Die unbequeme Wahrheit - Gabor Steingart - E-Book

Die unbequeme Wahrheit E-Book

Gabor Steingart

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Die Politik versucht mit künstlich geschaffenem Notenbankgeld die Welt von gestern zu retten – und verpasst so die Zukunft.« Gabor Steingart über Deutschland nach Corona

Corona ist mittlerweile nur ein anderes Wort für Ausrede. Gabor Steingart hat eine persönliche Rede verfasst, die uns die Augen öffnet für die Erschöpfungszustände im produktiven Kern unserer Volkswirtschaft. Die unbequeme Wahrheit hinter den billionenschweren Konjunkturprogrammen handelt von ökonomischer Erstarrung, prekären Arbeitsverhältnissen und sozialer Spaltung in Deutschland. Alles wird beklagt, aber nichts bekämpft. Europa greift zu den synthetischen Drogen der Geldschöpfung, auch um den Schmerz des Epochenwandels nicht zu spüren. Die politisch Verantwortlichen konservieren unterm Rettungsschirm die Welt von gestern. An der Schwelle von der Industrie- zur Digitalgesellschaft hat Deutschland von Pionier auf Follower umgeschaltet – mit gravierenden Folgen für unseren Wohlstand. Doch es gibt Alternativen zur Verzweiflung und Steingart benennt sie. Digitalisierung, Globalisierung und Klimaschutz bilden das magische Dreieck der bevorstehenden Transformation. »Nur wenn wir alle drei Phänomene zusammendenken, ihre Vernetztheit erkennen und eine Welt bauen, die global, digital und nachhaltig ist, können wir bestehen.«

Dieses Buch ist eine Ruhestörung.
Dieses Buch ist eine Ermutigung.
Dieses Buch ist ein Programm für alle, die keine Lust auf Untergang haben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 162

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

»Die Politik versucht mit künstlich geschaffenem Notenbankgeld die Welt von gestern zu retten – und verpasst so die Zukunft.«

Gabor Steingart über Deutschland nach Corona

Dieses Buch ist eine RUHESTÖRUNG.

Dieses Buch ist eine ERMUTIGUNG.

Dieses Buch ist ein PROGRAMM für alle, die keine Lust auf Untergang haben.

Der Autor

Gabor Steingart, geboren 1962, ist einer der profiliertesten deutschen Sachbuchautoren und mehrfach ausgezeichneter Journalist. In seinem täglichen Podcast und Newsletter »Steingarts Morning Briefing« kommentiert er das aktuelle Welt- und Wirtschaftsgeschehen, bietet Nachrichten sowie exklusive Interviews mit Meinungsbildnern aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Sein Werdegang: 1990 bis 2010 SPIEGEL-Journalist in Leipzig, Bonn, Hamburg, Berlin und Washington D. C. 2010 bis 2018 zunächst Chefredakteur, später Herausgeber, Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Handelsblatt Media Group. 2018 gründete er die Medienmarke ThePioneer für unabhängigen und werbefreien Journalismus.

Auswahl der Bestseller: »Deutschland – Der Abstieg eines Superstars«, »Weltkrieg um Wohlstand«, »Die Machtfrage«, »Unser Wohlstand und seine Feinde«, »Weltbeben«.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

GABORSTEINGART

Die unbequeme Wahrheit

Rede zur Lage unserer Nation

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Copyright © 2020 Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle Infografiken mit freundlicher Genehmigung von ThePioneer Infografik, powered by statista/forsaGrafik: Janka MeinkenUmschlaggestaltung: Büro Jorge SchmidtUmschlagabbildung (Autorenfoto): © .sxi | Denis IgnatovSatz: Vornehm MediengestaltungISBN978-3-641-25115-4V001www.penguin-verlag.de

Liebe Freundin! Lieber Freund!

