Gespräch unter zwei Augen - Werner Schneyder - E-Book

Gespräch unter zwei Augen E-Book

Werner Schneyder

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Beschreibung

Soll man einer Depression glauben? Was bleibt von einer Erziehung? Welche Irrwege wollte man einmal gehen? Oder waren es keine? Hat man Freunde? Und wie weiß man, ob es welche sind? Welche künstlerischen Meinungen waren existenzgefährdend? Welche politischen Meinungen sind nicht verhandelbar? Ist man Trinker oder Säufer? Diese und viele andere Fragen zu beantworten, versucht man am besten im Gespräch. Werner Schneyder führt es. Der Genauigkeit halber mit sich selbst. Ein ungewöhnliches, spannendes Lesevergnügen.

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Werner Schneyder

GESPRÄCH UNTERZWEI AUGEN

Werner Schneyder

GESPRÄCH UNTERZWEI AUGEN

Dialog eines Lebens

AMALTHEA

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2016 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEATUmschlagfoto: Jeff MangioneLektorat: Martin BrunyHerstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 11/14,4 pt Adobe Caslon ProISBN 978-3-99050-057-6elSBN 978-3-903083-40-0

Inhalt

Gespräch über Depression

Gespräch über die Herkunft

Gespräch über den Tormann

Gespräch über das Singen

Gespräch über die Oper

Gespräch über das Theater

Gespräch über das Kabarett

Gespräch über Literatur

Gespräch über Bilder

Gespräch über die Ehe

Gespräch über das Vatersein

Gespräch über Freunde

Gespräch über Politik

Gespräch über Ökonomie

Gespräch über Religion

Gespräch über Sport

Gespräch über Schach

Gespräch über das Essen

Gespräch über das Trinken

Gespräch über Wasser

Gespräch über die Jugend

Gespräch über Alter und Tod

Gespräch über das Cover

Personenregister

Da die Menschen immer dasselbe reden,beginnen sie eines Tages zu schweigen.Von dem Tag an schweigen sie immer dasselbe.

Gespräch über Depression

Ich habe eine Depression.

Weißt du, was das ist?

Nein. Aber ich habe eine.

Das äußert sich wie?

Es war alles scheiße, Talmi, Illusion.

Du wirst Mühe haben, das durchgehend zu beweisen.

Ich unterziehe mich der Mühe.

Bitte. Du hast eine abgeschlossene Schulbildung, in Österreich Matura genannt.

Das ist ja schon der erste Skandal. Wie kann einer ein Realgymnasium, also kein humanistisches, abschließen, der nicht weiß, nicht gewusst hat, warum am anderen Ende des Telefons eine Stimme herauskommt, was ein Generator ist, der nie begreifen wird, warum Motorräder in der Kurve nicht umfallen, der genau besehen nicht dividieren kann, jedenfalls nicht mehrstellig, oder einen Computer nicht anzutasten wagt, aus Angst, er könnte sich elektrisieren?

Das war eine Frage. Die Antwort lautet: Du hast geschwindelt, geblufft und auch Sympathie und Mitleid erregt. Das sind Qualitäten.

Ich finde es unlauter, sich so zu trösten.

Damit stellst du das gesamte Menschengeschlecht infrage. Aber das ist wahrscheinlich Kern jeder Depression. Du hast neben der Schule schon als Journalist gearbeitet.

Damals konnten die jeden brauchen, der einen ganzen Satz bilden konnte. Heute würde ich die Zeitung allenfalls austragen.

Die »Heute würde ich«-Sätze sind Unsinn, das weißt du. So groß kann keine Depression sein, dass man das vergessen kann. Und dann sage ich dir eines: Wenn du heute die Zeitung austragen würdest, dann weil du einen ganzen Satz bilden kannst.

Billiger Scherz. Um den warst du nie verlegen.

Du hast studiert, warst mit 22 Jahren Doktor der Philosophie.

Diese Tatsache hält doch keiner ernsthaften Analyse stand. Das Studium der Publizistik hieß damals noch Zeitungswissenschaft und war eine Farce. Ein Professor Sowieso hat vier Jahre lang die identische Vorlesung über »öffentliche Meinung« gehalten, was niemandem auffallen konnte, da der Mann das Institut nie betreten hat. Ich weiß nicht einmal, wie der ausgesehen hätte, wäre er je erschienen. Seine Vorlesung hat eine Frau Professor gehalten, und die hat über »öffentliche Meinung« kein Wort verloren, sondern nur über kindische Zeitungsgeschichte. Andere Fächer waren mit Gescheiterten aus der dritten Garnitur besetzt.

Das ist ein Grund für Amüsement, nicht für Depression.

Na und das »Doktorat«. Da war ein Rigorosum zu bestehen. Die Frau Professor war der Meinung, ich hätte nicht die Qualifikation, mich dafür anzumelden, da sie wusste, ich könnte nicht genau sagen, welcher Mensch die erste in Wien erschienene Tageszeitung in welchem Jahr welchem seiner Söhne übergeben hätte. Jetzt wollte es der Zufall, dass der nie erschienene Institutsvorstand in Pension gegangen oder verschieden war und ein kommissarischer Professor, ein pensionierter Historiker, an seine Stelle trat. Nun konnte die Frau Professor mich nicht selbst prüfen und durchfallen lassen, sie musste vor der Türe bleiben, als ich zur Prüfung antrat.

