Die Unternehmungen des Herrn Hans - Werner Schneyder - E-Book

Die Unternehmungen des Herrn Hans E-Book

Werner Schneyder

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Beschreibung

Wer ist nun der Herr Hans? Er ist mittelgroß, mittleren Alters, mit Mittelschulbildung, arbeitet bei mittlerem Einkommen in mittlerer Position einer Mittelindustrie und bewohnt eine mittelteure, mittelgroße Wohnung in einer Mittelstadt. Totaler Durchschnitt also, ein Kleinbürger, dessen sämtliche Unternehmungen, da raus zu kommen, enden, wie sie enden müssen: komisch. Wer Sinn für intelligente, satirisch-sarkastische Prosa mit einem guten Schuß liebevollem Humor hat, wird in Werner Schneyders »Herrn Hans« einen entfernten Vetter des Soldaten Schwejk und des Don Quichotte erkennen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 261

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Werner Schneyder

Die Unternehmungen des Herrn Hans

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

ZUR PERSON:Als im Fernsehen der [...]
ZUR PERSON:

Herr Hans ist mittelgroß, mittleren Alters, mit Mittelschulbildung in mittlerer Position einer Mittelindustrie mittelverdienend.

Er bewohnt in einer Mittelstadt eine mittelteure, mittelgroße Wohnung in einem mittleren Stockwerk.

 

Immer wieder unternimmt er etwas.

Als im Fernsehen der Zauberer auftrat, erinnerte sich Herr Hans daran, was der intelligente Freund ihm alles über Zauberer erklärt hatte: Zauberer seien dann gut, wenn sie nicht viele Geräte brauchen und nicht viel Drumherum und keinen Partner. Zauberer seien dann gut, wenn sie nur so in die Luft greifen und dann ein Bällchen zwischen den Fingern haben, dann wieder in die Luft greifen, zwei Bällchen in den Fingern haben und dieses Spiel spielen, bis sie vielleicht fünf oder zehn Bällchen in den Fingern haben. Zauberer seien dann gut, wenn sie diese Bällchen dann schlucken und sie sich wieder aus dem Ohr ziehen und noch alles Mögliche damit machen.

Für Karten gelte im Prinzip dasselbe.

Im Fernsehen müsse man darauf achten, daß die Manipulation des Zauberers nie aus dem Bild verschwinde, denn würde die Kamera auch nur einen Augenblick lang etwas anderes zeigen, hätte der Zauberer die Möglichkeit, zu mogeln.

Ganz abgesehen davon sei mittels des Filmschnittes jede Zauberei herzustellen.

»Natürlich ist das dann keine Zauberei mehr.«

 

Herr Hans sah genau auf den Bildschirm und innerhalb des Bildschirms genau auf die Finger des Zauberers. Er hatte sich die Regeln für die Qualität eines Zauberers völlig zu eigen gemacht. Diesen Regeln entsprach der Zauberer in untadeliger Weise. Er benützte weder Handschuhe noch Zylinder. Er nahm nur verschiedene kleine Gegenstände von einem Tisch und demonstrierte deren Seriosität. Daraufhin zauberte er mit den Gegenständen. Trotz deren Seriosität.

Herr Hans war glücklich, denn er faßte den Entschluß zu einer sinnvollen Unternehmung.

Herr Hans wollte das Alltägliche ja nicht überwinden, auch nicht verdammen, er wollte es reicher machen, glänzender.

Wie er den Fernsehapparat abstellte, hatte die Bewegung bereits die Grazie des großen Manipulanten. Herr Hans wunderte sich, daß er diesen Einfall nicht längst schon gehabt hatte. Dann stellte er den Wecker.

 

Am Montagmorgen des mittelstädtischen verdreckten Winters fuhr Herr Hans sein Bürohaus an. Dieses war jener Architektur zuzuordnen, die nur in frisch gestrichenem Zustand Betriebsfremde nicht schwer deprimiert. Als er abrupt bremste, um der Sekretärin des Abteilungsleiters bei der Einfahrt zum Parkplatz den Vortritt zu lassen, hupte hinter ihm der Unangenehme Kollege und machte den Vogel. Herr Hans revanchierte sich dann mit heftigem Zuschlagen der Autotür, daß es den Unangenehmen Kollegen nur so herumriß.

Im Lift sah Herr Hans der Sekretärin des Abteilungsleiters über die Schulter. Die Titelzeile des Artikels, den sie eben las, lautete nicht Geständnisse einer Sekretärin – Ich liebe meinen Chef, deshalb blickte ihn die Sekretärin des Abteilungsleiters auch selbstbewußt rügend an. Für Herrn Hans lautete die Titelzeile aber so, deshalb hatte sein Blick zurück etwas Mitleidvolles, was die Sekretärin des Abteilungsleiters wiederum gar nicht begriff. Mitleid mit ihr durfte nur haben, wer wußte, daß die Existenz einer Frau des Abteilungsleiters ihr Leben zerstört hatte. Aber wer wußte das schon?

Manchmal grüßte Herr Hans in das Schreibbüro, bevor er noch sein eigenes betreten hatte. Dort spielten die Ältere, die Modische, die Erotische und die Junge Sekretärin ihre morgendlichen Rituale der Verachtung ihrer Schreibmaschinen durch.

