Die unvergleichliche Miss Kopp und ihre Schwestern - Amy Stewart - E-Book
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Die unvergleichliche Miss Kopp und ihre Schwestern E-Book

Amy Stewart

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Beschreibung

»Ich bekam einen Revolver, um uns zu verteidigen«, sagte Constance, »und ich machte bald davon Gebrauch.«

New Jersey 1914: Die Schwestern Constance, Norma und Fleurette führen ein zurückgezogenes Leben auf ihrer kleinen Farm unweit von New York – bis ein Unfall ihr Leben auf den Kopf stellt und ein reicher Fabrikant ihnen übel mitspielt.

Doch der hat nicht mit Constance gerechnet. Die junge Frau, die fast jeden Mann um Haupteslänge überragt, nimmt unerschrocken den Kampf um ihr Recht auf. Selbst Schlägertrupps, die die Farm der Schwestern heimsuchen, können sie nicht einschüchtern. Mit allen Mitteln verteidigt sie ihr Leben und das ihrer Schwestern und zeigt den Halunken, wo es lang geht. Das hat das kleine Städtchen noch nicht gesehen – und ernennt Constance zum ersten weiblichen Sheriff …

Ein turbulenter und höchst unterhaltsamer Roman der New-York-Times-Bestseller-Autorin Amy Stewart über den ersten weiblichen Sheriff – »mit den unvergesslichsten und mitreißendsten Frauenfiguren, die mir seit langem begegnet sind. Ich habe jede Seite geliebt … eine Geschichte, die zu gut ist, um wahr zu sein (aber meistens wahr!)«. Elizabeth Gilbert

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Seitenzahl: 530

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Amy Stewart

Die unvergleichliche Miss Kopp und ihre Schwestern

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hedinger

Insel Verlag

»Ich bekam einen Revolver zu unserem Schutz«, sagte Miss Constance, »und schon bald sollte ich Gebrauch davon machen.«

New York Times, 3. Juni 1915

1

Der ganze Schlamassel begann im Sommer 1914, in dem Jahr, als ich fünfunddreißig wurde. Erst vor kurzem war Österreichs Erzherzog ermordet worden, und in Mexiko brach schon wieder Bürgerkrieg aus, nur bei uns zu Hause war rein gar nichts los. Das erklärt, wieso wir gleich alle drei mit unserem Pferdewagen, einem Buggy, nach Paterson fuhren, um Besorgungen zu machen. Noch nie dürfte sich ein größeres Komitee zusammengefunden haben, um über den Kauf von Senfpulver und einem neuen Klauenhammer zu befinden, nachdem der Stiel des alten infolge unsachgemäßer Nutzung gesplittert war.

Wider besseres Wissen erlaubte ich Fleurette, zu kutschieren. Norma las wie immer aus der Zeitung vor.

»Männerhose verursacht tödlichen Unfall«, informierte sie uns mit erhobener Stimme.

»Das steht da nicht.« Fleurette prustete und drehte den Kopf, um einen Blick auf die Zeitung zu werfen. Dabei glitten ihr die Zügel aus der Hand.

»Doch«, sagte Norma. »Da steht, dass ein Fuhrmann die Angewohnheit hatte, seine Hosen nachts über die Thermolampe zu hängen, aber aufgrund seines alkoholisierten Zustands nicht merkte, dass die Hose die Gasflamme erstickte.«

»Dann ist er an Gasvergiftung gestorben, nicht an der Hose.«

»Jedenfalls war die Hose –«

Das schauderbare Muhen einer Hupe unterbrach Normas Erläuterung. Ich drehte mich um und sah ein schwarzes Automobil mit Karacho die Hamilton Street entlangsausen, ja sogar noch beschleunigen, als es über die Kreuzung direkt auf uns zuschoss. Fleurette sprang auf die Fußstütze, um den Fahrer vorbeizuwinken.

»Runter mit dir!«, rief ich, aber es war schon zu spät.

Das Automobil erwischte unseren Buggy voll auf der Längsseite. Der Aufprall hallte wie ein Feuerwerkskörper in unseren Ohren nach. Unsere Stute Dolley taumelte und kippte mitsamt dem Buggy um. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, wie ich ihn noch nie von einem Pferd gehört hatte. Um uns herum war zersplittertes Holz und verbogenes Metall.

Etwas Schweres drückte gegen meine Schulter. Ich griff danach und erkannte, dass es Normas Fuß war.

»Du stehst auf mir drauf!«

»Ach was. Ich kann dich nicht mal sehen«, ließ sich Norma vernehmen.

Unser Buggy schwankte hin und her, als das Automobil den Rückwärtsgang einlegte und sich von dem Trümmerhaufen freimachte. Ich steckte unter dem umgekippten Hintersitz fest. Es war dunkel wie in einem Sarg, aber unterhalb von mir konnte ich die Umrisse von etwas ausmachen, das ich für Fleurette hielt. Ich wagte nicht, mich zu rühren, aus Furcht, ich könnte sie einquetschen.

Aus dem Tumult um uns herum schloss ich, dass jemand versuchte, den Wagen durch Schaukelbewegungen wieder aufzurichten. »Stopp!«, brüllte ich. »Meine Schwester ist unter dem Rad.« Wenn es sich zu drehen begann, würde sie eingeklemmt werden!

Ein Paar Arme, die so dick wie Äste waren, langten in die Trümmer und packten Norma. »Nehmen Sie Ihre Hände weg!«, schrie sie.

»Er will dich doch bloß rausholen«, rief ich. Murrend ließ sie sich schließlich helfen. Norma konnte es nicht ausstehen, wenn ihr jemand auf die Pelle rückte.

Sobald sie befreit war, kletterte ich hinter ihr hinaus. Der Mann, der an diesen enormen Armen dranhing, trug eine blutgetränkte Schürze. Einen grässlichen Moment lang dachte ich, es sei unseres, bis mir klar wurde, dass er der Metzger vom Stand gegenüber war.

Er war nicht der Einzige, der nach dem Zusammenstoß angelaufen kam. Wir waren umringt von Ladengehilfen, Schlossern, Krämern, Laufburschen, Passanten – tatsächlich waren die meisten Geschäfte jetzt verlassen, da alle das Schauspiel verfolgen wollten, das wir boten. Die meisten sahen vom Bürgersteig aus zu, aber ein beachtliches Aufgebot scharte sich um das Automobil und hielt es so von der Flucht ab.

Der Metzger und ein paar Männer aus der Druckerei, die Hände voll Druckerschwärze, halfen uns, den Wagen so weit aufzurichten, dass Fleurette unterm Rad wegrutschen konnte. Als wir die zerbrochene Türfüllung von ihr weghoben, starrte Fleurette uns mit funkelnden dunklen Augen an. Sie trug ein Futteralkleid aus rosafarbenem Taft. Auf der staubbedeckten Straße sah sie aus wie ein zertrampeltes Rosenbeet.

»Rühr dich nicht«, flüsterte ich, während ich mich über sie beugte, aber sie schob sich die Arme in den Rücken und richtete sich auf.

»Nein, nein, nein«, sagte einer der Drucker. »Wir lassen einen Arzt kommen.«

Ich sah zu den Männern hoch, die einen Kreis um uns bildeten. Einige zeigten allzu große Bereitschaft, an der Untersuchung von Fleurettes Bein mitzuwirken.

»Sie kommt schon zurecht«, sagte ich. »Keine Sorge.«

Die Männer schlurften davon und halfen zwei Droschkenfahrern, die von ihren Wagen abgestiegen waren, um sich unserer Stute anzunehmen. Sie befreiten Dolley von ihrem Geschirr. Das arme Tier stöhnte, warf den Kopf herum und mühte sich, aufzustehen. Die Männer fütterten sie mit kleinen Leckerbissen aus ihren Taschen, was sie zu beruhigen schien.

Ich drückte kurz auf Fleurettes Wade. Sie jaulte auf und zog das Bein mit einem Ruck weg.

»Ist es gebrochen?«, fragte sie.

Ich hatte keine Ahnung. »Versuch, es zu bewegen.«

Sie verknautschte das Gesicht, hielt die Luft an und beugte vorsichtig erst ein Bein, dann das andere. Dann stieß sie die Luft aus und sah mich an, noch immer kurzatmig.

»Gut so«, sagte ich. »Jetzt beweg die Knöchel und die Zehen.«

Wir sahen beide auf ihre Füße hinunter. Sie trug höchst alberne, weiße Kalbslederstiefel mit rosafarbenen Bändern als Schnürsenkel.

»Sind sie heil geblieben?«, fragte Fleurette.

Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zu beruhigen. »Versuch einfach, sie zu bewegen. Zuerst den Knöchel.«

»Ich meine die Stiefel.«

Und da wusste ich, dass Fleurette den Unfall überstehen würde. Ich band ihr die Stiefel auf und versprach, gut auf sie achtzugeben. Mittlerweile hatten sich noch mehr Zuschauer eingefunden, und Fleurette wackelte mit hell bestrumpften Zehen ihrem neuen Publikum zu.

»Morgen sind Sie bestimmt grün und blau, Miss«, sagte eine Dame hinter uns.

Der Sitz, unter dem ich noch vor wenigen Momenten festgesteckt hatte, lag auf dem Boden. Ich half Fleurette, sich darauf niederzulassen, und sah mir weiter ihre Beine an. Die Strümpfe waren zerrissen, sie selbst war voller Schrammen, aber nicht in lauter Stücke zerbrochen, wie ich es mir in meiner Panik ausgemalt hatte. Ich nahm mein Taschentuch und drückte es auf eine lange, oberflächliche Schnittwunde an ihrem Knöchel, aber sie hatte bereits das Interesse an den eigenen Verletzungen verloren.