Du warst annähernd vorbereitet.

Also ich hatte mich über den Umfang meines Nichtwissens informiert, habe mich also in der Lage gesehen, zu sagen, dass damals irgendetwas gedruckt wurde. Aber es geschah etwas Unerwartetes. Ein freundlicher alter Herr bat mich Platz zu nehmen und fragte, durchaus interessiert: »Was halten Sie von Theaterkritik?«

Da warst du ja firm.

Zunächst ein wenig geplättet, weil das war nun eine total unerwartete Frage. Aber meine Reaktionszeit war kurz. Ich begann dem Mann zu erzählen, was ich von der Theaterkritik fordere, wünsche, was ich an ihr nicht mag, ich hatte meinen Jacobsohn, meinen Jhering, meinen Polgar, meinen Weigel gelesen. Ich redete, bis er aufstand, zur Tür ging und der draußen wartenden Frau Professor sagte: »Ich wünsche mir, dass Sie mir öfter solche Kandidaten vorstellen.«

Ein Triumph.

Wenn ich an das Gesicht der Dame denke, schon. Aber hier ging es doch um eine akademische Weihe. Ich hatte als Nebenfach Kunstgeschichte. Da sagte der Professor, nachdem meine Ausführungen über die Gotik immer redundanter wurden: »Also hören wir lieber auf, bevor’s noch schlechter wird.«

Finde ich unglaublich fair.

Das Ärgste war das Philosophikum. Man wollte ja Dr. phil. werden, da gehörte das dazu. Ich hatte das Institut vorher nie betreten, als ich dort hinging, um mir dicke, wohl von Absolventen angefertigte, gebundene Skripten zu kaufen, die den Stoff des Prüfers, eines, wie man mir sagte, katholischen Philosophen, bündelten. Es handelte sich um vier Bände: Logik, Logistik und drei und vier weiß ich nicht mehr. Das hängt damit zusammen, dass mein Versuch, irgendetwas von den Bänden drei und vier zu verstehen, im Ansatz scheiterte. Ich las mich in die Logik ein, versuchte auch die Logistik, gab aber auf und trat zur Prüfung in dem vollen Bewusstsein an, jede Frage außerhalb der Logik würde zur Katastrophe führen.

Aber der Professor fragte in das Zentrum deines Wissens: Aristoteles.

Ja. Ich gab Auskunft. Und dann geschah wieder etwas, was mir die Sache unsäglich machte. Der Mann, der mich vor dieser Prüfung nie gesehen hatte, den ich vor dieser Prüfung nie gesehen hatte, sagte: »Warum haben Sie nicht immer so gearbeitet, Herr Kollege?«

Er hat dich verwechselt.

Ich glaube eher, er war senil.

Beim Psychologen hast du aber was gewusst.

Beim zweiten Mal. Beim ersten Mal hat er mich mit dem beschämenden Satz »So leicht darf man sich ein Doktorat nicht machen«, hinauskomplimentiert. Danach habe ich sein Buch doch genauer gelesen und festgestellt, dass da viele Dinge drinstanden, die unser Philosophieprofessor am Gymnasium uns schon beigebracht hatte.

Du musst dich deines Titels nicht schämen, du hast eine sehr gute Dissertation geschrieben.

Lass sie einen guten Essay sein. Aber der Anspruch an eine Dissertation, wissenschaftlich sein zu müssen, ist doch in keiner Weise erfüllt.

Das hängt mit dem Studium zusammen, mit dessen Zustand damals, da kannst du nichts dafür.

Aber die Erinnerung deprimiert. Oder wenn ich an meine Tätigkeiten während des Studiums denke …

Du meinst dein Kurzgastspiel bei der »Presse«.

Ja, bei der »Die Presse«. Die hatten ein Volontariat frei. Hätte ich denen gefallen, hätte ich das Studium nicht so rasch erledigt. Aber ich habe kein Bein auf die Erde gebracht. Die Provinzausbildung hat da nicht gereicht.

Man hat manchmal Glück.

Die »Wiener Zeitung« hat mich als freien Mitarbeiter gelegentlich für Reportagen eingesetzt.

Du wurdest doch noch während des Studiums gut bezahlter Werbetexter.

Das war der Tiefpunkt. Am Institut haben sie mir gesagt, eine bedeutende Auto- und Fahrzeugfirma würde einen Texter brauchen. Ich hatte kein Geld. Weihnachten stand vor der Tür. Ich habe mir gedacht: Mach die drei Probemonate, da kannst du Weihnachtsgeschenke kaufen, und dann haust du wieder ab.

Du hattest großen Erfolg. Es wurden zweieinhalb Jahre.

Erfolg? Es gab ja nichts zu tun! Hie und da ein Prospekttext, hie und da ein Inserat, ein Slogan. Wenn ich, über die ganze Zeit aufgeteilt, täglich eine halbe Stunde gearbeitet habe, war es viel. Aber ich war den ganzen Tag da. Beschämend. Ich habe während der Dienstzeit mit einem Kollegen Karten gespielt. Poker. Ich habe Unsummen verloren. Er war Falschspieler. Als ich ihn drauf angesprochen habe, hat er es zugegeben. Ich habe ihn dann ersucht, mir was beizubringen. Er hat sich geweigert. Er hat gesagt, er traut mir nicht zu, die Sachen monatelang vor dem Spiegel zu üben.