»Schönen guten Morgen! Auch dieser Tag geht vorüber.«

Mitten in solch einem Satz drehte sich Herr Hans immer schon ab, um den Raum zu verlassen. Noch nie hatte er gesehen, wie konzentrisch die verachtenden Blicke der Älteren, der Modischen und der Erotischen Sekretärin sich in seinem Rücken vereinigten. Die Junge konnte ihm nicht nachsehen. Sie war um diese Tageszeit noch in ihren Träumen, häufig auch später noch.

Was Herr Hans den vier Sekretärinnen an Aufbauendem bot, bot ihm wiederum der Kollegiale Kollege. Einen Satz, der auf die Schulter klopfte, oder ein strahlendes Scherzwort.

»Komisch. Den ganzen Sommer war es nicht so kalt.« Lachend, froh darüber, dem von ihm so geschätzten Herrn Hans etwas Gutes getan zu haben, ging der Kollegiale Kollege weiter.

Die Situationen des Herrn Hans passieren natürlich nicht täglich. Aber sie passieren immer so, wenn sie passieren. Das ist das Tägliche an ihnen.

Dann saß Herr Hans in seinem Büro, dessen Einrichtung vor zehn Jahren als zeitgemäß gerühmt worden war. Wie alles in diesem Haus. Damals waren allerdings die Wände noch aus Glas gewesen, da die letzten Erkenntnisse der Betriebspsychologie von optischer Kommunikation sprachen. Kurze Zeit darauf sprachen die letzten Erkenntnisse der Betriebspsychologie vom Recht auf den eigenen Raum. Da wurden dann nach und nach Wände eingezogen. Über eine weitere Revision der letzten Erkenntnisse der Betriebspsychologie zerbrach sich Herr Hans nie den Kopf.

Er hörte gerade ein Diktat vom Diktiergerät ab – … konnten wir mit Befriedigung feststellen, daß die Situation sich keineswegs verschlechtert hat … –, als er telefonisch zum Abteilungsleiter gerufen wurde.

Herr Hans ging um die Ecke, um die Ecke, um die Ecke.

Der Abteilungsleiter, ein Manager wie aus den Reklamen für mittlere Herrenkonfektion, hatte aus seiner Kartei der Verhaltensmuster das freundschaftlich-gönnerhafte gezogen. Er betonte eingangs, daß er nicht viele Worte machen wolle, und machte sie sodann.

Herr Hans müsse wissen, wie sehr er geschätzt werde, daß man in der obersten Geschäftsleitung immer wieder betont habe, seine Fähigkeiten stünden außer Frage, daß der Kollege nicht annähernd über diese Dispositionsgabe und auch nicht Intelligenz verfüge, daß man sich also entschlossen habe, Herrn Hans einen Teil des Referates des Kollegen auch noch anzuvertrauen.

Herr Hans sah den Feudalherren, der ein Privileg zu vergeben hatte, verwirrt an. Dann meinte er, er wolle dem Kollegen nichts wegnehmen. Mit großer Geste tat der Abteilungsleiter das ab.

»Unser Haus rechnet mit Ihnen.«

Wieder in seinem Büro, verwandelte Herr Hans sein Gesicht des Unentbehrlichen langsam in das des Nachdenklichen und schließlich in das des Empörten.

 

Der intelligente Freund, der mit dem freien Beruf, gab Herrn Hans völlig recht, als die beiden sich während der Mittagszeit auf der Geschäftsstraße trafen.

»Und kein Wort über Geld. Das ist typisch. So sind sie.«

Der Freund, einen Kopf größer als Herr Hans, war in Gestik, Sprache und Garderobe von stets eleganter Unvollkommenheit. Oft schon hatte er Herrn Hans aufgefordert, in der Kleidung das korrekte Mittelmaß zu verlassen. Allerdings nicht, weil er hoffte, daß Herr Hans dem Rat folgen würde, sondern nur, weil er sich darüber freute, daß Herr Hans dazu nicht in der Lage war.

Herr Hans entspricht dieser Geschäftsstraße. Der Freund entspricht der Vorstellung, die sie von sich hat.

Der Freund forderte Herrn Hans auf, sich nicht alles gefallen zu lassen. Er bestärkte ihn in dem Vorhaben, dem Abteilungsleiter zu schreiben.

»Ich mach’s nicht ohne Gehaltserhöhung.«

Die Formulierungen des Briefes schon auf den Lippen, bog Herr Hans in die Seitengasse der Geschäftsstraße ein. Das Fachgeschäft für Magie bot schon in der Auslage Zauberkästen für jedermann an. Diese für alle Altersklassen und dazu noch Literatur wie Die hohe Schule der Fingerfertigkeit oder Zaubern keine Zauberei.

Im Laden hatte Herr Hans plötzlich Angst. Zuviele Requisiten bedrohten ihn mit der Aufforderung, sie zu kaufen. Herr Hans dachte einen Augenblick in Dankbarkeit an die Sicherheit, die ihm seine Wohnung schenkte.

Der Besitzer oder Geschäftsführer des Zauberladens sah aus wie seine Weste: rot und abgewetzt. Listig bot er seine Schätze an.

»Auch der ungeschickteste Mensch kann mittels dieser Artikel Staunen und Freude bereiten.«

So ließ Herr Hans, mitermutigt durch die bevorstehende Gehaltserhöhung, einiges Geld im Fachgeschäft für Magie.