»Guck dir bloß Norma an«, flüsterte sie mit maliziösem Lächeln. Meine Schwester hatte sich dem Automobil in den Weg gestellt, um es am Wegfahren zu hindern. Und sie bot tatsächlich einen komischen Anblick: eine kleine, aber stämmige Gestalt in geschlitztem Reitkleid aus graubrauner Baumwolle. Norma hatte das breite slawische Gesicht und die Knollennase unseres Vaters sowie das sauertöpfische Wesen unserer Mutter. Ihr verkniffener Mund verlieh ihr eine permanent mürrische Miene, und sie betrachtete alle Welt voller Misstrauen. Jetzt starrte sie den Fahrer des Automobils mit dem Ausdruck eiserner Entschlossenheit an, den sie in Krisenzeiten automatisch beherrschte.

Der Automobilist war ein kleiner, kräftig gebauter junger Mann, ein bisschen zu wohlgenährt, was auf ein privilegiertes Leben hindeutete. Man hätte ihn als gutaussehend bezeichnen können, wären da nicht etwas Träges, Verwöhntes in seinem Blick gewesen und der harte Zug um seinen Mund, der signalisierte, dass er es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Sein Gesicht war verquollen und gerötet, sicherlich von der Hitze, womöglich aber auch von der Angewohnheit, zum Frühstück einen Humpen Bier und zum Abendessen eine Flasche Wein zu leeren. Er war ausnehmend gut gekleidet: gestreifte Leinenhosen, eine seidene Weste mit glänzenden Messingknöpfen und eine Krawatte, die so rot war wie das Blut, das durch Fleurettes Strümpfe sickerte.

Nun kletterten auch die anderen Insassen aus dem Wagen und stellten sich wie Wachposten um ihn auf. Sie trugen die einfachen baumwollenen Anzüge von Arbeitern und führten sich auf wie Ratten, die es nicht gewohnt sind, sich bei Tageslicht blicken zu lassen. Allesamt waren sie verlottert und unrasiert, und ein paar hatten die Hände in den Taschen, als wollten sie gleich ein Messer hervorziehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wohin diese Bande von Flegeln in solcher Eile unterwegs gewesen war, bereute aber jetzt schon, dass ausgerechnet wir ihnen in die Quere gekommen waren.

Der Fahrer wedelte mit den Armen und forderte die Menge auf, den Weg freizumachen. Seine Begleiter nahmen das Kommando auf und begannen, die Zuschauer anzubrüllen und zu schubsen wie Betrunkene bei einer Kneipenrauferei – alle außer einem, der zurückwich und wegzulaufen versuchte. Aber er geriet ins Stolpern, und die Männer in der Menge konnten ihn mühelos festhalten. Während ungefähr zwanzig Leute dem Wagen den Weg versperrten, begann dessen Motor zu stottern und setzte dann aus, doch das Geschrei und Geschubse gingen weiter.

Es gelang mir nicht, Blickkontakt mit Norma aufzunehmen. Auch sie verfolgte das Geschehen, und ich sah die Empörung aus ihrem Gesicht weichen, als ihr klar wurde, dass diese Bande echten Ärger bedeutete.

Die Krämer, Ladengehilfen und Fahrer anderer Automobile, die am Randstein festsaßen, kommandierten jetzt lautstark und mit ausgestreckten Fingern herum.

»Dafür, was Sie diesen Damen getan haben, werden Sie zahlen!«, brüllte einer.

»Ihr Pferd ist durchgegangen!«, schrie der Fahrer zurück. »Die sind uns direkt vor den Wagen gefahren!«

Jetzt machte sich murmelnder Protest breit. Wie jedermann wusste, durfte man bei solchen Zusammenstößen nie dem Pferd die Schuld geben. Ein Pferd konnte sehen, wohin es trat, ein Automobil mit einem unaufmerksamen Fahrer nicht. Diese Burschen hatten offensichtlich anderes im Auge gehabt als den Verkehr.

Die Konfrontation konnte ich nicht Norma allein überlassen. Ich klopfte Fleurette energisch auf die Schulter, damit sie sitzen blieb, lief um den Buggy herum und stellte mich neben meine Schwester. Aller Augen wanderten zu mir herüber. Als die Größte und die Älteste von uns dreien muss ich wie die Hauptverantwortliche ausgesehen haben.

Es gab niemanden, der die gegenseitige Vorstellung hätte übernehmen können, aber ich wusste nicht, wie ich anders beginnen sollte.

»Ich bin Constance Kopp«, sagte ich, »und das sind meine Schwestern.«

Ich sprach die Männer mit aller Würde an, die ich aufbringen konnte – immerhin hatte ich gerade noch kopfüber in einem umgekippten Buggy gesteckt. Der Fahrer des Kraftwagens wandte ostentativ den Blick ab, als könnte es ihm nicht zugemutet werden, mir zuzuhören, ja er tat geradezu so, als wäre ich gar nicht da. Ich holte Luft und hob die Stimme: »Sobald wir den Schaden geklärt haben, können Sie Ihre Fahrt fortsetzen.«

Der Mann, der hatte weglaufen wollen – ein großer, dünner Mann mit Tränensäcken und einem vorstehenden Schneidezahn –, beugte sich zur Seite und flüsterte den anderen etwas zu. Offenbar heckten sie gerade etwas aus. Als er herumhinkte, um die Lage zu besprechen, sah ich, dass seine Behinderung von einem Holzbein herrührte.

Der Fahrer des Automobils nickte seinen Freunden zu und streckte den Arm nach dem Türgriff aus. Er hatte tatsächlich vor, sich durch die Menge zu drängeln und ohne ein Wort davonzufahren! Norma wollte etwas sagen, aber ich hielt sie davon ab.

Er riss die Tür auf. Und da ich keine andere Möglichkeit sah, lief ich hin und knallte sie zu.

Dies sorgte für ein paar Oh- und Ah-Rufe bei den Zuschauern, die sich offensichtlich gut unterhalten fühlten. Ich nutzte den sich mir gebotenen Vorteil und trat auf den Mann zu. Erhobenen Hauptes baute ich mich vor ihm auf, sodass ich ihn weit überragte. Er war kurz davor, das Wort an mein Schlüsselbein zu richten, besann sich dann aber und hob das Kinn, um mir ins Gesicht zu starren. Sein Mund war leicht geöffnet, und gleichmäßige runde Schweißperlen sprossen in geraden Reihen über seiner Oberlippe.

»Wahrscheinlich werden wir einen neuen Buggy benötigen. Sie haben diesen hier offenbar so schwer beschädigt, dass er nicht mehr repariert werden kann«, sagte ich. In diesem Moment löste sich eine meiner Hutnadeln und klirrte wie ein Glöckchen, als sie auf dem Schotter landete. Ich musste mich zwingen, nicht nach unten zu schauen, und konnte nur hoffen, dass sich keine weiteren Nadeln oder Verschlüsse selbständig machten, wie das in Momenten großer Aufregung gern der Fall war.

»Weg von meinem Wagen, Lady«, zischte der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Ich starrte wütend auf ihn hinunter. Keiner von uns rührte sich. »Wenn Sie sich weigern zu bezahlen, werde ich mir Ihr Kennzeichen aufschreiben«, erklärte ich.

Er zog eine Augenbraue hoch, als wollte er mich provozieren. Daraufhin ging ich zum Wagenheck und zückte ein kleines Notizbuch, das ich immer in der Handtasche mitführte.

»Lass es sein«, sagte Norma, die mir auf dem Fuß folgte. »Mir gefällt es nicht, wie die uns ansehen.«

»Mir auch nicht, aber wir brauchen seinen Namen«, murmelte ich leise.

»Ich will seinen Namen gar nicht wissen.«

»Aber ich.«

Die Leute reckten schon ihre Hälse, um unseren Streit zu verfolgen. Ich ging zurück zu dem Fahrer und sagte: »Vielleicht können Sie mir die Mühe ersparen, den Staat New Jersey um Ihren Namen und Ihre Adresse zu bitten.«

Der Mann sah sich in der Menge um, begriff, dass ihm keine Wahl blieb, und beugte sich zu mir herüber. Er roch nach Haarwasser, nach Alkohol und nach dem scharfen, metallischen Gestank, der aus allen Fabriken in der Stadt drang. Nun fauchte er mir die Angaben zu, wobei ihm ein Schwall Luft aus dem Bauchraum entwich, der mich zwang, einen Schritt zurückzutreten, während ich aufschrieb: »Henry Kaufman, Seidenfärberei Kaufman, Putnam Street.«

»Das genügt, Mr Kaufman«, sagte ich so laut, dass die Umstehenden mich hören konnten. »Sie erhalten Ihre Rechnung in wenigen Tagen.«

Er gab keine Antwort, sondern begab sich zum Wagen und schwang sich auf den Fahrersitz. Einer seiner Freunde riss heftig an der Anlasskurbel, und der Motor heulte auf. Dann stiegen die anderen ein, und das Automobil bahnte sich ruckelnd einen Weg durch die Passanten. Männer hielten ihre Pferde im Zaum, Mütter zogen ihre Kinder auf den Bürgersteig, während der Wagen schlingernd davonbrauste.

Norma und ich sahen den Staub hinter Henry Kaufmans motorisierten Rädern hochwirbeln.

»Ihr habt sie einfach laufen lassen?«, fragte Fleurette, die immer noch auf dem zerbrochenen Buggy-Sitz hockte. Sie hatte die Rolle einer Zuschauerin bei einem Schauspiel eingenommen und schien sehr enttäuscht von unserem Auftritt zu sein.

