Die Unvollendete - Beatrice von Weizsäcker - E-Book

Die Unvollendete E-Book

Beatrice von Weizsäcker

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Beschreibung

Der Fall der Mauer - erkämpft von den Ostdeutschen und bejubelt von allen. Zwanzig Jahre Vereinigung, doch der Tag der Deutschen Einheit wirkt noch immer wie aus der Retorte. Mag die staatliche Einheit vollendet sein, die der Menschen ist es nicht. Falsche Versprechungen von blühenden Landschaften und der einseitige Beitritt ohne Beteiligung des Volkes sorgten für Enttäuschung und Zwist. Immer noch zeigen Umfragen ein düsteres Bild. "Gefallen kann einem das nicht", sagt selbst Angela Merkel - doch es ändert sich wenig. So darf es nicht bleiben. Ein starkes Land braucht eine innere Einheit und die Vielfalt der Menschen, es braucht endlich Versöhnung. Das geht.

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Seitenzahl: 312

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Titel

Impressum

Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Originalausgabe

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlungder Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln

Copyright © 2010 by Beatrice von WeizsäckerBastei Lübbe GmbH & Co. KG, KölnDatenkonvertierung E-Book:Bosbach Kommunikation & Design GmbH, Köln

ISBN 978-3-8387-0294-0

Sie finden uns im Internet unterwww.luebbe.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Widmung

Für M & M

Vorwort

Im Jahre eins der Deutschen Einheit bekamen die ostdeutschen Bundesländer unerwartete Schützenhilfe. Ein Bündnispartner tat sich auf – ein Bündnispartner, von dem sie gar nichts wussten. Es war kein Partner aus der Wirtschaft, der beim Aufschwung helfen wollte, keiner, der sich mit Finanzen auskannte, um ein neues Bankensystem auf die Beine zu stellen, es war kein osteuropäisches Nachbarland, das da Solidarität mit Ostdeutschland empfand. Nichts von alledem. Der Mann, der meinte, die Lage der Menschen im Osten zu verstehen, und sich darum mit ihnen solidarisierte, war L. Douglas Wilder, der erste schwarze Gouverneur der Vereinigten Staaten, der Gouverneur von Virginia und damals, im Jahr 1991, möglicher Präsidentschaftskandidat der Demokraten.

Der Bundesstaat, den er regierte, hatte einst selbst erlebt, was es heißt, geteilt zu sein. Virginia gehört zu den amerikanischen Südstaaten. Während des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 war Richmond, die Hauptstadt Virginias, Sitz der Konföderierten, der Südstaaten also. Die Südstaaten wollten sich von der Union trennen und die »Konföderierten Staaten von Amerika« gründen. Dabei ging es nicht nur um die Abschaffung der Sklaverei, es war auch das letzte Aufbäumen einer agrarisch geprägten Gesellschaft gegen die industrielle Neuzeit im Norden. Es kam zu einem Krieg, der mehr Opfer gefordert hat als alle anderen amerikanischen Kriege zusammengenommen – Vietnam inbegriffen –, und: ein Krieg, der Virginia seine eigene Teilung bescherte. Noch während des Bürgerkrieges spaltete sich West-Virginia ab, bekannte sich zum Norden und wurde ein eigenständiger Staat. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich Virginia davon erholte. Bis heute wird daran erinnert, Jahr für Jahr.

Als die Regierung von Virginia im September 1991 eine Gruppe junger Nachwuchskräfte aus Deutschland einlud, staunten die Gäste nicht schlecht. Hundertdreißig Jahre waren seit dem Beginn des Bürgerkrieges vergangen, mit den Ereignissen in Deutschland aber hatten sich die Menschen in Virginia auf einmal wieder ihrer eigenen Vergangenheit erinnert. Doch es war mehr als ein Erinnern. Mit den Ostdeutschen meinten sie, Verwandte gefunden zu haben. Ihnen galt ihre Verbundenheit, ihnen galt ihre Solidarität.

»Die Vergangenheit ist nicht vergessen. Sie ist noch nicht einmal vergangen«, sagte einer der Gastgeber mit trauriger Stimme. Es ist wenig wahrscheinlich, dass er je etwas von Christa Wolf gelesen hat. Deren Buch »Kindheitsmuster« fängt fast mit den gleichen Worten an: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd«, hatte die DDR-Schriftstellerin 1976 geschrieben.

Doch zurück zu den Südstaaten. Fünf Generationen hätten nicht ausgereicht, um den Krieg und seine Folgen zu überwinden, sagte der Gastgeber. Hundertdreißig Jahre nach dem Bürgerkrieg sei die Teilung noch immer zu spüren: die Teilung zwischen den Überlegenen aus dem Norden und den Unterlegenen aus dem Süden, zwischen Überheblichen und Benachteiligten. Es war eine Teilung, die vielen noch immer gegenwärtig war, eine Teilung, die sich mehr in den Köpfen und Herzen vollzog und die mehr auf alteingesessenen Vorurteilen beruhte als auf tatsächlicher Benachteiligung. Es war eine psychologische Teilung, die die Geschichte immer wieder als Gegenwart erleben ließ. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, an den Krieg zu erinnern, zu groß war der Schmerz – noch immer.