Du hast dir deinen Lebenstraum erfüllt. Du gingst zum Theater. Als Dramaturg und Autor. Nach Salzburg.

Nicht als Dramaturg. Die Planstelle war schon an eine Frau vergeben. Ich war »Chefdisponent«. Ich habe nur die Dramaturgenarbeit gemacht. Und Autor? Sie hatten ein Theaterstück von mir angenommen und auch uraufgeführt. Der Riesenerfolg hat mich veranlasst, zu glauben, aus mir wird ein großer Stückeschreiber.

Du wurdest als Chefdramaturg nach Linz geholt.

Das schlimmste Jahr meines Lebens. Schon die Vorgeschichte. Die Salzburger gingen nach Braunschweig. Und engagierten als Chefdramaturgen einen bekannten deutschen Reisekritiker, der die Theater erpresste, seine Kindermärchen aufzuführen. Die waren also froh, mich loszuwerden. Nach Linz wurde ich geholt von einem aus einem Dreierdirektorium, dem Opernmann. Dem war aufgefallen, dass das Salzburger Theater dauernd in den Zeitungen stand. Pressearbeit, das konnte ich. Der Operndirektor war aber Todfeind des Schauspieldirektors und drückte mich dem aufs Auge. Der aber wollte die ganze Intendanz, und ich war sozusagen der Mann seines Rivalen. Der Zustand war unerträglich. Ich verzichtete auf das zweite Vertragsjahr. Und stand auf der Straße.

Unsinn. Du hast für Zeitungen geschrieben, für den Funk, du hast Funkregien gemacht, Lieder übersetzt, Musicalsongs. Du hast einen Industriefilm gedreht und …

… viel gemacht, was mir in bösen Träumen noch unterkommt.

Es ist dir nie schlecht gegangen.

Wirtschaftlich? Nein. Aber da war viel dabei, wo man hätte nachher unter die Dusche müssen.

Du warst nicht wehleidig.

Aus Trotz.

Es kam die Zeit, da bist du immer zwei Wochen im Monat nach München und hast in einer Film- und TV-Firma unter der Leitung des ehemaligen österreichischen Fernsehdirektors Gerhard Freund Drehbücher geschrieben, Serien …

…auch unter Pseudonym, wenn ich mich geschämt habe …

… auch große Geschichten. Das war doch eine tolle Zeit …

… in der sich mein Freund und Gönner von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung fürchtete, bis es vorbei war. Es war die Hölle. Noch dazu habe ich in München in Untermiete gewohnt. Es war alles sehr traurig.

Doch dann kam das Kabarett. Alles, was du gelernt hattest, konntest du unterbringen. An der Seite des Großmeisters Dieter Hildebrandt wurdest du über Nacht zum Star, hast dich in den ersten 22 Kabarettjahren dumm und dämlich verdient.

Mit Misserfolgen. Ich kann doch jetzt, mit 80, nicht herumgehen und dauernd sagen, das habe ich, das haben wir damals schon gesagt, und immer wieder, ich habe damit und damit und damit recht gehabt. Ich habe wirklich gehofft. Und jetzt stehen wir kurz vor einem globalen Crash. Das macht das, was du »Erfolg« nennst, auf das du so stolz bist, so namenlos bitter.

Jetzt wirst du unerträglich.

Weil ich eine Depression habe.

Na, wenn’s sonst nichts ist.

Gespräch über die Herkunft

Geboren als Schneyder mit Ypsilon. Hat dich das Ypsilon eher gestört oder hast du es als originelle Bereicherung empfunden?

Weder noch. Gestört hat mich nur, dass die richtige Schreibweise meines Namens nicht immer leicht durchsetzbar war.

Du hast Briefe, wo »Schneider« draufstand, immer weggeschmissen.

Vor allem Autogrammanfragen. Ich war nicht bereit hinzunehmen, dass Menschen ein Autogramm von jemandem haben wollen, dessen Namen sie nicht wirklich kennen.

Besonders heiß bist du gelaufen, wenn die Schreibweise der Adresse und die des Brieftextes differierten.

Da habe ich kurz den Intelligenzgrad der Schreibkraft bestimmen wollen.

Eine Zeit lang mochtest du deinen Vornamen nicht.

Das gilt angeblich für die meisten jungen Menschen. Aber da auch Herbert im Gespräch war, bin ich nicht unzufrieden. Das Ypsilon war übrigens sechs Generationen zurück nachweisbar. Der Vater hat Ahnenforschung betrieben.

Ich glaube kein Wort.

Der Vater hat erzählt, er wäre bis zu einem »Anton Schneyder, k. u. k. Straßenpfleger von Österreich« gekommen. Straßenpfleger, glaube ich, im Sinne von Straßenkehrer.

Übertreib nicht.

Das Ypsilon hat irgendein Pfarrer einmal hineingeschrieben, weil er schon zu viele I-Schneiders in der Gemeinde hatte. Oder ein geltungssüchtiger Ahne hat darum ersucht.

Es kann auch von einem eingedeutschten tschechischen Wort übriggeblieben sein.