 

Herr Hans begann im Büro den Brief an den Abteilungsleiter zu entwerfen und setzte diesen Versuch in seiner Wohnung fort. Auf dem Boden lagen schon mehrere Skizzen, auf die der bäuchlings auf seinem Bett liegende Herr Hans hinabstarrte. Er starrte nicht allein. Neben ihm lag Grete.

Das Wanken des Naturgesetzes, daß zu einem Hans eine Grete gehört, hat sich zu Herrn Hans noch nicht durchgesprochen.

Gretes Besuche in der Wohnung des Herrn Hans waren von regelmäßiger Unregelmäßigkeit. Da sie völlig eigenschaftslos war, bis auf eine gewisse Geschmacksunsicherheit in Bekleidungsfragen, die Herr Hans aber nicht wahrzunehmen vermochte, hatte Herr Hans die Möglichkeit, Eigenschaften in ihr zu vermuten. Diese Vermutungen reichten aus, um sie heiraten zu wollen. Grete aber wollte nicht. Sie wußte zwar nicht, auf welchen Besseren sie wartete, doch sie wartete. Keineswegs aber ließ sie Herrn Hans aus. Ihr war eben der Spatz auf dem Dach lieber als überhaupt keine Taube.

Auch Gretes Körper war eigenschaftslos, aber eben weiblich. Die Vorstellung ihrer Nacktheit war Herrn Hans am geläufigsten, so brachte er auch sein Hodensausen meist mit ihrer Person in Zusammenhang. Diese Unklarheit half mit, die lose Verbindung dauerhaft zu halten.

Herr Hans wollte sich zwischen harten und weichen, verbindlichen und unverbindlichen Formulierungen nicht mehr entscheiden. Sein genaues Wissen um den Wortlaut des Briefes war ihm im Fachgeschäft für Magie abhandengekommen.

Jeder Satz war wendbar. Ein Wort abgedeckt, schon hatte alles einen anderen Klang. Zog man den Finger weg, war der alte Klang wieder da.

Waren da Formulierungen nicht unwesentlich geworden? Waren Gehaltserhöhungen nicht eleganter herstellbar?

Für Grete war es verachtenswert, wenn ein Mann nicht wußte, ob möchte ich mir in Anbetracht Ihres ehrenden Vertrauens oder Ich mache meine Zustimmung davon abhängig die richtige Formulierung wäre. Sie sah Herrn Hans von der Seite an. Der mißdeutete den Blick, löste sich erfreut von seinen Briefentwürfen und fuhr ihr mit der Hand unter den Pulli. Sie schob seine Hand weg.

»Zuerst mußt du zu einem Ergebnis kommen.«

Herr Hans wollte diesen Satz scherzhaft mißverstehen und griff noch einmal hin.

Aber Grete verstand den Witz im Mißverständnis nicht.

An diesem frühen Abend war nichts mehr möglich. Grete wollte nach Hause.

 

Es war eine unangenehme Autofahrt.

»Andere Männer schütteln so einen lächerlichen Brief nur so aus dem Ärmel.«

Herr Hans versuchte abermals einen Witz. Nach dem Wort Ärmel schaute er suchend in seinen rechten. Dadurch verriß er den Wagen. Das mochte Grete nun schon überhaupt nicht.

Herr Hans ließ Grete hundert Meter vor der einstöckigen Altvilla ihrer Eltern aussteigen. Er versuchte immer, Begegnungen mit Gretes Eltern zu vermeiden. Denn die Tatsache, daß es Grete war, die nicht heiraten wollte, war Gretes Eltern nicht bekannt. Sie hätten es wohl auch nicht geglaubt. Also hatte Herr Hans Grete versprechen müssen, vor den Eltern nie davon zu reden, daß er eigentlich wollte. So war er immer Ziel von fordernden, prüfenden oder fragenden Blicken und Anspielungen. Davor hatte er Angst. Wie auch vor dieser Straße, deren Bäume nebst Villen und deren Mobiliar alt und bewahrenswert geworden waren.

Herr Hans weiß nicht, daß es sich dabei um die natürliche Karriere ehemaliger Bausünden handelt.

Während Grete noch über ein versöhnliches Schlußwort nachdachte, beugte sich Gretes Mutter zum Seitenfenster herab. Sie war um diese Zeit immer mit dem Hund unterwegs.

Warum man nicht vor dem Haus parke, wollte sie wissen, Vater habe den Wagen doch in der Garage. Und ob Herr Hans nicht auf ein Gläschen hereinkommen möchte.

»Unser Vater würde sich sehr freuen. Ganz bestimmt.« Herr Hans war wehrlos, und auch dafür belächelte ihn Grete.

 

Alles in der Wohnung von Gretes Eltern stellte sich aus. Das Kristall, die bemalten Teller, das chinesische Teeservice, die patrizische Behaglichkeit. Inmitten dieser Ausstellung stellten sich Gretes Eltern aus. Bewegte Bilder, lebende Bürger.

Den Menschen als Kunstprodukt seiner eigenen Wertvorstellung hat besonders das Bürgertum hervorgebracht.