Schmerzlicher noch als der Krieg wurde der Prozess der Wiedereingliederung in die Vereinigten Staaten empfunden. Die Südstaaten waren geschlagen, moralisch gedemütigt und psychologisch unterlegen. Außerdem waren sie der wirtschaftlich schwächere Teil. Das saß. Und hielt lange an. Noch im Jahr 1991 fühlten sich viele Bewohner der Südstaaten minderwertig, benachteiligt und wirtschaftlich unterlegen, »als die Ostdeutschen Amerikas«, wie einer von ihnen damals sagte. Sie waren misstrauisch gegenüber den Nordstaatlern geblieben, die sie arrogant und überheblich fanden. Das Schicksal der Ostdeutschen glaubten sie nicht nur verstehen zu können, es war ihr eigenes Schicksal, das da wiedergekehrt war.

Das war der Grund, warum Gouverneur L. Douglas Wilder Verbundenheit mit dem Osten Deutschlands empfand, warum der Gouverneur nicht nur mitfühlte, sondern alsbald auch handelte. Er förderte den Schüleraustausch zwischen Virginia und den neuen Ländern, er unterstützte Städtepartnerschaften zwischen den beiden gleichen, ungleichen Brüdern. Bis heute bestehen diese Beziehungen, wie die Städtepartnerschaft zwischen Lynchburg, Virginia, und Glauchau in Sachsen. Virginia ist dem Osten treu geblieben.

Natürlich glaubte niemand in den Südstaaten, dass es in Deutschland hundertdreißig Jahre dauern würde, bis die Teilung überwunden sein würde, das stellte auch Wilder gleich klar. Vier Gründe waren es, die er nannte: Erstens hatte es keinen Krieg zwischen den Deutschen gegeben, zweitens war die Vereinigung gewollt, drittens ging es der Wirtschaft weitaus besser und »außerdem sind alle weiß«.

Seit dieser Reise sind fast zwanzig Jahre vergangen. In den USA regiert der erste schwarze Präsident, in Deutschland die erste Frau aus dem Osten der Republik. Offensichtlicher kann der Fortschritt gar nicht sein.

Also: Ende gut – alles gut? Nein. Denn erstens ist es nicht das Ende, und zweitens ist nicht alles gut.

Wie weit sind wir im Jahr zwanzig der Deutschen Einheit tatsächlich? Ist von Überlegenheit und Unterlegenheit nichts mehr zu spüren? Gibt es keine Überheblichkeit mehr im Westen und kein Gefühl der Benachteiligung im Osten? Sind wir nach zwanzig Jahren weiter als die Südstaaten damals nach einhundertdreißig? Sind wir ein Volk?

Die staatliche Einheit ist gelungen, das stimmt. Die Einheit funktioniert. Der Blick von außen zeigt: Das geeinte Deutschland gehört wie selbstverständlich zu Europa, zur westlichen Gemeinschaft der Welt. Der Eiserne Vorhang ist Vergangenheit. Deutschland hat keine Feinde mehr. Das ist ein großes Glück.

Doch wie sieht das im Inneren aus? Funktioniert die Einheit auch da? Hat das Land tatsächlich keine Feinde, keine Gegner im Inneren mehr? Sind die Ostdeutschen nach vierzig Jahren DDR gar zu einer eigenen Volksgruppe geworden, eine mit »ethnischen Unterschieden zum Westen«, wie manche Wissenschaftler behaupten? Bestehen mit anderen Worten die beiden Teilstaaten insgeheim noch fort? Gefährdet die Einheit unser Land, wie der (ostdeutsche) Journalist Jens Bisky einst schrieb? War die Einheit sogar ein »Supergau«, wie der (westdeutsche) Buchautor Uwe Müller meint?

Gewiss: Kaum jemand will das Rad der Geschichte zurückdrehen. Viele freuen sich über das neue Deutschland, die Einheit gehört zum Alltag, auch wenn es den eigenen Alltag oft gar nicht berührt. Die Einheit ist da, ist Gewohnheit, man spricht kaum noch über sie.

Können wir im Jahr zwanzig der Einheit nicht einfach zufrieden damit sein? Warum kümmert uns die Frage nach der inneren Einheit überhaupt? Beschäftigt Bürger und Politiker die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Sorge um Arbeit und Ausbildungsplätze, der Krieg in Afghanistan, die Gesundheitsreform, der Klimawandel, die Umwelt – die Liste ist lang – nicht viel mehr als der Zustand des eigenen Landes? Muss man sich damit überhaupt befassen?

Ja, man muss. Denn die Befunde über die innere Einheit sind schlecht.

Pünktlich zum zwanzigsten Jahr der Deutschen Einheit legte das Institut für Demoskopie Allensbach eine Studie vor. »Die Berliner Republik« heißt sie. Sie bezog sich auf die Jahre 2003 bis 2009 und förderte nicht Einheit zutage, sondern Zweiheit. Nicht das Geld war das Problem, nicht das wirtschaftliche Ungleichgewicht. Sondern die Stimmung. So empfand sich die große Mehrheit der Westdeutschen zuerst als Deutsche, während sich die Mehrheit der Ostdeutschen in erster Linie als Ostdeutsche sah. Die Ansichten von Ostdeutschen und Westdeutschen über sich selbst und die anderen waren alles andere als deckungsgleich. Das galt für Tugenden wie Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft ebenso wie für schlechte Eigenschaften wie Arroganz. Das Ergebnis war niederschmetternd für alle, die dachten, die innere Einheit sei da.

Westdeutsche sagten zu dreiunddreißig Prozent, sie selbst seien arrogant, die Ostdeutschen hingegen bloß zu siebzehn Prozent. Die Ostdeutschen wiederum behaupteten nur zu einem Prozent, die Ostdeutschen seien arrogant, wohingegen sie überzeugt davon waren, dies treffe auf neunundsiebzig Prozent der Westdeutschen zu.