Das ist naheliegend, wenn man das Geburtsjahr 1937 bedenkt.

Der Vater hat nie davon gesprochen, seinem Führer absichtsvoll einen männlichen Nachkommen gezeugt zu haben.

Die Absicht hätte sich die Mutter auch nicht bieten lassen.

Du bezeichnest dich als Klagenfurter.

Bin ich ja. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und zur Schule gegangen. Bis zur Matura.

Du bist in Graz geboren.

Aber, in einem Anfall von Frühintelligenz, als Zweijähriger gesiedelt.

Da hört man einen Unterton gegen Graz heraus.

Dafür gibt’s keinen Grund. Außer, dass ich mich immer geärgert habe, eine Stadt als Geburtsstadt angeben zu müssen, mit der mich nichts verbindet.

Du weißt doch längst, dass sie wunderschön ist.

Das wiegt drei Kontaktversuche nicht auf.

Die Lesung im »Forum Stadtpark«. Damals das Zentrum der österreichischen Literatur.

Bei der waren sieben Leute. Man hat mich erfahren lassen, dass ich keine Sau interessiere.

Du hattest eine sehr gute Kritik.

Von dem Mann, der mich zur Lesung eingeladen, der sie veranlasst hatte. Einmal, ein einziges Mal, war ich länger in Graz.

Da hast du an der Oper eine Operette inszeniert. Die Presse war kein Grund zum Verzagen.

Eher im Gegenteil. Gewettet hätte ich, dass man mich wieder holt. Man hat aber nicht.

Das stimmt nicht. Du hast für die darauffolgende Saison das nächste Angebot gehabt.

Das war mir zu knapp danach.

Da wunderst du dich.

Ich wundere mich nicht. Ich trauere nur der Mittagszeit am Marktplatz nahe der Oper nach, wo man nach der Probe wunderbare Nudeln essen und sich mit südsteirischen Spitzenweinen in den Nachmittagsschlaf saufen konnte.

Also doch eine starke Beziehung zur Geburtsstadt.

Ja, aber die wurde ruiniert durch ein Engagement als Frosch in der »Fledermaus«.

Das du selbst verschuldest hast.

Was heißt »verschuldet«? Die wollten mich haben.

Aber nein. Die haben angerufen und gesagt, sie hätten im Vorjahr eine »Fledermaus« produziert und da wäre der Darsteller des Frosch – ein sehr renommierter Schauspieler übrigens – ein bisschen abgestunken, weil der Text so schwach war. Und sie wollten von dir einen neuen Text.

Ja. Und?

Und du hast dann gesagt: Wenn ich schon einen Text für den Frosch schreibe, dann möchte ich ihn auch selber spielen.

Von der Idee waren die ganz begeistert.

Sie wollten nur das Problem gelöst wissen.

Kann sein. Ich war damals auf Kabarett-Tournee. Ich habe zugesagt und gebeten, mir ein Video der Vorstellung nach Wien zu schicken, damit ich, wenn ich in ein paar Tagen nach Hause komme, meine Texte unter Wahrung der Stellungen und Stichworte für die Partner schreiben kann.

Die haben das Video geschickt.

Mit dem Ergebnis, dass meine Frau mich angerufen hat und mir sagte: »Da spielst du nicht mit.«

Das hast du nicht ernst genommen.

Natürlich nicht. Ich habe mir erzählen lassen, warum sie die Produktion so schauerlich findet und dann gesagt, ich werde mir das anschauen und selbst urteilen.

Du hast dir viele blutige Nasen geholt in deinem Leben, weil du Warnungen nicht geglaubt hast.

Musst du immer so grundsätzlich werden? Zum Kotzen! Ich gebe zu, ich habe dann einen Fehler gemacht.

Du hast dir das in der Tat armselige Video angesehen und zu deiner Frau gesagt: »Schatzi, das ist eine Probe! Die sind eine Probe mitgefahren! Das ist nicht die Vorstellung!« Du hast ihr auch genau erklärt, woran man das erkennt.

Es war die Vorstellung. Eine Wiederaufnahme auf einer sehr schönen Freiluftbühne. Eine grottenschlechte Produktion. Bei jedem Gang vom Hotel zum Schlossberg habe ich mich geniert.

Das reicht nicht. Du hast dir gewünscht, dass die Vorstellung wegen einer Feuer- und anderen Katastrophe abgesagt wird.

Ja. Das hat mein Verhältnis zu meiner Geburtsstadt nicht intensiviert.

Man kann sich Geburtsstädte nicht aussuchen.

Eltern übrigens auch nicht. Eltern im Sinne von Zeugen und Gebären.

Du meinst, wegen der Gene.

Natürlich. Wie kommt man dazu, sich ein Leben lang mit Eigenschaften, Anlagen, Defekten herumzuschlagen, die man geerbt hat.

Ich widerspreche nicht. Es ist von der Schöpfung so vorgesehen, aber unzumutbar.

Im Moment arbeitet man ja mit großen Erfolgen daran, dass sich die Eltern ihre Kinder in der Retorte zusammenstellen können. Umgekehrt wäre das sinnvoller.

Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Wir waren bei Klagenfurt.

Ich liebe diese Stadt.

Vielleicht auch deshalb, weil wir nicht direkt in der Stadt gewohnt haben, am Rand, vor waldreichen Hügeln.