»Ich hätte keinen Moment länger mit denen ausgehalten«, sagte Norma. »Das sind die widerwärtigsten Leute, die ich je erlebt habe. Und schau nur, was sie mit deinem Bein gemacht haben.«

»Ist es gebrochen?«, fragte Fleurette, die es zwar besser wusste, aber Normas düstere Vorhersagen immer genoss.

»Ach, gut möglich, aber wir können den Knochen selbst richten, wenn es sein muss.«

»Damit dürfte meine Karriere als Tänzerin wohl zu Ende sein.«

»Ja, ich glaube schon.«

Die Fuhrleute brachten uns eine zittrige, aber unversehrte Dolley. Was von unserem Buggy übrig war, lag mittlerweile in etwa einem Dutzend Bruchstücken auf dem Bürgersteig.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er repariert werden kann«, sagte einer von ihnen, »aber ich könnte meinen Stallburschen zur Werkstatt schicken, um nachzufragen.«

»Nicht nötig«, entgegnete Norma. »Unser Bruder wird ihn abholen. Er hat einen Fuhrwagen.«

»Lasst uns Francis da nicht reinziehen!«, protestierte Fleurette. »Er wird alles auf meinen Fahrstil schieben.«

Ich trat zwischen die beiden, weil ich nicht wollte, dass der Fuhrmann sein Angebot zurückzog, während wir uns zankten.

»Sir, wenn Sie Ihren Burschen zur Arbeitsstelle meines Bruders schicken könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Ich schrieb die Adresse des Korbwarenimporteurs auf, bei dem Francis beschäftigt war.

»Ich kümmere mich darum«, sagte der Mann. »Aber wie wollt ihr drei nach Hause kommen?«

»Constance und ich können zu Fuß gehen«, antwortete Norma schnell, »und unsere kleine Schwester setzen wir aufs Pferd.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt würde gehen können, steif und wund, wie ich von dem Zusammenstoß war. Außerdem würde es schon dunkel sein, bis wir zu Hause ankämen. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit Norma anzulegen, also nahm ich das Angebot des Fuhrmanns an, uns einen Sattel für Dolley zu leihen. Wir hoben Fleurette hinein und wickelten einen Mehlsack um ihren verletzten Fuß, bevor wir ihn in den Steigbügel schoben. Norma nahm Dolleys Zügel, und so schlurften wir die Market Street entlang, eher Kriegsflüchtlingen ähnelnd als drei Schwestern, die einen Nachmittag lang einkaufen gewesen waren.

Normalerweise hätte ich einen Zusammenstoß mit einem Automobil für so etwas wie die größtmögliche Katastrophe gehalten, die einer von uns dreien widerfahren konnte. Aber dieses Jahr sollte alles andere als normal sein.

2

Am nächsten Morgen arbeitete sich die Sonne über die Halbgardinen hoch, bis sie auf den Spiegel an der Wand gegenüber traf und ihr blendendes Licht über mein Bett ergoss. Schon zu dieser frühen Stunde war die Luft schwer und unerträglich heiß. Ich strampelte die Bettdecke beiseite und versuchte, mich aufzurichten. Als meine Füße den Boden berührten, wusste ich, dass ich mich schlimmer verletzt hatte als gedacht. Mein rechter Arm war nutzlos, die Schulter rot und heiß und so stark geprellt, dass ich sie kaum bewegen konnte. Mit ziemlicher Mühe gelang es mir, mein Nachthemd aufzuknöpfen und hinauszuschlüpfen. Erst nach ein paar Versuchen gelang mir eine aufrechte Haltung, und ich quetschte mich in das erstbeste Kleid, bei dem ich keinen Arm über den Kopf heben musste.

Das Gehen war schier unmöglich. Meine Hüfte fühlte sich an, als wäre sie ausgekugelt, und sobald ich das linke Bein belastete, machte mein Knie vor Schmerz schlapp.

Ich schleppte mich auf den Flur und hielt mich mit einer Hand am Geländer fest, während ich die Treppe hinabschlurfte.

In der Küche stieß ich auf Fleurette, die ein hartgekochtes Ei verspeiste.

»Bonjour«, sagte sie. Nach Mutters Tod im letzten Jahr hatte Fleurette angefangen, deren sprachliche Maniriertheiten nachzuahmen. Mutter, die mit einem französischen Vater und einer österreichischen Mutter in Wien aufgewachsen war, hatte Französisch und zwei verschiedene Arten Deutsch gesprochen. Fleurette mochte Französisch lieber, wegen der romantischen Schnörkel. Norma und ich fanden diese Vorliebe lästig, hatten aber beschlossen, sie zu ignorieren.

»Lass mal deinen Fuß sehen.«

Fleurette hob den Rock und zeigte einen schlecht bandagierten Knöchel. Der Verband war rostrot verfärbt. Ich muss leider gestehen, dass alles, was ihn hielt, eine Kruste aus getrocknetem Blut war – und nicht etwa unsere notdürftig angebrachten Nadeln.

»O je. Da haben wir dich gestern Abend nicht gerade gut versorgt.«

»Je pense que c'est cassé.«

»Ach was – nichts ist gebrochen. Kannst du den Fuß bewegen? Steh mal auf.«

Fleurette rührte sich nicht. Sie spielte mit ihrem Eierbecher herum und hielt den Blick gesenkt. »Ich soll dir von Norma sagen, dass Francis –« Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, klopfte es an der Küchentür, und mein Bruder trat unaufgefordert ein.

»Wer von euch ist gefahren?«, fragte er. Seit Mutter von uns gegangen war, spielte sich Francis als der Mann im Haus auf, obwohl er verheiratet war und schon seit Jahren in Hawthorne lebte.

Fleurette – die keine Scheu hat, anderen Leuten direkt ins Gesicht zu lügen – drehte sich zu Francis um und erklärte: »Constance natürlich. Ich bin zu jung zum Kutschieren, und Norma hat Zeitung gelesen.«

»Es spielt ja auch keine Rolle, wer gefahren ist«, sagte ich. »Der Mann ist mit seinen Wagen direkt in uns reingekracht. Dolley hätte dabei umkommen können.«

»Ich hätte dabei umkommen können«, betonte Fleurette und verdrehte dramatisch die Augen. Sie gewährte Francis einen Blick auf den lilafarbenen Fleck, der knapp über ihrem Knie erblühte. Er wandte sich verlegen ab.

»Das wird schon wieder mit ihr, oder?«, fragte er, und ich nickte. Er öffnete die Küchentür und bedeutete mir, mich mit ihm zu einer Standpauke sowie zur Untersuchung des Trümmerhaufens, den er soeben vorbeigebracht hatte, nach draußen zu begeben.

Draußen befand sich unsere große und etwas zugige Scheune, die Dolley, ab und an eine Ziege oder ein Schwein und ungefähr ein Dutzend Hühner beherbergte. Das Dachgesims war auf einer Seite verbreitert worden, um Platz für Normas Taubenschlag zu bieten. Durch das Ungleichgewicht zwischen den beiden Seiten dieser Konstruktion schien es jedoch, als könnte die Scheune jeden Augenblick den Halt verlieren. Gleich daneben, gegenüber der Auffahrt, befand sich der Eingang zu unserem Rübenkeller. Vor ein paar Sommern hatte Francis den Steinpfad gelegt, den wir jetzt nahmen.

Er sprach mit leiser Stimme, damit Fleurette nicht von der Küchentür aus zuhören konnte. »Wer ist dieser Mann, dieser Harry – wie noch gleich?«

»Henry Kaufman«, sagte ich, »von der Seidenfärberei Kaufman.«

Was ihn so jäh innehalten ließ, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Francis stand stocksteif da und blickte auf seine Füße hinab, wobei er laut ausatmete. Dies war eine Marotte unseres Vaters gewesen, die ich fast vergessen hatte, bis Francis das Alter erreichte, ab dem die Wut für ihn ein alltägliches Gefühl wurde. Francis hatte Vaters hellbraunes Haar und seine blassen tschechischen Gesichtszüge geerbt, doch während unser Vater sich zu seinen strahlenden, intelligenten Augen eine Stirnglatze zugelegt und einen verlotterten Kerl aus sich gemacht hatte, formte Francis daraus einen seriösen Herren mit perfekt pomadiertem Haar und einem Schnurrbart, der an den Enden ordentlich hochgezwirbelt war.

»Einer aus der Seidenindustrie? Bist du sicher?«

»Man kann sich kaum vorstellen, dass so jemand eine Fabrik führt, aber das ist die Adresse, die er angegeben hat. In der Putnam Street, wie das ganze Gewerbe.«

Francis schüttelte den Kopf und schielte zu Norma hinüber, die gerade rückwärts aus dem Taubenschlag kletterte. Sie nahm sich Zeit, ihn zu schließen. Dieses Frühjahr hatte Norma sich die Haare abgeschnitten und daran herumgeschnippelt, bis die braunen Locken sich völlig schief um ihr Gesicht ringelten. In den letzten paar Jahren hatte sie sich angewöhnt, Reitstiefel zu einem geschlitzten Rock zu tragen, der ihr bis knapp über die Knöchel fiel. In dieser Aufmachung stieg sie auf Leitern, um eine Dachrinne zu reparieren, oder zockelte zum Bach hinunter, um ein Kaninchen aus der Falle zu holen. Fleurette sang gern ein Liedchen für sie, das folgendermaßen ging: »Hosen sind für Männer da, aber nicht für Frauen. Frauen sind für Männer da, aber nicht für Hosen.« Norma fand das Lied beleidigend, bestand aber darauf, dass das, was sie trug, keineswegs als Hosen betrachtet werden konnte.