Thema Bescheidenheit: Die Westdeutschen hielten sich zu siebzehn Prozent für bescheiden und die Ostdeutschen zu zwanzig Prozent. Das sahen die Bürger im Osten ganz anders. Zweiundsiebzig Prozent der Ostdeutschen fanden sich selbst bescheiden, sagten das aber nur zu zwei Prozent über die Westdeutschen.

Thema Hilfsbereitschaft: Die Westdeutschen meinten, sie seien genauso hilfsbereit wie die Menschen im Osten, während dort die Überzeugung herrschte, nur ein Prozent aller Westdeutschen sei hilfsbereit, dafür einundsechzig Prozent der Ostdeutschen.

Auch andere Studien belegen die Zweiheit. Je näher sie bei den Menschen sind, desto größer werden die Unterschiede. Beim »Thüringen-Monitor 2008«, einer Studie im Auftrag des Freistaates Thüringen, äußerte mehr als die Hälfte der Befragten, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche wie »Menschen zweiter Klasse«. Und umgekehrt? Auch im Westen gedeihen die Vorurteile, vor allem bei denen, die Ostdeutsche kaum kennen, wie der aus Tübingen stammende Erfurter Sozialwissenschaftler Wolf Wagner im März 2010 bemerkte: »Die Ostdeutschen sind die Ausländer der Westdeutschen.«

Man hält nicht viel voneinander. Man hält mehr von sich selbst als vom anderen. Man fühlt sich überlegen oder unterlegen, je nachdem. Weit weg von den Süd- und Nordstaaten der USA ist das nicht. Das Land ist noch geteilt. Das ist nun amtlich.

Die Befunde sind befremdend genug. Beunruhigend aber ist, dass das kaum jemanden irritiert.

Nach zwanzig Jahren Deutscher Einheit in Frieden und Freiheit macht sich Schläfrigkeit breit. Die Demokratie ist gemütlich geworden, die Politikverdrossenheit, über die man jahrelang sprach, weicht einer neuen Politik- und Menschenwurschtigkeit. Die Wahlbeteiligung sinkt und das Interesse am anderen gleich mit. Politisch erregte Debatten gibt es allenfalls noch in Talkshows, dort streiten die Gäste aber letztlich immer über dasselbe: um ihre eigene Position, ihren eigenen Vorteil, mit wenig Blick für das Große, Ganze, mit praktisch gar keinem Blick für die Menschen, um die es geht. Und die wenigen erregten Debatten über die Menschen werden kaum registriert und wenn doch, dann oft mit müdem Lächeln.

Das gilt besonders im Verhältnis zwischen Ost und West. Politische Klagen und Forderungen aus dem Osten verkommen zu kleinen Zeitungsmeldungen; Gemütserregungszustände über »die Wessis« und »die Ossis« zeigen sich meist nur noch in Leserbriefen. Das Interesse am anderen scheint allenfalls noch etwas für Profis zu sein, Profis, die sich mit Finanzen auskennen oder mit Politik, historische Profis, die die Geschichte deuten und über Diktaturen streiten, schreibende Profis, die von ihren Vorurteilen nicht lassen können oder wollen. Im Übrigen lahmt es gewaltig.

Zuweilen zuckt man zusammen wie bei der Emnid-Umfrage über die Mauer vom März 2010, bei der herauskam, dass ein Viertel der Deutschen aus West wie aus Ost es »manchmal wünschenswert« fänden, »es gäbe die Mauer noch«, und rund sechzehn Prozent sagen: »Etwas Besseres könnte gar nicht passieren.« Aber man regt sich nicht auf. Weder über den Befund noch über die Umfrage selbst.

Man regt sich nicht auf, wenn es nicht mit rechten Dingen zugeht, und wenn es kompliziert wird, lässt man die Dinge laufen, weil morgen schon wieder anderes zählt und auch anders geredet wird als heute und gestern, und weil sowieso nie irgendwer irgendwem richtig zuhören will.

Im Jahr zwanzig der Einheit ist man bequem geworden, so bequem, dass viele Politiker und Bürger lieber wegschauen als hinsehen, sich nicht einmischen, statt das Wort zu ergreifen. Lieber viel reden und wenig zuhören, lieber etwas behaupten als etwas zu verstehen; lieber übereinander urteilen statt miteinander zu reden. Es scheint leichter als früher, an alten Mustern festzuhalten, als neue Wege zu gehen. Wege, die die Fehlersuche auch bei sich selbst zulassen und den Zweifel erlauben; Wege, die einen nicht nur von Entscheidung zu Entscheidung hetzen lassen, sondern die auch gestatten, sich und den anderen Zeit zu geben; Zeit die man braucht, um sich kennenzulernen. Es wird immer einfacher, reflexartige Urteile zu fällen, als von sich abzusehen, um den anderen in einem anderen, nämlich seinem Licht zu sehen. Kurz: Es ist leichter geworden, sich selbst nichts zuzumuten und den anderen alles.

Ob es an der Bequemlichkeit liegt oder am Frust: Es wird Zeit, dass sich das ändert. Denn wir brauchen die Einheit.

