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Dieser Roman erzählt die Lebensgeschichte von Niko, von seinen psychischen Qualen und Depressionen, seine Suche nach Zufriedenheit, Glück und Erfolg, sein Leiden unter Fremdbestimmtheit und fehlendem Selbstbewusstsein. Er beschreibt seine Erlebnisse während des Studiums, seiner Berufstätigkeit und seinen ersten Erfahrungen mit Mädchen und Frauen sowie seine sexuellen Affären auf beruflichen und privaten Reisen. Die Begegnung mit einer jungen Frau auf einer Kreuzfahrt entwickelt sich zu einer schicksalhaften Wendung, die beider Leben verändert und prägt. Seine Depressionen führen letztlich zu einer selbstzerstörerischen Lebensweise in Andalusien.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Danksagung
Ich lernte Niko Borg am 02. April 1961 kennen. Diesen Tag vergesse ich Zeit meines Lebens nie. Nicht weil ich ihn traf; das war für mich erst später von Bedeutung. Sondern dass ich ihn an diesem Tag an diesem Ort traf. Es war der erste Tag meiner Bundeswehrzeit, der Beginn einer dreimonatigen Leidenszeit. Ich hatte gerade mein Abitur mit der Note 1,5 bestanden. Mein Vater bewertete das nicht als etwas Besonderes, sondern als selbstverständlich. Das Ergebnis hätte nach seinem Verständnis auch besser sein können. Meine Mutter hingegen hatte sich gefreut: Sie flog mit mir zur Belohnung für 14 Tage nach Tunesien. Wie sich herausstellen sollte, war dies letztendlich keine gute Idee. Braungebrannt und mit meiner gewohnten Nickelbrille auf der Nase tauchte ich beim Bund auf, prädestiniert für die Schikanen der geistig minderbemittelten, hirnlosen Gruppenführer, die gerade ihre Rekrutenzeit absolviert hatten und nun ihre erlittenen Qualen an uns auslassen konnten. Mein bereits schon früh gewecktes Interesse an der Psychologie und Soziologie machten mir die Erkenntnisse über das Verhalten dieser Hirnamputierten einerseits leichter; andererseits war ihr Verhalten dadurch noch unerträglicher, da man dem nichts entgegenzusetzen hatte. Ich empfand Widerwillen, Abneigung und keinen Respekt. Das spürten sie und ließen es mich auch in Form von Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten spüren! Ich bekam ohne ersichtlichen Grund Ausgehverbote, zusätzliche Wacheinteilungen an Wochenenden und in Nächten am Kasernentor, Reinigungsdienste und so weiter. Beim Drill auf dem ehemaligen Flugplatzgelände durfte ich mehr Liegestütze vorführen als alle anderen. Die Reihe meiner 'bevorzugten' Behandlung ließe sich noch erheblich fortschreiben.
Unsere erste Begegnung fand in der mir zugewiesenen Bude statt. Niko hatte ein Doppelstockbett am Fenster in Beschlag genommen. „Oben oder unten?“. Die Entscheidung überließen wir dem Spiel „Papier, Stein, Schere". Auf diese Weise entschieden wir später noch einige Fragestellungen.
Niko entpuppte sich als äußerst hilfsbereit und zeichnete sich durch eine hohe soziale Kompetenz aus. Er sorgte für Ordnung in meinem Spind, wenn wir von Übungen zurückkamen, da grundsätzlich nach kurzer Zeit Stubendurchgänge durchgeführt wurden, um Kandidaten für die Aufstellung der Dienstpläne für Wach- und Reinigungsdienste, oder Anwärter für Ausgangssperren und sonstige Bestrafungsaktionen gesucht wurden. Durch seine Hilfe beim sogenannten Maskenball, bei der Waffenkunde, zu der das Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Maschinengewehr, Gewehr und Pistole unter Zeitdruck gehörten, blieb mir so manche Strafe erspart.