»Du hast dir nichts getan«, sagte ich, als sie anspaziert kam. Zumindest eine von uns dreien konnte sich noch bewegen.

»Ich hab schreckliche Kopfschmerzen«, sagte sie, »von Fleurettes Litanei, dass sie gestern fast umgebracht worden wäre. Sie redet zu viel für ein Mädchen, das beinahe gestorben ist.«

»Ich hab mich auch schon gewundert, warum sie heute so früh auf war. Sie hat ihre Geschichte für Francis einstudiert.«

»Jetzt hört mal zu, ihr zwei«, unterbrach Francis. Er legte uns beiden eine Hand auf die Schulter und führte uns über die Auffahrt zu seinem Fuhrwerk. »Dieser Kaufman. Was genau hat er gesagt?«

»So wenig wie irgend möglich, bevor er mitsamt seinen Gangsterfreunden davongebraust ist«, entgegnete ich, während ich meinen guten Arm hochstreckte, um Francis zu helfen, die Plane von seinem Wagen herunterzuziehen. »Aber ich hab ihm deutlich gemacht, dass er sich darauf gefasst machen soll – oh.«

Der Buggy bot ein Bild des Schreckens: lauter zersplittertes Holz und verbogenes Metall. Norma und ich starrten darauf.

Es war ein Wunder, dass wir überlebt hatten!

Francis nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich kann nicht die ganze Zeit hier sein, um auf euch Mädchen aufzupassen.«

»Wir haben dich nicht gebeten, auf uns aufzupassen«, sagte ich. »Wir wollten nur, dass unser Buggy hierhergebracht wird, und das war wohl keine allzu große Mühe, oder?«

»Nein, aber ohne einen Mann im Haus –«

»Wir hatten keinen Mann im Haus, seit du geheiratet hast«, unterbrach ich ihn. »Und außerdem, was hätte das geändert? Er ist mit seinem Wagen in uns reingefahren. Dagegen hättest du auch nichts machen können.«

»Das spielt doch keine Rolle. Ihr solltet jedenfalls nicht allein hier draußen sein«, sagte Francis, »besonders jetzt, wo ihr euren Buggy los seid. Würdet ihr nicht lieber bei uns in der Stadt wohnen?«

»Ich möchte lieber nicht in einer Stadt wohnen«, erwiderte Norma. »Der gestrige Ausflug in die Stadt hat uns fast das Leben gekostet, falls du das vergessen hast. Hier sind wir viel sicherer.«

Wieder blickte Francis auf seine Schuhe – wie unser Vater das getan hatte, um sich daran zu hindern, etwas zu sagen, was er nicht sagen wollte – und mahlte ein Weilchen mit dem Kiefer, bevor er einlenkte. »Na schön. Um die Reparatur kümmere ich mich. Ich kenne einen Mann in Hackensack, der das machen kann. Es sieht schlimm aus, aber ich glaube, der Buggy kann wieder hergerichtet werden. Das Geschirr ist heil geblieben, und die meisten Platten sind an den Fugen entzwei gegangen.«

»Wir können uns selbst um die Reparatur kümmern«, erklärte ich, »und Henry Kaufman wird dafür bezahlen.«

»Du kannst ihn nicht zum Zahlen zwingen, und du solltest nichts mit ihm zu schaffen haben«, sagte Francis. »Du weißt doch, wie solche Leute sind. Hast du nicht mitbekommen, was sie letztes Jahr mit den streikenden Arbeitern gemacht haben?«

Daran musste Francis mich nicht erinnern. Alle hatten mitbekommen, was mit den Streikenden passiert war. Die Spinnereibesitzer hatten es sich in den Kopf gesetzt, dass ein Arbeiter vier Webmaschinen gleichzeitig bedienen konnte statt zwei – und das zehn Stunden pro Tag statt acht. Dreihundert Spinnereien machten dicht. Fabrikarbeiter in New York legten aus Solidarität die Arbeit nieder. Patersons Straßen waren schwarz vor wütenden Streikenden. Sogar die Kinder, die in den Spinnereien als Picker und Zwirner arbeiteten, hielten ihre Protestschilder hoch und marschierten mit.

Die Spinnereibesitzer sorgten mit ihrem beträchtlichen Einfluss dafür, dass die Polizei bei den Demonstrationen erschien und so viele Leute verhaftete, wie die Gefängnisse fassen konnten. Und als die Polizei damit überlastet war, engagierten die Seidenfabrikanten eigene Ordnungsdienste. Dann brannten die ersten Häuser ab. Reden wurden von Schüssen unterbrochen und Bäcker und Metzger davor gewarnt, Streikenden Nahrungsmittel zu verkaufen. Schließlich waren die Arbeiter zu ausgehungert und zu eingeschüchtert, um etwas anderes zu tun, als an ihre Webstühle zurückzukehren.

Die Seidenfabrikanten benahmen sich, als wäre Paterson ihr Eigentum. Aber keiner von ihnen hatte das Recht, uns ungestraft auf der Straße umzufahren. »Mr Kaufman macht mir keine Angst«, sagte ich. »Er wird bezahlen, was er uns schuldet.«

3

Das Thema Umzug in Francis' Haus war schon am Abend nach der Beerdigung unserer Mutter aufgekommen, nach einem Abendessen aus Schinkenbroten, sauren Gurken und Bessies Zitronenkuchen. Während Norma und Fleurette den Abwasch machten, saß ich mit Francis auf der Terrasse hinter seinem Haus und sah ihm zu, wie er seine Pfeife stopfte. Vom Feldweg schallte das Gelärm seiner Kinder, die irgendein Spiel spielten, dessen Regeln sie allein kannten und bei dem es galt, einen Stock durch einen großen Metallreifen zu werfen. Ich setzte mich auf einen Rohrstuhl neben Francis und genoss zum ersten Mal an diesem Tag einen Moment der Ruhe. Sie sollte nicht andauern.

»Du weißt, wie gern Bessie und ich es hätten, wenn ihr Mädchen bei uns leben würdet«, sagte Francis, sobald er seinen Tabak zum Glimmen gebracht hatte.

Ich seufzte und schwang meine Füße aufs Verandageländer. »Das klingt nicht gerade überzeugend. Außerdem hast du ja nicht mal genug Platz für deine bereits vorhandene Nachkommenschaft.«

»Aber die Onkel in Brooklyn haben auch keinen Platz für euch. Ich wüsste nicht, wo ihr sonst hinkönnt.«

Nach der Beerdigung war ein plötzlicher Regenschauer niedergegangen, aber während des Abendessens hatte der Himmel aufgeklart. In der aufkommenden Dunkelheit erschienen die ersten Sterne. Ich sah zu ihnen hoch, und mir wurde bewusst, dass meine Mutter in dieser Nacht und von nun an für immer draußen schlafen würde, unter den Sternen, unter ihrer Decke aus Erde. Sie hatte Erde immer nur als Schmutz betrachtet und war nur selten vor die Tür gegangen.

»Wieso müssen wir überhaupt woandershin?«, fragte ich.

»Ihr könnt nicht allein auf der Farm bleiben. Drei Mädchen, ganz allein draußen auf dem Land?«

»Warum soll das so anders sein als zu der Zeit, als Mutter noch lebte? Sind vier weibliche Wesen besser als drei?«

Falls Francis begriff, dass ich ihn aufzog, ließ er es sich nicht anmerken. Er klopfte seine Pfeife und dachte ein Weilchen mit ernster Miene nach. »Der einzige Grund, dass ihr überhaupt da draußen seid –«

Ich beugte mich zu ihm und machte psst!, weil ich Fleurette in der Küche hörte.

Francis senkte die Stimme. »Ich will damit nur sagen, dass sie fast erwachsen ist. Was wollt ihr machen, wenn sie ins Heiratsalter kommt? Da draußen wie ein paar alte Jungfern leben?«

Die Vorstellung von Fleurette als Braut versetzte mir einen Stich. »Heiraten? Sie ist erst vierzehn! Außerdem –« Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, kam Fleurettes Stimme durchs Fliegenfenster geweht.

»Ich bin fünfzehn!«

Francis rieb sich die Augen und drehte sich zu mir um. Er sah mir nun direkt ins Gesicht. »Ich trage jetzt die Verantwortung für euch, und deshalb solltet ihr bei uns sein. Ihr könntet Bessie mit dem Haushalt helfen, ihr könntet …« Er verstummte, nachdem ihm nichts weiter einfiel, was wir drei seiner Meinung nach tun könnten.

Ich stand auf und zupfte an dem grau-schwarzen Tweedkostüm, das Fleurette mir als Trauerkleidung ausgesucht hatte.

»Wir kommen allein zurecht«, flüsterte ich. »Und wenn Bessie so viel Hilfe braucht, wie du sagst, dann leihen wir euch Fleurette den Sommer über. Sie braucht etwas, womit sie sich beschäftigen kann.«

»Ich bin nicht zu verleihen!«, rief Fleurette.

Danach erschien Francis alle paar Monate mit einem neuen, gutgemeinten Plan, der uns dreien so etwas wie eine Zukunft garantieren sollte. Die Tatsache, dass wir ledig waren und über kein Einkommen verfügten, das uns ein Leben lang reichen würde, hatte ihn nicht besonders beunruhigt, solange Mutter noch da war. Aber er schien zu glauben, mit ihrem Tod hätte er uns geerbt. Er hatte sich zu einem Mann entwickelt, der sich ständig um seine bescheidenen Verantwortlichkeiten sorgte: sein gemütliches Häuschen in Hawthorne, seine großzügige, findige Frau, seine sichere Stellung und seine beiden gesunden, wohlerzogenen Kinder. Mir schien es nicht so, als müsste er sich überhaupt Sorgen machen, aber Francis war jemand, der gern brütete. Und mangels größerer Probleme verlegte er sich darauf, über uns zu brüten.

