SIRA für die Grünen durchgeführt hat und eine Fülle von grundlegenden Befunden herausarbeiten konnte, auf denen diese Studie aufbaut. Im weiteren Sinne in diesen Kontext gehört auch das Gutachten des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zum Deutschen Bundestag, in dem auch die Grünen behandelt werden.14

Ansatzpunkte für weitere Recherchen ergaben sich auch aus dem öffentlich stark debattierten Buch von Hubertus Knabe über die »unterwanderte« Bundesrepublik, das allerdings einige methodische Mängel aufweist. Die titelgebende weitreichende These hat sich deshalb in der weiteren Forschung als nicht haltbar erwiesen.15 Hier sei besonders auf die Arbeiten von Udo Baron zu den Grünen in der Friedensbewegung, von Regina Wick zur Deutschlandpolitik der Grünen sowie Saskia Richter über Petra Kelly und Gert Bastian verwiesen. Ihre Befunde waren eine wichtige Grundlage für unsere Recherchen und konnten durch diese bestätigt und erweitert werden.16 Die noch immer kontroverse Debatte über den Charakter der Friedensbewegung und ihre vermeintliche oder tatsächliche Steuerung durch »Moskau« bzw. »Ost-Berlin« hat sich mittlerweile von der Fortführung zeitgenössischer politischer Kämpfe auf eine distanziertere Einordnung in die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik verlagert. Hierzu gab es kürzlich eine aufschlussreiche Kontroverse in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (VfZ), die allerdings kaum auf die Rolle des MfS einging.17

Einen wichtigen Hintergrund bilden die Arbeiten zur Gründungs- und Frühgeschichte der Grünen von Joachim Raschke und Silke Mende und die Edition der Fraktionsprotokolle aus der ersten und zweiten Legislaturperiode 1983 bis 1990. Für den soziokulturellen Hintergrund von Bedeutung ist ferner der Band von Sven Reichardt über das alternative Milieu in Westdeutschland.18 Ähnliches gilt für die Arbeiten zur DDR-Opposition, zu der Grüne intensive Kontakte unterhielten.19

Die vorliegende Studie konnte zudem nicht entstehen ohne die Forschung zur »Hardware« der Arbeit des MfS, also die internen Strukturen, Arbeitsmethoden, Leitprinzipien, aber auch die konkreten Ausformungen des Agenten- und Informantennetzes.20 Dies gilt ebenso für die Grundlagenstudien zur Außen- und Westpolitik der DDR und ihren maßgeblichen Institutionen von Hermann Wentker und Heike Amos.21 Alle weitere Literatur, auf die wir zurückgreifen konnten, ist in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis ausgewiesen.

Danksagung

Unser erster Dank geht an die Initiatoren dieser Untersuchung bei Bündnis 90/Die Grünen, die uns vielfältige Unterstützung gegeben und vor allem eine unendliche Geduld an den Tag gelegt haben, wenn wir ihnen mal wieder angekündigt haben, »bald« fertig zu werden. Stellvertretend für alle sei hier Wolfgang Wieland genannt, ohne den das Projekt nicht zustande gekommen wäre.

Bei der Stasi-Unterlagen-Behörde haben wir allen voran Vera Lemke als »unserer« Bearbeiterin zu danken, die stets nach einer Lösung für unsere vielen Fragen suchte. Ohne ihr Engagement wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Aus der Auskunftsabteilung gilt unser Dank auch Joachim Förster, Sabine Schröder, Martina Schulze und Kerstin Hermann. Aus der Welt von SIRA hat uns Stephan Konopatzky alles präsentiert, was wir brauchten. Immer ansprechbar waren auch Helge Heidemeyer, Georg Herbstritt und Tobias Wunschik aus der Forschungsabteilung. Sie alle unterstützten uns mit ihrem Wissen und ihrem Aufklärungswillen. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken.

Im Archiv Grünes Gedächtnis waren es Christoph Becker-Schaum und Robert Camp, bei der Robert-Havemann-Gesellschaft Frank Ebert, die uns mit ihrer Expertise an wichtigen Punkten weiterhalfen. Besonders danken wir ihnen für alle Hinweise, auf die wir selbst gar nicht gekommen wären. Wir danken auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs (BArch) für die Bereitstellung der Archivalien.