Ja, wir haben auf die Stadt hinuntergeschaut. Nicht so sehr in ihr gewohnt. Die Straßenbahnstation, von der aus der Volksschüler drei Minuten nach Hause hatte, war eine Endstation.

Endstationen haben etwas Magisches. Man kommt an.

Wir wohnten leicht erhöht im zweiten Stock einer Villa.

Die hieltest du damals für schön.

Heute noch, wenn ich mir ansehe, was sie daraus gemacht haben.

Die Wohnung hatte fünf Balkone, zwei davon gegen Süden. Mit einem schönen Blick auf die Stadt.

Und die habe ich von Anfang an geliebt.

Du hattest keine Vergleichsmöglichkeiten.

Die vielen Vergleichsmöglichkeiten, die danach kamen, haben meine Grundeinstellung nicht verändert.

Da war natürlich von Anfang an Trotz dabei, denn die Mutter hielt Klagenfurt, gemessen an Graz, für ein »Nest«, der Vater, gemessen an Wien, für »tiefste Provinz«.

Mein Widerstand gegen diese Urteile war instinktiv. Ich habe keine Ahnung mehr, ab wann ich mich zu fragen begann, warum sie irgendwo lebten oder leben mussten, wo es ihnen so gar nicht genügte.

Du hast den hinter dem Haus bald beginnenden Wald genossen, die drei Teiche, die für Fußball geeignete Wiese beim zweiten Teich …

… und den Garten vor dem Haus. Der war für Wildwestfantasien hinreichend.

Du warst immer ein Träumer.

Ich lehnte stundenlang an der Steinmauer des Balkons …

… der »Loggia«, bring die Eltern nicht um ihr Vokabular …

… und träumte den Traum der letzten Nacht weiter: über die Stadt zu fliegen, abzustürzen und sich nicht weh zu tun.

Der Traum kam später. Als sich die Fluchtgründe häuften.

Ich kann in meine Bilder keine Reihenfolge mehr bringen.

Um das Haus herum war reichlich Grün. Man konnte sich in Büschen verstecken, Schnecken quälen, Obst oder Flieder stehlen.

Es gab auch eine Sickergrube.

So ein etwa eineinhalb Meter abgesenkter Teil des Gartens zum Straßenrand hin. Wusstest du, was das war?

Konnte ich nicht wissen. Es war feucht und merkwürdig. Das Spielen in dieser Sickergrube war jedenfalls nicht empfohlen.

Könnte es damit Zusammenhängen, dass es als unfein angesehen wurde, dem Kind etwas über den Lauf der Exkremente zu erzählen?

Worin die kleinen als große Schiffe angesehenen Holzstücke im Rinnsal der Straße schwammen, und zwar immer zwei um die Wette, wurde mir erst später klar.

Als der Kanal gebaut wurde.

Da war es unvermeidlich, auf die Frage, wozu man einen Kanal baut, eine Antwort zu geben.

Ich weiß immer noch nicht, was dir an Klagenfurt so liebenswert war.

Ich sage dir, was mir in den verschiedenen Phasen bis zur Matura die Idee, auch einmal woanders zu leben, als unsinnig erscheinen ließ. Mein Schulweg ins Realgymnasium …

… damit willst du sagen, dass es zwei Gymnasien gab …

… führte durch die Stadt. Als ich ihn schon per Fahrrad absolvierte, konnte ich variieren. Ich habe die Stadt also mindestens zwei Mal am Tag eingeatmet. Klagenfurt hatte, und hat wohl noch, mehrere Fußballplätze, ein Drei-Sparten-Stadttheater, ein Künstlerhaus, damals drei Zeitungen und ein …

… jetzt sind wir beim alles entscheidenden Pluspunkt …

… ein Strandbad an einem herrlichen See. Wie hätte ich je auf die Idee kommen können, dass es woanders auch schön sein kann?

Wieso erwähnst du nicht, dass es auch eine Tanzschule gab?

Zwei bis drei. Aber für mich, der aus einem besseren Haus zu sein hatte, kam nur eine infrage.

In die war schon deine Schwester gegangen.

Ja. Was ich nicht vergessen darf: Künstlerhaus und Stadttheater lagen am Schulweg, der Fußballplatz, der später meiner wurde, nicht weit davon.

Und die Wohnung war schön.

Es gab ein Schlafzimmer der Eltern, daneben ein Speisezimmer, daneben ein Wohnzimmer mit angebauter Holzveranda, um die Ecke ein Kinderzimmer, zwischen dem und der Küche und dem Bad ein längliches Vorzimmer, die Küche hatte einen Balkon und dahinter eine – na ja – Kammer und eine »Speis«.

Der kühle Vorratsraum, ohne Sonne, mit Steinboden.

Der erste Eisschrank kam viel später. Ich denke an eine Zeit, die man heute keinem jungen Menschen mehr erklären kann.

Krieg, Kriegsende, Wiederaufbau.

In diese Zeit fiel meine Bewusstseinsbildung.

Das hast du beschrieben. In »Von einem, der auszog, politisch zu werden«.

So ist es. Über die Keime des politischen Erwachsenwerdens brauchen wir nicht mehr zu reden.

