Die Templerkathedrale - Die Geheimnisse und Botschaften von Chartres - Tobias Daniel Wabbel - E-Book

Die Templerkathedrale - Die Geheimnisse und Botschaften von Chartres E-Book

Tobias Daniel Wabbel

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Beschreibung

Warum zeichnete Villard de Honnecourt das Labyrinth der Kathedrale von Chartres in sein Skizzenbuch? Wusste er etwas über die verschwundenen Baupläne von Chartres? Spielte der Orden der Tempelritter beim Bau der Kathedrale eine Rolle? Was ist in Chartres verborgen? Tobias Daniel Wabbel widmet sich in seinem packenden erzählenden Sachbuch diesen Fragen. Die Antworten, die er findet, lassen die Kathedrale von Chartres – und unsere Wirklichkeit – in völlig neuem Licht erscheinen.

»Die Templerkathedrale ist ein faszinierendes, bahnbrechendes und wichtiges Buch. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.« Douglas Preston (Autor des Weltbestsellers »Die Stadt des Affengottes« und der Agent-Pendergast-Reihe)

  • »Die Templerkathedrale ist so spannend, als hätten Michael Crichton und Ken Follett gemeinsam ein Sachbuch über Chartres geschrieben [...].« (Martina André)
  • »Die Templerkathedrale ist ein faszinierendes, bahnbrechendes und wichtiges Buch. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.« (Douglas Preston)
  • "Spannend, schlüssig und hochinteressant – für mich das beste Sachbuch, das je über die Templer und ihre geheimnisvollen Schätze geschrieben wurde.“ (Martina André, Autorin von "Das Rätsel der Templer")
  • Eine exzellente, historisch fundierte Darstellung über die Templer
  • Tobias Daniel Wabbel gibt in seinem Werk erstmals plausible Antworten auf eine der großen Fragen der Geschichtsschreibung und lässt die Welt der Tempelritter und Ihres mysteriösen Schatzes lebendig werden
  • Mit zahlreichen Karten, Quellen, Fotos und neuen historischen Fakten

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Natürlich wieder eine alte Handschrift –

gewidmet Christian Brachthäuser in großer freundschaftlicher Verbundenheit

Tobias Daniel Wabbel (Jahrgang 1973) ist freier Schriftsteller. Er erlernte zunächst den Beruf des Typografen, studierte anschließend Journalismus und später kreatives Schreiben. Wabbel veröffentlichte zunächst als Herausgeber vier Anthologien zu theologisch-philosophischen Themen mit Beiträgen von Autoren wie Hans Küng oder Stephen Hawking. Die Recherchen zu seinem Buch „Der Templerschatz“ führten ihn anschließend über ein Jahrzehnt kreuz und quer durch ganz Europa. Für die „Templerkathedrale“ forschte er in Chartres insgesamt über ein Jahr lang. Tobias Daniel Wabbels besonderes Augenmerk gilt dabei der Semiotik und der christlichen Ikonografie von Kathedralen und Kirchen. Er arbeitete mit MDR, WDR und ARTE zusammen.

Tobias Daniel Wabbel

DIE TEMPLERKATHEDRALE

Geheimnisse und Botschaften von Chartres

ISBN978-3-641-31164-3V001

© 2023 by Bassermann Verlag, einem Unternehmen Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

© der Originalausgabe 2012 by Gütersloher Verlagshaus, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

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Projektleitung dieser Ausgabe: Martha Sprenger

Covergestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Herstellung: Franziska Polenz

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Das Kreuz und das Labyrinth

I. Die Zeichen

1. Das Portfolio des Villard de Honnecourt

2. Eine höhere Wirklichkeit

3. Der Schatz in der Finsternis

4. Der Kult um die Jungfrau Maria

5. Die Kathedralschule von Chartres

6. Die seltsame Leidenschaft des Abt Peter von Celle

7. Die göttliche Dimension Phi

II. Die Kathedrale

1. Ein Tempel für die Jungfrau

2. Der Baumeister Anonymus von Chartres

3. Das Geheimnis der schwebenden Steine

4. Der Wiederaufbau der Kathedrale

III. Die Geheimnisse

1. Die Israeliten von Chartres

2. Das Martyrium des heiligen Stephanus

3. Das Vermächtnis des Hugo von Champagne

4. Auf der Spur der Gesetzestafeln

5. Die Offenbarung des Nordportals

6. Die Kirche unter der Kirche

7. Der Schlüssel des Heiligen Petrus

IV. Die Botschaften

1. Die Botschaft des Labyrinths

2. Der zweite Tempel

Epilog: Die Ochsen und die Jungfrau

Register

Anmerkungen

Das Labyrinth von Chartres im westlichen Langhaus.

© Tobias Daniel Wabbel

Prolog

Das Kreuz und das Labyrinth

»diz vliegende bîspel

ist tumben liuten gar ze snel,

sine mugens niht erdenken:

wand ez kan vor in wenken

rehte alsam ein schellec hase.«

Wolfram von Eschenbach, Parzival, Buch I, 1,15 – 19

Als ich das westliche Langhaus der Kathedrale von Chartres betrete, bin ich, wie einst Auguste Rodin, »von Glanz geblendet«.1 Und dann – wie bei Rodin, so verfliegt auch für mich das Zauberhafte und die Steine des Langhauses materialisieren sich vor meinen Augen. Denn das Sonnenlicht durchflutet jetzt die Bleiglasfenster und zaubert blaue, rote, gelbe und grüne Lichttupfer auf den steinernen Kathedralboden. Es ist erstaunlich hell. Jahrhunderte der Düsternis durch den Ruß von Millionen Kerzen und Öllampen der Pilger und Gottesdienstbesucher, sind der Restaurierung mit Pinsel, Staubsaugern, Wattestäbchen, Latex-Filmbildungsmitteln und Farben gewichen.

Manche Architekten haben sich über diese Verschönerung bestürzt geäußert.2 Der Architekt Adrien Goetz etwa kommentierte, dass ein Besuch in Chartres nun vergleichbar sei mit dem Ansehen eines Kinofilms bei eingeschaltetem Licht. Die farbenprächtigen Bleiglasfenster kämen durch den zu hellen Innenraum nicht zur Geltung.3 Auch hier liegt mir Rodin in den Ohren, der sich in Chartres entsetzt zeigte, dass die »Pharisäer«, wie er die Restauratoren nannte, vermeintlich »nach den besten Rezepten« arbeiteten. »Wahrlich unfehlbare Rezepte für die Vernichtung«, konstatierte Rodin grimmig.4

Wie ich, so versucht auch mein Freund Émile Chmiel, mit dem ich seit Jahren die Kathedralen Nordfrankreichs erkunde, die verschwundene mystische Düsternis, die der Restauration zum Opfer fiel, auszublenden. Wir müssen uns mit dem begnügen, was die Restauratoren hier übrig gelassen haben. Während ich mir nichts aus frommen Gedanken mache, sondern Kathedralen durch die semiotisch-ikonographische Brille betrachte, hat Chmiel als Rektor einer Schule und Physiklehrer einen Hang zur wissenschaftlichen Skepsis, als Katholik aber auch eine ihm eigene Religiosität. Für ihn speichern die Steine der Kathedrale von Chartres Gottes Schöpfungskraft wie ein Akku Elektrizität. Ich komme nicht umhin, einzugestehen, dass die Kathedrale in meinem Bauch ein unerklärliches Kribbeln auslöst. Vielleicht ist es ein Vorzeichen für das, was wir entdecken würden. Vier Augen sehen mehr als zwei. Wir beschließen, die frühen Morgenstunden für unsere Nachforschungen zu nutzen. Die ersten Touristen trudeln in den Osterferien stets sehr früh in der Kathedrale ein. Ab halb zehn Uhr morgens wird es voll.