Unser Dank gilt auch Frank Bösch für seine kritische Durchsicht des Manuskriptes. Schließlich danken wir Alisa Loh, Ute Groß, Cordula Greinert und Florian Schikowski für die vielfältige Unterstützung.

Ungeachtet all dieser Hilfen liegt die Verantwortung für den Text selbstredend bei uns. Zur Verteilung der Verantwortlichkeiten innerhalb des Bandes: Die Vorsichtung und Filterung des Materials hat Andrea Bahr übernommen. Die Auswertung von SIRA und Rosenholz lag in der Hand von Jens Gieseke. Ansonsten haben wir beide alle relevanten Aktenbestände inhaltlich ausgewertet. Die Textentwürfe für die Einleitung sowie die Abschnitte zur politischen Geschichte, zu den geheimdienstlichen Ressourcen, der Informationsfunktion sowie zur Einflusspolitik (Kapitel I, II, III, IV und VI) stammen von Jens Gieseke, diejenigen der Kapitel zur Einreisepolitik und zur Alternativen Liste (Kapitel V und VII) von Andrea Bahr.

1Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Der Deutsche Bundestag 1949 bis 1989 in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Gutachten an den Deutschen Bundestag gemäß § 37 (3) des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, Berlin 2013, S. 29. Zu den weiteren Arbeiten siehe den Abschnitt Forschungsstand dieser Einleitung.

2Vgl. etwa die neueren Syntheseangebote, insbesondere von Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6, München 2006; ferner: Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2004; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, München 2009; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008; sowie die einschlägigen Zeitabschnitte in Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014.

3Exemplarisch: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; vgl. außerdem die im Überblick zum Forschungsstand (Fußnote 15) genannten Beiträge zur Rolle der Friedensbewegung in den Vierteljahrsheften zur Zeitgeschichte 2009 bis 2012.

4Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Die Häber-Protokolle. Schlaglichter der SED-Westpolitik 1973–1985, Berlin 1999.

5Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Untersuchung zur Frage der Übereinstimmung der politischen Ziele und Tätigkeiten der Alternativen Liste – Für Demokratie und Umweltschutz (AL) mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes und der Verfassung von Berlin, Juni 1984, vervielfältigtes Material; Archiv des Verfassers; 1. Bericht (Zwischenbericht) des 4. Untersuchungsausschusses zur Aufklärung von möglichen Fehlentwicklungen beim Landesamt für Verfassungsschutz, Abgeordnetenhaus von Berlin, Ds. 10/2770, 18.1.1989.

6Vgl. Josef Foschepoth. Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012.

7Mitteilung ohne Datum [November 2014].

8Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk/Arno Polzin (Hg.), Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit, Göttingen 2014.

9Zur Kritik der gängigen IM-Forschung vgl. Jens Gieseke, »Different Shades of Gray«. Denunziations- und Informantenberichte als Quellen der Alltagsgeschichte des Kommunismus, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010) H. 2, URL: www.zeithistorische-forschungen.de/2–2010/id=4492, Druckausgabe: S. 287–295; Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2012, S. 214; zu den Erfordernissen einer skrupulösen Methodologie in Bezug auf Spione der HV A vgl. Georg Herbstritt, Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie, Göttingen 2007.

10Facts and Files, Gutachten zum »Thesaurus Stasi-Unterlagen« der BStU., o. O., o. D. [2007].

11An entsprechenden Stellen sind die Namen durch »XXX« ersetzt.

12Grüne Stasi-Stütze, in: Der Spiegel 46 (1991) H. 35 (26. August), S. 16, URL: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13489740.html; Fürst von Kreuzberg. Agenten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit steuerten Grüne und westdeutsche Friedensfreunde, in: Der Spiegel 46 (1991) H. 46 (11. November), S. 80–83, URL: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13491457.html; Aufgelöst und hilflos. Der einstige Terroristen-Anwalt Klaus Croissant soll die westdeutsche Linke ausgeschnüffelt haben, in: Der Spiegel 47 (1992) H. 39 (21. September), S. 35–38, URL: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682116.html.