Entschuldige bitte, dass ich mich so unmittelbar an dich wende. Aber nach allem, was wir gemeinsam durchlebt und durchlitten haben, sind die Gefühle des Vertrautseins stärker als die der Fremdheit.

Wir waren gemeinsam allein.

Inmitten unserer Wohnquartiere hat man uns isoliert. Ängstlich sind wir einander auf der Straße ausgewichen.

Politisch waren wir auf stumm geschaltet.

Die Staatsgewalt hielt uns zu erhöhter Reinlichkeit an: Händewaschen! Zweimal »Happy Birthday« dabei singen! Und den Daumen nicht vergessen.

Der Surrealismus hatte das Museum verlassen.

In deinen Augen spiegeln sich die dramatischen Vorgänge einer Zeit, die jetzt für immer die unsere ist. Ich sehe dich an – und erkenne mich selbst. Wir sind einander verbunden.

Gerne möchte ich mit dir sprechen, und zwar so deutlich, wie schon lange niemand mit dir gesprochen hat. Es handelt sich um eine Ruhestörung, aber eine, die uns beiden guttun wird. Es geht darum, die Erst- und Einmaligkeit dieser Ereignisse für unser Leben besser zu verstehen, die aufkeimende Mutlosigkeit zu bekämpfen und das Festival der Apokalypse, das Regierung und Robert Koch-Institut in unseren Köpfen veranstaltet haben, ohne weitere Zugabe zu beenden.

Zukunft ist nichts, was wir machen. Zukunft ist etwas, das überall auf der Welt entsteht und das wir zulassen müssen.

Immer wieder gibt es in der Weltgeschichte stolze Nationen, die ihre Zukunft verpasst haben, wie man einen Zug verpassen kann. Aus Unschlüssigkeit. Aus Trödelei. Weil man abgelenkt ist. Weil man in der Annahme lebt, das sei zwar ein Zug, aber noch nicht der eigene.

In so einer Nation leben wir beide. Wir stehen als Gesellschaft an der Bahnsteigkante, manche versteinert, viele verbittert, noch immer erschöpft von den Erregungszyklen der Pandemie. Du und ich mittendrin. Eine innere Stimme spricht, aber sie spricht undeutlich.

Womöglich fehlt dem Zug der Zugführer. Die Abteile wirken verhangen. Unsere Füße, bleischwer.

Schäme dich nicht deines Unbehagens, mein Freund. Du bist nicht allein. Dieses Unbehagen ist womöglich das Wertvollste, was wir jetzt haben. Wir ahnen mehr, als wir wissen. Unser künftiges Leben wird keine Fortsetzung des bisherigen sein.

Lass uns jetzt nicht mutlos, sondern lass uns wachsam sein. Die Welt verformt sich vor unseren Augen, ohne dass jemand mit uns darüber gesprochen hätte. Öffne dein Fenster heute Nacht, mein Freund, und wenn du in die Stille hinaushorchst, kannst du hören, wie die tektonischen Platten unter deinem Leben sich verschieben.

Unser Gespräch benötigt nicht viel deiner Zeit, wohl aber eine Extraportion Tapferkeit, und das von uns beiden. Ich verspreche, dass ich zu dir wahrhaftig sein werde und mich nicht im Ton der Endzeittrommler an dich wende. Die Politiker haben, aufgeputscht durch das schicksalhafte Virus und dessen Bekämpfung, ohnehin keine Aufmerksamkeitsreserve für dich übrig.

Wie in Trance bewegen sie sich durch eine global komponierte Weltuntergangssymphonie, auf deren erlösenden Schlussakkord sie bisher vergeblich warten. Dass sie das Gegenwärtige auf Kosten des Zukünftigen retten, nehmen sie in Kauf.

Ich erspare dir die rhetorische Fürsorglichkeit einer politischen Elite, die sich in Ermangelung eigener Zukunftsentwürfe und angesichts geschrumpfter Vitalitätsreserven auf das Herstellen einer permanenten Gegenwart verlegt hat. Nur in der Krise überwindet sie ihre innere Ermattung. Man hat das Gefühl, sie braucht den heimtückischen Gegner, der sie zur Aktion treibt und der ihr Macht verleiht.