Es ist Zeit für eine Spurensuche nach Einheit und Zweiheit im nunmehr seit zwanzig Jahren vereinten Land, es wird Zeit für Versöhnung. Die Welt wird immer kleiner, Politik damit globaler. Wir rücken zusammen, ob wir wollen oder nicht. Den meisten ist das wohl bewusst. Denn auch das zeigte die Allensbach-Studie: Für die Zukunft wünschen sich die Menschen mehr Solidarität und mehr Zusammenhalt als jetzt – in Ost und West. Dieser Wunsch ist ein Auftrag. Ein Auftrag nicht nur für die Politik.

Er ist auch unser Auftrag für uns selbst.

I. Damals: Vereint! Verhöhnt?

10. November 1989: Ein Volk buht

9. November 1989: Die Mauer fiel. Die friedliche Revolution hatte ihr Ziel erreicht. Die DDR hatte aufgegeben, verloren, die Menschen hatten sich durchgesetzt, hatten gewonnen. Trunken vor Freude fielen sich Deutsche aus Ost und West in die Arme, sie jubelten im Taumel des Glücks. »Wahnsinn« war das Wort der Nacht. Wer könnte sich nicht daran erinnern? Wen hatte die Begeisterung nicht erfasst, selbst wenn er nur vor dem Fernseher saß und kaum glauben konnte, was er da sah? Viele fuhren sofort nach Berlin, Menschen aus Ost und Menschen aus West. Bei diesem Triumph wollte man dabei sein. Bei einem Triumph der Menschen über ein politisches System. Auch die Medien reagierten prompt. So präsentierte der Berliner Tagesspiegel zum ersten und einzigen Mal ein Extrablatt ohne Text auf der Titelseite. Sie zeigte nur ein Photo, ein Photo der Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor mit der Überschrift: »Die Nacht der offenen Grenzen in Berlin.« Es war die Nacht der Menschen gewesen, und alle hatten sie so gesehen.

Doch schon am Tag darauf war alles anders: Der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, hatte spontan zu einer Kundgebung eingeladen. Mehr als zwanzigtausend Menschen waren zum Schöneberger Rathaus gekommen, einem Platz, der wie kein zweiter im Westteil Berlins für Freiheit und Einheit stand. Hier hatte John F. Kennedy im Jahr 1963 die Solidarität seines Landes mit der geteilten Stadt bekundet, hier hatte er gerufen: »Ich bin ein Berliner.«

Es sollte nicht nur ein Fest für die Bürger sein, sondern auch für die Bonner Politiker, die eigens angereist waren, um den Jubel zu teilen. Wer könnte sich nicht an die legendären Worte erinnern, die der frühere Regierende Bürgermeister und Bundeskanzler Willy Brandt damals prägte: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!«? Wer hat nicht noch die Worte Walter Mompers im Ohr: »Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt!«? Wer wüsste nicht mehr, wie zurückhaltend die Politiker sich gaben, wie zum Beispiel Helmut Kohl, der dazu aufrief, »besonnen zu bleiben und klug zu handeln«? Oder wie Walter Momper klaräugig sagte: »Gestern war nicht der Tag der Wiedervereinigung, sondern des Wiedersehens.«?

Doch so besonnen die Worte auch waren, am Ende gingen sie unter. Denn auf einmal stimmten die westdeutschen Politiker die westdeutsche Nationalhymne an, überzeugt davon, das Richtige zu tun. Überzeugt davon, dass es Zeit sei für das Deutschlandlied, dessen dritte Strophe mit dem Wort »Einigkeit« beginnt und dem das Wort »Vaterland« alsbald folgt.

Pfiffe und Buhrufe waren die Antwort. Die Hymne ging unter im Protest der Menschen. Die Hymne, die wollte man nicht hören, die Hymne, gesungen von westdeutschen Politikern, gesungen am Tag des Volkes, das war vielen zu viel.

Natürlich galt der Protest zuallererst Helmut Kohl und seiner angeschlagenen schwarz-gelben Koalition, die seit sieben Jahren regierte. Und natürlich ging das Pfeifkonzert in erster Linie von Anhängern des damaligen rot-grünen Berliner Senats aus, deren Feindbild der Bundeskanzler schon lange war. Doch es war mehr als nur das. Da brach sich auch Misstrauen gegen ein deutsches Nationalbewusstsein Bahn, über das seit Jahren diskutiert worden war. Ausgehend von Kohls Wahlkampfruf nach einer »geistig-moralischen Wende« im Jahr 1980, verstärkt durch den unsäglichen Historikerstreit 1986 / 87, in dem es darum ging, Auschwitz zu relativieren, eine Debatte, die nicht nur in den Feuilletons der Zeitungen ausgetragen wurde, sondern auch tief ins Bewusstsein der Menschen gedrungen war. Eine allgemeine Politikverdrossenheit hatte sich im Westen breitgemacht, eine Politikverdrossenheit, die in Wahrheit Parteienverdrossenheit war. Man hatte genug vom Machtanspruch der Parteien, denen es mehr um die Erhaltung ihrer Macht als um die Sache zu gehen schien. Das war ein wesentlicher Grund für das Pfeifkonzert vor dem Schöneberger Rathaus.

Gleichzeitig aber machte sich bei dem Aufruhr auch der erste Ärger mancher Ostdeutscher Luft, dass nur Stunden nach dem Erfolg ihrer friedlichen Revolution Bonner Politiker nach Berlin gekommen waren, um ihren Sieg für sich zu vereinnahmen und ihnen das Heft aus der Hand zu nehmen, symbolisiert durch die Hymne.