»Karlsbrunner Kristall. Kriegt man heute gar nicht mehr.«

Gretes Mutter schob die Gläser hin, Gretes Vater goß ein. In diesen Geruch von Aussteuer paßte gut die Frage von Gretes Vater nach dem beruflichen Fortkommen des Herrn Hans.

»Allerhand.«

Das sagte Gretes Mutter immer. So auch, als Grete die Erweiterung des Aufgabenbereiches von Herrn Hans erwähnte.

»Allerhand.«

Herr Hans tauschte blitzschnell sein leergetrunkenes Glas mit dem noch vollen Gretes. So konnte er den prüfenden Blick von Gretes Vater mit einem maßvollen Schluck überspielen.

Bald formulierte Gretes Vater sein kulturelles Unbehagen. Die Auslastung des Opernabonnements sei um sieben Prozent zurückgegangen. Bei der letzten Auktion sei ein früher Bitterhauser – ein früher Bitterhauser! – nicht einmal zum Nennwert weggegangen.

Herr Hans tauschte sein leeres Glas nun mit dem vollen von Gretes Mutter, die Kaffee kochen gegangen war. Aber der Alkohol reichte immer noch nicht aus, um die Anspielungen von Gretes Vater auf die ungeklärte Zukunft seiner Tochter zu überhören.

Herr Hans bereitete sich einen Abgang aus Magenschmerzen und Überarbeitung und der Wechselwirkung dieser beiden Dinge.

»Das hat er leider oft.«

Wir werden nie erfahren, ob derartige Sätze Gretes spöttisch gemeint sind oder ernst. Das haben wir mit Herrn Hans gemeinsam.

Als Herr Hans zu seinem Wagen kam, meinte er, daß alle seine Scheiben aus Karlsbrunner Kristall bestünden. Mit kaleidoskopartiger Sicht fuhr er den einen seiner beiden Fluchtwege – der andere ging von seiner eigenen Wohnung aus – zur Stammkneipe. Dort hatte sich vor dem Eingang ein wenig Glatteis gebildet. Herr Hans schrieb das dem Bier zu, das wohl schon durch die Türritze geronnen sein mußte.

Der Freund, wie so oft einer der letzten Gäste, hatte Herrn Hans an Rausch einiges voraus. So auch die souveräne Lösung des Problems mit der Gehaltserhöhung.

»Wenn die wollen, daß du mehr arbeitest, und du willst dafür mehr Geld, dann sagst du einfach: Sie wollen, daß ich mehr arbeite, und ich will dafür mehr Geld.«

Herr Hans bewunderte die brillante Einfachheit der Gedankengänge des Freundes. Mit jedem Glas mehr. Warum konnte er nicht so sein?

»Das kommt alles von der Erziehung. Die Zwänge.«

Der Freund riet zum Aufbruch. Er müsse schon um zehn Uhr aufstehen. Herr Hans lächelte. Sein halb acht hatte keinerlei Schrecken mehr für ihn.

 

»Was fällt Ihnen denn ein, mich mitten in der Nacht –?«

Herr Hans hatte die Nachbarin herausgeläutet und bot ihrem knallbunten Schlafrock ein unsicher stehendes Gegenüber.

»Wenn in der Zeitung steht, daß die Renten erhöht werden, was sagen Sie da immer?«

Die Nachbarin brachte ihre müden Augen nicht auf, aber Herr Hans insistierte.

»Sie sagen da so einen Satz, sagen Sie immer.«

Jetzt begriff sie.

»Sie meinen: Was krieg ich?«

Herr Hans nickte zufrieden. Das Was krieg ich? immerfort wiederholend, drehte er ab. Wie so oft ließ er die Nachbarin in einer Empörung stehen, die auf Grund kinderlosen Witwenschicksals nie böse Folgen hatte.

 

In seinem Zimmer holte Herr Hans den Zauberkasten für Zwölf- bis Vierzehnjährige aus dem Wandverbau, wo er ihn vor Grete versteckt hatte.

Vor Zauberkästen endet seine Möglichkeit, mit einem anderen Menschen sein Leben zu ›teilen‹.

Sehr sorgsam rückte er die Stehlampe zum Tisch und holte einen Rasierspiegel aus dem Bad. Den baute er sich gegenüber auf. Dazwischen lag der geöffnete Zauberkasten.

Herr Hans las in der Anleitung den Trick mit den Zahlen, die immer die gleiche Endsumme ergeben. Er nahm die Zahlenwürfel, versuchte den Trick und scheiterte. Irgendetwas in der Anleitung hatte er wohl mißverstanden.

Er wechselte zu der Schnur, an der man eine rote Kugel rauf und runter laufen lassen kann, die bei leichtem beidseitigem Zug an der Schnur wundersam stehenbleibt. Herr Hans begriff zwar nicht, warum, aber er sah im Spiegel, daß die Kugel in der Vertikalen frei schwebte. Er sah, daß er es war, der diese Unleugbarkeit zustande gebracht hatte. Dieser Sieg genügte ihm fürs erste.

 

Am Morgen wiederholte er den Trick mit dem gleichen Erfolg. Daß der Zug unten gleich wirksam war wie der Zug oben, imponierte ihm noch im Büro.