Deshalb vergröbert und vergrößert sie alles:

Das Killervirus.

Der Klimanotstand.

Die Bevölkerungsexplosion.

Die Flüchtlingsflut.

Die zweite Welle.

Mit großer Inbrunst und ohne strategische Nachdenklichkeit wird das vermeintlich Bewährte gegen das unbekannte Neue verteidigt. Die Welt von gestern – bewohnt von Fabrikarbeitern, Parteifunktionären und Zeitungsverlegern mit ihren Premiumprodukten Verbrennungsmotor, Kohlestrom, Klatschparteitag und einem durch Buchstaben veredelten Kieferngehölz – soll um jeden Preis weiter existieren, nur eben unterm Rettungsschirm. Hier findet der Gegenwartspolitiker seine Nährstoffe, die er zur Vorbereitung auf den nächsten Wahlkampf dringend braucht.

Du und ich, wir werden in Zeiten der permanenten Katastrophe von den Rettungspolitikern zuvorkommend behandelt, worüber wir uns hier nicht beschweren wollen. Erst nahm man uns wichtige Grundrechte weg, als da wären: die Gewerbefreiheit, die Bewegungsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit. Man rückte die Ferienhäuser bis hinter den Horizont, sodass sie nur noch im Traum zu betreten waren.

Nun umschmeichelt man uns.

Wir werden gelobt für das fleißige Händewaschen und das Halten der Distanz. Auch unsere sorgsam unterdrückte Aufmüpfigkeit rechnet man uns hoch an.

Im Angesicht der Gefahr haben wir Bürgerlein uns als folgsame Untertanen erwiesen. Das muss gefeiert werden. Und zwar schon deshalb, weil ein Regieren mit Notstandsverordnung, bei dem Parlamentarier durch Professoren eines Expertenkollektivs ersetzt wurden, auch in Zukunft sicher noch gebraucht wird. Die Tür zum autoritären Durchregieren ist geöffnet, und niemand hat jetzt die Absicht, eine Mauer zu bauen.

Die Staaten Europas sind, verunsichert durch die Wucht der Pandemie und abgestoßen von der politischen Kaltschnauze in Amerika, der Führung in Peking geistig näher gerückt, als es uns recht sein kann. Tagsüber spricht man weiter von den »westlichen Werten«, lobt Rechtsstaat und Demokratie, Reisefreiheit, Religionsfreiheit und mit aufgesetzter Fröhlichkeit auch die zu allen Zeiten lästige Meinungsfreiheit. Doch des Nachts träumt man im Berliner Regierungsbezirk, in Downing Street No. 10 und im Élysée-Palast den chinesischen Traum, in dem das Volk als Masse auftaucht, die nicht gehört, nur geknetet werden muss.

In der Krise war Angela Merkel dichter bei Mao als bei sich selbst: »Wir sind verpflichtet«, sagte der große Führer der Kulturrevolution, »das Volk zu organisieren.« Jetzt keine Diskussionsorgien, fügte eine gestrenge Kanzlerin hinzu.

Liebe Freundin, lieber Freund, ich möchte angesichts der Lage offen mit dir sprechen. Auf die gespielte Anteilnahme unserer Geistlichen sollten wir diesmal verzichten. Die Priester haben nach allem, was sich im Kerzenlicht ihrer Sakristeien ereignet hat, genug damit zu tun, das eigene Seelenheil zu retten.

Wenn ein Haus in Flammen steht, dann ihr Gotteshaus. Von ihnen können wir derzeit nichts lernen.