Chmiel, in schwarzen Nikes, Jeans, mit T-Shirt und dunklem Cardigan unter einer braunen Lederjacke gekleidet, steht am unteren, östlichen Ende des kreisrunden Labyrinths im Kathedralboden und betrachtet es durch seine randlose Brille. Das Sonnenlicht zeichnet seinen Schatten auf den Steinboden. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und tippt mit den Fingerkuppen seiner rechten Hand nachdenklich gegen seine oberen Schneidezähne. Er scheint etwas entdeckt zu haben.

Auch ich versuche mir einen Reim aus diesem erstaunlichen Labyrinth zu machen. Es befindet sich am Westportal hinter der Vorhalle und offenbart sich nur freitags in seiner ganzen Pracht, wenn die Stühle weggeräumt sind. Das Labyrinth besteht aus elfenbeinfarbenen Steinen aus dem benachbarten Steinbruch von Berchères und blau-schwarzem Marmor aus dem Gebiet des Flusses Meuse.5 Ich umkreise es ehrfürchtig, konzentriere mich und zähle nach. »113 Zähne«, sage ich.

»Es sieht aus wie ein riesiges Zahnrad«, bemerkt Chmiel trocken. Ich hole mein Entfernungsmessgerät aus dem Rucksack, stelle ein kleines gebogenes Stahlblech an den Rand des Labyrinths, gehe auf die andere Seite und messe nach. Der rote Punkt des Laserstrahls trifft auf das Stahlblech. Von mir bis zur Markierung beträgt der Durchmesser 12,885 Meter.6 Dann messe ich vom Zentrum bis zur Wand der Westfassade. Es sind 31,75 Meter. Das Westrosenfenster ist vom Boden ebenfalls 31,75 Meter entfernt und ist etwa so groß wie das Labyrinth. Ich blättere in meinem Notizbuch zurück. Die Westrose wurde ab 1200 angefertigt, etwa zur gleichen Zeit wie das Labyrinth.7 Es stellt Szenen aus dem Jüngsten Gericht der Offenbarung des Johannes dar. Offenbarungsszenen sind sehr selten an gotischen Rosenfenstern und erscheinen in dieser Pracht nur an der Westrose der Kathedrale von Laon.8

Warum ist die Westroseso groß wie das Labyrinth?, schreibe ich ins Notizbuch.

Der Gesamtweg des Labyrinths beträgt nach der Messung des australischen Architekturhistorikers John James 261,50 Meter.9 Der weiße Steinweg ist 34 cm breit und besteht aus elf parallelen Strecken mit 34 Kehren. Die elf steht für die Sünde, denn die Zehn Gebote Gottes wurden überschritten.10 Die schwarzen Trennungslinien sind 8 cm breit. Die zwölfte Strecke ist der Weg ins Zentrum. Die Zahl Zwölf steht für die zwölf Apostel Christi.11 Aber die Zwölf steht auch für die zwölf Stämme Israels. Der Weg führt zunächst entlang der inneren linken, dann entlang der inneren rechten Ringe des Labyrinths, um auf die äußeren linken und dann die äußeren rechten Ringe zu gelangen.

»Mich erinnert das Labyrinth an die Worte des Propheten Jeremia«, reißt mich Chmiel aus meinen Gedanken.

»Okay? Warum?«, frage ich.

»Die Juden suchen nach dem Exil in Babylon den Heimweg nach Israel«, sagt Chmiel und fügt mit feierlich klingendem Tonfall hinzu: »In jenen Tagen, spricht der HERR, werden die Leute von Israel samt den Leuten von Juda kommen. Sie werden weinend umherziehen und JHWH suchen. Sie werden nach dem Weg nach Zion fragen und sich dorthin kehren.«12 Er räuspert sich amüsiert. »So oder so ähnlich heißt es.«

Ich blicke ihn fragend an. »Hä?«

»Na, die Israeliten wenden sich dem Bund mit Gott zu, der auf dem Sinai geschlossen und mit den Gesetzestafeln besiegelt wurde.«

»Verstehe« Ich kratze mich am Kopf. »Wenn es danach geht, dann erinnert das Labyrinth außerdem an die Israeliten, die vierzig Jahre durch die Wüste Negev irrten. Sie brauchen jedoch keine Angst haben, vom Weg abzukommen, denn Gott leitet sie immer zum Ziel: Jerusalem.«13

»Nicht schlecht für einen Heiden«, kichert Chmiel.

Ich hebe grinsend und mit gespielter Empörung den rechten Zeigefinger. »Protestantisch getaufter Agnostiker, bitte schön! Das Labyrinth ist nur auf den ersten Blick ein metaphorischer Weg nach Jerusalem, den Pilger beschritten, wenn sie nicht die Reise nach Jerusalem antreten konnten. Denn das ist erst seit dem 18. Jahrhundert so.«14

Chmiel blickt mich überrascht an. »Echt jetzt?«

Ich nicke. »Im Mittelalter diente das Labyrinth als Tanzplatz zu Ostern.15 Der Bischof von Reims sang mit seinen Messdienern am Labyrinth ein Lied über den Auszug der Israeliten aus Ägypten.16 In der mittelalterlichen Kathedrale von Reims tanzte der Priester durch das Labyrinth und sang dabei: ›Ich bin das Alpha und das Omega.‹17,18 Der Tanz geschah in Anlehnung an die biblischen Tänze, wie bei David, der um die Bundeslade tanzte.19 Der Labyrinth-Tanz geht aber auf die hellenische Tradition zurück, die an Theseus’ Sieg über den Minotaurus erinnert. Denn Theseus tanzte nach dem Sieg auf dem von Daedalos geschaffenen Tanzplatz neben dem Labyrinth von Knossos.«20

»Alpha und Omega?«, sagt Chmiel. »Das steht in der Offenbarung wie auch bei Jesaja: ›Ich bin, der da ist, ich der Erste, ich auch der Letzte.‹«21

»Auf den ersten Blick weist das Labyrinth also auf die Offenbarung und die Erlösung durch Jesus Christus hin«, merke ich an. »Jesus ist Theseus, der in die Hölle absteigt und das Böse besiegt.22 Auf den zweiten Blick ist da aber noch etwas anderes.«

Ich lese einige Fakten aus meinem Notizbuch vor. Hier habe ich vermerkt, dass in Frankreich manche Kathedralen über Bodenlabyrinthe verfügten: Arras, Reims, Amiens, Bayeux, Poitiers, Sens, Saint-Omer sowie Saint-Quentin.23 Nur das Labyrinth in Sens, der ersten Kathedrale, war rund wie in Chartres, der Rest vier- oder sogar achteckig. Besonderes Interesse weckte das Labyrinth der Abteikirche von Saint-Bertin in Saint-Omer im Département Pas de Calais, denn es stellte im Zentrum den Salomonischen Tempel in Jerusalem dar und war viereckig.24

Ein Traktat mit dem Titel Das Labyrinth des Salomon aus dem 11. Jahrhundert zeigt ein viergeteiltes Labyrinth und bezieht sich auf die verwinkelten Gänge im Salomonischen Tempel von Jerusalem. Es hat starke Ähnlichkeit mit dem Chartres-Labyrinth.25 Im Buch der Könige heißt es dementsprechend: ›Eine Tür aber war zur rechten Seite mitten im Hause, dass man durch eine Wendeltreppe hinaufging auf den Mittelgang und vom Mittelgang auf den dritten.‹26 Ein Hinweis darauf, dass der Salomonische Tempel eine verschachtelte Raumstruktur aufwies. Die Nischen am äußeren Rand des Labyrinths setzen Kunsthistoriker mit den Ellen des Salomonischen Tempels gleich.27

»Aber der Salomonische Tempel taucht auch auf Karten der Kreuzritter von Jerusalem auf«, gibt Chmiel zu bedenken. »Die Jerusalem-Karte von 1200, die heute in Den Haag ist, zeigt Jerusalem als viergeteilten Kreis, ähnlich wie das Labyrinth von Chartres. Die Karte zeigt den Heiligen Georg als Tempelritter, der auf einem Pferd Sarazenen verfolgt.«28

Abb. 1: Das Labyrinth von Chartres ist viergeteilt wie die Jerusalem-Karte aus dem Jahr 1200, die sich in der Koninklijke Bibliotheek in Den Haag befindet.