Beim Mittagessen in der Kantine gratulierte der Kollegiale Kollege herzlich zur Vergrößerung des Referates. Herr Hans wehrte die Gratulation sehr energisch ab mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, noch über das Finanzielle zu sprechen. Dabei blickte er schmalen Auges auf den Nebentisch, wo der Betriebsrat jedes Wort des Gespräches mitzuhören trachtete. Die Betriebsratswahlen standen bevor, daher arbeitete der Betriebsrat als sein eigener Demoskop.

 

Bald darauf ging der Betriebsrat im Büro des Herrn Hans gewichtig auf und ab.

»Es ist mir unerklärlich, daß Sie sich mit Ihrer berechtigten Forderung nicht gleich an mich gewandt haben.«

Dann sprach er von seinem Einfluß bei der Unternehmensleitung und von der Wichtigkeit jeder einzelnen Stimme bei der kommenden Betriebsratswahl.

Herr Hans vermutete seine Sache in guten Händen.

Am mittleren Nachmittag erschien der Gegenkandidat für die kommende Betriebsratswahl im Büro des Herrn Hans und wunderte sich, daß dieser seine Angelegenheiten diesem Betriebsrat anvertraut hatte. Er erläuterte dessen völlige Einflußlosigkeit bei der Unternehmensleitung und empfahl, die Sache bis zur Betriebsratswahl ruhen zu lassen. Danach würde sie sich von selbst regeln.

Zwischen den Wahlhelfern des Betriebsrates und den Wahlhelfern des Betriebsratskandidaten mußte aber eine Querverbindung bestehen. Denn kurz vor Büroschluß kam der Betriebsrat noch einmal. Er beschwor Herrn Hans, sich von einem Hochstapler doch nichts einreden zu lassen. Erstens könne der die Wahl nicht gewinnen, zweitens habe er nie auch nur soviel Einfluß bei der Unternehmensleitung.

»Lassen Sie sich doch nicht irre machen!«

 

An der Theke erklärte Herr Hans dem Wirt der Stammkneipe, daß er morgen drei Briefe schreiben werde. Einen an den Abteilungsleiter, einen an den Betriebsrat und einen an den, der Betriebsrat werden möchte. In jedem Brief würde das gleiche stehen:

»Es ist mir eigentlich scheißegal, wer mir meine Gehaltserhöhung beschafft. Ich will sie nur haben.«

Kurz darauf drang die Jahreszeit in die Stammkneipe. Es begann Konfetti zu regnen. Freund und Freundin verschönten in Ballkostümen das Lokal. Er als Opernsängerin, sie als Fußballspieler. In überschäumender Laune verstreuten sie das Papier. Herr Hans begann behutsam die Schaumkrone seines neuen Biers von den vielen bunten Dingern zu befreien.

Er fühlte sich von Erinnerungen belastet. Er sah sich in Trauben unbeweibter Männer stehen, deren Chance, an ein weibliches Wesen heranzukommen, als schlecht, an eine Schöne heranzukommen und dranzubleiben, gleich null war. Er sah den erbosten Saalordner herankommen, als er auf einer Treppe die Gardeuniform rund um einen fetten weiblichen Körper zielführend gelockert hatte. Er sah die Hand der betrunkenen Indianerin bluten, nachdem sie zu allem bereit und entschlossen schien, aber bedauerlicherweise vornüber auf den Tisch fiel.

Herr Hans hat manchmal Erinnerungen. Aber keine Herkunft, keine Biographie. Das hat er mit den Clowns gemeinsam.

Freund und Freundin kamen nicht von einem Ball, wie Herr Hans vermutete. Sie waren erst im Begriff, auf einen zu gehen. Auf den Ball der Intellektuellen, auf dem vor zwölf allerdings noch nichts los sei. Dann allerdings.

»Absolute Spitze, absolute.«

Die Freundin war ein begeisterungsfähiger Mensch. Für Männer, für Alkohol, für Arbeit. Zumal sie einen jener modernen Berufe hatte, deren Ausübung an ein Atelier gebunden ist:

Mit dem Wort Atelier verband sich für Herrn Hans wiederum ein Lebensgefühl, das sich deutlich vom Lebensgefühl des Wortes Büro abhob. Die Freundin war für ihn die Verkörperung des ersteren Lebensgefühls, also eine Erweiterung seiner Alltäglichkeiten, wie sie ihm der Freund auf der anderen Seite auf dem Gebiet der Information, des Bescheidwissens bieten konnte. Hier ungefähr war wohl – von Herrn Hans aus gesehen – die Wurzel dieser Freundschaft zu suchen. Was Herr Hans nicht wissen konnte, war, daß er umgekehrt als Partner beliebt war, weil weder Freund noch Freundin bei ihm je den Beweis dafür antreten mußten, daß Herr Hans ihr Lebensgefühl zu Recht bewunderte.

Herr Hans wurde gefragt, warum er denn auf dem Gebiet der Bälle so gar nichts unternehme. Er wollte von dem durch Erinnerungen verursachten Vorgeschmack nichts sagen und trank. Der Wirt griff unter die Theke, holte etwas hervor und steckte es ihm ins Gesicht: eine rote Nase.

Der Wirt lachte. Freund und Freundin lachten. Dann lachte auch Herr Hans.

Und schon wieder schwammen Konfetti auf seinem Bier.