Niko war äußerst ordentlich, stets pünktlich, zuverlässig, gewissenhaft. Nicht ganz vereinbar mit diesem Charakterbild war allerdings sein Verhalten, wenn Frauen im Spiel waren. Ihn mit eigenen Freundinnen bekannt zu machen, konnte gefährlich oder enttäuschend sein, vor allem wenn man sich selber noch im Baggerstadium befand, und die Freundschaft noch nicht so gefestigt war. Wenn sie ihm gefiel, setzte er alles daran, sie zu erobern oder zumindest sich seinen Spaß zu holen. Als Beispiel ist mir eine Situation in Erinnerung, als wir während eines gemeinsamen Urlaubs in meinem Wagen zu Dritt von Marbella nach Fuengirola zu unserem Bungalow fuhren; ich am Steuer, meine soeben Eroberte auf dem Beifahrersitz und Niko im Fond. Ohne Hemmungen legte er seine Arme über ihre Schultern, griff unter ihr T-Shirt und massierte ihre Titten mit der Folge, dass keiner von uns beiden zum Zuge kam und sie sofort wieder zurückgebracht werden wollte.
Eine Frau hätte ich ihm gerne vorgestellt und mir von ihm ausspannen lassen. Dazu kam es aber leider nicht. Sie war ein toller attraktiver Feger, der auch Niko sehr gereizt hätte und der auch er nicht hätte widerstehen wollen und können. Bevor wir miteinander schliefen, klärte sie mich auf, dass man einen Mann nicht nur riechen können, sondern auch schmecken können müsse. Um sich zu vergewissern, ob mein Geschmack ihr zusagte, schlug sie die Bettdecke zur Seite und brachte mich in ihrem Mund zur Ejakulation. Offensichtlich schmeckte ich ihr. Wir vögelten noch einige Male, bis wir das Interesse aneinander verloren hatten und uns nicht mehr trafen. Einige Wochen später besuchte sie mich unerwartet und klärte mich über ihre Schwangerschaft auf, die ich ihr zwar glaubte, aber nicht mir als Verursacher zuschrieb. Leider wurde mir später vom Gericht die Vaterschaft mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit 'im Namen des Volkes' bescheinigt und ich konnte bei der Bank über 18 Jahre lang einen Dauerauftrag einrichten.
In der sich dem Grundwehrdienst anschließenden Ausbildung, die uns - wenn auch in verschiedene Kompanien - nach Köln-Wahn verschlug, festigte sich unsere Freundschaft. Wir verbrachten gemeinsame Urlaube und Niko besuchte mich in meinem Elternhaus. Hier genoss er die Großzügigkeit und das Umfeld, in dem wir lebten, und das sich von seinem Elternhaus sehr unterschied. Er machte in der Firma meines Vaters zwei Praktika, die ihm während des Studiums zum erfolgreichen Erwerb propä-deutischer Scheine verhalfen und seine Entscheidungen bei der Auswahl seiner Studienfächer erleichterten.
Jahre später - kurz nach dem Schlaganfall und dem sich abzeichnenden finanziellen und existenziellen Ruin meines Vaters - half er meiner Mutter und mir, zu retten, was noch zu retten war und begab sich damit an den Rand der Illegalität. Soweit ich mich erinnere, nahm er unter anderem einen wertvollen Orientteppich, einen Fernseher und vor allem diverse von meinem Vater manipulierte Bilanzen seiner Firma mit nach Hause. Diese Feinkostfabrik hatte mein Vater für mich gekauft, da ich nicht interessiert war, in seine Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft einzusteigen, und er mir unbedingt eine gesicherte Zukunft und berufliche Existenz aufzwingen wollte. Soweit Niko und ich es mit unserem betriebswirtschaftlichen Anfängerwissen überblicken konnten, hatte mein Vater in den Bilanzen Abschreibungen und Wertberichtigungen manipuliert, Schulden in Rücklagen umgewandelt, Privatvermögen als Firmenvermögen ausgewiesen usw., um von verschiedenen Kreditinstituten Gelder zu erhalten, die er dann für Spekulationen und Finanztransaktionen gebrauchte - bis er selber den Überblick verlor! Nach Einschätzung meiner Mutter und mir, die wir von alledem keine Ahnung gehabt hatten, war der Schlaganfall die Folge des verlorenen Überblicks und der Überschuldung.
Leider verloren Niko und ich uns bald ein wenig aus den Augen. Dies wurde begünstigt durch die geographische Entfernung, in der wir lebten, in den Bemühungen, Fuß in unserem jeweiligen Job zu fassen, sowie in den Bemühungen um und der Konzentration auf den Aufbau unserer eigenen Familien. Aus Telefonaten mit ihm und Gesprächen anlässlich seiner gelegentlichen Besuche bei mir, konnte ich mir ein - wenn auch nicht umfassendes - Bild von ihm machen.