Die meisten Männer seines Alters hatten ein, zwei unverheiratete weibliche Angehörige in einer Dachkammer untergebracht, weshalb er es wohl als unvermeidlich ansah, dass er uns irgendwann ebenfalls aufnehmen würde. Er wusste sehr wohl, dass wir beschäftigt werden müssten, und so gehörten zu seinen Plänen immer auch einfallslose häusliche Betätigungen für uns drei.

Das Haus seines Nachbarn stand zum Verkauf, und er schlug vor, es zu erwerben und als Pension zu nutzen, die wir dann betreiben sollten – natürlich in seinem Namen, sodass die Einnahmen daraus die Hypothek bedienen würden. Wir lehnten ab, da wir kein Interesse daran hatten, Pensionsgäste in unseren eigenen vier Wänden zu werden.

Dann bot er an, mich und Norma als Hauslehrerinnen für seine Kinder einzustellen, obwohl sie Lesen, Schreiben und Rechnen in der Schule lernten. Fleurette könnte Näharbeiten annehmen. Als Francis davon sprach, anderer Leute zerrissene und verlumpte Kleidung zum Ausbessern ins Haus zu holen, fragte ich mich laut, ob er sich überhaupt noch an die Frau erinnerte, die ihn großgezogen hatte.

Damit will ich nicht sagen, dass ich mir keine Sorgen darüber machte, was aus uns werden sollte. Wir hatten versucht, ein paar Farmer als Pächter zu finden, aber es stand genug Land zum Verkauf, sodass niemand auf unseres angewiesen war. Alle paar Jahre hatten wir ein Stück von unserem Grund und Boden veräußern müssen. Nur eine zwölf Hektar große, unregelmäßig geschnittene Parzelle ohne weitere Zugangswege als die Sicomac Road, an der auch unser Haus stand, war uns geblieben. Es würde schwierig werden, ein weiteres Stück davon zu verkaufen, ohne eine neue Straße direkt durch unser Land zu bauen, und außerdem hielt ich es für das Beste, das bisschen, das uns noch gehörte, zu behalten, da Grundbesitz die beste Vorsorge gegen Armut zu sein schien.

Norma hing mit Haut und Haar an der Farm und weigerte sich, irgendwo anders hinzugehen. Sie fand die freie Natur angenehmer und hatte wie viele Menschen, die dem Landleben den Vorzug geben, eine Veranlagung, die dazu führte, dass man in gewissem Abstand zu den Nachbarn lebte. Sie war Fremden gegenüber misstrauisch, hielt nichts von höflicher Konversation und frivoler Gesellschaft, machte sich nichts aus Boutiquen, Theatern und anderen Zerstreuungen, hing dafür aber mit fanatischer Treue an dem Wenigen, was sie interessierte: ihren Tauben, ihren Zeitungen und ihrer Familie. Sie würde die Farm nicht verlassen, es sei denn, wir schleppten sie von dort weg. Francis hatte allerdings auch recht – wenn Fleurette eine Zukunft haben sollte, lag die sicher nicht hier draußen auf dem Land, wo sie praktisch nur Knopflöcher nähen und den Hühnern Maiskörner hinwerfen konnte.

Irgendetwas musste in Bezug auf uns drei unternommen werden. Ich war es leid, mir die Ideen meines Bruders anzuhören, hatte aber selbst keine. Doch eines wusste ich: Ein Zusammenstoß mit einem Automobil durfte nicht als Beweis dafür angesehen werden, dass wir unfähig waren, uns um uns selbst zu kümmern. Dies hier war eine rein geschäftliche Angelegenheit, nichts weiter, und die würde ich ohne jede Hilfe von Francis regeln.

4

16. Juli 1914

Misses Constance, Norma und Fleurette Kopp

Sicomac Road

Wyckoff, New Jersey

Sehr geehrter Mr Kaufman,

mit diesem Schreiben sende ich Ihnen eine Abrechnung über die Schäden, die von Ihnen und Ihrem Automobil am Nachmittag des 14. Juli an unserem Buggy verursacht wurden. Die Schäden, die meine Schwestern und ich erlitten haben, sind ebenfalls beträchtlich. Unsere liebe Fleurette ist erst fünfzehn Jahre alt und leidet nun an einem schwer zu heilenden gebrochenen Fuß sowie großer Angst vor Motorfahrzeugen, was ihre Heranführung an das aufkommende maschinengetriebene Zeitalter zweifellos behindern wird. Gegenwärtig werde ich mich jedoch auf den Schaden an unserem Buggy beschränken.

4 (vier) Hickory-Speichen zu je $ ‌1, gebrochen: $ ‌4

1 (eine) Kutschenlampe, zertrümmert: $ ‌3

1 (ein) Peitschenhalter, abgesprungen und im Tumult verloren gegangen: $ ‌1

1 (eine) Eichenholzplatte, zersplittert: $ ‌8

1 (eine) komplette Verdeckkonstruktion, irreparabel verbogen: $ ‌10

Montage und Wiederanbringung einzelner Teile: $ ‌24

Insg. (sofort fällig bei Briefeingang, da wir z. ‌Zt. ohne einen Buggy sind): $ ‌50

Wir bedanken uns im Voraus für umgehende Begleichung mit Ihrer Antwortpost und verbleiben

Ihre die zunehmend verkehrsreichen Straßen unserer Stadt mit größter Vorsicht nutzenden Misses Constance, Norma und Fleurette Kopp

»Ich habe keine Angst vor Automobilen«, kommentierte Fleurette vom Diwan aus.

»Doch, hast du«, erklärte ich. »Und jetzt sei still und halt deinen Fuß ruhig.«

»Ich kann meinen Fuß ruhig halten, ohne still zu sein.«

»Die Rechnung ist zu hoch«, sagte Norma. »Er wird sie nicht ernst nehmen, sondern in den Papierkorb werfen.«

»Ich habe die Kosten für einen Mann mitkalkuliert, der die Reparatur ausführt.«

»Ich erinnere mich an kein Wort über so einen Mann. Lies noch mal vor.«

»Bitte nicht«, sagte Fleurette. »Ich mag nichts mehr über diesen Mr Kaufman hören.«

»Dann schicke ich den Brief ab.«

»Außerdem bin ich nicht fünfzehn«, fügte Fleurette hinzu.

Meines Erachtens hätte ihr klar sein müssen, dass fünfzehn ein zarteres Alter als sechzehn war und die Verletzung daher umso schwerer wog.

Fleurette murrte und zappelte in dem seidenen Morgenrock, den sie für ihre Rekonvaleszenz gewählt hatte. Ein Muster aus Pfauenfedern zierte seinen Kragen, was ihr, wie sie meinte, ein glamouröses Aussehen verlieh. Wir hatten sie seit Mutters Tod allzu sehr verwöhnt, und mir wurde klar, dass ich dem ein Ende setzen musste. Ihre Vorliebe für Luxusstoffe würde uns sonst noch ruinieren.

Ich erhob mich mit einiger Mühe, um eine Briefmarke zu holen. Meine Schulter hatte sich inzwischen weitgehend beruhigt, aber jeder Morgen brachte neues Ungemach: einen Knöchel, der mein Gewicht nicht tragen konnte, eine Rippe, die höllisch stach, wann immer ich Luft holte. Fleurette kam mit ihrem Fuß in keinen Schuh, was sie gewissermaßen zur Invalidin machte. Damit fiel es Norma zu, sich um uns beide zu kümmern und die Lebensmittel zu besorgen, die wir brauchten. Ohne unseren Buggy blieb ihr nur die Wahl, bei der Hitze den langen Weg zur Straßenbahn in Wyckoff zu Fuß zu gehen oder Dolley zu satteln und mit ihr hinzureiten. Natürlich entschied sie sich für Letzteres. In den vergangenen Tagen war sie schon zweimal bis nach Paterson und zurück geritten, immer mit einem Korb voller Tauben hinterm Sattel, die sie unterwegs fliegen ließ.

Seit Jahren war Norma fasziniert von Brieftauben und ihrer nützlichen Eigenschaft, Botschaften zwischen Menschen zu übermitteln, die auf dem Land lebten, oder Soldaten im Krieg oder Ärzten, die ihre in größerer Entfernung lebenden Patienten überwachen wollten (die Idee war, dass ein Arzt dem Kranken mehrere Tauben dalassen würde, die in gewissen Abständen mit Berichten über seinen Genesungsverlauf losgeschickt wurden). Telegrafen- und Telefonleitungen würden sich nie weit genug spannen lassen, um jeden zu erreichen, der eine Nachricht senden musste, argumentierte sie, und ohnehin könne man ihnen die Übermittlung privater Informationen nicht anvertrauen, da die Telegrafen und Telefonisten ja jedes Wort mitbekamen. Aber eine gut trainierte und ausgerüstete Taube würde Hunderte Meilen auf direktem Weg und bei hoher Geschwindigkeit durch Stürme und über Schlachtfelder hinweg fliegen, um eine Nachricht heimzubringen.