Rasch manifestierte sich dieser Unmut. Schon am 26. November 1989 formulierten einunddreißig Ostdeutsche den Aufruf »Für unser Land«, in dem es hieß: »Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften (…) in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. Lasst uns den ersten Weg gehen.« Drei Tage später wurde der Aufruf im Neuen Deutschland veröffentlicht. Doch wer nun meint, es sei ein Aufruf der SED gewesen, weil das Neue Deutschland das Zentralorgan der SED gewesen war, der irrt. Unterzeichnet hatten den Appell Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe, Konrad Weiß und Friedrich Schorlemmer, Kirchenmänner wie Günter Krusche und Christoph Demke, Schriftsteller wie Volker Braun, Christa Wolf und Stefan Heym. Keiner von ihnen wollte zurück zur alten DDR. Sie wollten sich nur nicht vereinnahmen lassen. Doch genau diesen Eindruck hatten sie. Schon beim Auftritt Helmut Kohls vor dem Schöneberger Rathaus.

Ihr Eindruck, den auch etliche Westdeutsche teilten, bestätigte sich mit der Zeit. Denn seit diesem Tag, dem Tag nach dem Fall der Mauer, war das Ende der friedlichen Revolution besiegelt, das Ende des mutigen Einsatzes der vielen, die Montag für Montag demonstriert hatten, die ihre Sicherheit riskiert hatten, um die Freiheit zu bekommen. Die viel aufs Spiel gesetzt hatten, um der Enge des SED-Staates, der Unterdrückung und der Unfreiheit zu entkommen. Durch ihren Mut und ihren Einsatz war die Mauer gefallen. Am Tag danach wollten sie ihren Erfolg, ihre neu gewonnene Freiheit feiern und genießen – und nicht sogleich von der Politik vereinnahmt werden. Hatten sie sich nicht gerade von einem Staat befreit, von einem aus der Sicht vieler Menschen erpresserischen und unmenschlichen Unterdrückungsstaat? Waren sie es nicht gewesen, die das geschafft hatten, und eben nicht die Politik? Und nun sollte fortan die Politik entscheiden, was daraus werden solle? Wieder der Staat und nicht die Menschen?

Wer wollte ihnen den Protest verdenken?

Es war, als ahnten die Menschen, wie es weitergehen würde. Als sähen sie bereits voraus, dass sie es zwar gewesen waren, die den Weg freigemacht hatten, aber sie es nicht sein würden, die bestimmen würden, wohin der Weg führt und wie er beschritten wird.

Schon am ersten Tag nach dem Ende der friedlichen Revolution, bei der ersten gesamtdeutschen Kundgebung überhaupt zeigten sich die ersten Zeichen der Zweiheit in Deutschland. Vielleicht wäre das ohne die Hymne nicht passiert. Wer weiß das schon? Die Zweiheit jedenfalls, die sich damals zeigte, die gibt es bis heute.

3. Oktober 1990: Deutschland – künstlich

3. Oktober 2010: Deutschland hat Geburtstag. Deutschland wird zwanzig. Großer Staatsakt, diesmal in Bremen. Der 3. Oktober ist ein Feiertag. Es ist der Tag der Deutschen Einheit. Das ist allgemein bekannt. Weniger bekannt jedoch sind die Antworten auf zwei Fragen. Auf die Frage Nummer eins: Warum ist es der Tag der Deutschen Einheit, was genau ist am 3. Oktober 1990 geschehen? Und auf die Frage Nummer zwei: Wie kam es zu dem Datum, dem 3. Oktober, der damals ein Mittwoch war, also buchstäblich mitten in der Woche lag?

Zunächst zu Frage eins: Ohne zu googeln, ohne zu lesen, ohne zu fragen, weiß man nicht, was an diesem Tag passierte. Die meisten verbinden mit der Deutschen Einheit noch immer den 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel. Manche erinnern sich an die Währungsunion, doch die kam vor der staatlichen Einheit, am 1. Juli 1990. Auch der Einheitsvertrag stammte nicht vom 3. Oktober 1990, er wurde am 31. August 1990 unterschrieben. Schließlich war der 3. Oktober auch nicht der Tag der ersten gesamtdeutschen Wahl. Gewählt wurde später, am 2. Dezember 1990.

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei und ging damit unter. Man braucht schon juristische Kenntnisse, um zu verstehen, was das hieß und wie das ablief. Denn wörtlich genommen ging es im alten Artikel 23 des Grundgesetzes, der das Thema behandelte, nicht um eine Vereinigung Deutschlands, auch nicht um den Beitritt der DDR als Ganzes, sondern um den Geltungsbereich des Grundgesetzes »in den anderen Teilen Deutschlands«: »Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder …« – es folgt eine Aufzählung der alten westdeutschen Bundesländer. »In den anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.« Wie im Saarland zum Beispiel, das 1957 mithilfe dieser Bestimmung Teil der Bundesrepublik wurde. Und so entbrannte 1990 ein juristischer Streit, ob die DDR als solche überhaupt beitreten könne oder ob dies nicht die einzelnen neuen Länder tun müssten. Die ostdeutschen Länder aber gab es zu diesem Zeitpunkt juristisch noch nicht. Sie verfügten über keine Volksvertretungen und konstituierten sich erst später. Am Ende blieb es ein Streit unter Experten, der keine Auswirkungen hatte. Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 gab es die DDR noch nicht, nur die »sowjetisch besetzte Zone«, die SBZ. Darum sprach Artikel 23 von anderen Gebieten, nicht von der DDR. Dass sie aber gemeint war, war politisch immer klar, denn politisch war es immer gewollt.