Über die soziologischen schon. Denn in dieser Wohnung wohnten ja fünf Personen: die Eltern, zwei Kinder und eine Großmutter. Du hast die Raumaufteilung genannt. Wo wohnte die Großmutter?

In der Kammer hinter der Küche.

Ärmlich.

Arm. Zu Zeiten, als es eine Hausgehilfin gab, wohnte die in der Kammer.

Und wo die Großmutter?

Ich kann mich erinnern, dass sie auch bei uns im Kinderzimmer geschlafen hat.

Es kristallisiert sich heraus, dass deine Eltern sich zur Großmutter mütterlicherseits benommen haben wie die …

Sprich’s nicht aus.

Speisezimmer und Wohnzimmer, oft Wochen nicht genützt, dienten der Repräsentation. Die Großmutter, die du in deinem Bekanntenkreis berühmt gemacht hast …

… ja, den Namen Anna Berzkowitsch kennt man bis in die Kreise der Meisterköche …

… der Haushaltsvorstand, die wichtigste Person dieser Familie, wurde gehalten wie eine Magd, eine Magd in den Zeiten, als die noch keine Ansprüche zu stellen hatte. Warum hast du dich nie vor deine Eltern hingestellt und gesagt: Das geht nicht, die Oma braucht ein Zimmer!?

Das frage ich mich heute noch in Träumen. Das lastet auf mir, da machst du dir keine Vorstellung.

Die Eltern hatten für Statussymbole, für später einmal übereinanderliegende »Perserteppiche«, die Würde einer sehr früh alten Frau geopfert.

Die musste auch noch zittern, ob der Vater, der was vom Essen verstand, das immer meisterlich Gekochte auch goutierte.

Sie waren Kleinbürger, die Großbürger mimten. Koste es, wen es wolle.

Das gehört zum Wesen des Bürgertums …

… so wie es die Eltern verstanden haben. Es könnte ja auch ein anderes geben …

Ich habe nur das eine kennengelernt, und das definierte sich durch einen Satz: »Was werden die Leute sagen?«

Und wenn du rückgefragt hast: » Welche Leute?«

Haben sie die Frage nicht begriffen.

Entscheidend in diesem Zusammenhang war ja auch die immer wiederkehrende Frage, mit wem man verkehren kann und mit wem nicht.

Da waren die Eltern flexibel. Die hatten die Gewohnheit, sich zyklisch mit den Hausbesitzern, Hausbesorgern und Mitmietern zu zerstreiten. Ich habe nie begriffen, warum.

Aber du durftest eine Zeit lang den oder die nicht grüßen. Nicht einmal den Sohn der Klavierlehrerin über uns.

Deshalb war ich sehr oft allein.

Zu oft, wie man heute weiß.

Gespräch über den Tormann

Du erzählst gerne den Leuten, dass du Tormann warst.

War ich ja.

Du hast im Tor gespielt. Aber die Laufbahn ist nicht hinreichend für die Behauptung: »Ich war Tormann.«

Wenn man weiß, dass diese Tätigkeit an meiner gesamten psychischen Konstitution wesentlich, sehr wesentlich beteiligt ist, dann muss man das einsehen.

Gut, du hast schon als Kind beschlossen, Tormann zu werden.

Diesem Entschluss lagen aber Erfahrungen zugrunde. Mein Vater nahm mich mit etwa vier auf den Fußballplatz mit. Zu einem Ort, den ich angeblich als »Fuffatz« bezeichnete.

Du konntest lange nicht ordentlich sprechen.

Das aber unaufhörlich, wie mir oft erzählt wurde. – Also, auf diesem Fußballplatz sah ich erstmals die zwei bunt gekleideten Mannschaften auf einer annähernd, wenigstens an den Rändern grünen Wiese, sah dieses damals noch weiß lackierte Holzgestänge mit dem Netz und davor einen Spieler, der erstens eine besondere Verantwortung hatte, zweitens eine von den anderen unterscheidbare, eigene Dress. Schon beim Nachhausegehen wusste ich: So einer muss ich werden.

Das ist aufgelegt für Psychologen. Du bist im Begriff, dich auszuliefern.

Du solltest ermessen können, welches Vergnügen mir das macht, zumal es ja noch viel schlimmer kommt.

Du hast dich als Tormann angezogen.

Vor dem Schlafzimmerspiegel der Eltern. Ich bat die Großmutter, den Vorderschlitz einer weißen Unterhose zuzunähen, sodass sie wie eine Sporthose aussah, zog irgendeinen schwarzen Pulli an, wohl einen meiner Schwester, versuchte Schuhe so zuzubinden, wie ich sie bei den Spielern gesehen hatte, betrachtete mich und träumte mich in Tore von rot und blau gekleideten Mannschaften.

Du warst als Kind also leicht irr.

Du kannst das »leicht« ruhig weglassen. Ich erinnere mich genau, wie ich mit etwas sechs den abgerissenen Teufelskopf eines Kasperltheaters gegen die Wand schmiss, um ihn nach dem Abprallen zu fangen. Ich warf ihn schräg links und rechts vom Körper weg und begann mich – wie gesehen – nach ihm zu werfen. Ball hatte ich keinen.

Den ersten richtigen Fußball hast du erst mit elf bekommen.