Ich verspreche, dass ich mich deutlicher und unmittelbarer mit dir beschäftigen werde, als Gewerkschaft und Arbeitgeberverband es je getan haben und es je tun werden. Beide schlafen im King-Size-Bett der Sozialpartnerschaft, wo man sich gegenseitig den Rücken krault und keine unbequemen Fragen stellt. Hier pflegt man von Kopfkissen zu Kopfkissen den wohltemperierten Ton, der nicht deiner Klarheit, wohl aber ihrer Beziehungspflege dient. »Pillow talk« nennen das die Amerikaner.

Liebe Freundin, lieber Freund, ich möchte angesichts der Lage gemeinsam mit dir an den Verbotsschildern der politischen Korrektheit vorbeischauen und die alberne Pressspanplatte vor unserem Kopf entfernen, die man uns dort angenagelt hat. Sie saß schon vor der Pandemie ein wenig locker.

Die Häuptlinge vom Stamm der ewig Entrüsteten, die ohne Rast und Gnade, dafür aber in tiefer Gedankenlosigkeit das Alphabet der Political Correctness zu ihrer Muttersprache erklärt haben, können uns jetzt nicht mehr beirren. Wir rufen ihnen zu:

Entpört euch!

Selbst denken befreit, und neu denken erfrischt.

Demokratie beginnt, wenn andere wollen, dass du schweigst.

*

Viele behaupten, diese Coronakrise werde sich als »Wendepunkt der Menschheitsgeschichte« erweisen. Danach werde »nichts so sein wie zuvor«, lautet die gebräuchliche Redewendung in unseren Medien. Wir kennen diese journalistischen Fertigbauteile aus der Zeit nach den Terroranschlägen von 9 / 11; und auch im Gefolge der Lehman-Pleite waren sie in Mode. Viele Journalisten haben sie in routinierter Gedankenlosigkeit in ihre aktuellen Texte hineinmontiert.

Realistischer aber ist die Annahme, dass diese Krise sich eben nicht als Wendepunkt, sondern als Beschleuniger erweist. Unsere Demokratie stand schon vorher unter Spannung. Man nimmt ihr übel, dass sie langsamer reagiert als die Flash Boys der Börse, die sich auf den Hochfrequenzhandel verstehen. Man wirft ihr vor, dass sie grübelt und zweifelt, während in China das ZK der Partei die Executive Orders ausspuckt wie der Parkscheinautomat die Scheine.

Keine Sorge, mein Freund: Die Demokratie wird auch jetzt nicht beseitigt, nur weiter geschmirgelt und geschliffen. Die Eliten verfolgen im stillen Einverständnis der unterschiedlichen Parteien ein ehrgeiziges Projekt: Sie wollen vom Volk ihre Souveränität zurück.

Unser Staat ist nach Corona nicht mehr der alte. Er hat sich selbst ermächtigt. Er will sich spüren. Er möchte wieder Herr im Hause sein. Der Ausnahmezustand ist sein neues Lebenselixier.

Die Marktwirtschaft mit ihren um sich selbst kreisenden Fixsternen von Angebot und Nachfrage war ihm in Wahrheit schon vorher suspekt. Immer, wenn man nach diesen Sternen griff, schienen sie in einer anderen Galaxie verschwunden. Nie wusste Vater Staat, ob da ein Stern aufstieg, der den Untertanen Prosperität versprach, oder ob da doch nur wieder ein leuchtendes Etwas seinem Verglühen entgegensauste, was für die Untertanen ein Leben in der Verschattung bedeuten könnte.

Seit jeher gibt es die Angewohnheit, den Wohlstand der eigenen Gegenwart auf Kosten anderer Menschen zu organisieren. Früher expandierte man mithilfe des Militärs in fremdes Territorium, um die Konsumwünsche der eigenen Bevölkerung zu befriedigen. Alle Nationen, selbst die verspäteten, wussten, wie das funktioniert.

»Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse«, so Bismarck am 30. September 1862, »werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.«

Heute, und daran kann man den Fortschritt der Zivilisation erkennen, werden die großen Menschheitsfragen weniger martialisch, aber nicht weniger effektiv entschieden. Eisen und Blut hat man durch die Notenpresse ersetzt.