© gemeinfrei, unter Verwendung von wikicommons

Ich stimme Chmiel zu. »Es gibt eindeutige Bezüge zwischen den Kathedral-Labyrinthen wie hier in Chartres und den mittelalterlichen Jerusalemkarten. Das gilt auch für Weltkarten wie die mappamundi von Hereford mit Jerusalem im Zentrum, auf der sogar das Labyrinth von Knossos eingezeichnet ist.29 Das Labyrinth in der Kathedrale von Amiens geht noch einen Schritt weiter. Es hat einen achteckigen Grundriss.«30

»Achteckig?«, sagt Chmiel. Er blickt mir an meiner rechten Schulter vorbei ins Notizbuch in meinen Händen. »Klingt nach dem Jerusalemer Felsendom. Der ist auch achteckig. Tatsächlich wird die Altstadt von Jerusalem durch ihre verwinkelten Gassen auch als Labyrinth bezeichnet. Ein echtes Labyrinth befindet sich sogar unter der Jerusalemer Altstadt und ist als Salomons Steinbruch bekannt, den schon der römische Geschichtsschreiber Flavius Josephus erwähnte.«31

»Auch deswegen achteckig, weil die Zahl acht sich auf Jesus Christus bezieht«, erkläre ich. »Als Katholik müsstest du das wissen. Am achten Tag, nach sechs Schöpfungstagen und dem Sonntag der Ruhe steht Christus am Ostermontag von den Toten auf.«32

Chmiel zieht eine Grimasse. »Ja-ja«, nörgelt er. »Klar weiß ich das.«

»Bevor wir uns zu früh auf die Israeliten festlegen, sollten wir doch wohl eher die Griechen konsultieren«, sage ich und lese weiter leise aus meinen Aufzeichnungen vor. Das Labyrinth geht ursprünglich auf die griechische Mythologie des Minotaurus zurück. Minos, ein Sohn des Gottes Zeus, herrschte auf Knossos als erster König auf der Insel Kreta. Aber Minos war kein leiblicher Sohn und hatte daher auch kein Anrecht auf den Königsthron. Aus Angst, dass er nicht König werden könnte, rief er den Meeresgott Poseidon an, Zeus’ Bruder. Poseidon sandte Minos als Zeichen dafür, dass er rechtmäßiger König war, einen prächtigen weißen Stier, der aus dem Meer emporstieg.

Zur Bedingung machte Poseidon, dass Minos diesen göttlichen Stier opferte. Aber Minos weigerte sich, denn alle Kreter bewunderten seine Schönheit. Der weiße Stier verwüstete die Stadt Marathon, nachdem er von Sparta nach Arkadien geirrt war. Theseus fing ihn schließlich auf Bitten des attischen Königs Aigeus in Marathon ein, woraufhin er in Athen geopfert wurde.

Aber eine weitere Strafe Poseidons folgte: Pasiphae, die Gemahlin von König Minos, gab sich vor seiner Opferung dem weißen Stier in einer von dem Athener Baumeister und Bildhauer Daedalos geschaffenen hölzernen Kuhattrappe hin. Sie gebar ein Kind mit Namen Minotaurus, halb Mensch, halb Stier. Aus Scham und um Poseidon nicht zu beleidigen, befahl Minos nun Daedalos, ein Labyrinth zu bauen, in dem der Minotaurus für immer umherirren sollte. Da die Athener Minos’ Sohn Androgeos töteten, unterwarf er sie nach einem Rachefeldzug.

Als Strafe mussten die Athener alle neun Jahre sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge dem Minotaurus zum Opfer darbringen. Theseus, der Sohn des Athener Königs, gewann die Liebe von Minos’ Tochter Ariadne. Ariadne stattete Theseus mit einer Garnrolle sowie einem Schwert aus. Theseus schlich sich als Teil der Athener Opfer in das Labyrinth ein und tötete im Zentrum den Minotaurus. Durch den Faden, den er am Eingang festgebunden hatte, fand er aus dem Labyrinth.33

»Aber warum taucht das Labyrinth in gotischen Kathedralen auf?«, fragt Chmiel. »Was war davor?«

»Mönche zeichneten Labyrinthe im 9. Jahrhundert auf Pergament«, sage ich. »Oft war das Zentrum der Labyrinthe die Stadt Jericho, mit sieben konzentrischen Kreisen als Hinweis auf sieben Umgänge der Stadt und daher acht Mauern.34 Mauern spielen in der biblischen Geschichte von Jericho eine wichtige Rolle. Die Bundeslade mit den Gesetzestafeln brachte sie zum Einsturz, nachdem die Priester Jericho siebenmal umrundet hatten.35 Otfried von Weißenburg verewigte in seiner Evangelienharmonie ein Labyrinth, das sich mit einer vertikalen Mittelachse dem Labyrinth von Chartres annähert.«36

Ich zeige Chmiel ein Foto in meinem Notizbuch, das ein Labyrinth auf einem steinernen Flachrelief in einer Säule der Vorhalle der Kathedrale San Martino in Lucca zeigt. »Sieht aus wie in Chartres«, merkt Chmiel an. »Aber der Eingang des Labyrinths ist im Osten, nicht wie hier in Chartres.«

Rechts neben dem Labyrinth von Lucca meißelte der Urheber den Text ein:

Hier ist das kretische Labyrinth, das Daedalos baute. Keiner, der es betrat, konnte entkommen, außer Theseus, Dank des Fadens der Ariadne.37

»Der Urheber meinte, dass der Weg aus dem Labyrinth wichtiger war, als der Weg hinein«, sage ich. »Für Umberto Eco entsprach das Labyrinth selbst dem Faden. Denn man findet immer heraus.38 Aber in der Sage entkommt Theseus nicht ohne den Faden der Ariadne aus dem Labyrinth. Daedalos selbst gab der Ariadne den Hinweis, bevor sie den Faden und das Schwert an Theseus weiterreichte.«39

»Mir fällt auf«, sagt Chmiel, »dass der Urheber des Labyrinths von Lucca keine christliche Umdeutung der griechischen Mythologie um das Labyrinth betrieb, obwohl es wahrscheinlich zur gleichen Zeit entstand, wie in Chartres.«