Er war wohl Zeit seines Lebens nie richtig glücklich gewesen und stets unzufrieden, vor allem mit sich selbst. Er hatte kein Selbstwertgefühl und suchte stets nach Bestätigung. Erhielt er sie, war er misstrauisch und nicht von der Ehrlichkeit überzeugt. Anerkennung begegnete er mit Misstrauen, da er vermutete, dass man ihm entweder schmeicheln oder ihn nur ausnutzen und seinen Vorteil ziehen wollte.
Anlässlich eines zweitägigen Besuches bei mir, holte ich am Abend eine gute Flasche Wein aus dem Keller. Wir plauderten über vergangene Zeiten, brachten uns gegenseitig auf den neuesten Stand über Beruf und Ehe und nach einer weiteren Flasche Wein wurde er außergewöhnlich gesprächig und vertraute mir einige seiner Probleme an, über die er noch nie mit jemandem gesprochen hatte und die ihn sehr belasteten.
Er fühle sich in vielerlei Hinsicht überfordert. Vor allem aber in seinem Beruf. Er nehme in der Firma die Aufgaben des kaufmännischen Geschäftsführers wahr, ohne allerdings den Titel tragen zu dürfen; er zeichne für alle Bereiche verantwortlich, die nicht das operative Geschäft beträfen. Er sei Ansprechpartner für Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, Juristen. Alle Sitzungen des Aufsichtsrates und seiner Ausschüsse bereite er inhaltlich und organisatorisch vor und verfasse die Protokolle. Er sorge dafür, dass den Politikern im Aufsichtsrat durch geschickte Formulierungen und der richtigen Wahl der Berichtsschwerpunkte die Firmenwelt im rosigen Licht erscheine, ohne allerdings Fehlinformationen zu geben.
Seine Kenntnisse auf vielen Gebieten seien aber von rudimentärer Bedeutung. Dies gelte vor allem in Bezug auf das Betriebsverfassungsgesetz und den darin verankerten Regelungen und Instrumentarien den Betriebsrat betreffend. Ich verstand nur Bahnhof. Mitbestimmung des Betriebsrates bei allen personellen und organisatorischen Entscheidungen, Einigungsstellenverfahren usw. waren für mich böhmische Dörfer.
Weitere seiner Schwachpunkte, die seinen Arbeitsalltag erschwerten, seien seine fehlenden Führungsqualitäten; und Delegation von Verantwortung kenne er zwar aus Seminaren, könne sie aber nicht praktizieren. Er beklagte außerdem die Qualität seiner Mitarbeiter. Es seien überwiegend ältere, zum Teil verbeamtete Typen, bieder und einfältig, die verschlossen gegenüber neue Ideen, neue Arbeitsmethoden, moderne Techniken seien.
In Gesprächen und Diskussionen fehlten ihm Schlagfertigkeit und Spontanität. Die treffenden Antworten fielen ihm stets viel später ein, wenn er über das Geschehene abends im Bett nachdachte. Unbestritten perfekt und unschlagbar seien seine schriftlichen Ausarbeitungen und seine Konzepte. Alles, was er nochmals durchlesen und überarbeiten könne, sei tadellos und führe zu Anerkennung
All diese Gegebenheiten und Fakten hätten zur Folge, dass er sich mit Aufgaben überlastete, die zu lösen, ihn viel Zeit und Mühe kosteten.
Seine Versuche, sich um einen anderen Job - auch in einer anderen Branche - zu bewerben, seien gescheitert, was nicht gerade zur Stärkung seines Selbstbewusstseins beigetragen habe.
Er hasse Fremdbestimmtheit, ohne die er aber weder beruflich noch privat zurechtkomme. Er brauche jemanden, der ihm Anweisungen gab und Aufgaben stellte, ihm sagte, was man vom ihm erwarte.
Im privaten Bereich benötige er Ideen, Anregungen und konkrete Vorschläge, die er nicht abwäge, sondern denen er sich meist dankbar und problemlos anschlösse und dankend akzeptiere; so überließe er es seiner Freundin oder Partnerin zu entscheiden, ob, wann und wohin man in Urlaub fahren solle, ob und wohin man zum Essen gehen solle, wie man das Wochenende gestalten solle. Er habe kaum Interessen und keine Hobbies. Er beklage das Alleinsein, falle in Depressionen, und unternähme aber alles, um alleine zu sein. Trotz seiner Angst vor Einsamkeit isoliere er sich permanent.