13Carlo Jordan/Armin Mitter/Stefan Wolle, Die Grünen der Bundesrepublik in der politischen Strategie der SED-Führung, Berlin 1994 [vervielfältigtes Material], AGG, Pol 509–3; Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen (Hg.), Die Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren. Dokumentation eines Diskussionsforums am 10. März 1994 in der Hessischen Landesvertretung Bonn, Bonn 1994 [vervielfältigtes Protokoll], AGG, Pol 509–3; Ursula Jaerisch/Elisabeth Weber (Hg.), Materialien zur Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren, Bonn 1994 [vervielfältigte Materialsammlung], AGG, Pol 509–4.

14Wilhelm Knabe, Zur Westarbeit der Stasi bei den Bonner Grünen. Auswertung der SIRA-Dateien von 1979 bis 1987 und Erinnerungen eines Zeitzeugen, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster 2003, S. 194–209; Ders., Was erfuhr Honecker vom MfS über die Grünen? Erich Mielkes »Rotstrichberichte«, in: Deutschland Archiv 36 (2003) H. 2, S. 206–219; BStU, Der Deutsche Bundestag.

15Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999; ausführlicher zu den Grünen die Exploration des Feldes anhand der Fälle Brigitte Heinrich und Dirk Schneider in: Ders., Das MfS und die Partei der Grünen, in: Georg Herbstritt/Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 375–392.

16Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ›Die Grünen‹, Münster-Hamburg-London 2003; Regina Wick, Die Mauer muss weg – Die DDR soll bleiben: Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990, Stuttgart 2012; Saskia Richter, Die Aktivistin. Das Leben der Petra Kelly, München 2010; Dies., Gert Bastian – Seitenwechsel für den Frieden?, in: Robert Lorenz/Matthias Micus (Hg.), Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 410–430; Jochen Staadt, Versuche der Einflussnahme der SED auf die politischen Parteien der Bundesrepublik nach dem Mauerbau, in: Materialien der Enquete-Kommision »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Band V, 3, Bonn 1993, S. 2406–2600; Wilhelm Knabe, Westparteien und DDR-Opposition. Der Einfluss der westdeutschen Parteien in den achtziger Jahren auf unabhängige politische Bestrebungen in der ehemaligen DDR, in: ebd., Band VII, 2: Widerstand, Opposition, Revolution, Baden-Baden 1995, S. 1110–1202; Reinhard Weißhuhn, Der Einfluß der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklungen widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik aus der Sicht der Opposition in der DDR, in: ebd., S. 1853–1949; Manfred Wilke, Die Grünen als Objekt der Westarbeit der SED in der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss (2003), in: Ders., Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen. Gesammelte Schriften, zu seinem 65. Geburtstag zusammengestellt und hg. von Hans-Joachim Veen, Wien-Köln-Weimar 2006, S. 163–168.

17Gerhard Wettig, Die Sowjetunion in der Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss 1979–1983, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009) H. 2, S. 217–259; Ders., Der Kreml und die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012) H. 1, S. 143–149; Holger Nehring/Benjamin Ziemann, Führen alle Wege nach Moskau? Der NATO-Doppelbeschluss und die Friedensbewegung – eine Kritik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) H. 1, S. 81–100; vgl. Michael Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall, Berlin-München 2000; Ders./Hans-Peter Müller, Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss, Münster 2004; Christoph Becker-Schaum/Philipp Gassert/Martin Klimke (Hg.): »Entrüstet Euch!«. Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012.

18Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993; Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Josef Boyer/Helge Heidemeyer (Bearb.), Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1983–1987, hg. von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und dem Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe. Deutschland seit 1945, 14/I), Düsseldorf 2008; Wolfgang Hölscher/Paul Kraatz (Bearb.), Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987–1990, hg. von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und dem Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe. Deutschland seit 1945, 14/II), Düsseldorf 2016; vgl. ferner Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft.