»Vielleicht sollten wir das nicht übersehen«, sage ich. »Der griechische Philosoph Platon sieht Daedalos gleich in mehreren seiner Schriften als den genialen Meisterarchitekten an.40 Daedalos galt als Schöpfer, als Demiurg, der Figuren aus Holz schuf, die so lebensecht waren, dass sie aus seiner Werkstatt zu laufen schienen.41 Sie hatten offene Augen und bewegliche Glieder. Auch Daedalos’ geniale Erfindungen sind so zu interpretieren, wie die Holzkuhattrappe, die er für Minos’ Frau Pasiphae schuf. Daedalos’ Statuen wirkten so verblüffend mobil, dass Platon sein Erstaunen darüber äußern musste.42 Der Architekturhistoriker Arthur Perez-Gomez interpretiert den Namen Daedalos als Spiel mit dem griechischen Wort daidala, was ›konstruieren‹, ›erschaffen‹, aber auch ›sehen‹ bedeutet. daidala gaukeln eine falsche oder andere Wirklichkeit vor, als wir sie wahrnehmen.«43

»Kein Wunder, dass Platon sich von Daedalos fasziniert zeigte«, murmelt Chmiel. »Wenn wir an das Höhlengleichnis aus Politeia denken.« Er tippt wieder mit den Fingernägeln sachte gegen die Schneidezähne und seine Augen mustern das Labyrinth vor uns. »Das Labyrinth von Chartres weist auf eine zweite Deutungsmöglichkeit hin: Das Labyrinth ist ein heidnisches Symbol in einem christlichen Gotteshaus.44 Aber das ist tatsächlich nicht alles.«

»Ich glaube, die Erbauer der Kathedrale von Chartres haben sich intensiv mit Daedalos, den Schriften Platons und seines Schülers Aristoteles identifiziert«, sage ich und packe das Stahlblech und das Messgerät in den Rucksack.

Jetzt stelle ich mich ins Zentrum des Labyrinths. Hier sind Metallbolzen in den Boden eingelassen, deren Anordnung auf den ersten Blick willkürlich erscheint. Die Kunstgeschichte neigt zu der Erklärung, dass diese Bolzen die Kupferplatte festhielten, auf denen Theseus und der Minotaurus zu sehen waren, bis Plünderer in den letzten Tagen der Französischen Revolution im Jahre 1792 diese Platten zusammen mit den Glocken der Kathedrale zu Kanonenkugeln einschmolzen.45 Zwischen den Figuren des Theseus und des Minotaurus war die Kupferplatte vielleicht ausgehöhlt. Ältere Texte erwähnen, dass die Bilddarstellungen auf der Kupferplatte bis zur Unkenntlichkeit abgetragen waren.46 Sinnvoll ist es dennoch, anzunehmen, dass die Baumeister der Kathedrale im Labyrinth namentlich erwähnt wurden, wie etwa in Amiens oder Reims.47

Ich baue mein Stativ auf, befestige die Digitalkamera, verbinde den Fernauslöser und fertige Fotografien aus allen möglichen Perspektiven an. Das ist schwieriger, als ich gedacht habe, denn nun tauchen Touristen und pubertierende deutsche Teenager auf, die vergnügt kichernd durch das Labyrinth hüpfen.

»Mist!«, brumme ich.

Eine Frau in einem knallbunten Wollkleid schickt sich an, den Weg durch das Labyrinth barfuß trippelnd zu durchqueren. Eine Touristin stellt sich in die Mitte des Labyrinths, schließt die Augen und hebt beide Hände wie bei einer Yoga-Stellung. Sie scheint meinen Unmut gehört zu haben, denn nun schaut sie mich mit verklärten Augen an und fragt auf Deutsch: »Fühlen Sie, wie Sie emporgetragen werden?«

»Nein«, antworte ich. »Ich fühle nichts dergleichen.«

»Aber die Kathedrale ist erfüllt von Kraftfeldern«, widerspricht sie mir.

Chmiel grinst mich verschwörerisch an und verdreht die Augen.

Ich zucke die Achseln. »Sorry, ich werde nicht emporgetragen und spüre auch keine Kraftfelder.«

Sie zieht ein beleidigtes Gesicht und verlässt das Zentrum. »Dann sind Sie halt nicht sensibel genug!«

Ich zucke die Achseln und versuche, mich wieder auf das Labyrinth zu konzentrieren.

»Siehst du das?«, fragt Chmiel plötzlich und zeigt auf die sechs Kreise, die das Zentrum des Labyrinths bilden.

»Nein«, maule ich. »Aber ich hoffe, du wirst mich einweihen.«

»Ein typischer Heide«, spottet Chmiel und zwinkert mir aufmunternd zu. Er zeichnet nun mit den Fingern eine unsichtbare Figur nach. Jetzt verstehe ich, was er meint. Ich nehme eine Kordelspule aus dem Rucksack, schneide mit meinem Schweizer Armeemesser sechs Fäden ab und lege sie auf den Boden. Zu meinem Erstaunen manifestiert sich vor meinen Augen Folgendes:

Abb. 2: Verbindet man die sechs Kreise im Zentrum des Labyrinths, erhält man die Form des Davidsterns, auch „Siegel des Salomon“ genannt. Das Siegel bezieht sich auf den Salomonischen Tempel.

© Tobias Daniel Wabbel, Grafik des Labyrinths nach einer Rekonstruktion von Noël Deney

»Ein Davidstern«, flüstere ich.

»Auch Siegel des Salomon genannt«, sagt Chmiel. »Flavius Josephus berichtet schon darüber. Oder der babylonische Talmud.«48,49 Er blickt mich triumphierend an. »Das Labyrinth weist auf den Salomonischen Tempel hin.«

»Du meinst, so wie im Zentrum des Labyrinths der Abteikirche von Saint-Bertin in Saint-Omer der Salomonische Tempel dargestellt war?«

Chmiel nickt und wischt sich nachdenklich die Haare aus der Stirn.

»Interessant«, sage ich mehr zu mir selbst. »Aber wie passt das mit einem Kreuz im Gewölbe zusammen?«

Chmiel sieht mich wieder überrascht an. »Welches Kreuz?«

Ich gehe zum Eingang des Labyrinths, blicke hoch ins Gewölbe und erkläre es Chmiel. Über uns in der Kappe des Kreuzrippengewölbes mit der Bezeichnung WVI entdeckte ein Restaurator 1978 ein in der Nähe des Schlusssteins gemaltes, rotes Kreuz, das stark an das Symbol der Tempelritter erinnerte.50 Wir suchen vergeblich das Gewölbe ab. Die Restaurierungsarbeiten waren leidlich erfolgreich. »Pharisäer«, hätte wohl Auguste Rodin wieder gebrummt.

»Das Kreuz im Gewölbe beschrieben jedoch schon ältere Chronisten, lange vor der Restaurierung«, sage ich.51 »Es steht im direkten Bezug zum Labyrinth.«52 Ich zucke die Achseln. »Was es bedeutet? Keine Ahnung. Vielleicht hat es etwas mit dem Siegel des Salomon zu tun.«

Chmiel zwinkert mir wieder zu. »Absolut nicht schlecht für einen Protestanten-Agnostiker-Ketzer.« Er wirft sich die Lederjacke über die Schulter und packt sein Notizbuch in die Leinentasche. »Was machen wir jetzt?«, fragt Chmiel.