Zum Beweis gewöhnte Norma sich an, ihre Tauben so weit weg freizulassen, wie sie irgend konnte, und sie mit winzigen Sendschreiben an den Beinen heimzuschicken. Da sie uns so kurze Zeit nach Verlassen des Hauses kaum Neuigkeiten von Bedeutung mitzuteilen hatte, schickte sie Zeitungsausschnitte. Norma las täglich ein halbes Dutzend Zeitungen und sah es als ihre moralische Pflicht an, zu sämtlichen Begebenheiten im nördlichen New Jersey eine Meinung zu haben, ganz zu schweigen von New York und der restlichen Welt. Sie verbrachte einen Großteil jedes Abends mit ihren Zeitungen und hortete Ausgeschnittenes in Schubladen überall im Haus zu künftiger Verwendung. Es kam nicht selten vor, dass eine von uns Zucker oder ein Nadelkissen suchte und stattdessen eine Meldung mit der Überschrift »Diplomatengattin von Zaunpfahl aufgespießt« fand.

Sie montierte Stolperdraht im Taubenschlag, und wann immer ein Vogel mit der Nachricht des Tages eintraf, die Norma aufgrund ihres dramatischen oder lehrreichen Charakters ausgewählt hatte, bimmelte ein Glöckchen neben unserer Haustür. Variationen von »Geldstrafe für Mädchen wegen unordentlicher Haushaltsführung« kamen unweigerlich an, wenn ich es versäumt hatte, meinen Teil des Abwaschs zu machen. »Viele Frauen folgen leichtfertig herrschenden Modeströmungen, ohne zu wissen, warum« wurde geliefert, nachdem Norma Einspruch dagegen erhoben hatte, dass Fleurette, die der Pariser Mode nacheiferte, ihr seidenes Überkleid mit Paradiesvögeln bestickte. »Die Moral einer Frau lässt sich an ihrem Gewand ablesen«, lautete die nächste ominöse Botschaft.

Und Fleurette rächte sich, indem sie die Schlagzeilen gegen ihre eigenen austauschte. So entdeckte Norma »Hämorrhoiden schnell zu Hause kuriert« oder auch »Schwachsinnige Schwester vermisst gemeldet« am Beinband ihrer Taube.

Mutter hatte die Vögel zwar gehasst und sich nicht einmal in die Nähe des Taubenschlags begeben, aber Norma unterstützt, weil sie glaubte, Mädchen bräuchten Beschäftigungen, die sie ans Haus banden. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie hoffte, das Aufziehen von Jungvögeln würde Normas Mutterinstinkt wecken und zu Heirat und Kindern führen. Wie Norma in der Abgeschiedenheit auf dem Land aber einen Ehemann finden sollte, wurde nie klar. Und Mutter schien ganz zu vergessen, dass Norma so eigenwillig war, so streitlustig und so festgefahren in ihren Gewohnheiten, dass kein Mann es je wagen würde, sich mit ihr einzulassen. Zudem war es auch nicht gerade zweckdienlich, dass Norma den mädchenhaften Charme eines Felsbrockens ausstrahlte und nie auch nur das geringste Interesse an romantischer Liebe oder der Aufzucht von Kindern gezeigt hatte. Mutter hatte recht gehabt, dass Tauben eine gute Freizeitbeschäftigung waren, aber dafür lief Norma auch keineswegs Gefahr, sich zu verloben.

Ich fand die Anforderungen des Farmlebens fade und unnötig anstrengend. Seit Francis vor ein paar Jahren geheiratet hatte und in die Stadt gezogen war, kümmerte sich Norma freudig um die Scheune und ihre Bewohner. Fleurette war für Näharbeiten und die Wäsche zuständig, und mit dem Kochen wechselten wir drei uns ab. Mir fiel die unerfreuliche Aufgabe zu, den Gemüsegarten zu gießen und das Unkraut zu jäten. Ich hasste es, so viel Zeit mit krummem Rücken und Fingern voller Erde für einen Korb voller wurmstichiger Kohlköpfe aufzubringen. Alles, was ich mir je gewünscht hatte, war eine gute Stellung in einem Büro, wo man sich nicht die Finger schmutzig machte, mit einem Lohn, der es mir erlauben würde, Kohl zu kaufen, wenn ich denn welchen wollte … was ich allerdings nicht für wahrscheinlich hielt.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich versuchte, ein Leben für mich weit weg von der Farm zu finden. Zuerst forderte ich die Unterlagen für einen Kurs in Krankenpflege an, aber Mutter mit ihrer Angst vor Schmutz und Krankheiten war so entsetzt über diese Idee, dass ich den Plan aufgab. Dann belegte ich einen Kurs in Jura, da ich von einer Anwältin in New Brunswick gehört hatte und dachte, ich könnte mich darum bewerben, in ihre Kanzlei einzutreten. Weil sie allerdings glaubte, dieses Metier würde mich zu engem Kontakt mit Verbrechern und Trunkenbolden zwingen, war Mutter darüber noch weniger erfreut. Ich schloss meine Kursarbeit trotzdem ab, doch als die Zeit kam, sie nach New York zurückzuschicken und die nächste Aufgabe anzufordern, war mein Manuskript verschwunden. Mutter gab es nicht zu, aber ich wusste, dass sie es an sich genommen hatte.

Jetzt begann ich mich zu fragen, ob ich mein ganzes Leben hier draußen verbringen würde. Ob es mir beschieden war, in demselben Bett zu sterben, in dem meine Mutter gestorben war, ohne mehr zu hinterlassen als einen Keller voller Pastinaken und krumme Sticheleien an Manschetten und Kragen, bei denen sich niemand mehr erinnern würde, dass sie von meiner Hand stammten.

Der Brief war vor einer Woche abgesandt worden, und wir warteten noch immer auf eine Antwort. Ich war vollauf damit beschäftigt, Fleurette zu versorgen, und wünschte mir nur, ich hätte diesen Krankenpflegekurs belegt. Zweimal täglich wusch ich ihren Fuß und verband ihn. Sie wollte auf keinen Fall nach Dr. Winter schicken, einem muffigen alten Mann mit Triefaugen und Händen, die zitterten, wenn sie nach den entblößten Gliedmaßen seiner Patienten griffen. Ich konnte ihr nicht verdenken, dass sie ihn von sich fernhalten wollte. Aber ich konnte auch nichts weiter tun, als ihre Kratzer und Schrammen zu säubern und ihr ansonsten Ruhe zu verordnen. Das bedeutete, dass ich ihr auch die Mahlzeiten auf einem Tablett bringen und dem Kommando des Glöckchens folgen musste, das sie in unserem Nähkorb gefunden und ständig zur Hand hatte, um zu bimmeln, wenn sie durstig oder müde oder gelangweilt war, was die meiste Zeit über der Fall war.

Der einzige Ort, an den ich mich zurückziehen konnte, um dem Glöckchen zu entkommen, war Mutters altes Schlafzimmer, das seit dem Tag ihres Todes unberührt war; an der Wandschranktür hing immer noch ihr Morgenrock und auf der Frisierkommode lag ihre Haarbürste, aus der ein paar drahtige weiße Haare ragten.

Monatelang hatte ich dieses Zimmer überhaupt nicht betreten. Aber in letzter Zeit kam es öfter vor, dass ich unauffällig hineinhuschte und mich auf die Bettkante setzte, genau wie früher, als sie krank war. In den letzten Tagen ihres Lebens hatten sich ihre Augen oft unter flatternden Lidern geöffnet, ihr Blick war starr, ohne etwas wahrzunehmen. Ich musste ihr einen Spiegel vor den Mund halten, um mich zu vergewissern, dass sie noch atmete. So verbrachte ich Stunden am Bettrand und schaute ihr dabei zu, wie sie dicht an den Tod herantrieb und dann wieder emporstieg, fort davon, ein ums andere Mal.

Das Bett war ein altmodisches, schweres Möbelstück, aus Österreich herübergebracht, mit Rosetten aus geschnitztem Walnussholz am Kopfbrett, die einzig und allein als Staubfänger dienten. Als ich mich vorsichtig setzte und die gestärkten Laken knistern hörte, wurde mir klar, dass hier seit Monaten niemand mehr sauber gemacht hatte. Das Staubwischen war Fleurettes Aufgabe … was erklärte, warum sich in unserem Haus solche Mengen davon ansammelten.

Die Tapeten mit ihrem Chrysanthemen-Muster in Hellgrün und Weiß waren völlig ausgeblichen und begannen, sich von der Wand zu lösen, wodurch sie rissigen Gips und Rosshaar freilegten. Mit diesem Zimmer musste etwas unternommen werden. Selbst Mutter – bei all ihrer Angst vor Veränderung und ihrer Bindung an Tradition und die schweren, dunklen Rituale der Trauer – hätte sicher nichts dagegen, dass ich diesen Schrein ihrer späten Jahre abbaute und etwas Neues daraus machte. Aber noch konnte ich mich nicht dazu durchringen. Jahrelang hatte ich mich von ihr befreien wollen, und jetzt klammerte ich mich an die wenigen Spuren von Mutter, die noch geblieben waren.

Fleurette hatte Mutter immer auf Französisch angesprochen, doch ich wusste, dass Mutter das Deutsch ihrer österreichischen Kindheit lieber mochte. Diese Sprache würde ich in diesem Haus nie mehr hören, wenn ich ihr darin nicht weiterhin zuflüsterte.

»Mama, wär es nicht endlich Zeit, dass wir was mit deinem Zimmer machen?«

Ich bekam keine Antwort. Vielleicht war es Mutter egal, was aus ihrem Zimmer wurde. Ich holte tief Luft. Der Veilchenduft ihres Puders hing immer noch in der Luft. Unten knallte irgendwo eine Tür, und Fleurette, die es aufgegeben hatte, mit dem Glöckchen zu bimmeln, brüllte meinen Namen.