19Kowalczuk/Polzin (Hg.). Fasse Dich kurz!; Thomas Klein, »Frieden und Gerechtigkeit!« Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Wien-Köln-Weimar 2007; Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Berlin-Bonn 1997; Wolfgang Rüddenklau, Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989. Mit Texten aus den ›Umweltblättern‹, 2., überarb. Auflage Berlin 1992.

20Zur Westarbeit: Hubertus Knabe, West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«, unter Mitarbeit von Bernd Eisenfeld/Jochen Hecht/Hanna Labrenz-Weiß/Andreas Schmidt/Birgit Sündram/Monika Tantzscher/Tobias Wunschik/Herbert Ziehm, Berlin 1999; Helmut Müller-Enbergs (Hg.), Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996; Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1998; Teil 3: Statistiken, unter Mitarbeit von Susanne Muhle, Berlin 2008; Ders., Hauptverwaltung A (HV A). Aufgaben – Strukturen – Quellen, Berlin 2011 (= Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik [Hg.], Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Struktur – Methoden. MfS-Handbuch, Band III/23), URL: www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421303496; Herbstritt/Müller-Enbergs, Das Gesicht dem Westen zu; Herbstritt, Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage; Thomas Auerbach/Matthias Braun/Bernd Eisenfeld/Gesine von Prittwitz/Clemens Vollnhals, Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«, Berlin 2008 (MfS-Handbuch, Band III/12), URL: www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421301343; Tobias Wunschik, Die Hauptabteilung XXII: »Terrorabwehr«, Berlin 1996 (MfS-Handbuch, Band III/16) URL: www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421301414.

21Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007; Ders., Die Grünen und Gorbatschow. Metamorphosen einer komplexen Beziehung 1985 bis 1990, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014) H. 4, S. 481–514; Heike Amos, Die SED-Deutschlandpolitik 1961–1989. Ziele, Aktivitäten und Konflikte, Göttingen 2015.

II.

Die SED, das MfS und die Grünen: Eine politische Geschichte 1979–1989

II.1.

Eine neue Partei: Störfaktor oder Bündnispartner? (1979–1983)

Will man die Politik des Ministeriums für Staatssicherheit und seine geheimdienstlichen Strategien gegenüber den politischen Akteuren in der Bundesrepublik verstehen, so ist es zunächst notwendig, ein wenig auszuholen. Das MfS ging nicht nach eigener Agenda vor, sondern hatte sich in den Dienst der SED-Politik zu stellen, die wiederum wesentlich von den Vorgaben der sowjetischen Außenpolitik bestimmt war. Dies gilt ganz besonders für die Phase des beginnenden »Zweiten Kalten Krieges« Ende der siebziger Jahre, in die auch die Gründung der Grünen fiel. In der Bundesrepublik stand die Parteigründung am 12. und 13. Januar 1980 in Karlsruhe für einen Wendepunkt, an dem sich die Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung, die Neue Linke der 1970er Jahre und nicht zuletzt die Protestbewegung gegen die atomare Rüstung und die damit einhergehende Blockkonfrontation zu einer dauerhaft wirksamen Kraft des politischen Spektrums und in der Zukunft auch als Faktor des parlamentarischen Systems entwickelten.

Um 1979/80, als die Grünen die politische Bühne in der Bundesrepublik betraten, war die DDR-Außen- und Westpolitik, neben dem Streben der DDR nach vollständiger Anerkennung, wie sie sich in Honeckers »Geraer Forderungen« (Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Festlegung der Elbgrenze auf Flussmitte, Schließung der Erfassungsstelle Salzgitter und Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften) vom Oktober 1980 niederschlug, von drei wesentlichen Faktoren bestimmt: Erstens nahmen nach der Phase der Détente, die in der KSZE-Schlussakte gegipfelt hatte, die Konfrontation der beiden Führungsmächte USA und UdSSR und ihrer jeweiligen Militärblöcke und somit die internationalen Spannungen wieder zu. Die Sowjetunion strebte weiterhin danach, durch Erneuerung und Ausbau ihres atomaren Potenzials ihren internationalen Status zu steigern. Die NATO setzte dieser Politik im Herbst 1979 den Doppelbeschluss entgegen, der Verhandlungsangebote mit der Ankündigung eigener atomarer Aufrüstung kombinierte. Mit dem Einmarsch in Afghanistan zu Weihnachten 1979 begann die Sowjetunion zudem ein Abenteuer, das sie nicht nur international – selbst in wohlwollenden Kreisen – viel Reputation kostete, sondern das sich in den folgenden zehn Jahren zur »mission impossible« entwickelte. Im Rückblick erscheint die Intervention geradezu als Symbolakt des »imperial overstretch«, der mittelfristig in den Ruin der Sowjetunion als Akteur der internationalen Arena mündete.1