»Wir krempeln die Kathedrale um.« Ich ziehe ein großformatiges Buch aus meinem Rucksack. »Und sehen uns das hier an.«

Das Königsportal der Westfassade der Kathedrale von Chartres.© gemeinfrei, wikicommons (Patrick)

I. Die Zeichen

»der sprach ›ist ez ein heidensch man,

sô darf er des niht willen hân

daz sîn ougn âns toufes kraft

bejagen die geselleschaft

daz si den grâl beschouwen:

da ist hâmît für gehouwen.‹«

Wolfram von Eschenbach, Parzival, Buch XVI, 813,17 – 22

1. Das Portfolio des Villard de Honnecourt

Während wir auf der anderen Straßenseite auf dem Vorplatz vor dem Westportal der Kathedrale von Chartres auf einer Bank sitzen, scheint die Frühlingssonne auf die Faksimile-Reproduktion eines rätselhaften Manuskripts auf meinen Knien.

»Was ist das für ein Buch?«, fragt Chmiel.

»Das ist die gründlichste Abhandlung über einen Mann namens Villard de Honnecourt, die je veröffentlicht wurde. Er lebte Ende des 12. Jahrhunderts und wirkte bis etwa 1240 in Frankreich.«

»Ein Bauhüttenmeister?«

Ich zucke die Achseln. »Er hinterließ ein Manuskript, dass der Schweizer Kunsthistoriker Hans Hahnloser als Bauhüttenbuch interpretierte. Hahnloser glaubte, dass Villard ein Dombaumeister war, der von Bauhütte zu Bauhütte ging und dort an der Entstehung der nordfranzösischen Kathedralen beteiligt war.«

Ich tippe auf die Seiten des Buches. »Der Kunsthistoriker Carl F. Barnes, Jr., aber auch andere Experten wiesen nach, dass das nicht stimmen kann. Villard war kein Bauhüttenmeister.«

Das Original des Manuskripts lagert in der Pariser Nationalbibliothek von Frankreich, erkläre ich. Es trägt die Bezeichnung Ms. fr. 19093, stammt aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts und ist in einen dunkelbraunen, an einigen Stellen abgeschabten Schweinslederumschlag gebunden. Rätselhaft ist es unter anderem deshalb, weil das Manuskript nur noch 33 von wohl ursprünglich 66 Pergamentseiten enthält. Von den 66 Pergamentoberflächen enthalten 37 Zeichnungen mit Texten, 27 von ihnen nur Zeichnungen, zwei hingegen enthalten nur Text. Umberto Eco hatte seine Freude daran gehabt.

Ich blättere die Seiten durch und Chmiel betrachtet sie über seine Brillengläser hinweg. »Was zeichnete Villard?«, fragt er.

»Darauf sind 250 mehr oder weniger versiert ausgeführte Zeichnungen von Grund- und Aufrissen von Kathedralen, Fenstermaßwerken, Konstruktionen von Kirchendachstühlen, Portalfiguren und Chorgestühlen«, antworte ich. »Außerdem enthält es Anweisungen zur Zeichentechnik von Skulpturen und Heiligenfiguren sowie technische Zeichnungen von Erfindungen, wie einer wassergetriebenen Säge, einem Trebuchet-Katapult oder einem Perpetuum Mobile.«

»Honnecourt kommt mir irgendwie bekannt vor. Sind wir da nicht gestern vorbeigefahren?«, sagt Chmiel.

Ich nicke. »Honnecourt-sur-Escaut ist heute eine kleine Ortschaft knapp 18 Kilometer südlich von Cambrai und 26 Kilometer nördlich von Saint-Quentin in der nordfranzösischen Picardie.«

»Da sind Felder bis zum Horizont. Merkwürdig, dass ausgerechnet im Nordosten Frankreichs die ersten Kathedralen entstanden.«

»Vielleicht gibt uns das Manuskript Aufschluss«, sage ich. »Carl F. Barnes, Jr. fand, dass ›Portfolio‹ im Sinne eines Albums die zutreffendste Definition wäre und nicht Bauhüttenbuch«.

»Aber wer war Villard?«, fragt Chmiel.

»Barnes wies darauf hin, dass Villard de Honnecourt ›in keinem Bauvertrag, keiner Grundstein- oder Labyrinth-Inschrift, keinem Zunftregister, keiner Zahlungsquittung, keinem Steuerregister, keinem Grabstein‹ oder anderem Beweisstück erwähnt würde. Niemand wisse, ob Villard Steinbildhauer, Maurer, Zimmermann, Schmied oder sogar Architekt war, der einer Bauhütte vorstand und den Bau einer Kathedrale anleitete. Wir wissen nur, was er nicht war.«

Chmiel blättert in den Abbildungen. »Mit Metall hatte er wohl nichts am Hut oder?«, sagt er.

»Interessante Beobachtung. Metallarbeiten ließ er aus. Villard gab zwar keine Berufsbezeichnung in seinem Portfolio an. Die Texte im Manuskript behaupten jedoch, dass er auf Wanderschaft gewesen sei, die ihn sogar zweimal bis zum Zisterzienserkloster Pilis im heutigen Komitat Pest in Ungarn geführt hätten.«

»Aber Ungarn ist von Frankreich viele Monate Fußmarsch entfernt. Das traute man sich nur, wenn man mit mehreren Leuten unterwegs war und Pergamente dabei hatte, die einen als Gesandten von Adelshäusern oder Klöstern auswiesen.«

»Barnes ist sich nicht sicher, dass Villard überhaupt in Ungarn war, findet aber auch keine Argumente, die dagegen sprechen. Wie auch immer, Villard hoffte, dass spätere Bauleute sein ›Buch‹, wie er es nannte, benutzen und sich dadurch an ihn erinnern würden. So was ist durch Manuskriptschenkungen an Klöster dokumentiert. Vieles weist also darauf hin, dass Villard Verbindungen zu einem Zisterzienserkloster unterhielt.«

Chmiel blättert wieder in der Reproduktion von Villards Manuskript und begutachtet die lateinischen Begleittexte. »Sind die Worte von Villard?«

»Die Texte neben den Zeichnungen? Nein, er schrieb sie nicht«, antworte ich. »Sie stammen von unbekannten Schreibern, die sie nachträglich teilweise in Latein einfügten. Die unbekannten Schreiber werden als ›Hand II‹ und ›Hand III‹ bezeichnet. Der Kunsthistoriker Wilhelm Schlink glaubte, dass Villard de Honnecourt ein Analphabet war, der zwar zeichnen konnte, aber den Großteil der Bildlegenden nur Schreibern diktierte. Letztendlich ist das aber nicht nur Spekulation, sondern unwahrscheinlich.«

Chmiel schüttelt den Kopf. »Das halte ich auch für Blödsinn. Die zeichnerische Fertigkeit lässt auf einen gebildeten Hintergrund schließen, der mit grundlegenden Prinzipien der Zeichenkunst und der Geometrie vertraut war.«

»Das stimmt. Umberto Eco wies anhand der Zeichnung von einem Löwen nach, dass Villards Darstellungskunst durch die heraldischen Konventionen jener Zeit geprägt war. Die Wahrnehmung war durch die ikonographischen Codes beeinflusst.53 Also wird Villard wohl seine Bildung im benachbarten Zisterzienserkloster Vaucelles erhalten haben. Barnes ging davon aus, dass Villard als 16-jähriger Geselle um 1200 täglich die Baustelle von Vaucelles besuchte und dort theoretisch und praktisch lernte. Villard zeichnete anscheinend mit Einsicht in die dortigen Bauunterlagen einen Grundriss des Chors der Abteikirche.«

Vor uns sehen wir einen behelmten Soldaten, der über seinem Kettenhemd ein Stoffüberwurf trägt, ähnlich einem Mönchshabit. Die rechte Hand hebt er zu einem Segen an. Ein Kommentar ergänzt: »Villard de Honnecourt, so wie er in Ungarn gewesen ist.«

Abb. 3: Fol. 2r des Portfolios von Villard de Honnecourt zeigt einen Soldaten mit Schild und Waffen in Kettenhemd und Habit gekleidet, der seine Hand segnend hebt. Es gilt als sein Selbstportrait.