Sie ist es, die heute den lautlosen Einmarsch in das Territorium künftiger Generationen organisiert. Die Ausbeutung der noch zu gebärenden Arbeitskraft ist beschlossene Sache, bevor die Eltern überhaupt beschlossen haben, Eltern zu werden.

Dieser Krieg ist für die kommende Generation verloren, ohne dass ein Schuss gefallen wäre. Das Rattern der Notenpresse ist deutlich humaner als das Rattern der Maschinengewehre.

Der künftige Mensch wird nicht erschossen, nur versklavt.

Der neue Untertan muss nicht bluten, nur zahlen.

Seine Arbeits- und Steuerkraft füllt mit der Zeitverzögerung von Dekaden auch die Liquiditätslücke des Jahres 2020, wie der kleine Untertan später in der Grundschule lernen wird. Das Wort »Generationengerechtigkeit« erfährt in diesen Tagen seine zynische Übersetzung.

Die Kosten der Gegenwart werden kurzerhand auf jene Treuhandkonten transferiert, die, wie bei Wirecard in Asien, noch immer auf Befüllung warten.

Die Kolonialisierung der Zukunft hat begonnen.

*

Ökonomisch erwartet uns nach der Pandemie nicht das Ende der Globalisierung, wie vielerorts prophezeit wird, und auch nicht der Zerfall Europas, sondern eine Welt der beschleunigten Digitalisierung.

Corona war die Preview auf unser künftiges Leben.

Das Virus funktioniert wie ein gestrenger Lehrmeister.

Es hat über Nacht das traditionelle, das analoge Leben unterbrochen – den Kulturbetrieb, den Flugverkehr, die Sportveranstaltungen, den schulischen Präsenzunterricht und den stationären Einzelhandel – , um dich, mein Freund, mit herrischer Geste in die Rituale der digitalen Welt, des Second Life, einzuführen.

Die Kathedralen unseres alten Lebens – die Flughäfen und die Shoppingcenter – waren verwaist. Wie Kinder, die Angst vor der wilden Nordsee haben, hat man uns hineingeschubst in die Welt des Streamings, der Videokonferenzen, des E-Sports und der digitalen Lehrmittel; seither tauchen wir immer tiefer ein in die Paläste des E-Commerce, in die Showrooms der digitalen Dienstleister und durchschwimmen die Kontakthöfe der algorithmischen Partnervermittler.

Alle elf Sekunden verliert sich ein Single.

Corona wurde zu einer teuer erkauften Nachhilfe im Fach »Zukunftskunde«. Überrascht stellen wir fest: Die verborgene Grotte zur neuen Welt befindet sich gleich unterm Handydisplay.

Das Neue ist nach dieser Pandemie nicht mehr neu, sondern selbstverständlich.

Wir sind nicht mehr nur Beobachter, sondern Agenten einer neuen Zeit.

Von vorn feuert man uns an. Von hinten werden wir sanft gestupst. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Unwillkürlich fühlt man sich an Stefan Zweigs Die Welt von Gestern erinnert:

»Jeder war Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-abseits-Stellen wie in den früheren. Ständig musste man sich … den fantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet. So erbittert man sich wehrte; es riss einen mit, unwiderstehlich. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.«

Nur haben die politisch Verantwortlichen diese Nachhilfestunde der Wirklichkeit für sich gar nicht angenommen. Wie im Gespräch unter Schwerhörigen spricht jeder seine in früherer Zeit abgesicherten Texte.

Der eine fordert Solidarität, der andere versteht Steuersenkung.

Wir sagen Amazon, sie hören Kaufhof.