Zweitens richtete die SED-Führung nach wie vor ganz besondere Aufmerksamkeit auf das politische Geschehen in der Bundesrepublik, das sie einerseits in Hinblick auf mögliche Regierungswechsel und deren Vor- und Nachteile betrachtete, zum anderen hinsichtlich der generellen Chancen zur Stärkung der eigenen Interessenlagen. Die DDR hatte ein Interesse daran, die regierende sozialliberale Koalition weiter im Amt zu sehen und insbesondere den betont antikommunistischen Kanzlerkandidaten der Unionsparteien, Franz Josef Strauß, an einem Erfolg bei der Bundestagswahl 1980 zu hindern. Zugleich galt es, Ansatzpunkte für eine Beeinflussung von SPD und FDP im Sinne der DDR-Interessen zu finden und zu nutzen, indem die entsprechenden innerparteilichen Kräfte gefördert wurden. Diese Strategie hatte im kommunistischen Politikverständnis eine lange Tradition und basierte auf der Grundannahme, dass die »sozialreformistische« SPD-Führung durch eine Aktivierung der Parteibasis sowie der Gewerkschaften zu einer »linkeren« Politik gedrängt bzw. gezwungen werden könnte.

Mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) verfügte die DDR in der politischen Landschaft der Bundesrepublik über einen direkten Ableger, der sich in der schillernden Szene der Organisationen links der SPD profilieren sollte und dort direkt oder mithilfe von Vorfeldorganisationen und Bündnispolitik die Interessen der DDR bzw. der Sowjetunion zu vertreten hatte. Erfolge der DKP bei Wahlen blieben aus (1976: 0,2 Prozent, 1980: 0,3 Prozent), aber aufgrund der finanziellen und logistischen Unterstützung vonseiten des SED-Regimes (von geschätzt rund 50 bis 70 Millionen DM pro Jahr2) und einer Stärke von mehreren Zehntausend Mitgliedern war die DKP in der linken Szene Ende der siebziger Jahre breit präsent und zumindest im Ruhrgebiet sowie einigen Universitätsstädten durchaus einflussreich.

Drittens rückte in den späten siebziger Jahren die prekär werdende wirtschaftliche und finanzielle Lage der DDR in den Mittelpunkt der SED-Westpolitik. Die Reduktionen in den sowjetischen Öllieferungen und der Anstieg des Ölpreises schmälerten die Einnahmechancen durch Weiterveräußerung auf dem Weltmarkt. Zudem belastete die geringe Investitionsquote unter der Honecker’schen Konsum- und Sozialpolitik die DDR-Volkswirtschaft. 1979/80 war das Bewusstsein für die heraufziehende Existenzkrise noch nicht zum dominanten Faktor der außenpolitischen Interessensdefinition der DDR und des Ostblocks geworden (dies trat erst mit der Kreditkrise 1981/82 ein), aber der Druck ökonomischer Zwänge begann sich auszubreiten.3

Für die Grünen interessierte sich die SED-Führung anfangs vor allem wegen der Frage der Regierungsmehrheiten in der BRD. Die ersten Auftritte als Grüne, Bunte oder Alternative Listen bei den Europawahlen sowie den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus 1979 waren der Anlass für das SED-Regime, dieses neue Phänomen genauer zu betrachten. Es drohte, so war absehbar, der Verlust der entscheidenden Prozentpunkte für die sozialliberale Koalition und damit ein Wahlsieg der CDU/CSU. So thematisierte das MfS die Grünen erstmals ausführlicher im Kontext der regelmäßigen Vorab-Analysen zur Bundestagswahl 1980. Es konnte berichten, dass mit einem Wahlerfolg wohl nicht zu rechnen sei:

»Die Wahlaussichten der ›grünen‹ Partei werden von den Bundestagsparteien durchweg skeptisch beurteilt. Es wird in keiner dieser Parteien mehr damit gerechnet, dass die ›Grünen‹ einen über 5 Prozent liegenden Stimmanteil erreichen und in den Bundestag einziehen. […] Als Ursachen für das schwindende Ansehen dieser Partei in der Wählerschaft werden allgemein die unzureichenden Programmaussagen zu interessierenden politischen Fragen, wie der Erhaltung des Friedens, und die andauernden internen Auseinandersetzungen angesehen, die ständig eine Spaltung erwarten lassen und bereits zur Absplitterung größerer Gruppierungen geführt haben. Innerhalb der ›grünen‹ Partei wird mehrheitlich noch mit einer Überwindung der Fünf-Prozent-Klausel gerechnet. Aber auch hier wächst der Anteil derer, die ein solches Ziel für illusorisch halten.«4

Die Informanten des MfS behielten in Bezug auf die Wahl recht, doch die Rede vom »schwindenden Ansehen« erwies sich als verfehlt. Wie das MfS in der Bundesrepublik immer wieder hörte, war eher damit zu rechnen, dass die Grünen ein dauerhafter Faktor werden könnten, trotz der unübersichtlichen Verhältnisse und der heterogenen politischen Kräfte innerhalb der Partei. So hieß es in einer der wenigen dokumentierten Originalmeldungen aus dieser Zeit, die vermutlich von den Diplomaten der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn stammte:

»Von dem chaotischen Verlauf ihres Parteitages dürfe man sich nicht täuschen lassen. Auf dem Parteitag widerspiegelt sich die politische Unerfahrenheit vieler Delegierter, was nicht viel zu bedeuten habe. Mit dem Parteitag sei ein erster Schritt zur Parteibildung getan worden und nur das zähle, weitere Schritte werden folgen. Damit sind und bleiben die Grünen eine große Gefahr für die Existenz der sozialliberalen Koalition. In der SPD werde erwartet, dass sich auch die jetzt noch umstrittene Frage der Doppelmitgliedschaft lösen werde. Der Grund dafür bestehe in Folgendem: Eine Reihe der K-Gruppen befänden sich in einer Art Auflösung, das betreffe nicht den KBW, sie haben einen starken Mitgliederschwund und viele der Mitglieder suchten nach einer neuen Orientierung. Insofern seien die Grünen für sie, z. B. für Mitglieder des KB und der KPD, eine Art alternativer Hoffnung. Deswegen könne mit einer relativen politisch-ideologischen Konsolidierung der Grünen gerechnet werden. Wenn diese Konsolidierung eintrete, werden die Grünen zu dem eigentlichen Problem der Koalition, ein Wahlergebnis um die 4 Prozent könnte für sie durchaus möglich sein. Dies wiederum könnte das Ende der FDP im Bundestag bedeuten.«5

Auf der Linie dieser aktuellen Beurteilungen lag die erste ausführliche Information an den ZK-Sekretär für Internationale Verbindungen, Politbüromitglied Hermann Axen, und den Leiter der ZK-Westabteilung, Herbert Häber, zum Wahlparteitag der Grünen am 21./22.6.1980 in Dortmund. Breit war hier von den Flügelkämpfen und insbesondere der Rolle der konservativen Kräfte um Herbert Gruhl und Baldur Springmann sowie der ökologisch orientierten Aktivisten wie Wolf-Dieter Hasenclever und Olaf Dinné die Rede.6 Der Darstellungsweise dieser Berichte zufolge stammten die Informationen in dieser Phase überwiegend von Quellen in anderen Parteien oder aus der Direktbeobachtung durch DDR-Diplomaten auf Parteitagen und bei anderen Gelegenheiten. Der Informationsgehalt unterschied sich nicht nennenswert von der zeitgenössischen westlichen Presseberichterstattung. Es zeichnete sich allerdings ab, dass hier für die Hauptverwaltung A des MfS ein neues Feld mit Rekrutierungsbedarf entstand.