Tags drauf fuhr Herr Hans mit seinem Wagen auf den Parkplatz vor dem Bürogebäude. Desgleichen tat der Unangenehme Kollege, stieg aus und äugte herüber.

»Da sind Sie wohl sehr stolz, Herr Kollege, daß Sie sich in mein Referat auch noch hineindrängen.«

Er drehte ab und wartete auf das tägliche Krachen der Autotür des Herrn Hans. Doch nichts rührte sich. Mißtrauisch wandte der Unangenehme Kollege seinen Kopf. Entsetzen trat in seine Augen, denn Herr Hans hatte jetzt eine rote Pappnase im Gesicht und die noch offene Autotür in der Hand.

»Karneval.«

Mit dem täglichen Krach flog die Autotür zu.

Warum ist der Unangenehme Kollege unangenehm? Nur weil er die Funktion einer Figur übernimmt, die alles verdächtig, ungerecht und unerträglich findet?

Im Lift meinte der Unangenehme Kollege dann, der Arbeitsplatz sei wohl nicht der rechte Ort für derartige Späße.

»Wenn Sie so viel Laune loswerden müssen, dann sollten Sie einen Ball besuchen.«

Herr Hans wunderte sich, diese Empfehlung auch von dieser Seite zu hören.

 

Im Büro fiel Herrn Hans das Großfoto auf dem Titelblatt des Tagesboten auf: ein oben nur mit Lederhosenträgern bekleidetes Lederhosenmädchen. Darunter stand der Text:

Dieses Kostüm wird die muntere Karin morgen am ›Großen Künstlerball‹ tragen. Ob es ihr andere wohl nachmachen?

Herr Hans verglich den Busen der Lederhosenträgerin mit dem von Grete. Der Busen der Lederhosenträgerin war fraglos attraktiver.

Herr Hans bekam wieder sein Hodensausen. Er konnte zwar nicht bestreiten, daß ihn Gretes Busen anregte, wenn er sich in entblößtem Zustand in seiner unmittelbaren Nähe befand. Aber einem Vergleich mit dem Lederhosenbusen in der Zeitung hielt er nicht stand.

Herr Hans rief Grete an, die sich eine kurze Zeit zwecks Rückfrage bei ihren Eltern ausbedang.

 

Grete erhielt über den Frühstückstisch hinweg einen abschlägigen Bescheid, hatte sie doch schon vor Wochen ihrem Vater für den Herrenreiter-Ball eine Zusage gegeben.

Gretes Vater, ganz Diplomat während einer bedeutsamen Entscheidung, meinte, er komme ihr zwar entgegen, wo immer er könne, aber für morgen müsse er doch bitten, bei der Abmachung zu bleiben, weil ja auch sein alter Freund, der Primarius Kross-Pflaumen, kommen werde, in Begleitung seines Sohnes.

»… der übrigens eben promoviert hat.«

Gretes Mutter klang wie ihr Porzellan:

»Allerhand.«

 

Herr Hans hatte mittlerweile vergeblich versucht, seines Hodensausens Herr zu werden. Er bedauerte also unkonzentriert Gretes Absage und verabredete sich mit ihr für Sonntag gegen Mittag.

Dann sah er wieder auf das Kostüm der munteren Karin und stellte sich die diesbezügliche Frage, nämlich die nach dem Kostüm. Und gleich darauf im Schreibbüro den vier Sekretärinnen.

Die Ältere Sekretärin vertrat den überlegen-modernen Standpunkt.

»Keine Umstände! Jeans, ein buntes Hemd, eine rote Perücke höchstens –.«

Die Modische Sekretärin plädierte für den originellen Einfall und kündigte an, ihren nächsten Ball als Schlange zu besuchen.

Die Erotische Sekretärin sprach vom Vorzug der Natur, falls man über Figur verfügte.

Die Junge Sekretärin wurde wie so oft aus ihren Träumen gerissen.

»Ball? Wieso Ball?«

Warum ist die Modische Sekretärin modisch? Sie muß es sein, weil sie nicht erotisch ist.

Warum ist die Erotische Sekretärin erotisch? Sie muß es sein, weil ihr jeder Geschmack fehlt. Eine ähnliche Wechselbeziehung liegt zwischen der Jungen und der Älteren Sekretärin vor. Eine alte Sekretärin gibt es nicht.

Herr Hans ging um die Ecke, um die Ecke, um die Ecke, also zum Abteilungsleiter. Er schätzte diesen Weg. Man sollte den Erbauern dieser Bürohäuser nahelegen, immer so lange Gänge zu bauen. Wo sonst boten Wege noch so viel Gelegenheit zum Nachdenken?

Herr Hans kam aber zu keinem Ergebnis wegen seines Kostüms.

 

Der Abteilungsleiter war zufrieden mit den Zahlen, die doch sonst um diese Jahreszeit immer eher etwas rückläufig waren. Herr Hans wollte daher auch anfragen, ob bereits eine Vorsprache des Betriebsrates oder des Betriebsratskandidaten wegen der Gehaltserhöhung in Anbetracht der Referatsvergrößerung stattgefunden hätte, kam aber nicht dazu. Zu abrupt-kollegial wechselte der Abteilungsleiter das Thema. Er fragte Herrn Hans, was er denn an seiner Stelle anziehen würde, auf einen ganz tollen Kostümball, er, als moderner junger Mensch.