Die digitale Welt ist erkennbar nicht die ihre. Sie schauen ungerührt vorbei an der unbequemen Wahrheit, dass inmitten des Shutdown die digitalen Giganten Amerikas und Asiens einen Wachstumsschub sondergleichen verzeichnet haben, derweil unsere Volkswirtschaft an einem Vorhofflimmern leidet.

Bei Amazon und Alibaba waren keine Lieferketten unterbrochen. Bei Microsoft stand die Produktion nicht still. Netflix drehte hochtourig und darf sich nun als die wertvollste Medienfirma der Welt bezeichnen. Die sozialen Medien – Facebook, Snapchat und Co. – feierten an der Börse und im wahren Leben der Menschen ihr All-Time-High. Derweil das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, jener publizistische Leuchtturm, dem kein Schiff mehr folgt, ein Zehn-Millionen-Sparprogramm annoncierte. Andere Verlage werden folgen. Der Lebenszyklus nicht nur der klassischen Printmedien ist in seiner Spätphase angekommen. Die Beteiligten atmen flach.

Das Virus hat nicht nur den Menschen befallen, sondern auch unsere altehrwürdige Industrie- und Mediengesellschaft, die ausweislich von Lebensalter und Vorerkrankungen die besten Zeiten hinter sich hat. Wir denken an die Gift spuckenden Schornsteine, an das Schneckentempo der Informationsübertragung durch in Zellstoff aufgelöste Bäume und die Inkontinenz unserer Mülldeponien. Die festen, weil eingerosteten Verhältnisse werden nun sichtbar und lösen sich unter Schmerzen auf.

Die Erdplatten bewegen sich, die alten Verstrebungen brechen, alles Ständische und Stehende verdampft. Auch wenn es bald einen Impfstoff gegen Covid-19 geben dürfte, einen Impfstoff gegen den Wandel der Welt wird es niemals geben.

Die neue Wirklichkeit teilt sich nicht mehr zuerst in Ost und West, Stadt und Land, Diktatur oder Demokratie, Plan- oder Marktwirtschaft, sondern in digital und analog. Die neue globale Wirklichkeit ist nicht die, die man dir als Niedergangsepos zu verkaufen sucht. Sie beruht auf einer ökonomischen Kraft, die unsere Umwelt schont und nicht schändet. Sie kombiniert Selbstdisziplin mit Selbstentfaltung. Sie schafft ein Universum der Möglichkeiten, in dem nicht mehr nur mit Geld, sondern auch mit Daten bezahlt wird und in dem die politische Macht erstmals die Paläste der Elite verlässt.

Die technologische Revolution, die um den Erdball fegt, ist die erste wahrhaft kosmopolitische Revolution und eine sozialistische Erhebung ist sie auch. Denn sie enteignet die alten industriellen Eliten, schleift ihre Fürstentümer und hinterlässt ihre Gefolgsleute im Gulag des Gestrigen, wo sie eine Existenz jenseits des bisherigen Wohlstandes werden fristen müssen.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Erben des Industrieproletariats, die den Aufstieg in Helmut Schmidts Facharbeiterrepublik geschafft und dort Jahrzehnte auf dem Hochplateau von Wohlstand und Mitbestimmung verbracht haben, werden diese Revolution nicht unbeschadet überstehen. Viele sinken wieder zurück in den Zustand des Prekären, dort, wo die Bezahlung schlecht, das Gewerkschaftsbüro geschlossen und die Aufstiegsperspektive trübe ist.

Die Umwälzung der Produktions- und Lebensverhältnisse wird – darin besteht die historische List der Pandemie – von diesem bis dahin unbekannten Virus beschleunigt und zugleich verdeckt. Die Inhaber der neuen Wundertechnik und der darauf basierenden Geschäftsmodelle erleben den Aufstieg zu den Sternen.