Die Grünen in der Friedensbewegung

Die Grünen betraten die politische Bühne, als es in der DDR-Außenpolitik – und damit auch in den Prioritäten des Ministeriums für Staatssicherheit – zu einer bedeutenden Akzentverschiebung kam.

Seit 1979 hatte die sowjetische Führung unter Leonid Breschnew – getrieben vor allem von Verteidigungsminister Dmitri Ustinow und dem KGB-Vorsitzenden Juri Andropow – gedrängt und schließlich kategorisch verlangt, die internationale Politik des Ostblocks auf ein Ziel von absoluter Priorität auszurichten: die Stationierung neuer Atomraketen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses zu unterbinden.7

Wie der zuständige Abteilungsleiter im Apparat des SED-Zentralkomitees, Herbert Häber, im März 1979 nach einem Gespräch mit Wladimir Semjonow, dem damaligen sowjetischen Botschafter in Bonn und langjährigen Deutschlandexperten, notierte, sei die »Verhinderung der Einführung der Mittelstreckenraketen in der BRD« jetzt das »Hauptproblem« der gemeinsamen Politik gegenüber der Bundesrepublik.8 Dahinter stand die sowjetische Sorge, der Westen beabsichtige, die Fähigkeit zu einer erfolgreichen, kontrollierten atomaren Erstschlagskapazität zu erlangen. Zudem ließen Äußerungen sowjetischer Spitzenfunktionäre erkennen, dass zu diesem Zeitpunkt die extrem ressourcenintensiven Rüstungsambitionen, die der Sowjetunion unter Breschnew den Aufstieg zur global handlungsfähigen, den Amerikanern mindestens ebenbürtigen »Supermacht« gebahnt hatten, das Land an die Grenzen seiner ökonomischen Belastbarkeit zu bringen drohten.9 Der straffe Ton, in dem etwa der Sekretär für Internationale Beziehungen im ZK-Apparat der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Politbürokandidat Boris N. Ponomarjow, die führenden Funktionäre des Ostblocks in diese außenpolitische Aufgabenstellung einwies, lässt erkennen, dass die sowjetische Führung beeindruckt war von den NATO-Beschlüssen.10 Sie bestätigten aus ihrer Sicht, dass der »Imperialismus« seine Anstrengungen verstärken würde, sich in der atomaren Konkurrenz in eine Vorteilsposition zu bringen – sei es um tatsächlich einen Krieg zu führen, sei es um mit all seinen wirtschaftlichen Kräften den Ostblock »totzurüsten«. Damit war ein Grundton angeschlagen, der in den darauffolgenden Jahren der spätkommunistischen »Stagnationsperiode« trotz aller Wahrnehmungsverweigerung immer weiter in den Vordergrund rückte und schließlich – ab 1983 unter Andropow, ab 1985 unter Gorbatschow – zu geradezu verzweifelten Anstrengungen führte, durch Kurswechsel in Wirtschaft, Gesellschaft und besonders in der Sicherheitspolitik neuen Spielraum zu gewinnen.

Umso dringlicher schien es der Sowjetunion, die eigenen Stärken im Kalten Krieg auszuspielen und den Hebel an der richtigen Stelle anzusetzen, um die Raketenstationierung der NATO zu verhindern. Ihr Ziel war es, einzelne Staaten aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen – und da galt die Bundesrepublik Deutschland (neben den Niederlanden und Belgien) als Kandidat ersten Ranges. Die innenpolitische Landschaft bot seit den Zeiten der Studentenbewegung ein breites Betätigungsfeld. Es gab über die unmittelbare DKP-Klientel hinaus breitere Strömungen, die der »imperialistischen« Politik der USA und der NATO kritisch gegenüberstanden und den Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten mit wachsender Sorge beobachteten. Neben der Bündnispolitik der DKP und ihrer Vorfeldorganisationen sahen Sowjetunion und DDR ihre Fähigkeit, im Kalten Krieg mithilfe ihrer Nachrichtendienste verdeckte Operationen durchzuführen, als wichtige Stärke, um die daraus resultierenden Möglichkeiten zu maximieren. Solche verdeckten Interventionen genossen in der Denkwelt der politischen und geheimdienstlichen Führungen den Ruf, als Mobilisatoren von Volksmassen und antiimperialistischen Bewegungen tatsächlich geschichtsmächtig werden zu können. Die Erste Hauptverwaltung (Pervoje Glavnoje Upravlenie, PGU) des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit und die Hauptverwaltung A des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit konnten hierzu auf beachtliche finanzielle, logistische und personelle Ressourcen zurückgreifen.