© gemeinfrei, unter Verwendung von wikicommons

»Aber wer war jetzt Villard, muss ich wieder fragen«, beharrt Chmiel.

»Spannende Frage, oder? Kunsthistoriker Barnes ging davon aus, dass Villard de Honnecourt kein Kathedralbaumeister wie Robert du Luzarches oder Pierre de Montreuil war, deren Namen in den Kathedralen Amiens und Notre-Dame de Paris verewigt wurden.«

»Kathedralbaumeister trugen auch keine Kettenhemden mit Habit«, kichert Chmiel. Er räuspert sich und sagt dann ernst: »Wir sehen vielmehr einen Soldaten mit Schild und Waffen. Wir sehen architektonische, technische und figurative Zeichnungen. Sie muten allesamt wie Dokumentations- oder Kontrollzeichnungen an, die Villard mehr oder weniger exakt und schnell anfertigte.«

»Wenn ich das Manuskript durchblättere«, sage ich, »dann stellen sich mir Fragen wie: Warum zeichnete Villard de Honnecourt die Ochsen an den Türmen der Kathedrale von Laon? Sie hat mit ihrem viereckigen Chorabschluss einen zisterziensischen Grundriss. Sie hat keine Krypta. Sie hat kein Labyrinth. Warum das alles? Und warum zeichnete er in minimal angewandelter Form das westliche Rosenfenster der Kathedrale von Chartres und das Labyrinth im Boden?«

Chmiel fixiert das große Rosenfenster am Westportal, dreht sich dann zu mir und sagt: »Hatte Villard etwas mit den Tempelrittern in seinem Umfeld zu tun? Zumindest sieht seine Kleidung so aus. Seine Nähe zum Zisterzienserorden deutet an, dass er mit den Templern verkehrte. Die Kathedrale von Cambrai stand auf dem Land der Grafen von Flandern und um Cambrai herum befanden sich erstaunlich viele Templerhöfe und – häuser und auch Kommandanturen. Sollte er prüfen, dass in Laon und Chartres alles wie geplant ablief? Wenn ja, was sollte nach Plan ablaufen? Nur der Bau der Kathedralen oder noch etwas anderes?«

Ich schlage Villard de Honnecourts Portfolio zu. »Zeit, nach Antworten zu suchen«, sage ich und packe das Buch in den Rucksack. »Lass uns mit dem Westportal anfangen. Offensichtlich scheint Villard daran ein besonderes Interesse gehabt zu haben.«

2. Eine höhere Wirklichkeit

»Die Porta regia, das dreigliedrige Königsportal an der Westfassade«, sage ich, »wird bereits in einer Chartreser Gebetbuchschrift aus dem Jahre 1135 genannt und ist romanischen Ursprungs.54 Es heißt deswegen Königsportal, weil hier biblische Könige dargestellt sind. Die Kunsthistoriker wissen bis heute nicht genau, wer genau diese Gestalten sind, wann sie erschaffen wurden und welche Bedeutung sie haben.«55

»Das ist bemerkenswert«, sagt Chmiel. »Eine dieser Gestalten im rechten Gewände des linken Portals der Westfassade ist auf jeden Fall Moses.« Er zeigt auf die Gesetzestafel, die Moses in den Händen hält.

Eine andere Skulptur könnte König Salomon mit einer Schriftrolle in seinen Händen und einer Krone auf dem Kopf darstellen. Links neben König Salomon ist die Königin von Saba zu sehen, Salomons Geliebte. Neben ihr wiederum hält König David das Buch der Weisheit. Ganz links neben König David befindet sich »ein Prophet«.

Chmiel reibt sich nachdenklich das Kinn. »Weiß man, wer dieser Prophet sein soll?«

Ich hebe ratlos die Hände. »Niemand kann es mit Gewissheit sagen. Das ist es ja, was dieses Königsportal so besonders macht. Kunsthistoriker vermuten, dass es sich bei diesen Figuren etwa um die Königin von Saba, um König David oder König Salomon handelt. Gewiss ist es nicht.«56

Ich zeige auf die Figuren am linken und rechten Gewände des rechten Portals. »Diese Skulpturen dort entziehen sich ebenso dem Wissen der Kunsthistoriker. Auch die Personen des linken Gewändes des Mittelportals. Rätsel um Rätsel.«

Abb. 4: Das West- oder auch Königsportal bestand ursprünglich aus 24 Gewändefiguren. Fünf fehlen heute. Unstrittig ist, dass es sich bei zwei der Figuren um Moses mit einer Gesetzestafel und seiner Geliebten, der Königin von Saba, handelt.

© Tobias Daniel Wabbel

Chmiel sagt: »Vielleicht ist das auch ein Grund, warum das Königsportal und alle anderen Portale von Chartres während der Französischen Revolution unbeschädigt blieben, während das Gegenteil in Saint-Denis passierte, wo umfangreiche Arbeiten zur Rekonstruktion der Skulpturen nötig waren.«

»Es scheint fast so zu sein, dass die Steinmetze absichtlich bestimmte Erkennungsmerkmale ausgelassen haben, so dass eine Identifizierung – abgesehen von Moses mit seiner Gesetzestafel und der Königin von Saba – schwierig bis unmöglich erscheint.«57

»Das ist schon sehr merkwürdig«, sagt Chmiel. »Die Figuren sind zwar unversehrt und gut erhalten. Doch die Steinmetze haben Eigenschaften weggelassen, die eine eindeutige Identifizierung ermöglichen könnten? Warum?«

»Das frage ich mich andauernd«, antworte ich. »Sollte hier etwas verborgen und nur denen zugänglich gemacht werden, die in die Geheimnisse jener Epoche eingeweiht waren, als das Westportal geplant und anschließend in Stein gehauen wurde? Gibt es überhaupt keine Hinweise, die uns hier weiterbringen? Oder sind das nur Hirngespinste?«

»Die vielen Handlungen und Posen der biblischen Heiligen, Propheten und Könige lassen Rückschlüsse auf die Liturgie des Gottesdienstes zu«, erklärt Chmiel. »Im Mittelalter waren diese Bildgeschichten an den Portalen und den Bleiglasfenstern im Inneren der Kathedrale die einzige Möglichkeit, die Bibel zu verstehen, denn die lateinische Sprache war bis auf wenige Ausnahmen nur den Geistlichen vorbehalten. Eine Art Bibel-Comic aus Stein.«

»Wenn du mich fragst, dann weisen die Skulpturen an der Westfassade von Chartres auf eine verborgene Wirklichkeit hin. Umberto Eco wies anhand eines Fotos und einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert, die die Westfassade von Chartres zeigten, nach, dass der Zeichner am Westportal der Wirklichkeit zum Trotz spitzbögige Fenster darstellte.58 Er wollte Chartres so sehen, wie ihm das seine mentalen und kulturellen Zwänge ermöglichten. Eco nennt das Erkennungsscodes, also kognitive Schemas, denen wir bei der Betrachtung der Wirklichkeit und Objekten unterliegen.59 Sie wirken wie eine Schablone. Demzufolge werden Kunsthistoriker niemals davon abweichen, Kathedralen als Kunstobjekt zu sehen. Dass sie auch als Horte für kostbare archäologische Artefakte dienen können, ist für sie indiskutabel.«

»Eine sehr merkwürdige Haltung«, kommentiert Chmiel grimmig. Wir treten ein paar Schritte zurück und betrachten nun die drei Portale der Westfassade. Mir fällt auf, dass einige Säulen der Portalgewände keine Figuren zieren. Ich zähle neunzehn Gewändefiguren. Fünf fehlen. Ursprünglich standen demnach vierundzwanzig Figuren an den Gewänden der drei Portale der Westfassade. Diese vierundzwanzig Figuren entstammen dem Alten Testament.60 Zwischen diesen Figuren sind verschlungene Flechtmuster zu sehen, die von Sagengestalten der griechischen Mythologie durchzogen sind.