Weit nach Mitternacht und einem Cognac als Absacker gingen wir zu Bett. Am nächsten Morgen fuhr er wieder nach Hause und ich hörte lange nichts mehr von ihm. Ich erinnerte mich, dass er sich während eines meiner Anrufe beklagte hatte, dass einige der Finanzinvestments, die ich ihm vermittelt hatte, keine Ausschüttungen brachten und die prospektierten Berechnungen gänzlich dane-benlagen.
Ich hatte schon ein wenig schlechtes Gewissen, da ich bei meinen Empfehlungen nicht berücksichtigt hatte, dass es sich um Anlagen handelte, die sich hauptsächlich bei einer hohen Steuerbelastung des Anlegers rentierten. Da er aber trotz seines sehr guten Gehaltes aufgrund doppelter Haushaltsführung und anderer Steuerermäßigungen kaum Steuern zahlte, hatte ich nicht hinterfragt und somit außer Acht gelassen, so dass er letztlich Kapitalverluste von über 200 TDM hinnehmen musste. Er hatte mir blind vertraut und keine eigenen Überlegungen angestellt bzw. keine eigenen Entscheidungen getroffen. Hierin lag wohl auch ein Grund seines Schweigens.
Aber eines Tages fand ich in meinem Briefkasten Post von Niko mit folgendem Text:
• Gewisse Freunde behaupten, ich könne nicht mehr so alt werden,
wie ich aussehe…
• Charmante Freundinnen schmeicheln, ich sei so jung, wie ich
mich anfühle…
• Andere bestätigen, ich sei so alt, wie ich mich an-fühle…
• Eine sprichwörtliche Weisheit vermittelt, man sei so jung
wie man sich fühlt…
• Einige Freundinnen und Freunde raten, jeden Tag - unabhängig
vom Alter, Aussehen, Sich anfühlen - zu genießen und zu feiern…
Auf der nächsten Seite:
ca. 60 Jahre Erdenbürger und ca. 200 Jahre Freundschaft
sind auf jeden Fall Anlässe mit Euch zu feiern.
Ort:
Hamburg
Datum:
21.Juli diesen Jahres
Zeit:
18 Uhr
Treffpunkt:
An Bord des Windjammers
RICKMER RICKMERS
Bei den Landungsbrücken
Es war ein großartiges, unvergessliches Fest.
Die Rickmer Rickmers ist ein dreimastiges stählernes Frachtsegelschiff, das 1896 in Bremerhaven vom Stapel lief und nun in Hamburg als Museums- und Gastronomieschiff diente. Die Begrüßung fand im Kapitänssalon statt. Es wurde Champagner ausgeschenkt und in seiner Rede stellte Niko in ungewöhnlicher und amüsanter Weise die anwesenden Gäste vor, die sich fast alle untereinander nicht kannten. Er nannte das Ereignis und den Zeitpunkt seines Kennenlernens dieser Personen, ausgeschmückt mit kleinen Anekdoten. Die Addition der Jahre, seit denen er die jeweilige Freundin und den Freund kannte, ergab ca. 200. Hiermit war dann die in der Einladung genannte Formulierung 'ca. 200 Jahre Freundschaft' erklärt. Eine tolle Idee. [Hier stellte er seine Stärke unter Beweis, etwas zustande zu bringen, wenn er Zeit zur Ausarbeitung und Überarbeitung gehabt hatte.]
Auf diese verbale und champagnergetränkte Einstimmung bestiegen wir eine Barkasse und machten eine Fahrt durch den Hamburger Hafen, während der die Vorspeisen des angekündigten Menüs gereicht wurden. An einem Anleger auf einem Fleet, der von schönen alten Backsteinhäusern gesäumt war, machte die Barkasse fest und wir gingen - wie von Niko beim Empfang angekündigt - in das Alt-Hamburger Bürgerhaus, ein für Hamburg typisches Kaufmannshaus aus dem 17. Jahrhundert. In diesem eindrucksvollen Gebäude mit mehreren Räumen über drei Etagen wurde Gastronomie nur bei Anmietung der gesamten Räumlichkeiten geboten. In der zweigeschossigen Kaufmannsdiele war eine festliche Tafel gedeckt und es wurde uns - natürlich ohne Vorspeise - ein ausgezeichnetes Menü serviert. Die Digestifs, eine reichhaltige Auswahl an Käse- und Süßspeisen sowie Mokka und Kaffee wurden anschließend in den oberen Räumen angeboten.