Es war immer Mutters Aufgabe gewesen, auf Fleurettes Ansprüche zu reagieren.

»Gehst amal nachschaun, was sie will?«, fragte ich sie.

Aber Mutter bot sich nicht an, zu gehen. Ich erhob mich vom Bett und schloss leise die Tür hinter mir.

5

»Probier mal die Pflaumen«, sagte Fleurette ein paar Tage später beim Frühstück.

Norma nahm keine Notiz von ihr, sondern hielt den Blick stur auf die Zeitung gerichtet.

»Nur eine. Nur einen Bissen.« Fleurette griff zu ihrem Buttermesser und schnitt ein perfektes Dreieck aus Toast mit eingemachten Pflaumen darauf. Das schob sie Norma auf den Teller.

»Schau nur«, flüsterte sie. »C'est tout violet.«

Norma klappte ihre Zeitung geräuschvoll zusammen und legte sie zwischen sich und den anstößigen Toast.

»Das ist eher Rot als Lila«, sagte ich, als ich mich dazusetzte. »Bei dem Spiel wirst du nie gewinnen.«

Fleurette kicherte und nahm ihren Toast zurück.

Die endlose Fehde zwischen Norma und Fleurette über die prächtige Farbe ihres Frühstücksbelags war Jahre zuvor ausgebrochen, als Norma geistesabwesend nach einem Glas mit eingelegtem Rotkraut gegriffen und etwas davon auf ihren Toast gelöffelt hatte. Nach dem ersten Schock stellte sie fest, dass ihr diese Kombination ausgezeichnet schmeckte, und seither aß sie die jeden Morgen. Fleurette war damals erst sieben oder acht und konnte nicht verstehen, wie jemand etwas so Ekliges zum Frühstück essen konnte. Sie fragte Norma so oft danach, dass diese ihr schließlich geantwortet hatte: »Na, weil es lila ist. Wenn man zum Frühstück etwas Lilafarbenes isst, wächst man übers Leben gerechnet um mehr als zwei Fingerbreit – wusstest du das nicht? Deshalb sind wir alle so viel größer als du.«

Sie wedelte mit der Zeitung herum, als stammte diese Erkenntnis von berufener Stelle, und fügte hinzu: »Wenn es doch bloß etwas gäbe, das noch lilafarbener ist als eingelegtes Rotkraut, dann würde ich das essen.«

Fleurette konnte nie erkennen, ob Norma etwas im Scherz sagte – das konnte eigentlich keine von uns, selbst all die Jahre später –, und nahm die Herausforderung ernst, indem sie Norma morgens jede Speise in dem Farbton vorsetzte, die sie finden konnte: Marmelade und Kompott, Veilchenpastillen, Blaubeeren und Weintrauben. Sogar jetzt noch ließ sie die alte Fehde aus Gewohnheit ab und an wieder aufleben. Doch bislang erfolglos. Nicht einmal Pflaumenkompott konnte sich mit der Leuchtkraft von Normas Rotkraut messen.

So war es eben mit Norma: Hatte sie einmal etwas für gut befunden, übernahm sie es mit einer Absolutheit, die alles andere ausschloss. Wenn sie meinte, dass Rotkraut auf Toast das beste Frühstück war, hätte es einen Verrat an ihren Prinzipien bedeutet, Marmelade und Hafergrütze zu essen. Wenn ihr ein Paar Stiefel gefiel, dann blieb sie diesem Stil absolut treu. Ich hatte immer nur ein einziges Buch auf ihrem Nachttisch gesehen (Die nützliche Taube: Eine erschöpfende Abhandlung über Dressur, Zucht, Flugverhalten und Gebrauch geflügelter Boten) und vermutete, dass sie es Hunderte Male gelesen hatte, weil es für sie kein besseres geben konnte.

Beim Frühstück las ich meinen zweiten Brief an Henry Kaufman vor. Doch bevor ich über die Anrede hinauskam, unterbrach mich Norma.

»Ich mag diesen Kaufman nicht«, sagte sie.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Fleurette. »Keine von uns mag ihn.«

»Das heißt, ich mag es nicht, dass wir ihm Briefe schreiben«, erklärte Norma. »Mit so einem Mann sollten wir keine Korrespondenz führen.«

»Es handelt sich um eine Rechnung, keine Korrespondenz«, widersprach ich. »Und zwar die letzte. Wenn er darauf nicht antwortet, werde ich das Geld persönlich bei ihm abholen.«

»Aber findest du nicht auch, wir sollten …«

»Norma! Er schuldet uns das Geld.« Fünfzig Dollar war keine geringe Summe für uns. Wir lebten von etwa sechshundert im Jahr, und da wir hauptsächlich auf Ersparnisse zurückgriffen, kosteten uns diese fünfzig Dollar einen Monat Unabhängigkeit von unserem schwindenden Vermögen. Ich wedelte mit dem Brief und fing noch einmal an:

23. Juli 1914

Misses Constance, Norma und Fleurette Kopp

Sicomac Road

Wyckoff, New Jersey

Sehr geehrter Mr Kaufman,

wie ich annehme, werden Sie unsere Rechnung für den uns entstandenen Schaden infolge des Zusammenstoßes mit Ihrem Automobil am 14. Juli erhalten haben. Die geschuldete Summe bleibt unverändert. Der Buggy ist nach wie vor in unbrauchbarem Zustand. Ich gehe davon aus, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, dessen Buchhalter zweifellos mit seiner Arbeit in Verzug gerät, wenn das Geschäft rege ist. Ich werde mich am kommenden Dienstag in Ihrer Fabrik einfinden, um den gesamten Betrag abzuholen, falls wir die uns geschuldeten fünfzig Dollar nicht zwischenzeitlich erhalten haben. Bis dahin verbleibe ich

in verhaltener Erwartung,

Miss Constance Kopp

»Lieber nicht den Buchhalter von so jemandem kritisieren«, sagte Norma, ohne von ihrer Zeitung aufzusehen.

»Ich habe nur eine Erklärung dafür angeboten, dass er nicht geantwortet hat.«

»Wenn du sein Buchhalter wärst, würde dir das nicht gefallen.« Sie entdeckte ein Fitzelchen Rotkraut auf ihrem Handrücken und schnipste es auf den Teller.

»Wenn ich Mr Kaufmans Buchhalter wäre, würde mir ziemlich viel nicht gefallen«, sagte ich und unterschrieb den Brief.

Ich schickte den Brief an einem Donnerstag los. Als auch am Dienstag keine Antwort mit der Morgenpost eintraf, machte ich mich für einen Besuch in Paterson fertig.

»Fahren wir in die Stadt?«, fragte Fleurette, als sie mich mit Hut sah.

»Ich ja«, sagte ich. »Ich habe etwas Geschäftliches zu erledigen. Du bist noch nicht wieder ganz auf dem Damm.«

»Aber ich bin seit einer Ewigkeit nicht mehr aus dem Haus gekommen.« Sie hatte sich in ein japanisches Umhängetuch gewickelt und ihr Haar zu einem komplizierten Arrangement hochgesteckt, von dem ihre glänzenden Locken kaskadenartig herabfielen, eine Konstruktion, die von einer riesigen roten Mohnblüte aus Seide zusammengehalten wurde. Ihr Fußverband war gerade erst abgenommen worden, und zur Feier des Tages trug sie Gymnastikschuhe.

»Lies ein Buch«, sagte ich. »Oder hilf Norma in der Küche, wenn du dich so viel besser fühlst.«

Noch mehr Gequengel. Noch mehr Herumgezappel auf dem Stuhl. Zum hundertsten Mal wünschte ich mir, wir hätten Fleurette weniger wie ein Kuriosum behandelt, wie einen exotischen Vogel, der sein Nest in unserem Kamin hatte, sondern mehr wie ein Kind, das Anleitung brauchte.

Ich ließ sie im Zimmer sitzen, wo sie ihren Protest an die Wand richten konnte, und ging nach draußen, um Dolley für den Ritt in die Stadt zu satteln. Dolley freute sich nicht unbedingt, mich kommen zu sehen. Ich hatte die Statur eines Farmers; selbst mein Bruder war kleiner und schmaler als ich. Auf einem Pferd sah ich ziemlich albern aus. Aber mir blieb keine Wahl, solange unser Buggy nicht repariert war.

Norma hatte den ganzen Morgen im Stall gearbeitet, hatte die Hühnerkacke ausgemistet und frisches Stroh in der Pferdebox ausgestreut. Es roch nach süßem, trockenem Gras. Sie hatte Dolley gestriegelt und war gerade dabei, ihre Hufe zu untersuchen, als ich hereinkam. Mit einer Hand fuhr sie am Bein der Stute hinunter, bis sich der Huf vom Boden hob. Tiere vertrauten Norma instinktiv. Sie hatte schon jede Art von Klaue, Huf und Pfote gehalten.

»Ich hab mit dem Burschen von der Molkerei geredet, der dort die Wagen instand hält«, sagte Norma. »Er meint, dass sich der Buggy wieder zusammenbauen lässt. Er wird nach Feierabend herkommen und sich dranmachen.«

Ohne zu antworten, nahm ich den Sattel von der Wand, und sie half mir, den Gurt festzuziehen.