Das Tympanon – das Giebelfeld über dem Türsturz – des Mittelportals wird vom Weltenrichter Jesus Christus beherrscht, der in der sogenannten Mandorla thront, auch Aureole genannt. Sie hat die Form einer senkrechten Mandel. Hinter seinem Kopf ist ein Weihekreuz zu sehen. In der linken Hand hält er das Buch mit den sieben Siegeln aus der Offenbarung mit den Namen der Erlösten. Mit der rechten Hand segnet Jesus. Ihn flankieren vier Darstellungen der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, die hier als Mensch, geflügelter Löwe, geflügelter Stier und Adler dargestellt sind.61

Darunter befinden sich die zwölf Apostel. In den Archivolten sind in zwei Reihen angeordnet die vierundzwanzig Ältesten, die im Jüngsten Gericht vor dem Thron Gottes stehen, aber im Mittelalter in die zwölf Propheten aus dem Alten und die zwölf Apostel aus dem Neuen Testament aufgespalten wurden. In einer weiteren Reihe der Archivolten sind Engel zu sehen. Ganz oben im Scheitel der halbrund zulaufenden Portalbögen befindet sich sogar ein gekrönter Engel. Jesus erscheint am Ende der Zeit auf der Erde, um die Menschheit zu richten. Das Motiv verstärkt sich dadurch, dass neben den zwölf Aposteln auch noch zwei Endzeitpropheten zu sehen sind. Den zwölf Aposteln obliegt die Aufgabe, die zwölf Stämme Israels zu richten.

»Wir haben hier in diesem mittleren Portal eindeutig eine bildliche Darstellung der letzten Tage der Menschheit gemäß der Offenbarung des Johannes vor uns«, sagt Chmiel.

Ich stimme ihm zu. »Aber bis hierhin haben wir nichts Ungewöhnliches.«

Wir gehen zum linken Portal der Westfassade und untersuchen hier die Skulpturen und Reliefs.

»Es gibt Hinweise auf den Leidensweg Christi – die Passion«, sage ich.

Trotz der fehlenden Darstellung entdecke ich eine Szene der Taufe, der Apostelentsendung, der Wiederkunft und der Himmelfahrt. Gesäumt werden diese Darstellungen von faszinierenden Reliefs der Tierkreiszeichen und den dazugehörigen Monatsdarstellungen, die anzeigen, welche Arbeiten in welchem Monat verrichtet wurden. So findet sich die Jungfrau im Scheitel, die im September mit der Traubenernte assoziiert wird, darunter etwa der Löwe, der mit dem Dreschen des Getreides verbunden ist. Zehn Tierkreiszeichen finden sich hier. »Nur zehn?« Ich zucke ratlos die Achseln.

»Aber was ist das?«, fragt Chmiel und zeigt auf die Archivolten über uns.

Ich sehe Szenen aus dem Leben Christi, wie die Verkündigung, die Heimsuchung in Gestalt des Besuchs Marias bei ihrer Cousine Elisabeth, die Geburt Christi und insbesondere seine Erlebnisse im Tempel von Jerusalem. Dann deute ich auf die äußerste rechte und die äußerste linke Archivolte des rechten Portals der Westfassade. »Das sind die sieben freien Künste.«

Chmiel wischt sich über die Stirn. Es scheint ihm irgendwie peinlich zu sein. »Äh, was war das nochmal?«

Ich konsultiere mein Notizbuch und zeige auf die entsprechende Darstellung am Portal. »Soweit ich es erkennen kann, sind das dort oben in der rechten Archivolte die Arithmetik und der römische Gelehrte und neuplatonische Philosoph Boëthius, die Astronomie und Ptolemäus, sowie die Grammatik, die mit dem römischen Sprachlehrer Donatus assoziiert ist. An der linken Archivolte geht es mit der Geometrie weiter, die mit dem Mathematiker Euklid unter ihr dargestellt ist, darüber die Rhetorik mit dem Politiker, Schriftsteller und Philosophen Cicero, gefolgt von der Dialektik, der Platon oder Aristoteles unterstellt ist.62 Die sieben freien Künste sind hier in Gestalt von Jungfrauen dargestellt, die über den entsprechenden antiken Persönlichkeiten thronen.«

»Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, was die sieben freien Künste waren«, bemerkt Chmiel. Er blickt mich etwas verdrossen an.

Ich versuche, mein Wissen ins Gedächtnis zurückzurufen und sage: »Es war eine frühe Form der Wissenschaft. Die septem artes liberales gehen auf den in Karthago geborenen lateinischen Autor Martianus Capella (410 – 439) zurück, der in seiner Schrift De septem disciplinis die Hochzeit der Philologia mit Merkur, dem Gott der Wissenschaften, beschreibt.63 Merkur und Philologia bilden hier eine Einheit, die wiederum aus sieben Teilen besteht. Drei Jungfrauen gruppieren sich im Trivium, vier Jungfrauen im Quadrivium.Das Trivium besteht aus den drei Wissenschaftsdisziplinen der Grammatik, Dialektik und Rhetorik, also Sprache und logischem Denken. Das Quadrivium umfasst arithmetisches Rechnen, Geometrie, Musik und Astronomie.«

»Aha, also eine Form von bescheidenem Wissenschaftskanon.«

Ich nicke. »Martianus Capella fasste die sieben Wissenschaftsdisziplinen in seiner Schrift De septem disciplinis zusammen und hinterfragte in zwei vorangestellten Kapiteln die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis. Capella wies den sieben freien Künsten bestimmte Eigenschaften zu, die für sieben Wissenschaftsdisziplinen stehen und die in Chartres bildhauerisch umgesetzt wurden.«

»Ah, kapiert. Manchmal ist es schwer, als Lehrer zuzugeben, dass ich über bestimmte Dinge nichts weiß. Wir Lehrer werden wohl Lehrer, weil wir alles besser wissen. Vor allem Mathelehrer.«

»Apropos Mathe«, sage ich. »Die Figur für die Arithmetik, also Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren mit natürlichen Zahlen, trägt einen Rechenschieber mit Kugeln.«

Ich berühre den kalten Stein der Kathedrale mit meiner rechten Hand und blicke zur Archivolte hinauf. »Der römische Gelehrte Boëthius begleitet die Arithmetik. Er wurde um 480 geboren und starb um 525. Ursprünglich wollte Boëthius die Werke sowohl von Platon als auch von Aristoteles ins Lateinische übertragen.64 Boëthius’ Vermächtnis bestand jedoch letztendlich in der Übersetzung und Veröffentlichung von Aristoteles’ Werk über die Logik mit dem Titel Organon. Durch den Platoniker Thierry von Chartres und die Figur des Philosophen unterhalb der Dialektik finden wir einen Verweis auf Platon, der Aristoteles’ Lehrmeister war. Doch da ist noch mehr.«