Nicht ganz ein Jahr später habe ich die Vollendung meines 60. Lebensjahres gefeiert. Niko war auch gekommen und nach dem Abschied am nächsten Morgen habe ich ihn nie wieder getroffen oder etwas von ihm gehört.
Meine Aufzeichnungen in meinem Tagebuch habe ich mit diesem Tag eingestellt. Ich war zu der Auffassung gelangt, dass es ab diesem Alter nicht opportun ist, ein Tagebuch zu führen, da es an aufregenden, geheimnisvollen, schönen Ereignissen mangelte. Es häufen sich lediglich die kleineren oder größeren Wehwehchen, die es sich in einem Tagebuch nicht festzuhalten lohnt. Letztlich hatte ich Niko leider aus den Augen verloren.
Niko Borg hatte nie Tagebuch geführt. Eine derartige autobiographische Dokumentation seiner Erlebnisse, Sehnsüchte und Gedanken könnten nicht mehr entfliehen. Sie hätten etwas Beständiges, Endgültiges. Die Gegenwart würde für die Zukunft manifestiert. Das Führen eines Tagebuches bedeutete, sich auf Wesentliches oder auch Unwesentliches festzulegen. Auch in seinem späteren Leben wollte und konnte er sich selten festlegen. Er hielt sich meistens mehrere Optionen offen, äußerte nur gelegentlich seine eigene Meinung, da er befürchtete, sie könnte seinen Gesprächspartnern nicht gefallen. Tat er es doch und sein Gesprächspartner widersprach ihm, war er sofort bereit, sich dessen Meinung anzuschließen, denn gefallen und akzeptiert werden wollte er - auch um den Preis der Selbstverleugnung.
Von dem Führen eines Tagebuches hielten ihn auch die Gedanken ab, was seine Kinder, falls er einmal welche haben sollte, von ihm denken sollten, wenn sie von seinen Schwächen und negativen Eigenschaften erführen. Hierbei setzte er allerdings voraus, dass sie ihm noch nicht von alleine auf die Schliche gekommen waren. In welche Schwierigkeiten oder Nöte würde er sie bringen, wenn sie sein Tagebuch vor seiner Beerdigung fänden? Wie sollten sie Stolz, Anerkennung und Zuneigung in der Trauerrede zum Ausdruck bringen, wenn sie ehrlich sein wollten? Andererseits würde er sich während der Trauerveranstaltung im Sarg herumdrehen, wenn ihm sogar in dieser Situation und zu diesem Anlass Anerkennung verwehrt würde.
Was Niko zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nicht ahnen konnte, war, dass niemand von seinem Tod erfuhr, und somit für ein eventuell existierendes Tagebuch hätte interessieren können.
Um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen oder sich zu entlasten von dem, was ihn belastete, schrieb Niko gelegentlich Gedichte. Sie waren für einen potenziellen, unbeteiligten Leser nicht zwangsläufig mit seiner Person in Verbindung zu bringen.
Seine Gedanken, Probleme, Fragen, Wünsche jemandem gegenüber zu äußern, mit jemandem zu diskutieren, hatte er in seiner Kindheit nicht lernen können, da seine Eltern es ihm nicht vorgelebt hatten, sich dafür nie Zeit genommen hatten und intellektuell nicht in der Lage gewesen waren. Wünsche hatten sie aus ihrem Bewusstsein verdrängt, durften keinen Platz in ihrem Alltag haben, sie vergifteten die Realität und schürten Unzufriedenheit. Sie lebten nur Verzicht. Somit gab es auch keine Enttäuschungen, vielleicht aber Überraschungen. Fragen waren Ausdruck von Unwissenheit, die man nicht offenbaren durfte, Probleme wurden nicht besprochen, sondern gelöst oder verdrängt, unter den Teppich gekehrt, Gedanken waren persönliches Eigentum und wurden nicht offenbart.