»Mr Kaufman wird nicht zahlen, aber unser Buggy muss trotzdem repariert werden«, sagte Norma. »Der Bursche hat alles Werkzeug und arbeitet ganz in der Nähe.«

Es hatte keinen Sinn, darüber zu streiten. So weit außerhalb der Stadt zu wohnen war wirklich zu öde, wenn man kein Transportmittel hatte. Und wir konnten nicht alle auf Dolley reiten. »Meinetwegen. Sieh zu, dass er eine Liste von all seinen Ausgaben macht, und sorg dafür, dass sie sich auf etwa fünfzig Dollar belaufen.«

Norma beendete ihre Hufinspektion und führte Dolley aus dem Stall.

»Wir gehen nicht bei fremden Leuten vorbei und verlangen Geld von ihnen«, sagte sie, während ich mich aufs Pferd hievte.

»Das hier ist eine Ausnahme«, sagte ich.

»Wir sollten auch keine Ausnahmen machen«, erwiderte Norma und stapfte zur Pumpe, um Wasser für die Hühner zu holen.

Die Seidenfärberei Kaufman befand sich unmittelbar neben den Bahngleisen zwischen einer Reihe anderer Färbereien, Schermühlen, Spulenhersteller, Bleichereien, Jacquard-Webereien, Lieferanten von Farbstoffen und Zwischenprodukten – lauter niedrige Backsteingebäude, die der Straße den Rücken zukehrten. Die Fenster waren auf einer Höhe angebracht, dass man nicht hineinschauen konnte, aber der Lärm drang nach draußen: das Knattern von Maschinen, das Schwappen von Farben in Kübeln, vermischt mit Rufen auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Polnisch – in jeder Sprache außer Englisch.

Unzählige Fuhrwerke hatten tiefe Furchen in die Straße gepflügt. Dolley trippelte vorsichtig um sie herum, während ich mir die kleinen schablonierten Schilder an den Metalltüren jeder Fabrik ansah, bis wir zu der von Henry Kaufman kamen. Ich wand mich höchst unelegant aus dem Sattel und band Dolley an einen Pfosten. Sie warf den Kopf herum und schnaubte, um mir verstehen zu geben, dass sie froh war, mich los zu sein.

Drinnen traf mich der kupfrig-schweflige Gestank der Färbeflüssigkeiten mit solcher Wucht, dass ich die Augen schließen und blind nach einem Taschentuch tasten musste. Ich hustete und würgte und versuchte, die Luft anzuhalten. Ich konnte nicht schlucken, und meine Sicht war so von Tränen verschleiert, dass ich kaum die düsteren Gestalten um mich herum ausmachen konnte. Fast hätte ich mich rückwärts aus der Tür gestohlen und auf den Heimweg gemacht.

Schließlich riss ich mich zusammen und erkannte, dass ich mich vor einer Reihe von riesigen Trögen befand, an denen je zwei oder drei Männer standen. Dampf stieg aus den Trögen zu den breiten Holzbalken empor. Färbeflüssigkeit bildete glänzende Pfützen zu Füßen der Arbeiter, die zum Schutz Holzschuhe trugen, Schuhe voller Flecken in allen Farbtönen von Mitternachtsblau bis zu einem hellen Rosaton. Überall da, wo sich ein Färbemittel mit einem anderen mischte, verwandelte es sich in ein schwärzliches Grau. Zwei Männer waren nötig, um die Seidensträhnen an ihren Metallstangen aus den Trögen zu hieven, wobei ihnen die Farbe bis in die Ärmel rann. Ein Trupp Kinder lief mit Besen die Ränder der Halle ab und schob die übergeschwappten Farbpfützen in Abflussrinnen, während andere von ihnen Handwagen herumrollten, die mit Rohseide beladen waren. Ganz hinten war eine Reihe von Wringmaschinen in ständiger Bewegung, klappernd und knarrend, während die Arbeiter ihnen die nassen Strähnen zuführten. Ein paar Männer blickten durch den Dampf zu mir her, aber keiner sagte etwas.

Zu meiner Rechten trennte eine lange, mit Fenstern versehene Wand das Büro von der Fabrikhalle. Ich raffte meinen Rock, ging hinüber und versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Durch eins der Fenster sah ich eine Sekretärin von ihrem Schreibtisch hochblicken und offenbar überlegen, was sie mit mir machen sollte. Schließlich erhob sie sich, um mich einzulassen.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich. »Ich würde gern Mr Kaufman sprechen.«

Sie bat mich herein und schloss die Tür schnell hinter uns, was vermutlich eher mit dem üblen Gestank draußen zu tun hatte, als mit dem Eifer, mich zu empfangen.

»Ihr Name?« Die Frau sprach in geschäftsmäßigem, energischem Ton. Sie trug ein schickes marineblaues Kostüm mit einem langen schlichten Rock und einer Jacke mit Paspeln, und ihr Haar war zu einem strammen Dutt geknotet. Als sie ihren Posten hinter dem Schreibtisch wieder eingenommen hatte, sah sie mich über den Rand einer zierlichen Goldbrille an und wartete darauf, dass ich mein Anliegen vorbrachte.

Ich nannte meinen Namen und sagte, ich sei hier, um eine Rechnung für Schäden an unserem Buggy abzugeben. Sie streckte die Hand aus, als nähme sie derartige Rechnungen täglich in Empfang. Bevor sie den Brief langsam durchlas, legte sie ihn auf ihre Schreibunterlage und strich die Falten glatt. Schließlich blickte sie auf und sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Es mag Bedauern gewesen sein, Schock oder große Skepsis.

»Das war Henry«, sagte sie eher zu sich selbst.

»Er hat behauptet, unser Pferd sei ihm vors Auto gelaufen, aber alle Leute auf der Market Street haben den Unfall gesehen, und er ist eindeutig derjenige, der in uns hineingefahren ist.«

Sie wedelte mit der Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich zweifle Ihre Geschichte nicht an. Sind Sie sicher, dass der Vorfall am Vierzehnten passiert ist?«

Ich nickte.

Mit einem Seufzer gab sie mir das Schreiben zurück. »Da war er mit unserem Bankier verabredet. Er hat mir erzählt, ihm sei ein Reifen geplatzt.«

Sie stützte den Kopf in die Hände und murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Verzeihen Sie mir die Bemerkung –«

»Ach«, unterbrach sie mich, »schon verziehen. Was wollten Sie sagen?«

»Bei der Gesellschaft, die er dabeihatte, glaube ich nicht, dass er auf dem Weg zu einem Bankier war.«

Sie stieß abermals einen langen Seufzer aus und schwang sich auf die Füße. »Haben Sie Brüder, Miss Kopp?«

»Nur einen«, sagte ich.

»Und macht der auch so viele Scherereien wie meiner?«

»Henry Kaufman ist Ihr Bruder? Tut mir leid. Ich dachte, Sie seien die Sekretärin.«

»Das bin ich auch, laut Briefkopf. Marion Garfinkel. Mein Mann ist Ed Garfinkel. Wir sind aus Pittsburgh hergekommen, um zu versuchen, das Durcheinander zu sichten, das Henry in unserer Fabrik angerichtet hat.«

Bevor ich noch ein Wort sagen konnte, drehte sie sich um und brüllte in Richtung der geschlossenen Tür am anderen Ende des Büros.

»Henry!«

Neben ihrem gab es drei weitere Schreibtische, wo junge Frauen an der Schreibmaschine oder über Kontenblättern saßen. Die Frauen duckten sich, als sie losbrüllte. Die Tür öffnete sich nicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte Mrs Garfinkel: »Wenn der mich noch einmal ignoriert …« und marschierte zu dem hinteren Büro. Ohne sich nach mir umzudrehen, rief sie: »Bleiben Sie da.«

Sie klopfte und rüttelte an der Tür. Vergeblich. Dann zupfte sie an einem Schlüsselring, der ihr um die Taille hing, und schloss auf. »Henry, ich habe hier eine junge Frau, die sagt –« Die Tür knallte hinter ihr zu, und ich konnte nichts weiter hören als gedämpftes Geschrei.

Ich spielte mit meiner Handtasche herum und versuchte, keine Notiz von den neugierigen Blicken der anderen Frauen zu nehmen. Dolley wartete da draußen schon lange unbewacht, ich wollte Mr Kaufman nur meine Rechnung geben und gehen. Das Geschrei in seinem Büro war verstummt. Also nahm ich den Brief von Mrs Garfinkels Schreibtisch, ging auf das hintere Büro zu und klopfte leise an die Tür.

Sie schwang auf. Marion schien auf dem Weg heraus zu sein, trat aber beiseite, die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln verkniffen, und ruderte mit dem Arm, um mich hineinzubitten.

»Mein Bruder kann sich nicht an den Vorfall erinnern«, erklärte sie in scharfem Ton.

»Aber ich –«

»Dann sagen Sie ihm das selbst.«

Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich dort hineingeschickt wurde, um etwas unter Beweis zu stellen, konnte mir aber nicht denken, was das sein mochte. Zögernd machte ich einen Schritt in den Raum, und schon schlug Marion die Tür hinter mir zu. Ich konnte ihre Schuhe über den Fußboden klackern hören, als sie zurück zu ihrem Platz stürmte.

Hinter einem riesigen Schreibtisch saß Henry Kaufman, wieder in einem eleganten Anzug, das Haar nach hinten geklatscht, wie das Männer machen, wenn sie abends ausgehen. Doch mit seinem runden, weichen Gesicht sah er eher aus wie ein Kind, das versucht, sich so zu kleiden wie sein Vater. Er konnte nicht viel jünger als ich sein – vielleicht dreißig –, aber er hatte die verhätschelte Art eines Jungen, der zu lange auf dem Internat gewesen war. Er hätte vollkommen harmlos gewirkt, wären da nicht eine kalte Unnahbarkeit in seinem Blick und ein aggressiver Zug um seinem Mund gewesen.