Herr Hans war allzeit bestrebt, dem Abteilungsleiter zu dienen. Nicht, weil er ihn schätzte, auch nicht wegen des Gegenteils, einfach wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Mechanik.

Herr Hans nutzte eine kurze Ratlosigkeit zum Überdenken seiner Erfahrungen und riet dann glaubwürdig:

»Keine Umstände! Jeans, ein buntes Hemd, eine rote Perücke höchstens –.«

»So?«

Der Abteilungsleiter war diesmal nicht wirklich überzeugt und kam auch auf die Referatsvergrößerung nicht zurück.

 

Herr Hans hatte eingesehen, daß nur er selbst die Kostümfrage entscheiden konnte. Im Spiegel der Innenseite seiner Schranktür prüfte er sein deshalb prüfend blickendes Gesicht und dann die gesamte Urerscheinung. Er nickte wohlwollend, griff in ein Schrankabteil und zog zunächst ein Paar weiße Tennissocken heraus. Diesen kollerten sechs abgelagerte Tennisbälle hinterher. Herr Hans sah zu, wie sie in ihrem Springen verendeten.

War das damals ein Gefühl, als er in der zweiten Hälfte der Trainerstunde gute Bälle gespielt und ihn dann diese Schwarzhaarige angesprochen hatte, weil sie einen Partner für die anschließende Stunde suchte! Und wie verzweifelt unerklärlich war es, daß Herr Hans im Spiel mit der Schwarzhaarigen nichts mehr traf.

Sich vor jedem Ball bewähren zu müssen.

Herr Hans war damals dankbar, als sie nach fünfzehn Minuten sagte, es habe vielleicht doch keinen Sinn. Er betrat diesen Tennisplatz nie wieder.

Das war eigentlich immer schon ein Kostüm, dachte Herr Hans. Einer, der sich auf dem Tennisplatz als Tennisspieler verkleidet, kostümiert sich ja auch. Die Frage, wozu er Tennisbälle aufbewahrte, stellte er sich nicht.

Er griff wieder in den Schrank und hielt ein Paar Tennisschuhe in Händen; er beroch sie, sicherheitshalber auch die Socken, und stellte schließlich folgendes Kostüm zusammen: Tennisschuhe, Jeans und ein mutig geflecktes Sommerhemd. Das hatte er damals am Lido di Troppo gekauft und seitdem nie mehr getragen.

Herr Hans ergänzte sein Kostüm durch einen riesigen, aus demselben Sommer stammenden Sonnenhut und eine große dunkle Sonnenbrille. Da Herr Hans durch diese Brille aber nichts sah, nahm er sie vorläufig wieder ab.

Noch einmal besah er sich im Spiegel. Und er war mit seinem Teint unzufrieden.

 

Die Nachbarin nahm nachbarliche Bitten, Wünsche oder Notrufe vorzugsweise im Flur bei halbgeöffneter Wohnungstür entgegen. Herr Hans fragte, etwas verschämt, nach einem braunen Make-up für die Wangen. Die Nachbarin war, nachdem sie die Zusammenhänge erfragt hatte, nur noch konsterniert.

»Sooo wollen Sie auf das Große Künstlerfest gehen?«

Sie beklagte die Phantasielosigkeit im allgemeinen und die Farbe des Hemdes im besonderen. »Sooo gehen Sie mir nicht auf den Ball!«

Sie nötigte Herrn Hans in ihre Wohnung.

Warum gibt es nur zwei Arten von Nachbarschaft? Die eine, die die Tür vor einem zuschlägt, und die andere, die einem immer mehr und besseres geben möchte, als man haben will.

Die altdeutschtümelnde Wohnung der Nachbarin war beherrscht von einem großen, den verstorbenen Gatten der Inhaberin darstellenden Gemälde. Er trug darauf eine Narrenkappe, genauer gesagt: die Kopfbedeckung eines Narren.

Viel von Masken und Phantasie erzählend, holte die Nachbarin aus einer Kommode ein prunkvolles Bajazzo-Kostüm hervor, das sie vor den Motten bewahrt hatte wie eine richtige Uniform.

»Die hat mein Seliger getragen und zweimal den dritten Preis gemacht damit.«

Herr Hans, ein blasser Italienurlauber, stand mit einem schweren Kostüm über beiden Armen wehrlos da. Die Nachbarin hatte ihn geistig schon umgekleidet, trat besichtigend einen Schritt zurück und stellte das Fehlen von zwei roten Herzen auf den Wangen fest. Sie kramte also auch noch einen Lippenstift hervor, und ehe Herr Hans sich’s versah, hatte ihm die Nachbarin zwei rote Herzchen auf die Wangen gemalt. Abermals trat sie einen Schritt zurück. Diesmal stolz.

»Wissen Sie, wie sehr Sie mich jetzt an meinen Mann erinnern?«

Herr Hans erschrak.

Die Nachbarin wurde melancholisch.

Das Bild ihres Mannes blickte freudlos.

 

Wieder stand Herr Hans vor seinem Spiegel, und er mißfiel sich als Bajazzo mit zwei roten Herzen auf den Wangen. Seine Hände betasteten das Kostüm, fanden etwas in den Taschen und holten es heraus: drei Mottenkugeln. Er sah im Spiegel sich, das Kostüm und die drei Kugeln und begann auch schon zu trainieren.