Die UdSSR – und im Gefolge auch die DDR – richteten den entscheidenden Teil ihrer Ambitionen in den Jahren ab 1979 bis zu ihrem Scheitern Ende 1983 darauf, durch politische und verdeckte geheimdienstliche Mobilisierung die Raketenstationierung in der Bundesrepublik zu verhindern. Das Kalkül lautete, durch massiven öffentlichen und innerparteilichen Druck Kanzler Helmut Schmidt entweder dazu zu bewegen, für die Bundesrepublik eine Abkehr vom Doppelbeschluss zu formulieren, oder aber seine innerparteiliche und innergesellschaftliche Basis so zu schwächen, dass er durch einen anderen sozialdemokratischen Kanzler ersetzt werden könnte. Die weitergehende Hoffnung der sowjetischen Führung war es, dass eine Kehrtwende der Bundesregierung in der Stationierungsfrage das NATO-Bündnis zerbrechen lassen könnte. Diese Ziele waren ambitioniert, weil Schmidt den Doppelbeschluss mit seiner Kombination aus Verhandlungsangeboten und Stationierungsplan wesentlich mitentwickelt hatte und keinerlei Zweifel daran ließ, dass er an der transatlantischen Partnerschaft mit den USA nicht rütteln werde.

Die Mobilisierung einer Antirüstungsbewegung in der Bundesrepublik erschien in Moskau und Ost-Berlin überhaupt realistisch, weil die westdeutsche DKP konsequent auf diese Linie getrimmt wurde. Sie wurde zu einer Bündnispolitik verpflichtet, die darauf setzte, gezielt gemeinsame Nenner mit den nichtkommunistischen Kräften zu suchen, um so die eigenen Kräfte zu potenzieren. Die Hauptrolle der sowjetischen Kampagnenpolitik übernahm nicht die DKP selbst, sondern verschiedene »Fellow-Traveller«-Organisationen des sogenannten KOFAZ-Spektrums11 mit der Deutschen Friedensunion (DFU) an der Spitze. Sie versuchten, den Anschein der Unabhängigkeit durch die Integration von verschiedenen Persönlichkeiten in ihre Kampagnen zu wahren. Um Konkurrenz und das Risiko einer Spaltung zu vermeiden, ließen sich DKP und KOFAZ-Spektrum darauf ein, auch mit all jenen Gruppen und Strömungen zu kooperieren, die auf blockübergreifende Abrüstung insgesamt setzten und die sowjetische Rüstung ebenso ablehnten wie die westliche. Das entsprach nicht ihren Zielen, und die Funktionäre des sowjettreuen Spektrums setzten in den Koordinierungsgremien der gemeinsam gebildeten »Friedensbewegung« alles daran, solche Tendenzen zurückzudrängen. Sie folgten allerdings der Vorgabe, einen Bruch mit diesem Spektrum zu vermeiden und ließen sich deshalb immer wieder auf Kompromisse ein.

Hauptziel war die Sozialdemokratie, die personalstark, aber politisch gespalten war. Es gab dort eine breite Strömung, die im Zweifel die US-amerikanische Politik des Präsidenten Ronald Reagan ablehnte und der DDR sowie der UdSSR zumindest eine eher defensive Absicht unterstellte. Darüber hinaus speiste sich der Zulauf der Friedensbewegung personell stark aus Initiativen für blockübergreifende Abrüstung und Friedenspolitik »von unten«, aus christlichen Pazifisten sowie dem breiten alternativen Spektrum, das im Gefolge der anti-autoritären »Neuen Linken« entstanden war.12