Ja. Und ich habe ihn beim Einschlafen umarmt und erst am Morgen ausgelassen. Bis dahin hatte ich selbst nur den einen oder anderen Gummiball.

Mit dem hast du auch – sagen wir – trainiert.

Und wie! Ich habe mich nach dem Wurf gegen die Wand um die Achse gedreht, bevor ich ihn fing. Oder drei Mal in die Hand geklatscht. Ich muss das im Turnunterricht mitbekommen haben. Von selbst kann man ja da nicht draufkommen.

Dein Vater war doch Fußballer gewesen.

Hat er behauptet. Das ging bis zur Rechtsaußenposition einmal in einer Wiener Liga-Auswahl. Später haben einige Versuche, auf der Wiese einen Elfmeter zu schießen, das in keiner Weise bestätigt. Ein Meniskusschaden, von dem eine riesige Narbe zeugte, war seiner Auskunft nach an seiner Hilflosigkeit schuld. Aber wir eilen der Geschichte voraus.

Du hast in der Volksschule beim Spiel 1. Klasse A gegen 1. Klasse B zum ersten Mal im Tor gestanden.

Auf dem Turnplatz. Natürlich ohne Dressen. Da kam ein einziger Schuss auf mein Tor, und der war drinnen. Aber es hatte sich um meine erste ernste Begegnung mit einem Lederfußball gehandelt.

Der Schuss war sicher haltbar.

Anzunehmen.

Warum haben sie dich ins Tor gestellt?

Weil ich in dieser Zeit schon zu erzählen begann, welch großartiger Torwart ich wäre. Ich schilderte, wie mein Vater – ein großartiger Ex-Fußballspieler – mir in unserem Garten scharf einschoss und ich die unwahrscheinlichsten Bälle hielt.

Das stimmte nicht.

Keine Silbe. Mein Vater hat mit meiner – sagen wir – Tormannwerdung keine Sekunde zu tun gehabt.

Außer der Initialzündung: Besuch eines Fußballspieles.

So ist es. Also, dass ich ein Tormann war, war in Kreisen der Gleichaltrigen durchgesetzt. Jetzt ging es nur mehr um das permanente Beweisen. Von Frühling bis zum ersten Schneefall kamen wir, ich meine die Kicker, von der Schule nach Hause, stopften das Essen hinein und trafen uns mit einem Ball auf einer – heute längst gesperrten – Wiese. So gut wie jeden Tag. Es war unvermeidlich, Fertigkeiten auszubilden. Im Sommer, im Strandbad, wurde auch täglich auf Kleintore gespielt.

Du wolltest zu einem Verein.

Das war nicht einfach. Meine Mutter fürchtete um das Ansehen der Familie, denn Fußball war für sie ein »Proletensport«. Mit der von ihr angestrebten Außendarstellung der Familie Schneyder war das nicht kompatibel. Ich erinnere mich, dass ich später einmal, um meine Mutter irgendwie zu beruhigen, berichtete, mein Klub wäre ein besserer als der ASK (Arbeiter-Sport-Klub), denn bei meinem spielte in der Verteidigung ein »Ingenieur«. In der Tat war der Klagenfurter-Athletik-Club (KAC) nach allgemeiner Ansicht gesellschaftlich höherwertig, was durch das nachfolgende Mitspielen eines »Doktors« im Mittelfeld auch noch bestätigt wurde.

Du hast dich angeboten.

Beim ersten Mal vergeblich. Da ging ich zur Trainingszeit hin und erklärte, ein Tormann zu sein. Das hat aber niemanden interessiert. Ein Jahr darauf stand auf der Sommerwiese ein Mann an der Seite, sah eine Weile zu, sprach dann eine Gruppe von vielleicht acht Buben an und lud die ein, sich in der Schülermannschaft – heute würde man sagen U12 oder U14 – einzugliedern. Bei denen, die das für eine gute Idee hielten, war ich natürlich dabei.

Dieser Jugendtrainer war ein schlechter Fußballer gewesen und als Trainer eine totale Niete.

Uninteressant. Er akzeptierte, dass die Neuankömmlinge einen Tormann mitbrachten. Der Sonntag, an dem ich zum ersten Mal eine Dress, eine Tormannhose, bunte Stutzen und mir zu kleine, schmerzende Fußballschuhe anhatte, ist eingebrannt. Ich gefiel. Um nicht zu sagen, imponierte.

Du warst unbegabt. Als Tormann unbegabt. Ich schränke ein, als Tormanndarsteller geschickt.

Wie kommst du drauf?

Du warst lang und schlaksig, aber in den Bewegungen nicht dynamisch. Du hattest keinerlei Sprungkraft.

Ich hatte außerordentliche Reflexe und ein gutes Stellungsspiel. Ich – jetzt werde ich sportwissenschaftlich – antizipierte überragend.

Am Anfang. Das verlor sich. Durch Dekonzentration. Durch pubertätsbedingte Nervosität.

Nervosität gebe ich zu. Wenn am Sonntagvormittag ein Meisterschaftsspiel angesetzt war, saß ich die ganze Nacht davor am Thron. Ich habe in meiner späteren Tätigkeit, sei es Bühne, sei es Fernsehen, nie jemals derartiges Lampenfieber gehabt.

Du hattest und hast immer Lampenfieber.