Die kleine Autofirma Tesla, die im Jahr so viele Autos verkauft wie der Volkswagen Konzern in vierzehn Tagen, ist an der Börse mehr wert als Mercedes, BMW, Volkswagen und Audi zusammen. Die deutsche Autoindustrie, aber auch die deutschen Banken und die hiesige Chemie- und Pharmaindustrie wissen kaum, wie ihnen geschieht. Von den Investoren der Börse, da, wo echte Menschen mit echtem Geld auf die Zukunft wetten, werden sie geschrumpft.

Corona war der Schwarze Schwan für große Teile der deutschen Volkswirtschaft, deren Manager ihn mit ihren nostalgischen Gesängen regelrecht angelockt haben. Heute kreist der Schwarze Schwan über dem Hochofen von ThyssenKrupp. Er überfliegt die Braunkohlereviere und die VW-Zentrale in Wolfsburg, um auf jenen Produktionsanlagen zu landen, in denen seit hundert Jahren der Verbrennungsmotor gefertigt wird. Das Wappentier des bevorstehenden Unglücks nistet auch auf den Zinnen alter Macht im Frankfurter Bankenviertel.

Das Kapital ist seit jeher unruhig und daher auf Wanderschaft. Erst interessierte es sich für Stahl und Kohle, bevor es zu Elektro- und Textilindustrie weiterzog. Nach einem kurzen Zwischenstopp bei den großen Auto- und Computerherstellern fühlt es sich nun zu den Unternehmen der Digitalwirtschaft hingezogen. Wer weiter mit seinen Produktionsanlagen die Umwelt vernebeln, verschandeln und vergiften will, ist dem Untergang geweiht. Nostalgie ist ein Gefühl, aber kein Geschäftsmodell. Die Geschichte des Kapitalismus erzählt seit jeher eine Geschichte vom Werden und Vergehen der Wirtschaftszweige und damit auch vom Aufstieg und Fall der Nationen.

Die alten Industrien Deutschlands waren für das Kapital der bevorzugte Partner des 20. Jahrhunderts. Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Elon Musk hießen damals noch Werner von Siemens, Gottlieb Daimler, Friedrich Karl Henkel und Robert Bosch. Die Liebe des Kapitals zu unseren Auto- und Chemiefabriken, zu den Herstellern des Maschinen- und Anlagenbaus war schon vor Corona nicht mehr stürmisch, aber im Zuge der Pandemie kam es zur Erkaltung, die keine konjunkturelle, sondern eine strukturelle ist.

Alle sagen, das »bisher unbekannte Virus« sei schuld, aber in Wahrheit ist das Virus nur der Überbringer einer Botschaft, die von der Verwandlung der Welt erzählt.

Diese Verwandlung, und das ist die erste unbequeme Wahrheit für dich, mein Freund, betrifft unser Leben mehr als das Virus selbst, dem wir in den vergangenen Monaten all unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Hätten wir nicht ein Fernstudium der Virologie betrieben, sondern mit derselben Energie uns für eine der Computersprachen interessiert oder Mandarin gelernt, wären wir für die Reise in die neue Welt deutlich besser vorbereitet.

So aber stehen wir beide spärlich bekleidet am Bahnsteig. Der Zeitgeist verwirbelt uns das Haar. Der Zug rollt lautlos heran.

Und wir wissen noch immer nicht, ob wir einsteigen sollen. Eine Sitzplatzreservierung jedenfalls besitzen wir nicht.

Die Neuallokation von Ressourcen ist kein Spiel bösartiger Spekulanten, sondern Teil der großen kapitalistischen Schöpfungsgeschichte, die vom Kommen und Vergehen der Wirtschaftszweige erzählt. Die Wanderung des Kapitals bezeichnet den Urprozess der kapitalistischen Erneuerung und damit einen Prozess der Zu- und Abwanderung, der immer auch eine Neuverteilung von Chancen bedeutet. Der Börsenkapitalist hält die Weltkarte in der Hand. Er interessiert sich für wenig mehr als für Profit in seiner kristallinen Form. Die Stollen der alten Industrien lässt er zurück wie das ausgebeutete Flussbett des Klondike River.