Seine Eltern erlebten den Ersten Weltkrieg in ihrer Kindheit. Sein Vater als erstes von fünf Kindern und einziger Sohn seiner Eltern musste schnell Geld verdienen. Seine Mutter wurde sehr früh Halbwaise, kannte ihren Vater kaum, da dieser zur See fuhr, und verließ das Familienleben in ihrer Stieffamilie in Wilhelmshaven vor ihrer Volljährigkeit, um sich im Ruhrgebiet, dem vermeintlichen Paradies in Bezug auf Vollbeschäftigung, eine Lehrstelle zu suchen. Beide lernten sehr frühzeitig Verzicht. Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und Währungsreform waren beide im unreifen Alter von knapp weniger bzw. knapp mehr als zwanzig Jahren und waren froh, als Hitler sich anschickte, das deutsche Volk aus der Arbeitslosigkeit, sozialen Unordnung und Armut zu befreien, sowie mit ‘Kraft durch Freude‘ dem Leben einen Sinn zu geben.
Nikos Eltern hatten sich in dem Ausflugslokal Heimliche Liebe im Essener Stadtwald kennen gelernt, hatten geheiratet und mit Hitlers urkundlichem Dank ausgestattet zwei Söhne in die Welt gesetzt, sie hatten weiter verzichtet, er mittlerweile wegen seines Asthmas auf die kleinen Freuden des Lebens und beide zusammen auf ihre erste gemeinsame Wohnung, die den Bomben zum Opfer gefallen war.
Ihre pädagogischen Fähigkeiten reduzierten sich auf Anweisung und Gehorsam. Gehorsam, Pflichterfüllung, Verzicht, Erdulden hatten das soziale Gefüge bestimmt. Somit waren auch Niko diese Ideale in die Wiege gelegt worden und wurden weiter gepflegt.
Unter ähnlichen Voraussetzungen war auch Lore, eine seiner späteren Lebensgefährtinnen aufgewachsen. Ihre Eltern waren allerdings fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger als seine. Dem von ihren Eltern gelebten Faschismus widersetzte Lore sich im Gegensatz zu Niko, der über die politische Vergangenheit und Einstellung seiner Eltern nichts wusste, allerdings recht früh in ihrer Jugend. Das BdM-Verhalten und die Mentalität einer Lageraufseherin ihrer Mutter ertrug Lore nicht, und der Vater hatte, da er zur See fuhr, keinen Einfluss auf ihre Entwicklung und Erziehung. Sie begeisterte sich für das Leben der ‘Kommune 1‘, wünschte sich zu sein wie Uschi Obermaier. Träumte davon, mit den Stones durch die Welt zu tingeln und mit Mick Jagger und Jimi Hendrix zu schlafen. In der Realität verschrieb sie sich den Idealen von Rudi Dutschke, Manfred Teuffel, Baader-Meinhof und geriet in die Hände von Kommunisten. Diese hätten sie fast in den Sumpf des Terrorismus gezogen. Ihre offensichtliche Rettung war dann der Sozialismus, dessen Ideale aber weder in der damaligen DDR noch durch Fidel Castro ihren Vorstellungen entsprechend realisiert wurden, so dass die Flower-Power-Bewegung und der grüne Aufstand für sie lebenswerte Alternativen zu sein schienen, ihr als Zufluchtsstätte dienten. Wohngemeinschaften, freie Sexualität, aufopfernde Tätigkeit im Kinderhaus, Studium der Sozialpädagogik, Green-Peace-Ideale prägten ihre weitere Entwicklung.
Trotz der anerzogenen Gehorsamkeit hatte Niko es geschafft, sich von seinem Elternhaus zumindest örtlich zu trennen, sich aus der Umklammerung seiner Mutter zu befreien, hatte sich behauptet, indem er gegen den Willen seiner Mutter zum Bund gegangen war, und durchgesetzt, die von seinen Eltern für ihn ausgesuchte Lehre bei einer Bank oder als technischer Zeichner nicht anzutreten. Den Besuch einer Hochschule hatten sie auch nicht zugelassen. Diese Entscheidung fiel ohne Kommentar. Entweder trauten sie Niko diese Ausbildung nicht zu oder es gab finanzielle Gründe für ihre Ablehnung.