Kein derartiges. Später hat man oft gesagt: »Ich scheiß mich an vor Angst.« Als Tormann hat mich nur das Ausrinnen in der Nacht vor dem Spiel davor bewahrt.

Du warst ein nervlich zerrütteter Bursche.

Familiär bedingt. Ich will es mir nicht zum tausendsten Mal erzählen, was ich in meinem Elternhaus erlebt habe, aber es muss begreiflich sein, welche Wichtigkeit die Lebensebene Fußballklub hatte.

Als Fluchtweg.

Das ist gut gesagt. Aber mich wurmt immer noch deine Ansicht, ich wäre im Prinzip unbegabt gewesen.

Vergiss es.

Ich gebe zu, ich habe grauenhafte Tore bekommen. Aber glaube mir, ich kann jedes Tor, das ich in diesen zwei Jahren, in denen ich die Nummer 1 war, noch genau beschreiben. Wann es fiel, wie es fiel. Wie ich es hätte verhindern können. Müssen.

Weil du die Szenen immer wieder nachgespielt hast.

Bis zum heutigen Tag. Jetzt, wo wir darüber reden, könnte ich sie alle beschreiben.

Nicht nötig. Na ja, vielleicht dein vorletztes Spiel beim KAC, denn das hatte Tragödienausmaße.

Kann man wohl sagen. Es war ja so, dass wir fast alle Mitbewerber hoch schlugen, bei 8:1 hat sich mit dem einen Gegentor niemand danach befasst. Aber der Stadtrivale war immer Meister, weil wir gegen den verloren. In dieser Saison kamen wir im vorletzten Spiel bei Punktegleichstand gegen ihn dran. Bis zehn Minuten vor Schluss stand es 0:0.

Und du hast nur mehr daran gedacht, wie du angeben würdest, endlich einmal ohne Gegentor gespielt zu haben.

Kann sein. Kann sein. Es kam ein Eckball herein, harmlos. Der Verteidiger bekam ihn auf den Kopf, hatte Zeit zur Überlegung, entschied sich, ohne Not den Ball zu seinem Tormann zurückzuköpfeln. Ich schau ihm zu und denke mir, warum köpfelt er den zurück und nicht aus dem Strafraum raus, und da war er auch schon drinnen. Ich hätte nur hochgreifen müssen.

Ich sage ja: unbegabt.

Ich lass das jetzt einmal so stehen. Aber ich bitte um Verständnis für die Glücksmomente, die mir keiner nehmen kann, wenn mir gute Paraden gelungen sind.

Nach denen du immer nach links und rechts geschaut hast, ob sie von draußen jemand gesehen hat.

Gebe ich zu. Und da gab’s eine Situation, die mir unvergesslich ist, weil wiederum existenziell. Du wirst mich wahrscheinlich warnen, sie zu erzählen.

Ich kann dich nicht daran hindern.

Wir hatten die erste Fußballreise vor uns. Von Klagenfurt nach Salzburg. Mit dem Bus. Das ist heute vergleichbar mit einem Flug nach Barcelona. Der Klagenfurter AC hatte gegen den Salzburger AK in einer »Tauernliga« zu spielen, und die Vereine hatten die Idee, ihre U14-Mannschaften als Vorspiel einzusetzen. Wir nahmen die Dressen nach dem letzten Training mit nach Hause. Jeder sollte sie im eigenen Gepäck mitnehmen. Meine Großmutter sah mein Trikot und meinte, das müsse man bügeln, was sie auch tat. Was wir nicht wussten, oder was ich in meiner Aufregung wohl überhört hatte: Vor unserem gab es noch ein Entscheidungsspiel der Salzburger Landesliga. Daher waren 1000 Leute im Stadion.

»Stadion« ist übertrieben. Aber wie kommst du auf 1000?

Waren es ganz sicher.

Ich meine, eher an die 400.

Auch viel. Ein biografisch historisches Spiel war es jedenfalls. Wir liefen ein.

In Deutschland sagt man »auf«.

Das ist jetzt drittrangig. Wir standen also da und erstmals vor – wie auch immer – großer Kulisse. Das Spiel begann. Die rechte Sturmspitze des SAK kam fast bis zur Grundlinie durch und flankte. In für den Tormann dankbarer Distanz und eher weich. Ich nützte die Chance einer erstklassigen Schmähparade. Ich fing den Ball und rollte ab. Der erste Applaus in meinem Leben.

Wer sagt dir, dass der nicht dem Durchbruch des Stürmers gegolten hat.

Das spürt ein »Galerist«. Und es ist unvergesslich.

Ich glaube, das Thema …

Unvergesslich sind mir auch drei Schaukästen in der Stadt Klagenfurt, in denen der KAC die Termine seiner Mannschaften und deren Aufstellung einer interessierten Öffentlichkeit, also den Spielern, mitteilte. Da las ich immer meinen Namen.

Falsch geschrieben.

Das war nicht zu erreichen, dass der Sekretär des KAC mein »y« akzeptierte. So konnte seiner Ansicht nach ein Fußballer nicht geboren worden sein. Aber ich nahm meinen Namen auch mit »i«. Und ging als Tormann durch die Stadt. In der Annahme, als der unübersehbar zu sein.

In der Hoffnung. Mit 15 war der Traum ausgeträumt.