Im Einigungsvertrag verständigte man sich auf die Formel: »Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland (…) am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland.« Mit dem Beitritt trat das Grundgesetz auch dort in Kraft. Rechtlich hatte man das Problem einfach so gelöst: Die Länder waren um Punkt Mitternacht in einer »logischen Sekunde« entstanden. Damit stand der Vereinigung nichts mehr im Wege.

Rückblickend mögen das juristische Spitzfindigkeiten sein, aber es zeigt, wie kompliziert das Verfahren war, welche rechtlichen Übungen vollzogen werden mussten, damit es zum Beitritt, der politisch gewollt war, überhaupt kommen konnte.

Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Staatstag, der ohne die tatkräftige Hilfe von Juristen kaum zustande gekommen wäre. Die Vereinigung in Form eines Beitritts war eine politische und juristische Entscheidung gewesen, eine Entscheidung, mit der die Menschen nichts zu tun hatten. Der 3. Oktober war von Anfang an ein Kopf-Tag, und das ist er geblieben. Mit Emotionen hat er nichts zu tun.

Nun zu Frage Nummer zwei: Wie kam es zum 3. Oktober? Wie das juristische Zustandekommen der Einheit war auch die Wahl des Beitrittstages in den Köpfen der damaligen Regierungen entstanden. Auch das hatte mit Emotionen wenig zu tun, vielmehr mit Tempo, Politik und – mit Taktik.

Die Ereignisse hatten sich überschlagen, der Druck der Straße wuchs. Die Parole der friedlichen Revolution, die anfangs noch lautete: »Wir sind das Volk«, hieß auf einmal immer lauter: »Wir sind ein Volk.« Dreihunderttausend Menschen hatten die DDR allein zwischen November 1989 und Februar 1990 verlassen, zwei Drittel von ihnen jünger als dreißig Jahre. Die Menschen drängten nicht nur zur Freiheit und Einheit, sondern nun auch zum westdeutschen Geld. »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr«, lautete das Credo immer mehr Ostdeutscher. Die für den 6. Mai 1990 vorgesehene Volkskammerwahl wurde um zwei Monate vorgezogen. Bei dieser ersten und einzigen freien Wahl in der DDR, am 18. März 1990, hatte die überwältigende Mehrheit nicht die Kandidaten der DDR-Bürgerrechtsbewegungen in die Volkskammer gewählt, sondern mit überraschenden 48 Prozent die christdemokratische »Allianz für Deutschland«, bestehend aus der Ost-CDU, der deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA), die Befürworter einer raschen Vereinigung über den Weg des Beitritts nach Artikel 23 Grundgesetz – die Befürworter Helmut Kohls. Kohl war es auch, der wesentlichen Anteil am Zusammenschluss der »Allianz für Deutschland« hatte. Ihr Wahlaufruf »Freiheit und Wohlstand – nie wieder Sozialismus« wurde in Bonn präsentiert, nicht in Berlin. Ein klarer Hinweis auf die Machtverhältnisse jener Zeit.

Der Zusammenschluss der Allianz hatte zum Bruch im DA geführt, der einzigen Bürgerrechtsgruppe in der Dreierkonstellation. Die Gründungsmitglieder Friedrich Schorlemmer und Daniela Dahn, die einen demokratischen Sozialismus gewollt hatten und Reformen am DDR-System, verließen die Partei, als der Wind Helmut Kohls zu wehen begann.

Und der Kanzler gewann. »Seine« Ost-CDU kam auf 40,6 Prozent. Am klarsten brachte das der Schriftsteller Stefan Heym zum Ausdruck. Er gratulierte nach der Wahl nicht dem Ost-CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière, sondern Helmut Kohl, der offiziell gar nicht kandidiert hatte. Wie dominierend der Kanzler tatsächlich war, musste auch de Maizière rasch erkennen. Noch bevor er vor die Kameras treten konnte, ließ Kohl bereits verkünden, er persönlich habe die Wahl gewonnen. Spätestens da war klar, dass der künftige DDR-Ministerpräsident nicht mehr als ein Statthalter auf Zeit sein würde, »der Filialleiter des Bundeskanzlers aus Bonn«, wie die Süddeutsche Zeitung später schrieb.

Doch nicht nur Kohl hatte Wahlkampf gemacht, auch FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff und Außenminister Hans-Dietrich Genscher für den »Bund Freier Demokraten« sowie Oskar Lafontaine und Willy Brandt für die Ost-SPD. Brandt wurde Ehrenvorsitzender der Ost-Partei. »Es war eine westdeutsche Wahl auf dem Gebiet der DDR«, sagte der Biologe und Bürgerrechtler Jens Reich rückblickend. Das Ergebnis: Das Bündnis 90 schwand mit 2,9 Prozent zur Marginalie und mit ihm der Einfluss vieler Bürgerrechtsgruppen; die SPD, von der die meisten dachten, sie mache das Rennen, kam nur auf 21,9 Prozent. Sie hatte zunächst auf eine Drei-Stufen-Vereinigung gesetzt, mit einer Volksabstimmung am Ende. Die Mehrheit aber wollte den schnellen Beitritt, und die Allianz gewann.