Nach Absolvierung seines verlängerten Grundwehrdienstes befreite Niko sich äußerlich von allen Zwängen, indem er sich einen Vollbart wachsen ließ. Da seine Eltern erstaunlicherweise nun nichts mehr gegen ein Studium einzuwenden hatten, immatrikulierte er sich an der Universität in Marburg, wo zwei seiner ehemaligen Klassenkameraden Medizin studierten. Er verstand seine Anwesenheit in Marburg ebenfalls als einen Befreiungsschlag und verbrachte die meiste Zeit mit Gammeln und Saufen in Verbindungen, denen er allerdings nie beigetreten ist, und durchzechten Nächten mit seinen ehemaligen Klassen-kameraden. Sie hatten gemütliche Studentenbuden in alten Fachwerkhäusern, heizten mit Holz oder Briketts in Öfen, die eine wohlige Atmosphäre verbreiteten. Das Semester in Marburg betrachtete Niko ferner als eine Übergangszeit bis zum Beginn seines vorgesehenen betriebswirtschaftlichen Studiums. Ein Semester an einer juristischen Fakultät wurde an betriebswirtschaftlichen Fakultäten anerkannt, so dass ihm für die Studienzeit kein Nachteil entstand. Er verbrachte einige Stunden in den Vorlesungen von Professor Bruns. Sein Name stand für 'Besonders Ruhiger Und Natürlicher Schlaf'. Wie er trotz dieses 'mitreißenden' Professors, durchzechter Nächte und Tramptouren seinen propädeutischen BGB-Schein gemacht hatte, blieb ihm ein Rätsel.
Als Niko von der neu geschaffenen Fakultät in Berlin und Karlsruhe, die Betriebswirtschaft und Technik kombinierte, erfuhr, entschied er sich für den Technischen Betriebswirt in Karlsruhe.
Hier saß er nun bereits in seinem dritten Semester an seiner Reiseschreibmaschine und hackte statt der Lösung seiner Klausuraufgaben RESIGNATION in die Tastatur:
Ich bin nicht besoffen – habe auch kein Fieber – auch ist meine Bude nicht zu klein!
Ich verzweifele! - - Wer bin ich? Was kann ich? - -
Nichts!
Nichts? – Oh doch, ich kann sehr viel: ich kann saufen, mich Illusionen hingeben, Luftschlösser bauen. Ich kann auch lieben, sagen die Frauen. Vielleicht kann ich auch Kinder in die Welt setzen. Ich kann anderen die Frauen ausspannen. Ich kann verheirateten Frauen den Kitzel bieten, den sie in ihrer langweiligen Ehe nicht mehr erfahren, und dann vor dem Einschlafen onanieren.
Aber das ist nicht alles! Ich kann höflich und galant sein, ordentlich und pünktlich, ich kann klugscheißen, ich kann Geld ausgeben, mir kurzfristige, inhaltlose schöne Stunden machen. Die Rolle eines Playboys oder Gigolos stände mir gut! Zu allem bin ich zu gebrauchen – es darf nur nichts Positives sein! Warum studiere ich eigentlich? Um etwas zu lernen? Ich kann nicht lernen. Ich studiere, weil ich von zu Hause weg wollte, des freien, schönen Lebens willen, ohne zu wissen, was das Leben schön macht! Weil ich Illusionen habe, weil ich niemanden enttäuschen will.
Warum lebe ich und mein Bruder musste sterben? Oh könnte ich doch mit ihm tauschen! – Wäre mir das recht? – Nein! Die Ungewissheit kann ich nicht ertragen. – Ich weiß nicht, was ich tun soll! Man raube mir mein bisschen Verstand und stecke mich in die Wüste!
Könnte man mich doch zurückentwickeln und abtreiben!!!
Noch ahnte er nicht, welche Bedeutung diese aus einem momentanen, erneuten Stimmungstief entstandene Selbsteinschätzung, die in diesen Zeilen zum Ausdruck kam, im Laufe seines Lebens haben würde, wie sie ihn verfolgen, begleiten und belasten würde.