»Was meinst du?«

»Die Arithmetik umfasst nicht nur die Grundrechenarten, sondern auch die Auslegung der mystischen Zahlensymbolik der Pythagoreer, die jeder Zahl eine bestimmte Bedeutung gegenüberstellten.«

Chmiel stellt sich auf die Schuhspitzen, reckt den Hals und sagt: »Die Gestalt der Geometrie zeichnet Figuren auf eine Tafel und wird von Euklid begleitet. Sie symbolisiert die Geographie, euklidische Geometrie, Landesvermessung mit Hilfe der Trigonometrie und ihrer praktischen Anwendung in der Triangulation. Damit konnten Orte auf der Erde geographisch bestimmt werden.«

»Ja, so erstaunlich wie das hier.« Ich zeige auf die Figur für die Musik. »Die Musica hält eine Harfe in ihrer linken Hand«, sage ich. »Ein Monochord, ein Musikinstrument mit einer einzigen Saite zum Stimmen ihrer Instrumente, steht zu ihrer Rechten. Mit der rechten Hand schlägt sie mit einem kleinen Hammer gegen ein Glockenspiel. Dass soll wohl die Suche nach dem Ton verdeutlichen, der nach Pythagoras die Welt der Sphären zum Schwingen bringt. Das Stimmen der Instrumente ist auch ein Symbol für die kosmische Musik. Das Monochord und die kosmische Musik der Sphären.«

»Die kosmische Musik scheint hier in Chartres in Gestalt der Kathedrale zu Zahlen, Dimensionen und Stein erstarrt zu sein«, grinst Chmiel. »Glockenspiel und Monochord sind Ausdruck der kosmischen Musik? Das klingt nach Time von Pink Floyd.«

Ich muss ebenfalls grinsen. »Ich glaube, die Menschen damals waren weiter, als wir denken. Vielleicht gibt es hier in Chartres ja auch eine dunkle Seite des Mondes. Etwas uns Verborgenes. Das verdeutlicht die Astronomia, die mit dem rechten Finger zum Himmel zeigt. Der Astronom unter ihr ist Ptolemäus. Er ist ein Hinweis dafür, dass die Astronomie nicht als Sterndeuterei im Sinne der Astrologie interpretiert werden darf, sondern als eine Forschungsdisziplin, die als Wissenschaft zur mathematischen Berechnung der Sterne und Planeten, daher des Universums, aufgefasst werden sollte.«

»Okay, deswegen auch die Tierkreiszeichen. Und was ist neben der Musica?«

»Das müsste die Grammatik sein«, sage ich. »Denn sie hält eine Rute in ihrer rechten Hand und unterweist zwei Kinder zu ihren Füßen, die jeweils gebundene Pergamentseiten halten, im rechten Gebrauch der Schrift und der Sprache. Die Grammatik, die auf den alten antiken Autoren beruht. Zu den Füßen der Grammatik hockt Donatus, der Biograph des Dichters Vergil und Autor von zwei Standardwerken über die Grammatik.«

»Dann kann das nur die Rhetorik als Sinnbild für die Redekunst sein. Hält sie einen Schleier hoch?«

»Es sieht so aus.«

»Es ist sehr wahrscheinlich ein versteckter Wink für die Verhüllung von etwas Unbekanntem«,65 sagt Chmiel. »So wie ein rhetorisch begabter Mensch durch geschickt gewählte Worte bestimmte Aspekte verhüllen oder weglassen kann oder auch Dinge mitteilt, ohne sie zu sagen, steht die Rhetorik für die ausgesprochenen Worthülsen, aber mehr noch für die unausgesprochenen Informationen.«

Ich sage: »Du meinst, es steht für die Verhüllung einer verborgenen Wahrheit? Vielleicht hier in Chartres?«

Chmiel nickt.

»Dafür«, sage ich, »spricht zumindest die Tatsache, dass die Gelehrten der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert die Einleitung der Schrift über die sieben freien Künste von Martianus Capella häufig kommentierten.«66

»Wofür steht die Dialektik?«, fragt Chmiel.

»Sie hält in der linken Hand eine Blume.« Ich zögere. »Äh, oder so.« Ich räuspere mich. »Könnte auch eine Fackel sein. Man weiß es nicht so genau. Ich tippe auf Blume. Mit der rechten Hand umfasst sie einen Drachen.«

Was hat der Drachehier zu suchen? Und was hat es mit dem Philosophen Platonhier in Chartres auf sich?, schreibe ich in mein Notizbuch.

Abb. 5: Am rechten Portal der Westfassade findet sich die Darstellung der Dialektik in Gestalt einer Jungfrau, die einen Drachen hält. Sie ist Bestandteil eines Ensembles, das die sieben freien Künste darstellt. Die Dialektik steht für die Argumentation mit Hilfe der menschlichen Vernunft und geht auf den Philosophen Platon zurück.

© Maconea Fruijtier

Ich forme einen Würgegriff mit meinen Händen. »Martianus Capella wies darauf hin, dass die würgende Schlange auf die Menschen hinweise, die sich genötigt sehen, die logischen Schlussfolgerungen der Dialektik befolgen zu müssen. Aber das hier ist keine würgende Schlange. Der Begriff Dialektik kommt von dia für durch und legein für sprechen. Es geht um die widersprüchliche Rede, das Abstreiten von Behauptungen in Form des Dialogs. Platon verfasste seine Werke in Dialogform. Platon schuf durch Sprache Erkenntnisse über die Natur der Wirklichkeit.«

»Führen wir nicht auch gerade einen Dialog über die Kathedrale?«, lacht Chmiel. »Das ist echt verdammt postmodern.«

»Ich denke, das ist auch so beabsichtigt von den Schöpfern des Westportals. Eine Besinnung auf den Platonismus im Spiegel der eigenen Persönlichkeit. Was bin ich zu erkennen bereit?«

»Okay, das ist spannend. Was wissen wir über Platon, außer, was ich aus der Schule kenne?«

Ich lese wieder aus dem Notizbuch vor. Platon wurde im Jahr 427 v. Chr. in eine adelige Athener Sklavenhalterfamilie geboren und im Jahre 407 in die Schule von Sokrates aufgenommen. 399 wurde Platons Lehrer Sokrates hingerichtet. Platon musste seiner eigenen Wege gehen. Er reiste nach Megara, lernte dort den Mathematiker Euklid kennen und machte sich mit den grundlegenden Prinzipien der Arithmetik und Geometrie vertraut. Er bereiste Kyrene und Sizilien. 390 v. Chr. erreichte Platon Syrakus, um hier Philosophie zu lehren.

Der Despot Dionysios I. verkaufte Platon als Sklave. Sein eigener Schüler Annikeris kaufte ihn frei, so dass Platon um 386 v. Chr. in Athen seine Philosophenschule gründen konnte. Platon starb 347 v. Chr. in Athen. Sein philosophischer Einfluss ist bis heute enorm. Platons Schüler Aristoteles vertiefte viele seiner Thesen und weitete das Gedankengut zur Dialektik in seiner Schrift Topik aus. Heute gilt Platon als der größte Philosoph der Geistesgeschichte.67

Während seiner Reisen nach Sizilien kam Platon mit den Pythagoreern in Kontakt, einer Gemeinschaft von Denkern, die sich der Mathematik und der Zahlenmystik verschrieben hatte und auf den Mathematiker Pythagoras