Helmut Kohl hatte von Anfang an aufs Tempo gedrückt, er wollte die Einheit, er spürte die historische Chance und den Druck von der Straße. Und handelte schnell. Er war der Mann der Stunde. Der damalige DDR-Regierungschef Hans Modrow hatte nur acht Tage nach dem Fall der Mauer, am 17. November 1989, eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft vorgeschlagen, eine Konföderation der beiden Staaten also. Prompt konterte Kohl elf Tage später, am 28. November, mit seinem Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands mit dem ausdrücklichen Ziel der Wiedervereinigung – ohne Absprache mit dem Koalitionspartner FDP, nicht einmal Hans-Dietrich Genscher kannte den Plan, und ohne Rücksprache mit den westlichen Bündnispartnern. Ein Wettlauf nach Moskau begann. Modrow und Kohl reisten im Wechsel in die sowjetische Hauptstadt, Modrow mit dem Ziel der Konföderation, Kohl mit dem Ziel der Einheit Deutschlands. Mit Hilfe der Amerikaner setzte sich Kohl schließlich durch. Michail Gorbatschow gab grünes Licht. Die Deutschen, sagte der sowjetische Generalsekretär, müssten ihre Wahl selbst treffen. Die Deutschen, das war am Ende der Bundeskanzler. Und die Wähler folgten ihm.

Gegen den Widerstand des damaligen Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl betrieb Helmut Kohl die Währungsunion mit einem – überwiegend geltenden – Wechselkurs von 1:1, der sich in der Tat später als große Belastung für die ostdeutsche Wirtschaft herausstellte. Doch angesichts der hohen Erwartungen im Osten und der massiven ostdeutschen Proteste gegen den Wechselkursvorschlag von 2:1 sah Kohl politisch keine Alternative. Gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher gelang es ihm, in den sogenannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen die Zustimmung der einstigen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zur Einheit Deutschlands zu erlangen. Sie war Voraussetzung für die Vereinigung. Der Vertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik sowie der Sowjetunion, den USA, Frankreich und Großbritannien wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet. Der Weg für den Beitritt der DDR war frei.

Schon vor der Unterzeichung des Zwei-plus-Vier-Vertrages hatte Kohl darauf bestanden, einen baldigen Beitrittstermin festzulegen. Die frei gewählte Volkskammer der DDR war angesichts des Tempos, das der Kanzler vorlegte, zunehmend unter Druck geraten. So beraumte sie für den 22. August eine Sondersitzung an, um das Datum zu beschließen. Die Presse war informiert, das Fernsehen sendete live. Einen Terminvorschlag allerdings gab es nicht. Reinhard Höppner, der damalige Vizepräsident der Volkskammer, erinnert sich noch gut an die Stimmung, die damals im Osten herrschte. Zwar war der Respekt vor dem Geschick, mit dem Helmut Kohl die schwierigen außenpolitischen Verhandlungen geführt hatte, groß, doch an den »machtpolitisch geprägten Umgangsstil konnten die ostdeutschen Politiker sich nur schwer gewöhnen«. In seinem Buch »Wunder muss man ausprobieren« beschreibt Höppner die Sondersitzung so: »Ich bat die Fraktionen um Vorschläge. Schließlich brauchten wir nur ein Datum zu beschließen. Bedeutsam war es vor allem, weil bereits festgelegt war, dass dieser Tag in Zukunft der Tag der Deutschen Einheit, der Nationalfeiertag der Bundesrepublik, sein sollte. Man hörte, von Bonn sei der 14. Oktober vorgeschlagen worden. Das wäre ein durchaus sinnvoller Tag gewesen. An diesem Tag sollten die Landtagswahlen stattfinden und damit die neuen Länder sich konstituieren. Trotzdem waren wir uns in der Runde schnell einig: Dieser Tag sollte es nicht werden. Wir hatten uns im Einigungsprozess schon so viel von Bonn vorschreiben lassen. Jetzt wollten wir selber bestimmen. Es kam der 9. Oktober ins Gespräch. Das wäre ein gutes Datum gewesen. Schließlich hatte am 9. Oktober 1989 in Leipzig die erste Großdemonstration ohne Gewalt stattgefunden. (…) Ich stellte die Frage, wie wir dann den 7. Oktober, den Nationalfeiertag der DDR, begehen sollten. Wir konnten ihn doch nicht einfach ignorieren.« Zudem ging die Befürchtung um, die PDS, die aus der SED hervorgegangen war, könne den 7. Oktober zu einer pompösen DDR-Abschiedsfeier nutzen. Wie hätte das ausgesehen, wie hätten die anderen Gruppen und Ost-Parteien dagestanden?

Damit stand fest, dass der Beitritt vor dem 7. Oktober erfolgen musste. Die letzte Runde der Zwei-plus-Vier-Gespräche, die trotz des bereits unterschriebenen Vertrags weitergelaufen waren, war auf den 1. und 2. Oktober datiert. Der frühestmögliche Zeitpunkt des Beitritts war der Tag darauf. Die Volkskammer stimmte zu.

Heute ärgert sich Reinhard Höppner über diese Entscheidung und vor allem über sich selbst. »Der 9. Oktober wäre als Tag der Deutschen Einheit sinnvoller gewesen«, sagt er nun. »Für den 7. Oktober 1990 hätten wir schon irgendeine Lösung gefunden.«

Höppner ist nicht der Einzige, der den 9. Oktober rückblickend als den besseren Tag der Deutschen Einheit sieht. Wolfgang Thierse stimmt ihm zu, viele Ostdeutsche tun es ihnen gleich. Und das nicht ohne Grund. Der 9. Oktober 1989 war der Wendepunkt der Montagsdemonstrationen.