Aber das Wandern der Kugeln durch die Finger war, wie der Spiegel bewies, ebensowenig überzeugend wie das Wegwerfen mit einer Hand und das Wiederhervorholen aus dem Ohr.

Da hörte Herr Hans von irgendwoher Klavierspiel. Virtuoses, klassisches Klavierspiel. Kam das aus diesem Haus? Oder klang es über die Straße her? Oder aus einer Wohnung von der anderen Seite des Innenhofs? Denn Radio oder Platte war es nicht. Das merkte Herr Hans an Unterbrechungen, an Wiederholungen. Da übte ein Virtuose. Oder eine Virtuosin? Wo kam die her? Wie sah sie aus? Herr Hans dachte, wenn er sich jetzt aufs Bett legte, ohne viel zu atmen, nur um zuzuhören, dann käme er zu einem Genuß, gegen den dieser Ball nur ein ordinäres Volksvergnügen sein konnte. Wie konnte er nur zwei rote Herzen auf den Wangen haben, wo andere vor ihrem Klavier saßen und um die Kunst rangen?

Die Nachbarin rief vom Gang herein, ob Herr Hans schon zu besichtigen wäre. Herr Hans behauptete, noch in der Unterhose dazustehen, und begann sich den Bajazzo vom Leibe zu reißen.

»Ich zeige mich dann. Verläßlich.«

Hastig ging Herr Hans ins Badezimmer, um sich abzuschminken, das heißt: abzuwaschen. Aber das Rot der Wangen rührte sich unter Seifeneinwirkung nicht vom Fleck. Herr Hans vertauschte den Waschlappen mit einer Bürste. Das Reiben schmerzte, doch das Rot wurde deshalb kaum heller. Herr Hans wurde panisch. Er streute ein weißes Pulver, mit dem man Badewanne oder Klomuschel reinigt, auf einen Wattebausch. Aber auch hier standen Schmerz und Fortschritt in krassem Mißverhälnis.

Und dazu dieses wunderbare, virtuose Klavierspiel. Herr Hans fühlte sich von dem Künstler – oder der Künstlerin? – beobachtet. Er schämte sich. Wie waren diese roten Herzen wieder wegzukriegen? Herr Hans ging ins Zimmer und rief Grete an, um sie um Rat zu fragen.

Grete war aber nie in der Lage oder gewillt, eine so ungewöhnliche Situation übers Telefon so ernst zu nehmen, wie sie war.

»Rote Herzen sind doch niedlich. Warum willst du sie denn wieder runtermachen?«

Herr Hans rief die Freundin an.

Sein Anruf erreichte sie kurze Zeit, nachdem der Freund sich rittlings eingeführt hatte, also erreichte er sie nicht.

Herr Hans erlebt oft, daß die Liebe zwischen zweien die Einsamkeit des Dritten vergrößern muß.

So seifte sich Herr Hans schließlich mit Rasierseife ein und kratzte mittels eines mächtigen alten Rasiersmessers die Farbe samt der halben Haut ab.

Das Klavierspiel war zu Ende. Nun, da Herr Hans wieder die Ruhe gehabt hätte, der Musik sein Ohr zu schenken, spielte die Virtuosin nicht mehr. Die übende Virtuosin, die daher wohl eine junge Virtuosin war. Eine werdende Virtuosin? Herr Hans traute sich nicht zu, das zu entscheiden. Aber jetzt hatte er keinen Grund mehr, nicht doch den Ball zu besuchen.

Herr Hans verließ seine Wohnung einige Zeit später auf Zehenspitzen, um der Nachbarin nur ja nicht unter die Augen zu kommen. Denn unter dem Wintermantel war er ein wiederhergestellter Italienurlauber. Im blassen Gesicht hätten einem seltsam rosa Wangen auffallen können.

Als Herr Hans den Vorraum zum Ballsaal betrat, war Musik ganz anderer Art zu hören. Wo man hinsah, schälten sich Masken und Kostüme aus den Mänteln. Herr Hans begann in Stimmung zu kommen: Rund um einen großen Spiegel nestelte ein Rudel attraktiver alleinstehender Damen an Kostüm oder Haaren. Herr Hans, der angesichts des einen oder anderen Dekolletés ein leises Hodensausen zu verspüren meinte, bedachte in diesem Moment nicht, daß Damen sich auf dem Weg von und zur Toilette nie begleiten lassen.

Im Gewoge des Ballsaals war der klare sondierende Blick nicht mehr möglich. Herr Hans suchte zwar die muntere Karin mit den Lederhosenträgern, fand aber nicht einmal eine, die es ihr nachgemacht hätte. Doch plötzlich lächelte ein Schihaserl im Bikini Herrn Hans zu und drehte sich eher absichtsvoll ab. Auf ihrem Rücken war ein großes Yes zu lesen. Herr Hans machte zwei entschlossene Schritte, da legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter.

»Das ist aber eine nette Überraschung!«

Herr Hans drehte sich um und sah den Abteilungsleiter in Gestalt eines Sultans. Mit morgenländischer Gebärde schrie er, um das Ballorchester zu übertönen:

»Wollen Sie sich nicht einen Augenblick zu uns setzen, meine Frau würde sich sehr freuen!«