In dieser Nacht konnte er wieder einmal nicht einschlafen. Er war aufgestanden, hatte sich den wievielten Whisky eingegossen und erneut an die Schreibmaschine gesetzt:
Nacht ohne Ende
Ein Sommernachmittag
Ich lerne
Für wen
Ich schwitze
Für mich
Es ist heiß
Wann kommt der Abend
Für wen
Für mich
Warum
Ich liebe
Wen
Sie sie alle
Niemand liebt mich
Warum
Niemand hasst mich
Verdammt
Ich hasse
Wen
Sie sie alle
Es ist heiß
Wann kommt die Nacht
Für wen
Für mich
Nacht ohne Ende
Ich lache
Nacht ohne Liebe
Für mich
Nacht ohne Hass
Für mich
Nacht voller Schmerzen
Für die anderen
Für wen
Die mich nicht lieben
Die mich nicht hassen.
Vorausgegangen waren eine halbe Nacht im fast menschenleeren "Motor-Club“ bei Whisky und Ray Charles am laufenden Band und die plötzlich nach Wochen wieder auftauchende Erinnerung an einen langen Abend an einem Baggersee. Hildegard hatte ihn mit ihrem VW Standard mit unchronisiertem Getriebe, und wie sich später herausstellte einem Handtuch und zwei Flaschen Wein im Kofferraum, während einer seiner häufigen Tramptouren in diesem Semester auf der Autobahn aufgelesen und mitgenommen. Sie hatten Karlsruhe bald erreicht, als die Dämmerung hereinbrach. Die Hitze des Tages wollte immer noch nicht weichen. Sie schlug vor, baden zu gehen. Nackend und albernd planschten sie im glasklaren Wasser und trockneten sich gegenseitig mit dem einzigen Handtuch ab, streichelten einander die abgekühlte Haut ihrer innerlich heißen Körper, rauchten und tranken Wein, den das Wasser des Sees, in den sie die Flaschen gelegt hatten, nur mäßig gekühlt hatte. Sie lagen ausgestreckt nebeneinander auf dem Rücken. Mit der zurückkehrenden Körperwärme und durch die Berührung ihrer Hände spürte er Leben in seinem Genitalbereich und seinen Penis anschwellen. Seinen Versuch, sich auf sie zu legen, wehrte sie vorsichtig, aber bestimmt ab. Sie zierte sich, sträubte sich, verweigerte sich, ohne ein Wort zu sagen. Sein Penis schrumpfte auf Kinderniveau, stattdessen begannen seine Hoden zu schwellen und er dachte mit Schrecken an eine ähnliche Situation vor einem Jahr in Marbella, als er nach wildem Geschmuse und Gefummel im Garten seines Hotels Opfer einer Verweigerung geworden war. Die Frau, die ihn so heiß gemacht hatte, wollte sich auch nicht vögeln lassen. Niko bat sie, flehte sie an, mit ihm auf sein Zimmer zu gehen. Sie ließ sich nicht erweichen. In der Hoffnung, dass sie sich noch umstimmen ließ, griff er ihr unter den Rock und steckte seinen Mittelfinger in ihre Scheide. Er spürte nach kurzer Zeit das Zusammenziehen und Öffnen ihrer Muschi. Ein leichtes Stöhnen kam über ihre Lippen, und er fühlte seine Hand nass werden. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Gesichtsausdruck voller Zufriedenheit sagte sie ihm, dass sie jetzt gehen müsse, und ließ ihn mit seinen geschwollenen Eiern stehen. Nach der erneuten Ablehnung des ersehnten, befreienden Aktes schlich Niko mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sein Zimmer und versuchte vergeblich, sich seiner Qualen durch Onanieren zu entledigen. Es dauerte gefühlt mindestens eine Stunde, bis er sich durch Handarbeit von seinen Schmerzen befreien konnte. Er erzählte Hildegard dieses Erlebnis und bat sie, ihm einen zu blasen. Auch dies lehnte sie ab. Der Verzweiflung nahe, nahm er kurz entschlossen ihre Hand und presste sie auf seinen erschlafften Schwanz. Die Berührung erweckte ihn zu neuer Blüte und unter seiner Anleitung holte sie ihm einen runter und ersparte ihm somit die seinerzeit erlittene Pein.
Anschließend zogen sie sich schweigend an und fuhren in die Stadt. Durch die Verweigerung mit ihm zu vögeln, hatte er das Interesse an Hildegard verloren und sie haben sich nie wieder gesehen. In Erinnerung blieben Niko ihre vollen, festen Brüste und als Erinnerungsstück das von ihm noch in der Nacht verfasste Gedicht:
Vollmondnacht am See
Vollmond über dem See
Vollmond im See
Zwei Menschen am Ufer