Zum ersten Mal griffen die DDR-Sicherheitsbehörden nicht mehr ein. Nur zwei Tage zuvor hatte die offizielle DDR-Führung des vierzigsten Jahrestages ihrer Gründung gedacht, mit großem Aufwand und traditionellen Aufmärschen. In den vorangegangenen Wochen war die Polizei immer wieder gewaltsam gegen die Menschen vorgegangen, die sich an vielen Orten zu Protesten versammelt hatten. Noch am 2. Oktober hatte sich die Lage in Leipzig dramatisch verschärft, wenige Tage später, am 8. Oktober, spitzte sich die Situation auch in Dresden zu. Mit einer weiteren Eskalation am 9. Oktober in Leipzig war zu rechnen. Doch es blieb ruhig.

Die Dresdner hatten noch in der Nacht nach Leipzig gefunkt: Keine Gewalt! Sechs prominente DDR-Bürger, darunter der Chefdirigent des Leipziger Gewandhauses, Kurt Masur, hatten an die Menschen appelliert, Ruhe zu bewahren und Gewalt nicht zuzulassen. Und tatsächlich: Siebzigtausend Menschen zogen durch Leipzig; es war die größte Montagsdemonstration seit ihrem Beginn, und niemand schritt ein.

Keine zehn Tage später trat Erich Honecker zurück. Erst im Januar 1989 hatte er noch verkündet: »Die Mauer wird noch in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.« Zehn Monate später war sie beseitigt. Nur anders, als er dachte.

Heute weiß man: Mit dem 9. Oktober 1989 hatte die friedliche Revolution endgültig begonnen. Von nun an gab es kein Zurück. Nicht der Westen, nicht Politiker hatten die SED-Diktatur in die Knie gezwungen, sondern allein das ostdeutsche Volk. Ohne den 9. Oktober in Leipzig wäre die größte aller Demonstrationen vor dem Fall der Mauer am 4. November in Berlin undenkbar gewesen. Eine halbe Million Menschen hatten sich versammelt, um an der Kundgebung auf dem Alexanderplatz teilzunehmen, zu der Künstler und Schriftsteller aufgerufen hatten. Da hatte die DDR-Regierung längst aufgegeben: dass das westdeutsche Fernsehen alles live übertrug, verstand sich in diesen Tagen von selbst. Dass das aber auch das DDR-Fernsehen tat, und dies auf dem Alexanderplatz sogar angekündigt wurde, das war neu. Der 9. Oktober hatte den Menschen den Mut gegeben, den anfangs nur wenige hatten. Ohne den 9. Oktober 1989 wäre es nicht zum 4. November gekommen, nicht zum Fall der Mauer und auch nicht zum 3. Oktober 1990, dem Beitritt der DDR.

Doch was helfen diese Erinnerungen heute? Wäre der 9. Oktober als Nationalfeiertag nicht für immer ein Datum der Ostdeutschen geblieben? Hätte er zur inneren Einheit beitragen können? Was hätten die Westdeutschen mit diesem Tag angefangen? Mit einem Tag, der ein ostdeutscher war wie schon der 17. Juni zuvor?

Man hat es fast vergessen: Auch der Tag der deutschen Einheit, den die westdeutsche Bundesrepublik früher am 17. Juni gefeiert hatte, hatte mit den Westdeutschen nichts zu tun. Gedacht wurde des Arbeiteraufstands in der DDR im Jahr 1953. Prompt war der Tag zum Nationalfeiertag der Bundesrepublik erklärt worden. Als hätten die Westdeutschen irgendetwas getan an diesem »Tag der deutschen Einheit«, als hätten sie irgendetwas geleistet. Kein Wunder, dass schon der nächsten Generation dieser Tag nur noch ein Rätsel war. Man hatte zwar frei, aber man wusste nicht warum. Der 17. Juni war ein geliehenes Datum, ein Kunstprodukt. Man hatte etwas symbolisieren wollen, was es nicht gab, man hatte etwas symbolisieren wollen, was reines Wunschdenken war: die Deutsche Einheit.

Und doch helfen die Erinnerungen an den 9. Oktober 1989 viel. Sie erinnern daran, dass es die Menschen waren, die den Weg zur Einheit geebnet hatten. Die Bürger und nicht der Staat. Und man darf auch dies nicht vergessen: Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 war es nicht nur zur Deutschen Einheit gekommen, mit dem 3. Oktober 1990 war auch das Ende der DDR offiziell besiegelt, sie existierte fortan nicht mehr. Nicht ein staatlicher Hoheitsakt hatte die DDR zu Fall gebracht, nicht die Politik, sondern die Menschen.

Die westdeutsche Presse hatte das genau registriert. Die Süddeutsche Zeitung schrieb erbost, stets ernte Kohl, was er nicht gesät habe. Zwei Tage nach dem Beitritt pflichtete die Zeit dem ausdrücklich bei: »Mit diesem Wort« habe die SZ »den Nagel auf den Kopf getroffen«. Heute streitet man sich in dem Hamburger Blatt über die damalige Deutung der Geschichte. Denn die Meinungen in der Zeit waren durchaus geteilt, nicht nur über Helmut Kohl, sondern auch über den raschen Beitritt der DDR. Autor Robert Leicht erinnert sich noch gut an Plakate, die in einigen Redaktionsstuben hingen und auf denen stand: »Art. 23 – kein Anschluss unter dieser Nummer«.

Der 3. Oktober 1990, das zeigt der Rückblick, war vor allem ein Tag der historischen, politischen und juristischen Komplikationen. Und genau darin liegt das Problem. Wir denken zwar, dass sich die DDR